2003 | ||
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2002 2004 | [ ] |
03.001 | Beitragssatzsicherungsgesetz I |
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LB 1) Die drei Antragsteller sind Inhaber gewerblicher zahntechnischer Labore, die ihre wirtschaftliche Existenz durch das In-Kraft-Treten von Art.6 des Gesetzes zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzsicherungsgesetz - BSSichG) vom 23.Dezember 2002 (BGBl I S.4637) für tiefgreifend gefährdet halten. Sie beantragen, die sie betreffende Regelung vorerst nicht in Kraft treten zu lassen, hilfsweise, sie vorläufig außer Vollzug zu setzen. | |
LB 2) Die Folgenabwägung ergibt indessen, dass die Nachteile, die bei einer vorläufigen Aussetzung des Art.6 BSSichG eintreten würden, schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen, welche die Antragsteller treffen, wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht erlassen wird. o b U H ; . ! Ý÷·÷Ó÷Ë÷ƒ÷?÷¼÷ã÷Æ÷à÷k÷x÷^÷Q÷D÷ }m qg Nachteile, die bei einer vorläufigen Aussetzung des Art.6 BSSichG eintreten würden, schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen, welche die Antragsteller treffen, wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht erlassen wird. | |
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T-03-01 | Zahntechnische Labore |
"1. Die inzwischen eingelegte Verfassungsbeschwerde (1 BvR 24/03) ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Zustandekommen des Gesetzes ohne Zustimmung des Bundesrates und die Frage, ob das Gesetz mit Art.3 Abs.1 und Art.12 Abs.1 GG im Übrigen in Einklang steht, bedürfen der Klärung im Hauptsacheverfahren. | |
2. Die Folgenabwägung ergibt indessen, dass die Nachteile, die bei einer vorläufigen Aussetzung des Art.6 BSSichG eintreten würden, schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen, welche die Antragsteller treffen, wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht erlassen wird. | |
a) Ergeht die einstweilige Anordnung, erweist sich aber das Gesetz zur Absenkung der Höchstpreise für abrechnungsfähige zahntechnische Leistungen und zur Festlegung einer Rate von Null vom Hundert für die Vereinbarungen der Vergütungen für solche Leistungen später als verfassungsgemäß, drohen dem Gemeinwohl schwere Nachteile. | |
Die zu erwartenden Einsparungen sind zwar - gemessen an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung - nicht hoch, jedoch für das System der gesetzlichen Krankenversicherung wichtig, solange der Fehlbetrag nicht anderweit kompensiert werden kann. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass jeder Teilbetrag im Beitragssatzsicherungsgesetz erforderlich ist, um insgesamt die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung als Ganzes - zumindest vorläufig bis zu einer Strukturreform - zu erhalten. Deshalb wird diese finanzielle Stabilität in dem Ausmaß gefährdet, in dem die vorgesehenen Preisabsenkungen nicht realisiert werden können. Nach dem Bericht des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages (BTDrucks 15/75, S.1) werden die Minderausgaben durch Einsparungen im zahntechnischen Bereich genauso groß sein wie die Minderausgaben im zahnärztlichen Bereich durch die dort verordnete Nullrunde. Das Beitragssatzsicherungsgesetz sieht ein Paket von Maßnahmen zur Bekämpfung des Defizits im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Das Beitragsaufkommen wird durch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze erhöht, das Sterbegeld wird abgesenkt, Ärzten, Zahnärzten und Krankenhäusern werden Nullrunden vorgeschrieben und bei den Arzneimitteln tragen Pharmaunternehmen, Großhandel und Apotheken durch Rabatte zu den Minderausgaben bei. Erst die Summe aller Sparmaßnahmen ergibt eine spürbare Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen. Allen Maßnahmen kommt im Hinblick auf das Gemeinwohl gleich großes Gewicht zu. Infolge der einstweiligen Anordnung träte ein Teil der finanziellen Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2003 nicht ein. Die Krankenkassen müssten sich auf Mehrausgaben einstellen und hierauf gegebenenfalls mit Beitragserhöhungen, mit der Belastung sonstiger Gruppen oder gar mit Einsparungen bei den Leistungen reagieren. | |
b) Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweist sich das Gesetz aber später im Hauptsacheverfahren als verfassungswidrig, drohen den Antragstellern, wie auch den anderen zahntechnischen Betrieben, jedenfalls bis zur Entscheidung in der Hauptsache wirtschaftliche Nachteile. Ein endgültiger und auf Dauer nicht kompensierbarer Schaden ist allerdings nicht anzunehmen. Die von den Antragstellern für den ganzen Berufsstand geltend gemachte Existenzbedrohung ist anhand der vorgelegten Daten nicht nachvollziehbar. Dasselbe gilt auch für die Antragsteller selbst, bei denen zwar das Unternehmerentgelt möglicherweise nicht den durchschnittstypischen Berechnungen entspricht, aber durchaus noch eine existenzsichernde Höhe haben wird. Aus den übersandten Unterlagen ergibt sich, dass viele Betriebe schon in den letzten Jahren mit geringeren Gewinnen oder niedrigeren Geschäftsführergehältern gewirtschaftet haben, als sie von den Antragstellern für das Jahr 2003 erwartet werden. | |
Die eingereichten Betriebsbögen belegen zugleich, dass Durchschnittsberechnungen nicht aussagekräftig sind, weil zwischen den erzielten Umsätzen und den erzielten Gewinnen keine signifikante Beziehung besteht. Sie machen lediglich deutlich, dass viele Unternehmen über Jahre fortgeführt werden, auch wenn die Betriebsbögen negative Jahresergebnisse ausweisen. Solange nicht nur vereinzelt in einer Branche für die Betriebsinhaber sehr hohe Einkünfte (beispielsweise 150.000 bis 250.000 im Jahr) erwirtschaftet werden, beruhen unterdurchschnittliche Einkünfte (beispielsweise von nur 23.000 im Jahr) nicht notwendig auf den Vergütungsregelungen, sondern können vielfältige Ursachen haben. Nach der aus den Unterlagen sichtbar gewordenen Streubreite der Betriebsergebnisse und der Unternehmereinkünfte ist eine Existenzgefährdung der Branche nicht anzunehmen. | |
c) Die Abwägung ergibt, dass die Nachteile für das gemeine Wohl bei Erlass der einstweiligen Anordnung diejenigen überwiegen, die den Antragstellern und den gewerblichen zahntechnischen Laboren insgesamt bei der Ablehnung des Antrags drohen. | |
Die Nachteile für die gewerblichen zahntechnischen Labore sind für den Fall, dass dem Antrag der Erfolg versagt bleibt, zwar nicht unerheblich. Sie haben aber nicht das Gewicht, das erforderlich ist, um ein Gesetz vorläufig außer Vollzug zu setzen oder sein In-Kraft-Treten zu verhindern (vgl BVerfGE_104,23 <27 f>). Das Anliegen des Gesetzgebers, bis zu einer größeren Reform die gesetzliche Krankenversicherung unter Einbeziehung zahlreicher Gruppen sofort finanziell zu entlasten, wiegt schwerer. Denn die negativen Folgen für die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung treten bei einer vorläufigen Aussetzung des Gesetzes sofort ein, können später kaum oder nur unzureichend ausgeglichen werden und beeinflussen die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Dem Gemeinwohlbelang der finanziellen Sicherung der gesetzlichen Krankenversicherung kann nicht entgegengehalten werden, dass die zahntechnischen Leistungen nur einen geringen Anteil an den Gesamtausgaben ausmachen. Bei einem Spargesetz, das viele Gruppen in Anspruch nimmt, ist jeder Teilbeitrag von Bedeutung. Das gesetzgeberische Konzept würde zu Lasten anderer unterlaufen, wenn einzelne Gruppen sich darauf berufen dürften, dass ihr Anteil am Gesamtvolumen eines Spargesetzes für das gesamtwirtschaftliche Interesse minder bedeutsam sei. | |
Angesichts des Versorgungsauftrags der gesetzlichen Krankenversicherung ist im Rahmen der Folgenabwägung allerdings auch zu berücksichtigen, dass das gemeine Wohl gefährdet wäre, wenn infolge von Art.6 BSSichG das Angebot an zahntechnischen Leistungen die Nachfrage nicht mehr befriedigen könnte. Das ist jedoch nicht anzunehmen. Selbst wenn die Zahl gewerblicher zahntechnischer Labore zurückgehen sollte, ist nach gegenwärtigem Erkenntnisstand eine ausreichende und qualitativ hochstehende Versorgung der Versicherten nicht gefährdet. Dass zur Versorgung der Bevölkerung die derzeit bestehende Anzahl an Laboren erforderlich wäre, lässt sich den verfügbaren Daten nicht entnehmen, nachdem in den letzten Jahren die Zahl der gewerblichen Labore und auch der Praxislabore erheblich gestiegen ist." | |
Auszug aus BVerfG B, 14.01.03, - 1_BvQ_51/02 -, www.BVerfG.de, Abs.17 ff | |
§§§ | |
03.002 | Beitragssatzsicherungsgesetz II |
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LB 1) Die Antragsteller sind Apotheker. Sie beantragen, die sie betreffenden Regelungen des Gesetzes zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzsicherungsgesetz - BSSichG) vom 23.Dezember 2002 (BGBl I S.4637) vorerst nicht in Kraft treten zu lassen, hilfsweise, sie vorläufig außer Vollzug zu setzen. | |
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T-03-02 | Apotheken |
"1. Die beabsichtigte Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Zustandekommen des Gesetzes ohne Zustimmung des Bundesrates und die Frage, ob das Gesetz mit Art.12 Abs.1 GG im Übrigen in Einklang steht, bedürfen der Klärung im Hauptsacheverfahren. | |
2. Die Folgenabwägung ergibt indessen, dass die Nachteile, die bei einer vorläufigen Aussetzung des mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Gesetzes eintreten würden, schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen, welche die Antragsteller treffen, wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht erlassen wird. | |
a) Wird das Gesetz einstweilen außer Kraft gesetzt, erweist es sich aber später als verfassungsgemäß, entstehen schwere Nachteile für das gemeine Wohl. Der gesetzlichen Krankenversicherung werden ausweislich der Gesetzesmaterialien 0,35 Mrd fehlen, die mit den bisher vorgenommenen oder beabsichtigten Beitragserhöhungen nicht aufgefangen werden (vgl BTDrucks 15/75, S.1). | |
Die zu erwartenden Einsparungen sind zwar - gemessen an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung - nicht besonders hoch, jedoch für das System der gesetzlichen Krankenversicherung wichtig, solange der Fehlbetrag nicht anderweit kompensiert werden kann. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass jeder Teilbetrag im Beitragssatzsicherungsgesetz erforderlich ist, um insgesamt die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung als Ganzes - zumindest vorläufig bis zu einer Strukturreform - zu erhalten. Deshalb wird diese finanzielle Stabilität in dem Ausmaß gefährdet, in dem die vorgesehenen Preisabsenkungen nicht realisiert werden können. Nach dem Bericht des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages (BTDrucks 15/75, S.1) werden die Minderausgaben der gesetzlichen Krankenkassen durch die die Apotheker belastenden Rabatte in Höhe von 0,35 Mrd. in etwa so hoch sein wie die jeweiligen Einsparungen durch Minderausgaben beim Sterbegeld oder im Krankenhausbereich. Das Beitragssatzsicherungsgesetz sieht ein Paket von Maßnahmen zur Bekämpfung des Defizits im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Erst die Summe aller Sparmaßnahmen ergibt eine spürbare Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen. Allen Einzelmaßnahmen kommt im Hinblick auf das Gemeinwohl gleich großes Gewicht zu. Auch die Hinweise der Antragsteller auf sonstige Einsparpotentiale im System der gesetzlichen Krankenversicherung sind nicht geeignet, die eintretenden Folgen abzumildern, weil diese Maßnahmen nicht bereits am 1.Januar 2003 wirksam werden. | |
b) Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweist sich aber das Beitragssatzsicherungsgesetz im Hauptsacheverfahren als verfassungswidrig, so drohen jedenfalls bis zur Entscheidung in der Hauptsache weder dem gemeinen Wohl noch den Antragstellern und den Apotheken insgesamt schwere Nachteile. | |
Die vorgelegten Zahlen über die Umsatz- und Gewinnerwartungen sprechen dagegen, dass der bereits geltende 6%ige Apothekenabschlag im abgelaufenen Jahr nicht zu verkraften gewesen wäre. Die hinzugetretene neue Belastung, die hochpreisige Medikamente ab einem Packungspreis von 54,81 betrifft, für die der Abschlag auf 10 vom Hundert oder geringfügig darunter angehoben worden ist, betrifft Medikamente, für die der Festzuschlag der Apotheker bis 543,91 bei 30 vom Hundert und von da an bis 820,22 abnehmend bei bis zu 22 vom Hundert liegt. Hierdurch gehen bei hochpreisigen Medikamenten die Erlöse um ein Drittel bis ein Halb zurück. Zum Anteil dieser Arzneimittel am hier allein interessierenden GKV-Gesamtumsatz der Apotheken enthalten die beigefügten Anlagen allerdings keine Angaben, so dass über das Gewicht der durch das angegriffene Gesetz veranlassten finanziellen Einbußen keine aussagekräftigen Unterlagen vorliegen. | |
Pauschale Durchschnittsberechnungen lassen insoweit keine Rückschlüsse zu. Das belegen schon die von den Antragstellern mit Schriftsatz vom 13.Januar 2003 mitgeteilten Einzelheiten zu ihren jeweiligen Apotheken. Der Antragsteller zu 1) erzielt danach 80 vom Hundert seines Umsatzes durch Abrechnung mit der gesetzlichen Krankenversicherung. Beim Antragsteller zu 2) vermindert sich dieser Anteil auf 67 vom Hundert, beim Antragsteller zu 3) sogar auf 50 vom Hundert. Ebenso wie für die Höhe der Umsätze mit der gesetzlichen Krankenversicherung sind Lage und Kundenkreis der jeweiligen Apotheke ein bestimmender Faktor für das Geschäftsergebnis aus dem Verkauf hochpreisiger Medikamente. Im Übrigen sind die Zuschläge der Arzneimittelpreisverordnung bei den teureren Medikamenten so bemessen, dass dem Apotheker - auch unter Abzug der Rabatte an die gesetzliche Krankenversicherung - eine nicht unerhebliche Handelsspanne verbleibt. Angesichts des hohen Ausgangspreises ergeben sich auch absolut und pro Packung noch nennenswerte Einnahmen. | |
Nach der Auffassung des Gesetzgebers ist das Beitragssatzsicherungsgesetz nicht darauf angelegt, dass die Großhändler die sie betreffenden Belastungen auf die Apotheken abwälzen (vgl BTDrucks 15/28, S.20; BT-Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung, Protokoll der 3. Sitzung am 12.November 2002, S.27). Einsparpotentiale wurden auch beim Großhandel gesehen, weil dieser ebenso wie die pharmazeutischen Unternehmen und die Apotheken von der Ausweitung der Arzneimittelausgaben besonders profitiert hätten (vgl BTDrucks 15/28, S.12). Allerdings haben die deutschen Großhändler den Apotheken gegenüber im Wesentlichen gleichlautend angekündigt, dass sie den sie treffenden Zwangsrabatt mit den bisher gewährten Großhandelsrabatten verrechnen werden. Wie stark sich das auswirken wird, hängt wiederum davon ab, zu welchem Anteil ein Apotheker Umsätze mit der gesetzlichen Krankenversicherung tätigt. Die Großhandelsrabatte im Allgemeinen beziehen sich auf alle Lieferungen, so dass sie sich um so weniger vermindern, je weniger der Großhändler einer Apotheke Medikamente liefert, die unter die Regelung des Art.11 BSSichG fallen. | |
Weitere erhebliche Belastungen treten nicht hinzu. Denn nach den der Verfassungsbeschwerde beigefügten Unterlagen beabsichtigen die Großhändler, anstelle der Apotheken weitgehend die mit dem neuen Gesetz verbundenen Berechnungs- und Vorfinanzierungsaufgaben zu übernehmen. | |
c) Die Abwägung ergibt, dass die Nachteile für das gemeine Wohl bei Erlass der einstweiligen Anordnung diejenigen überwiegen, die den Antragstellern und den Apotheken insgesamt bei der Ablehnung des Antrags drohen. | |
Dies gilt, obwohl nicht von der Hand zu weisen ist, dass die geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Auswirkungen auf einzelne Apotheken haben werden. Wie sich allerdings die Belastungen des Beitragssatzsicherungsgesetzes verteilen und welchen Anteil des die Großhändler treffenden 3%igen Abschlags letztlich die Apotheken tragen werden, ist noch nicht zuverlässig vorherzusagen. Voraussichtlich wird sich das Gesamtgefüge des Pharmahandels verändern. Selbst wenn die Apothekendichte (vgl Statistiken der ABDA zur Apothekendichte in den Ländern, http://www.abda.de; die Gesundheitsberichterstattung des Bundes, http://www.gbe-bund.de vom 30.Dezember 2002) infolge der gesetzlichen Neuregelung zurückgehen sollte, ist damit keine Gefährdung der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung zu befürchten. Die durchschnittliche Apothekendichte liegt gegenwärtig bei 27 Apotheken auf 100.000 Einwohner. Im Saarland kommen 33 Apotheken auf 100.000 Einwohner und in Brandenburg, dem Land mit der geringsten Apothekendichte, immerhin noch 20. 1970 kamen in Westdeutschland 18 Apotheken auf 100.000 Einwohner, und die Versorgung der Bevölkerung war nicht gefährdet. | |
Nach den verfügbaren Daten durfte der Gesetzgeber gerade bei den Arzneimitteln von erheblichen Einsparpotentialen ausgehen, denn diese belasteten in den letzten sechs Jahren die gesetzliche Krankenversicherung durch einen überproportionalen Kostenanstieg. Allein zwischen 1995 und 2001 sind die Ausgaben für Medikamente um etwa 30 vom Hundert gestiegen. Ihr Anteil an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung ist von 14 vom Hundert auf 17,1 vom Hundert gewachsen. Durchschnittlich stiegen während dieser Zeit die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung aber nur um etwa 10 vom Hundert. In diesem Rahmen hielten sich auch die Steigerungen bei den Ausgaben für ärztliche und zahnärztliche Behandlung; für Zahnersatz und Krankengeld sanken sie sogar. Die Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung haben sich in diesem Zeitraum um 13,6 Mrd erhöht; dabei entfielen 5,9 Mrd auf Arzneimittel (vgl Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Statistik über Ausgaben der GKV, http://www.bmgesundheit.de). Hiervon haben auch die Apotheken profitiert; sie blieben trotz der Erhöhung des Rabatts von 5 vom Hundert auf 6 vom Hundert von Rückgängen verschont, die andere Leistungserbringer im Gesundheitswesen bereits zu verkraften hatten. | |
Die von den Antragstellern vorgelegten Zahlen und die pauschal berechneten Umsatzrenditen belegen lediglich, dass es infolge des Gesetzes zu einer verschärften Konkurrenzsituation kommen wird. Möglicherweise werden Apotheken auch geschlossen. Solche Marktveränderungen lassen aber keine Gefährdungen für den Berufsstand als solchen und für das gemeine Wohl erwarten, das von der Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung ebenso abhängt wie von einer leistungsfähigen und leistungsbereiten Apothekerschaft. | |
Die den Anträgen beigefügten Unterlagen machen vor allem deutlich, dass es keine signifikanten Beziehungen zwischen dem Umsatz mit den gesetzlichen Krankenversicherungen und den Rohgewinnen gibt. Zu viele Faktoren bestimmen den wirtschaftlichen Erfolg einer Apotheke. Die Antragstellerin zu 4) erwirtschaftete 2001 einen Rohgewinn von etwa 50.000 bei einem Umsatz von gut 520.000 . Die Antragsteller zu 1) und 3) benötigen für etwa dasselbe Geschäftsergebnis mehr als 1,1 Mio Umsatz. Andererseits musste auch die Antragstellerin zu 4) im Jahr 2000, in dem ihr Umsatz noch knapp über 500.000 lag, eine deutliche Gewinnabsenkung auf 38.000 hinnehmen. | |
Nach allem sind die Nachteile für die Apotheken für den Fall, dass dem Antrag der Erfolg versagt bleibt, zwar nicht unerheblich. Sie haben aber nicht das Gewicht, das erforderlich ist, um ein Gesetz vorläufig außer Vollzug zu setzen oder sein In-Kraft-Treten zu verhindern (vgl BVerfGE_104, 23 <27 f>)." | |
Auszug aus BVerfG B, 15.01.03, - 1_BvQ_53/02 -, www.BVerfG.de, Abs.13 ff | |
§§§ | |
03.003 | Beitragssatzsicherungsgesetz III |
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LB 1) Die Antragstellerin betreibt europaweit einen Großhandel für Arzneimittel. In Deutschland erzielt sie mit etwa 18 vom Hundert des Gesamtumsatzes des pharmazeutischen Großhandels den zweithöchsten Anteil. Sie beantragt, die sie beschwerenden Regelungen in Art.11 des Gesetzes zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzsicherungsgesetz - BSSichG) vom 23. Dezember 2002 (BGBl I S.4637) vorerst nicht In-Kraft-Treten zu lassen, hilfsweise, sie außer Vollzug zu setzen. | |
LB 2) Die Folgenabwägung ergibt indessen, dass die Nachteile, die bei einer vorläufigen Aussetzung von Art.11 BSSichG eintreten würden, schwerer wiegen, als die nachteiligen Folgen, welche die Antragstellerin und den pharmazeutischen Großhandel insgesamt treffen, wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht erlassen wird. ¢ ú ? û ë | o b U H ; . ! Ý÷·÷Ó÷Ë÷ƒ÷?÷¼÷ã÷Æ÷à÷k÷x÷^÷Q÷D÷ = ¨6 die bei einer vorläufigen Aussetzung von Art.11 BSSichG eintreten würden, schwerer wiegen, als die nachteiligen Folgen, welche die Antragstellerin und den pharmazeutischen Großhandel insgesamt treffen, wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht erlassen wird. | |
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T-03-03 | Großhandel |
"1. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Zustandekommen des Gesetzes ohne Zustimmung des Bundesrates und die Frage, ob das Gesetz mit Art.12 Abs.1 GG im Übrigen in Einklang steht, bedürfen der Klärung im Hauptsacheverfahren. | |
2. Die Folgenabwägung ergibt indessen, dass die Nachteile, die bei einer vorläufigen Aussetzung von Art.11 BSSichG eintreten würden, schwerer wiegen, als die nachteiligen Folgen, welche die Antragstellerin und den pharmazeutischen Großhandel insgesamt treffen, wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht erlassen wird. | |
a) Ergeht die einstweilige Anordnung, erweist sich aber das Gesetz zur Einführung von Abschlägen der pharmazeutischen Großhändler später als verfassungsgemäß, drohen dem gemeinen Wohl schwere Nachteile. | |
aa) Bei der Folgenabwägung ist von einer vorübergehenden Außerkraftsetzung des Art.11 BSSichG im Ganzen auszugehen. Die von der Antragstellerin angedeutete Möglichkeit, die Apotheker mit Abschlägen zu belasten, die vom Großhandel wegen der einstweiligen Anordnung zunächst nicht eingefordert werden, unterliefe die gesetzliche Regelung. Der Gesetzgeber hat mit Art.11 BSSichG eine Belastung der pharmazeutischen Großhändler angeordnet, deren finanzielle Auswirkungen von den Apothekern an die gesetzliche Krankenversicherung weiterzuleiten sind. Von Gesetzes wegen ist eine eigenständige finanzielle Belastung der Apotheken über die hiermit eventuell verbundene Verwaltungslast hinaus nicht beabsichtigt. Nicht erhaltene Abschläge können die Apotheken aber nicht weiterleiten. | |
bb) Die infolge einer einstweiligen Anordnung zu erwartenden Mehrausgaben in Höhe von 0,6 Mrd. sind absolut und relativ von erheblicher Bedeutung für das System der gesetzlichen Krankenversicherung, solange der Fehlbetrag nicht anderweit kompensiert wird. Geht man mit dem Gesetzgeber davon aus, dass jeder Teilbeitrag im Beitragssatzsicherungsgesetz erforderlich ist, um die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung als Ganzes - zumindest vorläufig bis zu einer Strukturreform - zu erhalten, wird diese in dem Ausmaß gefährdet, in dem die Rabatte nicht realisiert werden können. Nach dem Bericht des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages (BTDrucks 15/75, S.1) werden die Minderausgaben durch die den pharmazeutischen Großhandel treffenden Abschläge größer sein als die bei Ärzten und Krankenhäusern zusammen. Das Beitragssatzsicherungsgesetz sieht ein Paket von Maßnahmen zur Bekämpfung des Defizits im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Das Beitragsaufkommen wird durch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze erhöht, das Sterbegeld wird abgesenkt, Ärzten, Zahnärzten und Krankenhäusern werden Nullrunden vorgeschrieben und bei den Arzneimitteln tragen neben den Großhändlern auch die Pharmaunternehmen und die Apotheken durch Rabatte zu den Minderausgaben bei. Erst die Summe aller Sparmaßnahmen ergibt eine spürbare Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen. Allen Maßnahmen kommt im Hinblick auf das Gemeinwohl gleiches Gewicht zu. | |
Träte infolge der einstweiligen Anordnung ein Teil der finanziellen Entlastung nicht ein, müssten sich die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung sowie der Gesetzgeber sofort auf höhere Ausgaben einstellen und hierauf gegebenenfalls mit Beitragserhöhungen, mit der Belastung sonstiger Gruppen oder mit Einsparungen bei den Leistungen reagieren. | |
b) Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweist sich das Gesetz aber später im Hauptsacheverfahren als verfassungswidrig, drohen allerdings der Antragstellerin und sonstigen pharmazeutischen Großhändlern jedenfalls bis zur Entscheidung in der Hauptsache wirtschaftliche Nachteile. Ein endgültiger und auf Dauer nicht kompensierbarer Schaden ist aber nicht anzunehmen. Die vorübergehend zu erwartenden Nachteile sind auch nicht sehr schwerwiegend. | |
Die Antragstellerin und ihre Konkurrenten auf dem deutschen Markt haben gegenüber den Apotheken angekündigt, dass sie den sie treffenden 3%igen Abschlag mit den bisher gewährten Großhandelsrabatten verrechnen werden. Deshalb werden die pharmazeutischen Großhändler lediglich geringfügige finanzielle Einbußen erleiden. Zum einen geht ein Teil des Arzneimittelumsatzes nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung und ist von der hier angegriffenen Regelung gar nicht betroffen. Insoweit reduzieren sich die von der Antragstellerin geschilderten Nachteile bei der Verrechnung mit früher ausgehandelten Rabatten, soweit der einzelnen Apothekern eingeräumte Rabatt niedriger als der Zwangsabschlag nach Art.11 BSSichG ist. Dieser Niedrigrabattbereich hat nach den Ausführungen der Antragstellerin einen Anteil an ihrem Gesamtumsatz von 13 vom Hundert, betrifft aber nur zum Teil Produkte, die zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgegeben werden. Das vergrößert den Spielraum zur Verrechnung mit den dort bisher maßgeblichen Rabatten von durchschnittlich 1,7 vom Hundert. Bei 87 vom Hundert ihres Umsatzes kann die Antragstellerin nach eigenem Vortrag die Belastung voll an die Apotheker weitergeben und diesen dennoch Einkaufsrabatte zwischen 2 und 4 vom Hundert einräumen. Damit liegt auf der Hand, dass die verbleibenden Einbußen nicht von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung sind. | |
Die von der Antragstellerin befürchteten weiteren Nacheile, wie Wanderbewegungen der Kunden und eine Verminderung der Anzahl der Apotheken im Zuge von Insolvenzen, betreffen wirtschaftliche Risiken, die aus dem Marktgeschehen resultieren, an dem die Antragstellerin teilnimmt, wobei der Zusammenhang dieser Folgen mit der vorliegend angegriffenen gesetzlichen Regelung in Art.11 BSSichG nur schwer nachvollziehbar ist. Die Differenzen in der Höhe der Rabattgewährung entsprechen den Effizienzgewinnen beim Großhandel infolge unterschiedlichen Bestellverhaltens der Apotheken; Wanderbewegungen mögen zwar zu Änderungen der für den jeweiligen Kunden maßgebenden Rabatthöhe führen, nicht aber zu Gewinneinbußen des Großhändlers, sofern er seine Rabatte nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten staffelt. Die Antragstellerin hat in diesem Zusammenhang auch nicht dargelegt, dass die Geschäfte, bei denen sie mit 8,9 vom Hundert den höchsten Rabatt auf Arzneimittelbestellungen gewährt, ihre Rendite mehr belasten als die Handelsgeschäfte im Niedrigrabattbereich. | |
c) Schon wenn die jeweiligen Nachteile der abzuwägenden Folgenkonstellationen einander in etwa gleichgewichtig gegenüber stehen, gebietet es die gegenüber der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers notwendige Zurückhaltung des Gerichts, das angegriffene Gesetz nicht am In-Kraft-Treten zu hindern, bevor geklärt ist, ob es vor der Verfassung Bestand hat (vgl BVerfGE_104,51 <60>). Vorliegend ergibt die Abwägung, dass die Nachteile für das gemeine Wohl bei Erlass der einstweiligen Anordnung diejenigen sogar überwiegen, die der Antragstellerin und dem pharmazeutischen Großhandel insgesamt bei Ablehnung des Antrags drohen. | |
Eine generelle Gefährdung der Arzneimitteldistribution und eine Minderversorgung der Kranken kann vorliegend ausgeschlossen werden. Die geringfügigen Einbußen, die den Großhändlern verbleiben, sofern es ihnen nicht gelingt, mit den Pharmaherstellern und den Apothekern veränderte Konditionen auszuhandeln, fallen kaum ins Gewicht. Das Gesetz verändert die Rahmenbedingungen, unter denen die Großhändler mit den Pharmaunternehmen auf der einen Seite und den Apotheken auf der anderen Seite die Preise aushandeln. Verkleinert hat sich der Spielraum, den die Arzneimittelpreisverordnung dem Großhandel belässt und der bisher den Apotheken und dem Großhandel, an dem etwa zur Hälfte die Apotheker auch genossenschaftlich beteiligt sind, zugute kam. Voraussichtlich wird sich das Gesamtgefüge des Pharmahandels verändern. Wie letztlich die Belastungen des Beitragssatzsicherungsgesetzes verteilt werden und welchen Anteil des sie treffenden 3%igen Abschlags schließlich die Großhändler tragen, welchen sie an die Pharmaunternehmen weitergeben und inwiefern sie sich bei den Apotheken entlasten können, ist nicht sicher vorherzusagen. | |
Demgegenüber wiegt das Anliegen des Gesetzgebers, bis zu einer größeren Reform die gesetzliche Krankenversicherung unter Einbeziehung zahlreicher Gruppen sofort finanziell zu entlasten, schwerer. Denn die negativen Folgen für die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung treten bei einer vorläufigen Aussetzung des Gesetzes sofort ein, können später kaum oder nur unzureichend ausgeglichen werden und beeinflussen die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Dem Gemeinwohlbelang der finanziellen Sicherung der gesetzlichen Krankenversicherung kann nicht entgegengehalten werden, dass die Abschläge für den pharmazeutischen Großhandel nur einen geringen Anteil an den Gesamtausgaben darstellt. Bei einem Spargesetz, das viele Gruppen in Anspruch nimmt, ist jeder Teilbeitrag von Bedeutung. Das gesetzgeberische Konzept würde zu Lasten anderer unterlaufen, wenn einzelne Gruppen sich darauf berufen dürften, dass ihr Anteil am Gesamtvolumen eines Spargesetzes für das gesamtwirtschaftliche Interesse minder bedeutsam sei. | |
Würde das Gesetz außer Kraft gesetzt und verhielten sich die Marktteilnehmer weiter wie bisher, wäre es letztlich unmöglich, nachträglich die an die Kunden weitergereichten Gewinne noch abzuschöpfen. Jedenfalls ist ein Wirtschaftszweig, der seinen Kunden auf einem teilregulierten Markt durchschnittlich in Höhe von 6 bis 7 vom Hundert des Umsatzes Rabatte einräumen kann, wirtschaftlich nicht gefährdet, wenn ihm ein 3%iger Rabatt zugunsten des größten, aber nicht einzigen Endabnehmers auferlegt wird, ohne dass in die Preisgestaltung im Übrigen eingegriffen wird. Diese Aussage bleibt richtig, auch wenn sich der 3%ige Abschlag auf eine andere Ausgangsgröße bezieht und gemessen am Einkaufsumsatz der Apotheker 4,2 vom Hundert - wie in einem der Anschreiben an die Apotheker angekündigt - oder 4,9 vom Hundert - wie von der Antragstellerin behauptet - ausmacht." | |
Auszug aus BVerfG B, 15.01.03, - 1_BvQ_54/02 -, www.BVerfG.de, Abs.20 ff | |
§§§ | |
03.004 | Jugendstrafverfahren |
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1) Es gehört zu dem von Art.6 Abs.2 Satz 1 GG geschützten Verantwortungsbereich der Eltern, die Rechte ihrer Kinder dem Staat oder Dritten gegenüber zu schützen. Daraus folgt von Verfassungs wegen die Notwendigkeit einer frühzeitigen Beteiligung von Eltern im Jugendstrafverfahren. Vorschriften, die Eltern Beteiligungsrechte entziehen oder sie aus der Hauptverhandlung ausschließen, sind Eingriffe in verfassungsrechtlich geschützte Elternrechte. | |
2) Die Sicherung des Rechtsfriedens durch Strafrecht und die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in einem justizförmigen Verfahren sind Verfassungsaufgaben, die mit dem elterlichen Erziehungsrecht in Konflikt geraten können. Eine Kollision zwischen dem Elternrecht und dem Verfassungsgebot des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes führt nicht zwangsläufig zu einem Zurückdrängen elterlicher Rechte; sie ist vielmehr durch Abwägung aufzulösen, wobei das betroffene Elternrecht und der strafrechtliche Rechtsgüterschutz zum Ausgleich gebracht werden müssen. | |
3) Das Recht zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs kann zwar einen Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht erlauben, macht es aber nicht entbehrlich, dass auch dieser Eingriff ein hinreichend bestimmtes Gesetz zur Grundlage hat. | |
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Urteil | Entscheidungsformel:
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§§§ | |
03.005 | Rechtsanwaltsgebühren-Ost |
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Es ist im Hinblick auf die veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen für die Tätigkeit der Rechtsanwälte mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG nicht mehr vereinbar, dass die gesetzlichen Gebühren von Rechtsanwälten, die ihre Kanzlei in den neuen Ländern eingerichtet haben, um 10 vom Hundert ermäßigt werden (Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr.26 Buchstabe a Satz 1 des Einigungsvertrags iVm § 1 der Ermäßigungssatz-Anpassungsverordnung). | |
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Urteil | Entscheidungsformel:
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§§§ | |
03.006 | Elterliche Sorge |
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1) Das Kindeswohl verlangt, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person hat, die für das Kind rechtsverbindlich handeln kann. Angesichts der Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse, in die nichteheliche Kinder hineingeboren werden, ist es verfassungsgemäß, das nichteheliche Kind bei seiner Geburt sorgerechtlich grundsätzlich der Mutter zuzuordnen. | |
2) Die durch § 1626a Abs.1 Nr.1 BGB den Eltern eines nichtehelichen Kindes eröffnete Möglichkeit zur gemeinsamen Sorgetragung beruht auf einem Regelungskonzept für die elterliche Sorge, das unter Kindeswohlgesichtspunkten den Konsens der Eltern über die gemeinsame Sorgetragung zu deren Voraussetzung macht. Es liegen derzeit keine Anhaltspunkte dafür vor, dass damit dem Elternrecht des Vaters eines nichtehelichen Kindes aus Art.6 Abs.2 GG nicht ausreichend Rechnung getragen wird. | |
3) In Fällen, in denen die Eltern mit dem Kind zusammenleben und beide ihre Kooperationsbereitschaft schon durch gemeinsame tatsächliche Sorge für das Kind zum Ausdruck gebracht haben, durfte der Gesetzgeber davon ausgehen, dass die Eltern die nunmehr bestehende gesetzliche Möglichkeit einer gemeinsamen Sorgetragung in der Regel nutzen und ihre tatsächliche Sorge durch Sorgeerklärungen auch rechtlich absichern. | |
4) Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die tatsächliche Entwicklung zu beobachten und zu prüfen, ob seine Annahme auch vor der Wirklichkeit Bestand hat. Stellt sich heraus, dass dies regelmäßig nicht der Fall ist, wird er dafür sorgen müssen, dass Vätern nichtehelicher Kinder, die mit der Mutter und dem Kind als Familie zusammenleben, ein Zugang zur gemeinsamen Sorge eröffnet wird, der ihrem Elternrecht aus Art.6 Abs.2 GG unter Berücksichtigung des Kindeswohls ausreichend Rechnung trägt. | |
5) Eltern, die mit ihrem nichtehelichen Kind zusammengelebt, sich aber noch vor In-Kraft-Treten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1.Juli 1998 getrennt haben, ist die Möglichkeit zur gerichtlichen Überprüfung einzuräumen, ob trotz entgegenstehendem Willen eines Elternteils eine gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl nicht entgegensteht. | |
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Urteil | Entscheidungsformel:
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§§§ | |
03.007 | Verfahrensdauer |
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LB 1) Das Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes fordert - nicht zuletzt im Interesse des Beschuldigten - die angemessene Beschleunigung des Strafverfahrens. Eine von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens verletzt den Beschuldigten in seinem Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren (vgl BVerfGE_63,45 <69>; | |
LB 2) Ob eine mit dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes nicht im Einklang stehende Verfahrensverzögerung vorliegt, bestimmt sich nach den besonderen Umständen des Einzelfalls (vgl BVerfGE_55,349 <369> zur Dauer eines verwaltungsgerichtlichen Revisionsverfahrens), die in einer umfassenden Gesamtwürdigung gegeneinander abgewogen werden müssen. | |
LB 3) Die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zwingt die Strafverfolgungsbehörden dazu, dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu berücksichtigen. | |
LB 4) Die verfassungsrechtlich gebotenen Folgen aus einer Verfahrensverzögerung ziehen Gerichte und Anklagebehörden in Anwendung des Straf- und Strafverfahrensrechts unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls. | |
LB 5) Ihre Möglichkeiten reichen von einer Einstellung des Verfahrens nach den §§ 153, 153a StPO, einer Beschränkung der Strafverfolgung nach §§ 154, 154a StPO über eine Beendigung des Verfahrens durch das Absehen von Strafe oder eine Verwarnung mit Strafvorbehalt bis hin zu einer Berücksichtigung bei der Strafzumessung. | |
LB 6) Die erheblichen Verzögerungen, mit denen das Verfahren von den Ermittlungsbehörden und dem Amtsgericht betrieben worden ist und die dadurch bedingte Gesamtdauer des Verfahrens von fast sechs Jahren seit Kenntnis der Beschwerdeführer von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens bis zum rechtskräftigen Abschluss sind mit rechtsstaatlichen Anforderungen an die Durchführung eines Strafverfahrens in Jugendsachen nicht vereinbar. | |
§§§ | |
03.008 | Impfstoffversand |
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Das gesetzliche Verbot, Impfstoffe an Ärzte zu versenden und hierfür zu werben, verletzt die Apotheker in ihrem Grundrecht aus Art.12 Abs.1 GG. | |
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Beschluss | Entscheidungsformel:
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§§§ | |
03.009 | Familienversicherung |
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§ 10 Abs.3 SGB V verstößt nicht gegen Art.3 Abs.1 in Verbindung mit Art.6 Abs.1 GG, soweit er Ehen und nichteheliche Lebensgemeinschaften in Bezug auf den Ausschluss von Kindern aus der Familienversicherung unterschiedlich behandelt. | |
§§§ | |
03.010 | Abgesenkte Ostbesoldung |
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1) Art.143 Abs.1 und 2 GG ist nicht als spezieller Gleichheitssatz zu verstehen, der die Zulässigkeit einer auf den besonderen Verhältnissen im Beitrittsgebiet beruhenden Differenzierung abschließend regelt. | |
2) Es besteht kein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Art.33 Abs.5 GG, der es dem Besoldungsgesetzgeber verwehrt, die Höhe der dem Beamten gezahlten Bezüge aus sachlich vertretbaren Gründen regional zu differenzieren. | |
3) Die niedrigere Besoldung für Beamte, Richter und Soldaten in den neuen Ländern gemäß § 73 BBesG und § 2 der 2.BesÜV ist im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz derzeit noch gerechtfertigt. | |
4) § 73 BBesG stellt für eine dauerhafte Aufrechterhaltung zweier unterschiedlich bemessener Besoldungen in Ost und West keine geeignete Grundlage dar. | |
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Beschluss | Entscheidungsformel:
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§§§ | |
03.011 | Ostbesoldung-Zuschuss |
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LB 1) Der Ausschluss von Richtern, die nicht alle laufbahnrechtlichen Vor- und Ausbildungsvoraussetzungen im bisherigen Bundesgebiet erworben haben, von der Gewährung eines Zuschusses gemäß § 4 der 2.BesÜV ist mit Art.3 Abs.1 GG vereinbar. Das mit Erfolg absolvierte rechtswissenschaftliche Studium vermittelt grundlegende fachbezogene Inhalte, die im späteren Amt fortwirken; ihm kommt deshalb laufbahnrechtlich ein bedeutendes Gewicht zu. | |
LB 2) Eine Besoldungsdifferenzierung, die der Bewältigung von Transformationsproblemen im Zuge der Wiedervereinigung dient, verstößt nicht deshalb gegen das Verbot der Diskriminierung wegen der Heimat (Art.3 Abs.3 Satz 1 GG), weil Personen davon je nach Ausbildung im früheren Bundesgebiet oder im Beitrittsgebiet in unterschiedlicher Weise betroffen sind. | |
§§§ | |
03.012 | HIV |
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Zur Reichweite der Menschenwürdegarantie (Art.1 Abs.1 GG) als Schranke kommerzieller Aufmerksamkeitswerbung (Fortführung von BVerfGE_102,347 - Benetton-Werbung). | |
LB 2) Die "H.I.V. POSITIVE"-Anzeige unterfällt dem Schutzbereich der Pressefreiheit der Beschwerdeführerin, der auch in Werbeanzeigen enthaltene fremde Meinungsäußerungen umfasst. | |
LB 3) Berührt eine zivilgerichtliche Entscheidung die Meinungsfreiheit, so fordert Art.5 Abs.1 Satz 1 GG, dass die Gerichte der Bedeutung dieses Grundrechts bei der Auslegung und Anwendung des Privatrechts Rechnung tragen (vgl BVerfGE_7,198 <206 ff>; BVerfGE_86,122 <128 f>; stRspr). | |
LB 4) Einschränkungen des für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung unverzichtbaren Rechts der freien Meinungsäußerung (vgl BVerfGE_7,198 <208>; stRspr) bedürfen einer Rechtfertigung durch hinreichend gewichtige Gemeinwohlbelange oder schutzwürdige Rechte und Interessen Dritter. | |
LB 5) Grundlage für die Bewertung jeder Meinungsäußerung ist die Ermittlung ihres Sinns. Dabei kommt es nicht auf nach außen nicht erkennbare Absichten des Urhebers der Äußerung an, sondern auf die Sichtweise eines verständigen Empfängers unter Berücksichtigung der für ihn wahrnehmbaren, den Sinn der Äußerung mitbestimmenden Umstände (vgl BVerfGE_93,266 <295>). | |
LB 6) Die Menschenwürde setzt der Meinungsfreiheit auch im Wettbewerbsrecht eine absolute Grenze (vgl BVerfGE_102,347 <366 f>). Art.1 Abs.1 GG verpflichtet die staatliche Gewalt, alle Menschen gegen Angriffe auf die Menschenwürde zu schützen. Solche Angriffe können in Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und anderen Verhaltensweisen bestehen, die dem Betroffenen seinen Achtungsanspruch als Mensch absprechen (vgl BVerfGE_1,97 <104>). | |
LB 7) Die Menschenwürde als Fundament aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig. Da aber die Grundrechte insgesamt Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde sind, bedarf es stets einer sorgfältigen Begründung, wenn angenommen werden soll, dass der Gebrauch eines Grundrechts die unantastbare Menschenwürde verletzt (vgl BVerfGE_93,266 <293>). | |
LB 8) Bei der Auslegung des § 1 UWG gilt das insbesondere auch deshalb, weil bei Annahme eines Verstoßes gegen die Menschenwürde die sonst notwendige Rechtfertigung des Eingriffs in die Meinungsfreiheit durch einen hinreichend wichtigen Belang, insbesondere durch eine Gefährdung des an der Leistung orientierten Wettbewerbs, entfällt. | |
LB 9) Bei Anwendung dieses Maßstabs trägt der Aufmerksamkeitswerbezweck der Anzeige nicht die Bewertung, die Anzeige sei menschenwürdeverletzend. | |
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T-03-04 | Menschenwürdegarantie |
"Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin in ihrer durch Art.5 Abs.1 Satz 2 GG gewährleisteten Pressefreiheit. | |
Die "H.I.V. POSITIVE"-Anzeige unterfällt dem Schutzbereich der Pressefreiheit der Beschwerdeführerin, der auch in Werbeanzeigen enthaltene fremde Meinungsäußerungen umfasst. Eine Meinungsäußerung im Sinne des Art.5 Abs.1 Satz 1 GG ist die Anzeige als sprechendes Bild mit meinungsbildendem, einen gesellschaftlichen Missstand veranschaulichendem Inhalt. Dies gilt trotz des Werbekontextes und obwohl Benetton auf einen Kommentar verzichtet hat. Auf eine bloße Absicht, sich als Unternehmen ins Gespräch zu bringen, kann die Anzeige nicht reduziert werden (vgl BVerfGE_102,347 <359 f>). | |
Mit dem durch das angegriffene Urteil bestätigten Abdruckverbot wird die Beschwerdeführerin in ihrer Pressefreiheit eingeschränkt. Diese Einschränkung ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Der Bundesgerichtshof verkennt bei seiner wettbewerbsrechtlichen Beurteilung der Anzeige Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit, auf die sich die Beschwerdeführerin im Rahmen ihrer Pressefreiheit berufen kann (vgl BVerfGE_102,347 <359 f>). | |
1. Berührt eine zivilgerichtliche Entscheidung die Meinungsfreiheit, so fordert Art.5 Abs.1 Satz 1 GG, dass die Gerichte der Bedeutung dieses Grundrechts bei der Auslegung und Anwendung des Privatrechts Rechnung tragen (vgl BVerfGE_7,198 <206 ff>; BVerfGE_86,122 <128 f>; stRspr). Die Auslegung und Anwendung des § 1 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (im Folgenden: UWG), auf den das angegriffene Urteil gestützt ist, ist im Einzelnen Sache der Zivilgerichte. Das Bundesverfassungsgericht kann nur eingreifen, wenn Fehler erkennbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl BVerfGE_18,85 <92 f>; stRspr). Das ist hier der Fall. | |
2. Einschränkungen des für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung unverzichtbaren Rechts der freien Meinungsäußerung (vgl BVerfGE_7,198 <208>; stRspr) bedürfen einer Rechtfertigung durch hinreichend gewichtige Gemeinwohlbelange oder schutzwürdige Rechte und Interessen Dritter. Das gilt für kritische Meinungsäußerungen zu gesellschaftlichen oder politischen Fragen in besonderem Maße (vgl BVerfGE_102,347 <363>). Bei einer Einschränkung auf der Grundlage des § 1 UWG muss die Verletzung eines hinreichend wichtigen durch diese Norm geschützten Belangs dargetan werden (vgl BVerfG, 1.Kammer des Ersten Senats, Beschlüsse vom 1.August 2001 - 1 BvR 1188/92 -, NJW 2001, S.3403 <3404 f> und vom 6.Februar 2002 - 1 BvR 952/90, 1 BvR 2151/96 -, NJW 2002, S.1187 <1188 f>). Dass hier solche Belange verletzt wären, bejaht der Bundesgerichtshof zu Unrecht. Er geht zwar zutreffend davon aus, dass die Menschenwürde der Meinungsfreiheit auch im Wettbewerbsrecht eine absolute Grenze setzt (vgl BVerfGE_102,347 <366 f>). Entgegen seiner Annahme ist diese Grenze aber nicht verletzt. | |
a) Grundlage für die Bewertung jeder Meinungsäußerung ist die Ermittlung ihres Sinns. Dabei kommt es nicht auf nach außen nicht erkennbare Absichten des Urhebers der Äußerung an, sondern auf die Sichtweise eines verständigen Empfängers unter Berücksichtigung der für ihn wahrnehmbaren, den Sinn der Äußerung mitbestimmenden Umstände (vgl BVerfGE_93,266 <295> ). Wie bestimmte Minder- oder Mehrheiten von Rezipienten die Äußerung tatsächlich verstehen, kann ein Argument, muss aber nicht entscheidend sein. Ist der Sinn einer Äußerung umstritten, so ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, eine von den Fachgerichten unter Beachtung der grundrechtlichen Anforderungen ermittelte Deutung durch eine andere zu ersetzen (vgl BVerfGE_102,347 <367> ). Zu diesen Anforderungen gehört indessen, dass der Kontext berücksichtigt und der Äußerung kein zur Verurteilung führender Sinn zugeschrieben wird, den sie objektiv nicht haben kann. Umgekehrt dürfen ihr keine entlastenden Aussagegehalte abgesprochen werden, die sie objektiv hat. Bei mehrdeutigen Äußerungen müssen sich die Gerichte im Bewusstsein der Mehrdeutigkeit mit den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten auseinander setzen und für die gefundene Lösung nachvollziehbare Gründe angeben (vgl BVerfGE_93,266 <295 f>; BVerfGE_94,1 <10 f>). | |
Nach diesem Maßstab ist die Auslegung des Aussagegehalts der Anzeige durch den Bundesgerichtshof im Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Bundesgerichtshof meint, die Anzeige treffe überhaupt keine eigene Aussage, diskutiert aber unterschiedliche Verständnisvarianten, welche die Anzeige bei den Rezipienten auslösen könne, und rechnet einzelne Varianten der Anzeige zu. Vom sonst üblichen Vorgang der Ermittlung des Sinns von Äußerungen unterscheidet sich dieses Vorgehen nur terminologisch; was einer Meinungsäußerung als Verständnis der Rezipienten zugerechnet werden kann, ist auch ihr durch Deutung aus dem Empfängerhorizont ermittelter Sinn. | |
Der Bundesgerichtshof geht unter dieser Annahme davon aus, die Anzeige könne als sozialkritische Botschaft verstanden werden. Nach diesem Verständnis soll der Öffentlichkeit mit der Anzeige die Stigmatisierung H.I.V.-Infizierter als gesellschaftlicher Missstand vor Augen geführt werden. Die Alternative, dass der Anzeige eine die Stigmatisierung H.I.V.-Infizierter befürwortende Botschaft entnommen werden könne, schließt der Bundesgerichtshof mit guten Gründen als unplausibel aus. | |
Neben den Aussagegehalt hat der Bundesgerichtshof bei seiner Auslegung den Aussagezweck gestellt. Er legt dar, die Anzeige diene ungeachtet ihres sozialkritischen Aussagegehalts dazu, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit absatzfördernd auf das werbende Unternehmen zu lenken. Dabei handelt es sich entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht um eine alternative Deutung der Anzeige als Meinungsäußerung. Der Aufmerksamkeitswerbezweck als solcher ist keine Meinungsäußerung im Sinne des Art.5 Abs.1 Satz 1 GG. Es liegt eine sozialkritische Meinungsäußerung vor, die zugleich einen eigennützigen Werbezweck verfolgt. | |
Da der Werbezweck zum Kontext der sozialkritischen Botschaft gehört, kann er deren Deutung beeinflussen. Insoweit ist dem Bundesgerichtshof zu folgen. Sozialkritik und Werbezweck schließen einander hier nicht aus. Der sozialkritische Gehalt der Anzeige und der auf Aufmerksamkeit für das Unternehmen abzielende Aspekt bestehen nebeneinander, ohne einander zu widersprechen. Die Annahme, es sei eigentlich nur das eine oder das andere gewollt, findet in der Anzeige und ihrem Kontext keine Stütze. Dem steht nicht entgegen, dass die Anzeige von Teilen der Bevölkerung möglicherweise nur mit ihrem Aufmerksamkeitswerbeaspekt wahrgenommen wird oder dass andere den Werbehinweis übersehen. Der zugleich fremd- und eigennützige Zweck der Anzeige ist ungewohnt und kann als irritierend empfunden werden. Das mag dazu verleiten, den sozialkritischen Gehalt zu ignorieren oder als pseudokritisch abzutun. Die Meinungsfreiheit gebietet indessen, eine Sichtweise einzunehmen, die so differenziert ist wie die zu bewertende Aussage selbst. Das hat der Bundesgerichtshof getan, indem er festgestellt hat, dass die Anzeige ungeachtet ihres Werbezwecks als Sozialkritik verstanden werden kann. | |
b) Ausgehend von dieser Analyse kommt der Bundesgerichtshof in seiner Bewertung zu dem Ergebnis, die Anzeige verletze wegen ihres Zwecks die Menschenwürde. Aufmerksamkeitswerbung, die das Elend der Betroffenen zum eigenen kommerziellen Vorteil als Reizobjekt ausbeute, sei mit Art.1 Abs.1 GG unvereinbar. Ein Aufruf zur Solidarität mit Menschen in Not sei zynisch und verletze ihren Anspruch auf Achtung und mitmenschliche Solidarität um ihrer selbst willen, wenn er mit dem Geschäftsinteresse verbunden werde, die eigenen Unternehmensumsätze in einem ganz anderen Bereich zu steigern. | |
Diese Beurteilung verkennt die Reichweite der Menschenwürde als Schranke der Meinungsfreiheit im Wettbewerbsrecht. Die Menschenwürde setzt der Meinungsfreiheit auch im Wettbewerbsrecht eine absolute Grenze (vgl BVerfGE_102,347 <366 f>). Art.1 Abs.1 GG verpflichtet die staatliche Gewalt, alle Menschen gegen Angriffe auf die Menschenwürde zu schützen. Solche Angriffe können in Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und anderen Verhaltensweisen bestehen, die dem Betroffenen seinen Achtungsanspruch als Mensch absprechen (vgl BVerfGE_1,97 <104> ). Die Menschenwürde als Fundament aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig. Da aber die Grundrechte insgesamt Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde sind, bedarf es stets einer sorgfältigen Begründung, wenn angenommen werden soll, dass der Gebrauch eines Grundrechts die unantastbare Menschenwürde verletzt (vgl BVerfGE_93,266 <293>). Bei der Auslegung des § 1 UWG gilt das insbesondere auch deshalb, weil bei Annahme eines Verstoßes gegen die Menschenwürde die sonst notwendige Rechtfertigung des Eingriffs in die Meinungsfreiheit durch einen hinreichend wichtigen Belang, insbesondere durch eine Gefährdung des an der Leistung orientierten Wettbewerbs (vgl. BVerfG, 1.Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 6.Februar 2002 - 1 BvR 952/90, 1 BvR 2151/96 -, NJW 2002, S.1187 <1188>), entfällt. | |
Bei Anwendung dieses Maßstabs trägt der Aufmerksamkeitswerbezweck der Anzeige nicht die Bewertung, die Anzeige sei menschenwürdeverletzend. Die Anzeige benennt das Elend der Aidskranken und überlässt dem Betrachter die Interpretation. In eine Botschaft, die den gebotenen Respekt vermissen ließe, indem sie etwa die Betroffenen verspottet, verhöhnt oder erniedrigt oder das dargestellte Leid verharmlost, befürwortet oder in einen lächerlichen oder makabren Kontext stellt, wird sie durch den Werbezweck nicht verwandelt. Allein der Umstand, dass das werbende Unternehmen von der durch die Darstellung erregten öffentlichen Aufmerksamkeit auch selbst zu profitieren versucht, rechtfertigt den schweren Vorwurf einer Menschenwürdeverletzung nicht. Der Schutz der Menschenwürde rechtfertigt im Rahmen des § 1 UWG unabhängig vom Nachweis einer Gefährdung des Leistungswettbewerbs ein Werbeverbot, wenn die Werbung wegen ihres Inhalts auf die absolute Grenze der Menschenwürde stößt. Wird diese Grenze beachtet, kann nicht allein der Werbekontext dazu führen, dass eine ansonsten zulässige Meinungsäußerung die Menschenwürde verletzt. Wohl kann die Anzeige, indem sie Leid nicht im sonst üblichen politischen, karitativen oder berichterstattenden, sondern in einem kommerziellen Kontext thematisiert, als befremdlich empfunden oder für ungehörig gehalten werden (vgl BVerfGE_102,347 <363>). Ein ausschließlich oder vorrangig auf das Leid selbst bezogener Umgang mit derartigen Themen mag moralisch vorzugswürdig sein, durch Art.1 Abs.1 GG geboten ist er nicht. | |
c) Der Bundesgerichtshof hält die Anzeige auch deshalb für sittenwidrig, weil sie bei einem nicht unerheblichen Teil der Betrachter Gefühle von Angst und Bedrohung durch Aids auslösen könne und die von Aids Betroffenen und ihre Angehörigen in unzumutbarer Weise in Form der Werbung mit ihrer Not konfrontiere. Auch diese ergänzenden Erwägungen schließen die Annahme eines Verfassungsverstoßes nicht aus. Hinsichtlich der vom dargestellten Leid Betroffenen gilt das selbst dann, wenn ein Teil von ihnen angesichts der kommerziellen Motivation der Anzeige auf deren aufrüttelnde Wirkung lieber verzichten würde. Eine solche Haltung wäre verständlich, auch wenn es anderen Betroffenen wichtiger sein mag, die Öffentlichkeit mit dem Thema in Kontakt zu halten. Jedenfalls solange die Werbeanzeige wie hier die Not H.I.V.-Infizierter unter Achtung der Menschenwürde thematisiert, ist damit jedoch die Verletzung eines hinreichend schützenswerten Interesses der Betroffenen nicht dargetan. Dass schließlich auch der Gesichtspunkt des Schutzes der Bevölkerung vor unzumutbaren Belästigungen durch Werbemaßnahmen das Verbot der Anzeige nicht zu rechtfertigen vermag, hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl BVerfGE_102,347 <363 f>). | |
Wollte man kommerziellen Werbeanzeigen wegen des mit ihnen stets verbundenen Eigennutzes die Thematisierung von Leid verbieten, hätte ein wesentlicher Teil der Realität in der allgegenwärtigen, Sichtweisen, Werte und Einstellungen der Menschen nicht unerheblich beeinflussenden Werbewelt von vornherein keinen Platz. Das kann angesichts des besonders schützenswerten Interesses an der Thematisierung gesellschaftlicher Probleme (vgl BVerfGE_28,191 <202>) kein mit der Meinungs- und der Pressefreiheit vereinbares Ergebnis sein." | |
Auszug aus BVerfG B, 11.03.03, - 1_BvR_426/02 -, www.BVerfG.de, Abs.15 ff | |
§§§ | |
03.013 | 5%-Sperrklausel |
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LB 1) Das Landesorganstreitverfahren ( Art.99 GG, § 13 Nr.10 BVerfGG) betrifft die Frage, ob der Antragsgegner dadurch die Rechte der Antragstellerin verletzt hat, dass er anlässlich der Änderung des Gesetzes über die Wahlen in den Gemeinden und Kreisen in Schleswig-Holstein (Gemeinde- und Kreiswahlgesetz in der Fassung vom 19.März 1997, GVOBl S.152 - GKWG -) durch Gesetz vom 10.Oktober 2001 (GVOBl S.180) die 5 v.H.-Sperrklausel bei Kommunalwahlen beibehalten hat. | |
LB 2) Aus dem Sinn des prozessualen Begehrens und der Begründung der Anträge (vgl BVerfGE_1,14 <39>; BVerfGE_68,1 <68>) ergibt sich, dass die Antragstellerin auch mit dem Hauptantrag ein gesetzgeberisches Unterlassen, nicht aber eine Maßnahme im Sinne des § 64 Abs.1 BVerfGG (vgl BVerfGE_4,144 <147 f>; BVerfGE_60,53 <63>) angreift. Damit wird der Verfahrensgegenstand nicht ausgetauscht, sondern der Sinn des Begehrens der Antragstellerin klargestellt (vgl BVerfGE_68,1 <69>). | |
LB 3) Die damit aufgeworfene, bislang vom Bundesverfassungsgericht noch nicht entschiedene Frage, unter welchen Voraussetzungen eine bloße Untätigkeit des Gesetzgebers im Wege des Organstreitverfahrens angreifbar ist (vgl BVerfGE_92,80 <87>; BVerfGE_103,164 <168 f> ; zustimmend VerfGH Rheinland-Pfalz, DVBl 1972, S.783 <784 f>; VerfGH Nordrhein-Westfalen, DVBl 1999, S.1271; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, NordÖR 2001, S.64 <65>), bedarf auch hier keiner abschließenden Antwort. Die Organklage bliebe in jedem Fall unzulässig, weil die Antragstellerin zwar antragsbefugt wäre (a), sie aber jedenfalls die Frist des § 73 Abs.2 BVerfGG iVm § 64 Abs.3 BVerfGG nicht eingehalten hat (b). | |
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T-03-05 | Organklage |
"Die Organklage ist jedenfalls wegen Fristversäumung unzulässig (§ 73 Abs.2 BVerfGG iVm § 64 Abs.3 BVerfGG). | |
1. Die Antragstellerin wendet sich nach dem Wortlaut ihres Hauptantrags dagegen, dass der Antragsgegner bei der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes vom 10.Oktober 2001 beschlossen habe, die 5 v.H.-Sperrklausel in § 10 Abs.1 GKWG beizubehalten. Ihre Hilfsanträge richten sich dagegen, dass der Antragsgegner es unterlassen habe, bei der Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes durch das Gesetz vom 10.Oktober 2001 die 5 vH-Sperrklausel des § 10 Abs.1 GKWG aufzuheben, abzumildern oder zu überprüfen. | |
Aus dem Sinn des prozessualen Begehrens und der Begründung der Anträge (vgl BVerfGE_1,14 <39>; BVerfGE_68,1 <68>) ergibt sich, dass die Antragstellerin auch mit dem Hauptantrag ein gesetzgeberisches Unterlassen, nicht aber eine Maßnahme im Sinne des § 64 Abs.1 BVerfGG (vgl BVerfGE_4,144 <147 f>; BVerfGE_60,53 <63>) angreift. Damit wird der Verfahrensgegenstand nicht ausgetauscht, sondern der Sinn des Begehrens der Antragstellerin klargestellt (vgl BVerfGE_68,1 <69>). | |
a) Der Erlass des Änderungsgesetzes vom 10.Oktober 2001 kommt als Maßnahme im Sinne des § 64 Abs.1 BVerfGG nicht in Betracht. In dem Erlass des Gesetzes unter Beibehaltung der Sperrklausel liegt kein unvollständiges Handeln des Gesetzgebers (vgl BVerfGE_92,80 <87>; BVerfGE_103,164 <169>), denn es fehlt an einem sachlichen Zusammenhang zwischen dem Änderungsgesetz vom 10.Oktober 2001 und der Sperrklausel, auf Grund dessen der Gesetzgeber verpflichtet gewesen sein könnte, bei der Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes zugleich auch die Regelung über die Sperrklausel zu novellieren. Mit der Gesetzesänderung ist keine Veränderung der normativen Grundlagen der Sperrklausel, die der Begründung ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit dienten, einhergegangen. | |
Das Änderungsgesetz vom 10.Oktober 2001 regelt ausschließlich die einmalige Verlängerung der Wahlperiode und die Verschiebung des Wahltermins auf den Monat Mai. Die Sperrklausel wird von diesen Änderungen nicht berührt. Dementsprechend wurde auch weder im Gesetzentwurf vom 28.Juni 2001 noch im anschließenden Gesetzgebungsverfahren die Überprüfung oder Änderung der Sperrklausel erwogen. Die Sperrklausel war allein Gegenstand des mit diesem Gesetzgebungsvorhaben in keinem Zusammenhang stehenden Entschließungsantrags der FDP-Fraktion, der sich während der Dauer des Gesetzgebungsverfahrens im Sonderausschuss "Fortschreibung des kommunalen Verfassungsrechts" zur weiteren Beratung befand. Es kann deshalb auch nicht angenommen werden, der Antragsgegner habe mit der Beschlussfassung am 28.September 2001 konkludent zum Ausdruck gebracht, die Sperrklausel aufrechterhalten zu wollen. Die Ablehnung des Antrags der FDP-Fraktion durch Beschluss des Landtags vom 19.Juni 2002 hat die Antragstellerin nicht mit der Organklage angegriffen. 27 | |
b) Angriffsgegenstand des auf Nachbesserung und Überprüfung gerichteten Klagebegehrens der Antragstellerin kann auch nicht die angeblich nachbesserungsbedürftige Norm (§ 10 Abs. 1 Satz 1 GKWG) selbst sein. Als Gegenstand eines Organstreitverfahrens kommt allenfalls der Erlass der Norm in Betracht (vgl BVerfGE_2,143 <177>; BVerfGE_20,119 <129>; BVerfGE_20,134 <141>; BVerfGE_99,332 <337>). Der Erlass der Norm wird indes nicht angegriffen, wenn die Antragstellerin rügt, der Antragsgegner habe es versäumt, die Sperrklausel des § 10 Abs.1 Satz 1 GKWG den sich im Laufe der Zeit gewandelten Umständen anzupassen oder sie zumindest zu überprüfen. Damit macht sie vielmehr geltend, der Gesetzgeber habe eine Pflicht nicht befolgt, die nach Erlass der Norm neu entstanden sei. Sie rügt mithin ein erst nach Erlass der Norm zu Tage getretenes gesetzgeberisches Unterlassen. | |
2. Die damit aufgeworfene, bislang vom Bundesverfassungsgericht noch nicht entschiedene Frage, unter welchen Voraussetzungen eine bloße Untätigkeit des Gesetzgebers im Wege des Organstreitverfahrens angreifbar ist (vgl BVerfGE_92,80 <87>; BVerfGE_103,164 <168 f> ; zustimmend VerfGH Rheinland-Pfalz, DVBl 1972, S.783 <784 f>; VerfGH Nordrhein-Westfalen, DVBl 1999, S. 1271; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, NordÖR 2001, S.64 <65>), bedarf auch hier keiner abschließenden Antwort. Die Organklage bliebe in jedem Fall unzulässig, weil die Antragstellerin zwar antragsbefugt wäre (a), sie aber jedenfalls die Frist des § 73 Abs.2 BVerfGG iVm § 64 Abs.3 BVerfGG nicht eingehalten hat (b). | |
a) Die Antragsbefugnis ist entsprechend § 64 Abs.1 BVerfGG (vgl BVerfGE_27,44 <51>; BVerfGE_60,53 <63>) gegeben, wenn nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass der Antragsgegner Rechte der Antragstellerin, die aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten erwachsen, durch das beanstandete gesetzgeberische Unterlassen verletzt oder unmittelbar gefährdet hat (vgl BVerfGE_94,351 <362 f>; BVerfGE_99,19 <28>). Dies setzt voraus, dass sich die Antragstellerin auf eine Verfassungsnorm berufen kann, aus der sich eine Pflicht zum Tätigwerden des Gesetzgebers und damit korrespondierend ein ihr zustehendes Recht ergeben kann. | |
aa) Aus dem in Art.21 Abs.1 GG, Art.3 Abs.1 iVm Art.2 Abs.1 und 2 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein gewährleisteten Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien kann sich eine Pflicht des Gesetzgebers und ein entsprechender Anspruch der politischen Parteien ergeben, eine die Chancengleichheit berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch eine Entwicklung in Frage gestellt wird, die bei ihrem Erlass nicht abzusehen war. Es kann sich die vom Wahlgesetzgeber vorausgesetzte tatsächliche oder normative Grundlage geändert oder die bei Erlass der Bestimmung getroffene Prognose als irrig erwiesen haben (vgl BVerfGE_73,40 <94>; BVerfGE_82,322 <338 f>). | |
bb) Die Antragstellerin hat solche Umstände, die im Zeitpunkt der Novellierung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes durch das Gesetz vom 10.Oktober 2001 eine Rechtspflicht des Antragsgegners zur Aufhebung, Änderung oder Überprüfung der Sperrklauselregelung in § 10 Abs.1 Satz 1 GKWG hätten begründen können, nicht dargelegt (§§ 75, 23 Abs.1 Satz 2 BVerfGG). Ihrem Vorbringen lässt sich nicht entnehmen, inwiefern sich die für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Sperrklausel maßgeblichen Grundlagen verändert haben sollen. | |
Die Antragstellerin trägt nur vor, der Antragsgegner sei auf Grund des Entschließungsantrags der FDP-Fraktion und der hierüber geführten Plenardebatte am 1.Juni 2001 verpflichtet gewesen, die Sperrklausel in § 10 Abs.1 Satz 1 GKWG aufzuheben, abzumildern oder zumindest zu überprüfen. Es sei Grundtenor der Debatte gewesen, an der Sperrklausel müsse nicht zwingend festgehalten werden; einige Fraktionen hätten sogar die Ansicht vertreten, die Sperrklausel sei verfassungswidrig. Damit beruft sich die Antragstellerin lediglich auf allgemein-politische Anliegen einzelner Fraktionen, die eine möglicherweise aus veränderten tatsächlichen oder rechtlichen Rahmenbedingungen folgende Überprüfungs- und Nachbesserungspflicht jedoch nicht zum Gegenstand hatten. | |
Soweit in der Plenardebatte pauschal darauf hingewiesen wurde, die Erfahrungen anderer Länder, zB Baden-Württembergs, machten deutlich, dass die für die Sperrklausel angeführte Begründung - Sicherung der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen - nicht oder nicht mehr trage, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Allein damit wird ein für den Normbereich des § 10 Abs.1 Satz 1 GKWG bedeutsamer tatsächlicher Umstand, der zu einer neuen verfassungsrechtlichen Bewertung führen könnte, nicht aufgezeigt. Denn für die Einschätzung des Antragsgegners, ob die Sperrklausel aufrechtzuerhalten sei, ist grundsätzlich nicht von Bedeutung, wie andere Länder die Funktionsfähigkeit ihrer Kommunalvertretungen beurteilen und welche rechtlichen Vorkehrungen sie diesbezüglich für erforderlich halten. | |
Der Antragsgegner ist nicht schon deshalb verpflichtet, die Einführung einer Sperrklausel zu unterlassen oder diese aufzuheben, weil andere Länder ohne sie auskommen (vgl BVerfGE_1,208 <259>; BVerfGE_6,104 <119 f>; BVerfGE_12,139 <143>; BVerfGE_82,322 <338>); bei der Beurteilung der Sperrklausel sind die Verhältnisse im Lande Schleswig-Holstein maßgebend (vgl. BVerfGE_1,208 <259>; BVerfGE_82,322 <338>). Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn mit einem anderen Land, dessen Kommunalwahlrecht keine Sperrklausel kennt, wesentliche Übereinstimmungen in den Kommunalverfassungen (Aufgabenverteilung zwischen der Kommunalvertretung, dem Hauptverwaltungsbeamten und den Ausschüssen), in den Kommunalwahlgesetzen, in der Struktur der Kommunen, in der Parteienlandschaft und im bürgerschaftlichen Engagement in Wählergruppen oder als Einzelbewerber bestünden. Derartige Umstände sind jedoch von der Antragstellerin weder dargelegt worden noch sind solche ersichtlich. | |
Gleichwohl ist die Antragstellerin antragsbefugt, weil sich der normative Rahmen der Sperrklausel offenkundig durch das Gesetz zur Änderung des kommunalen Verfassungsrechts 1995 vom 22.Dezember 1995 (GVOBl 1996, S.33) verändert hat, mit dem die Direktwahl der hauptamtlichen Bürgermeister und der Landräte eingeführt wurde. Durch diese Veränderung könnte der Sperrklausel die verfassungsrechtliche Rechtfertigung entzogen und eine Überprüfungs- und Nachbesserungspflicht des Antragsgegners begründet worden sein, die im Zeitpunkt der Novellierung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes durch das Gesetz vom 10.Oktober 2001 fortbestand. | |
b) aa) Der Geltendmachung einer derartigen Rechtsverletzung im vorliegenden Organstreitverfahren steht jedoch der Fristablauf entgegen (§ 73 Abs.2 BVerfGG iVm § 64 Abs.3 BVerfGG). Die Ausschlussfrist des § 64 Abs. 3 BVerfGG gilt auch dann, wenn der Gesetzgeber die angeblich unerfüllte gesetzgeberische Handlungspflicht nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern fortdauernd nicht befolgt hat (fortdauerndes Unterlassen, vgl BVerfGE_92,80 <89>; BVerfGE_103,164 <170>). Sie bezweckt, im Organstreitverfahren angreifbare Rechtsverletzungen im Interesse der Rechtssicherheit nach einer bestimmten Zeitspanne außer Streit zu stellen (vgl BVerfGE_80,188 <210>). Dieses Interesse besteht auch bei fortdauerndem gesetzgeberischen Unterlassen. Wann in einem solchen Fall die Antragsfrist zu laufen beginnt, lässt sich nicht generell und für alle Fallgestaltungen festlegen. Die Frist wird allerdings spätestens dadurch in Lauf gesetzt, dass sich der Gesetzgeber erkennbar und eindeutig weigert, in der Weise tätig zu werden, die der Antragsteller zur Wahrung der Rechte aus seinem verfassungsrechtlichen Status für erforderlich hält (vgl BVerfGE_92,80 <89> mwN BVerfGE_103,164 <171>; stRspr) | |
bb) Der Antragsgegner hat das Gesetz zur Änderung des kommunalen Verfassungsrechts 1995 vom 22.Dezember 1995 am 11.Januar 1996 verkündet. Dadurch hat er es für die Antragstellerin, die sich zu diesem Zeitpunkt als politische Partei am Verfassungsleben in Schleswig-Holstein beteiligt hatte, erkennbar abgelehnt, die Regelung über die 5 vH-Sperrklausel aufzuheben, abzumildern oder zu überprüfen (vgl BVerfGE_103,164 <171>). Ändert der Gesetzgeber Vorschriften, die bisher zur Begründung der Sperrklausel dienten, so bringt er damit zum Ausdruck, dass er die Rechtslage, die er durch die Rechtsänderung herbeiführt, nicht für verfassungswidrig hält und sich zu weiteren Rechtsänderungen nicht veranlasst sieht. Dies macht er mit der Verkündung des Änderungsgesetzes deutlich (vgl BVerfGE_103,164 <171>); zu diesem Zeitpunkt gilt das Gesetz als allgemein bekannt geworden (vgl BVerfGE_16,6 <18 f>; BVerfGE_24,252 <258>; BVerfGE_103,164 <171 f>). Die demnach mit Verkündung des Gesetzes vom 22.Dezember 1995 in Lauf gesetzte Frist des § 64 Abs.3 BVerfGG war bei Eingang des Antrags im vorliegenden Verfahren am 25.März 2002 verstrichen. | |
cc) Eine andere Beurteilung folgt auch nicht aus der Entscheidung des Senats vom 13.Juni 1989 (BVerfGE_80,188 <210 ff>). Danach ist eine Vorschrift der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages erst von dem Zeitpunkt an als Maßnahme im Sinne von § 64 Abs.3 BVerfGG zu beurteilen, zu dem sie beim Antragsteller eine aktuelle rechtliche Betroffenheit auslöst. Wahlgesetze und wahlrechtlich bedeutsame Maßnahmen oder Unterlassungen führen unmittelbar zur rechtlichen Betroffenheit einer politischen Partei, ohne Rücksicht auf ihren Willen zur Beteiligung an der nächsten Wahl (vgl BVerfGE_92,80 <91>; BVerfGE_103,164 <170 ff>). Zum Begriff der politischen Partei im Sinne des Art.21 Abs.1 GG gehört ihr grundsätzlicher Wille, an Wahlen im Bund oder in den Ländern teilzunehmen (vgl BVerfGE_6,367 <372 f>; BVerfGE_24,260 <263 f>; BVerfGE_79,379 <384>; BVerfGE_92,80 <88, 91>; BVerfGE_103,164 <170>). Wahlgesetze und wahlrechtlich bedeutsame Maßnahmen oder Unterlassungen des Gesetzgebers betreffen daher unmittelbar den verfassungsrechtlichen Status der Parteien (vgl BVerfGE_92,80 <88, 91>; BVerfGE_103,164 <170>). | |
3. Sämtliche anderen zwischen dem Erlass des Gesetzes zur Änderung des kommunalen Verfassungsrechts 1995 vom 22.Dezember 1995 und dem Erlass des Gesetzes zur Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes vom 10.Oktober 2001 verabschiedeten Änderungen des Kommunalwahlgesetzes und der Kommunalverfassung hatten - wie das Gesetz zur Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes vom 10.Oktober 2001 selbst - keine Auswirkungen auf die Sperrklauselregelung. Sowohl das Änderungsgesetz vom 27.Februar 1997 (Herabsetzung des aktiven Wahlalters) als auch das Änderungsgesetz vom 18.März 1997 (Verlängerung der Frist für die Stichwahl der hauptamtlichen Bürgermeister - vgl BVerfGE_103,164 <170>) sowie das Änderungsgesetz vom 16.Dezember 1997 (Unvereinbarkeit von Amt und Mandat) stehen mit der Sperrklauselregelung in keinem Zusammenhang. Ob das Gleiche für nach dem 10.Oktober 2001 vorgenommene Änderungen des Kommunalwahlgesetzes und der Kommunalverfassung gilt, bedarf keiner Erörterung. Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist, ob es der Antragsgegner im Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsgesetzes vom 10.Oktober 2001 pflichtwidrig unterlassen hat, die Sperrklausel in § 10 Abs.1 Satz 1 GKWG zu korrigieren oder zumindest zu überprüfen (vgl BVerfGE_68,1 <63, 68 f>; BVerfGE_73,1 <28>)." | |
Auszug aus BVerfG B, 11.03.03, - 2_BvK_1/02 -, www.BVerfG.de, Abs.22 ff | |
§§§ | |
03.014 | Handy-Überwachung |
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1) Die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten können sich zum Schutz der Vertraulichkeit der Informationsbeschaffung und der Redaktionsarbeit auf das Fernmeldegeheimnis aus Art.10 GG und insoweit auch auf die Rechtsschutzgarantie des Art.19 Abs.4 GG berufen. | |
2) Richterliche Anordnungen gegenüber Telekommunikationsunternehmen, im Rahmen der Strafverfolgung Auskunft über die für Abrechnungszwecke bereits vorhandenen oder in Durchführung einer Zielwahlsuche zu ermittelnden Verbindungsdaten zu erteilen, greifen in das Fernmeldegeheimnis des von der Auskunft Betroffenen ein. | |
3) Derartige Eingriffe sind nur gerechtfertigt, wenn sie zur Verfolgung einer Straftat von erheblicher Bedeutung erforderlich sind, hinsichtlich der ein konkreter Tatverdacht besteht und wenn eine hinreichend sichere Tatsachenbasis für die Annahme vorliegt, dass der durch die Anordnung Betroffene mit dem Beschuldigten über Telekommunikationsanlagen in Verbindung steht. | |
* * * | |
T-03-06 | Zur Auslegung des § 100g StPO |
"(2) Die schwerwiegenden Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis sind nur verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn die Gegenbelange entsprechend gewichtig sind. Das Gewicht des Strafverfolgungsinteresses ist insbesondere von der Schwere und der Bedeutung der aufzuklärenden Straftat abhängig (vgl BVerfGE_100,313 <375 f, 392> ). Insofern genügt es verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, dass die Erfassung der Verbindungsdaten allgemein der Strafverfolgung dient (siehe oben aa). Vorausgesetzt sind vielmehr eine Straftat von erheblicher Bedeutung, ein konkreter Tatverdacht und eine hinreichend sichere Tatsachenbasis für die Annahme, dass der durch die Anordnung Betroffene als Nachrichtenmittler tätig wird. | |
(a) Hinsichtlich der Schwere der Straftat hat der Gesetzgeber nunmehr in § 100g StPO eine Konkretisierung vorgenommen, die dem rechtsstaatlichen Anliegen einer Begrenzung der Erhebung von Verbindungsdaten dient. Das Vorliegen einer Katalogtat im Sinne von § 100a Satz 1 StPO ist danach zwar nicht unbedingte Voraussetzung der Anordnung, aber als bedeutsamer Anwendungsfall für eine Straftat von erheblicher Bedeutung hervorgehoben worden und gibt deshalb einen Anhaltspunkt für die rechtliche Bewertung. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Offenlegung von Verbindungsdaten ein detailliertes Bild über Kommunikationsvorgänge und Aufenthaltsorte ermöglicht. Das Gewicht des Eingriffs bleibt zwar hinter dem der auf die Kommunikationsinhalte bezogenen Telefonüberwachung zurück, ist aber dennoch groß. Die Orientierung an dem Begriff der Straftat von erheblicher Bedeutung und die Angabe von Regelbeispielen werden auch sonst in der Rechtsordnung als Begrenzungsmerkmal für Ermittlungsmethoden eingesetzt (vgl BVerfGE_103,21 <33 f>; BGHSt_42,139 <157>). Damit wird verdeutlicht, dass derartige Eingriffe nur bei Straftaten gerechtfertigt sind, denen der Gesetzgeber allgemein ein besonderes Gewicht beimisst. Ferner muss die Straftat im konkreten Fall erhebliche Bedeutung haben (vgl BVerfG, 3.Kammer des Zweiten Senats, NJW 2001, S.2320 <2321>; VerfG des Landes Brandenburg, StV 2002, S.57 <58>), etwa auf Grund des angerichteten Schadens und des Grads der Bedrohungd er Allgemeinheit (vgl Welp, GA 2002, S.535 <539>). Dieser Maßstab verweist auf eine Vergleichsmöglichkeit, die auch im Rahmen des § 12 FAG zur Beurteilung herangezogen werden kann, ob eine Straftat von solchem Gewicht ist, dass die Übermittlung von Verbindungsdaten gerechtfertigt sein kann. | |
Entscheidend für das Gewicht des verfolgten Anliegens ist auch die Intensität des gegen den Beschuldigten bestehenden Verdachts (vgl BVerfGE_100,313 <392>). Voraussetzung der Erhebung von Verbindungsdaten ist ein konkreter Tatverdacht. Auf Grund bestimmter Tatsachen muss anzunehmen sein, dass der Beschuldigte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen hat (vgl auch BVerfGE_100,313 <394>). | |
(c) Eine gesicherte Tatsachenbasis ist ebenfalls unerlässlich zur Beurteilung, ob diejenige Person, gegen die eine Anordnung erfolgt, als Nachrichtenmittler angesehen werden kann. Insofern verlangen die §§ 100a, 100b Abs.1 Satz 2 StPO, dass gegen andere Personen als den Beschuldigten Maßnahmen nur erfolgen dürfen, wenn auf Grund von bestimmten Tatsachen anzunehmen ist, dass sie für den Beschuldigten bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben oder dass der Beschuldigte den Anschluss nutzt. Entsprechend muss § 12 FAG einengend ausgelegt werden. Bloße Vermutungen genügen für die Nachrichtenmittlereigenschaft nicht. | |
(d) Derartige restriktive Anforderungen tragen zugleich dem Umstand Rechnung, dass die technologischen Entwicklungen und ihre Nutzung bei der Errichtung der Telekommunikationsinfrastruktur dazu führen, dass erheblich schwerere Eingriffe möglich sind als noch im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens von § 12 FAG (siehe oben <1> ). Die Anwendbarkeit des § 12 FAG scheitert daher nicht grundsätzlich daran, dass die im Zeitpunkt der Entstehung der Norm möglichen Maßnahmen ein erheblich geringeres Gewicht hatten. | |
(3) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Gerichte vorliegend das Verhältnis zwischen dem Eingriff in das Fernmeldegeheimnis und den Belangen der Strafrechtspflege als angemessen beurteilt haben. | |
(a) Die Anlasstaten waren in beiden Fällen so gewichtig, dass eine Auskunft über Telekommunikationsdaten gerechtfertigt war. Ansatzpunkt der Maßnahmen im Ausgangsverfahren der Verfassungsbeschwerde 1_BvR_348/99 war der Verdacht des dreifachen Mordes. Mord ist eine Katalogtat im Sinne des § 100a Satz 1 StPO, deren Vorliegen auch den Anforderungen, die an § 12 FAG zu stellen sind, gerecht wird. In dem dem Verfahren 1_BvR_330/96 zu Grunde liegenden Fall konnten die Gerichte ebenfalls von einer ein Auskunftsverlangen rechtfertigenden Anlasstat ausgehen. Die Straftaten, derentwegen nach dem Beschuldigten Schneider gefahndet wurde, waren zwar nicht Katalogtaten im Sinne des § 100a StPO, aber von ganz erheblichem Gewicht. Anlass der Anordnung waren Insolvenzstraftaten nach den §§ 283 ff. StGB, die mit Kreditbetrug und Steuerhinterziehung verbunden waren. Die angenommenen Schäden beliefen sich auf eine Höhe von 2 bis 3 Mrd DM. Auch gab es eine große Zahl Geschädigter. Es ging um eines der größten Wirtschaftsstrafverfahren der Bundesrepublik Deutschland. Auch Wirtschaftsstraftaten können von erheblicher Bedeutung sein. Für die Gewichtung einer Straftat sind nicht allein das betroffene Rechtsgut, sondern ebenfalls die Tatbegehung und das Ausmaß der Schäden maßgebend. Die dem Beschuldigten Schneider angelasteten Straftaten hatten nicht zuletzt hinsichtlich der Art ihrer Begehung, der Anzahl der Geschädigten und wegen des Ausmaßes des Schadens ein hinreichendes strafrechtliches Gewicht. 82 | |
Soweit die Beschwerdeführer gegen die Angemessenheit der Anordnungen einwenden, dass es in den zu Grunde liegenden Ermittlungsverfahren nur um Strafverfolgung ging, nicht aber um die Abwehr von Gefahren für überragende Rechtsgüter oder Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland, kann ihnen nicht gefolgt werden. Das Interesse an der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten hat neben dem Interesse an der Verhinderung weiterer Straftaten eine eigenständige verfassungsrechtliche Bedeutung. 83 | |
(b) An dem für Auskunftsverlangen erforderlichen Verdachtsgrad gegen die Beschuldigten bestand vorliegend kein Zweifel. In beiden Verfahren war gegen die Beschuldigten auf Grund dringenden Tatverdachts Haftbefehl erlassen worden und eine Ausschreibung zur Festnahme erfolgt. 84 | |
(c) Es unterliegt auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die Gerichte in den angegriffenen Entscheidungen eine hinreichende Tatsachenbasis dafür angenommen haben, dass die Beschwerdeführer Nachrichtenmittler der Beschuldigten gewesen sind. Im Hinblick auf die Auskunftsanordnung im Fall der Beschwerdeführer zu 1 wurde es als maßgeblich angesehen, dass sich der Beschwerdeführer zu 1c im Besitz eines Tonbands befand, das eine authentische Aufnahme einer Stellungnahme des Beschuldigten zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen enthielt. Unter diesen Umständen lag eine hinreichende Tatsachengrundlage dafür vor, dass der Beschwerdeführer zu 1c in Kontakt zu dem Beschuldigten stand. Es ist verfassungsrechtlich insbesondere nicht zu beanstanden, dass die Strafverfolgungsbehörden davon ausgingen, die Tonbandaufnahmen seien den Beschwerdeführern zu 1 mit Willen des Beschuldigten zugespielt worden. | |
Auch die gerichtliche Auskunftsanordnung gegen die Beschwerdeführerin zu 2 hält hinsichtlich der für die Eigenschaft als Nachrichtenmittler angeführten Tatsachengrundlage einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Das Landgericht hat in den Gründen seiner Entscheidung darauf hingewiesen, dass die Beschwerdeführerin zu 2 wiederholt unmittelbaren Kontakt zu dem Beschuldigten Klein unterhielt. Die Beschwerdeführerin zu 2 ist diesen tatsächlichen Feststellungen in den angegriffenen Entscheidungen nicht entgegengetreten. 86 | |
ee) Der in § 12 FAG und § 100b StPO vorgesehene Richtervorbehalt ist beachtet worden. | |
Der Vorbehalt richterlicher Entscheidung zielt auf eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz. Richter können auf Grund ihrer persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit und ihrer ausschließlichen Bindung an das Gesetz die Rechte des Betroffenen im Einzelfall am besten und sichersten wahren (vgl BVerfGE_103,142 <151> mwN). Das gilt auch mit Blick auf die durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebotene Abwägung der sich bei Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis gegenüberstehenden Rechtspositionen. | |
Die Abwägung hängt entscheidend von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Es ist die Aufgabe und Pflicht des Ermittlungsrichters, sich eigenverantwortlich ein Urteil zu bilden und nicht etwa die Anträge der Staatsanwaltschaft auf Übermittlung der Verbindungsdaten nach einer nur pauschalen Überprüfung einfach gegenzuzeichnen. Zur richterlichen Einzelentscheidung gehören eine sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und eine umfassende Abwägung zur Feststellung der Angemessenheit des Eingriffs im konkreten Fall. Schematisch vorgenommene Anordnungen vertragen sich mit dieser Aufgabe nicht. Die richterliche Anordnung des Eingriffs in das Fernmeldegeheimnis muss den Tatvorwurf so beschreiben, dass der äußere Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen sich der Eingriff halten muss (vgl - zu Art.13 Abs.1 GG - BVerfGE_103,142 <151 f>). Dem wurden die angegriffenen Maßnahmen noch in ausreichendem Maße gerecht. | |
Das Amtsgericht hat seine Anordnungen allerdings nur unter Hinweis auf die erlassenen Haftbefehle und das Ziel der Aufenthaltsbestimmung begründet sowie im Übrigen den Wortlaut des § 12 FAG teilweise wiederholt. Ausführungen zur Tätigkeit der Beschwerdeführer als Nachrichtenmittler sowie zur Erforderlichkeit und Angemessenheit der Eingriffe in die Rechte der Beschwerdeführer fehlen. | |
Das Landgericht hat diese Begründungen zwar nicht formell beanstandet, jedoch seinerseits eingehendere Begründungen vorgenommen. Dabei hat es das Handeln der Beschwerdeführer als Nachrichtenmittler dargelegt und weitere Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit gemacht. Die entsprechenden Überlegungen gelten zwar vornehmlich der Frage, ob Medienunternehmen und Journalisten einen besonderen Schutz vor solchen Maßnahmen genießen, enthalten aber in diesem Rahmen auch Ausführungen zur Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme im konkreten Fall. Es besteht deshalb kein Anlass, sie aus verfassungsrechtlichen Gründen zu beanstanden. | |
4. Verfassungsrechtlich gerechtfertigt sind die Auskunftsanordnungen im Ausgangsverfahren zu der Verfassungsbeschwerde 1_BvR_348/99 auch insoweit, als sie sich auf die im Rahmen der so genannten Zielwahlsuche speziell erhobenen Verbindungsdaten der eingehenden Telefongespräche erstreckten. | |
Die Anordnung der Auskunft über eingehende Telefongespräche, die nunmehr von § 100g Abs.2 StPO erfasst wird, ist auf § 12 FAG und zusätzlich auf die §§ 100a, 100b StPO gestützt worden. Die Überprüfung beschränkt sich auf die Klärung, ob die Maßstäbe des Art.10 GG bei der Rechtsanwendung beachtet worden sind. Dies ist zu bejahen. | |
a) Verbindungsdaten eingehender Telefongespräche sind üblicherweise bei der Abwicklung des Telekommunikationsverkehrs nicht verfügbar. Sie werden für die Entgeltabrechnung bei dem angerufenen Teilnehmer im Allgemeinen nicht benötigt, da der anrufende Teilnehmer die Entgelte für die Verbindungen regelmäßig allein zu tragen hat. Damit kann das Strafverfolgungsinteresse an Daten über eingehende Telefongespräche nicht durch Übermittlung der oben (3) behandelten allgemeinen Verbindungsdaten befriedigt werden. | |
Die Zielwahlsuche soll dieses Defizit beheben. Es sollen diejenigen unbekannten Anschlussnummern ermittelt werden, von denen Telekommunikationsverbindungen zu einem bestimmten Anschluss hergestellt worden sind. Wird ein Diensteanbieter durch die Strafverfolgungsbehörden aufgefordert, Auskunft über die für einen Anschluss eingegangenen Verbindungen zu geben, sind die im EDV-System für den Rechnungsdienst vorgesehenen Abfrageroutinen nicht verwendbar. Da jeder andere Netzteilnehmer die vorgegebene Anschlussnummer angewählt haben kann, setzt die Durchführung einer Zielwahlsuche voraus, dass die Kommunikationsdatensätze aller übrigen von dem Diensteanbieter eingerichteten Anschlüsse sowie der im Übrigen gespeicherten Verbindungsdaten mit der fraglichen Anschlussnummer abgeglichen werden (vgl Welp, Überwachung und Kontrolle, 2000, S.20 ff, 33 ff). Im Jahre 2002 wurde laut Auskunft der Deutschen Telekom jede der 216 Mio. täglich hergestellten Telefonverbindungen innerhalb der dreitägigen Dauer der Speicherung der jeweiligen Verbindungsdatensätze durchschnittlich zweimal in eine Zielwahlsuche einbezogen. | |
b) Hinsichtlich der Eignung und Erforderlichkeit der Erfassung von Verbindungsdaten eingehender Gespräche ergeben sich keine Besonderheiten gegenüber der Erfassung der sonstigen Verbindungsdaten. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ime ngeren Sinne ist aber ergänzend zu berücksichtigen, dass eine besonders große Zahl von Personen betroffen wird. Denn für die Beurteilung der Angemessenheit einer das Fernmeldegeheimnis beschränkenden Maßnahme ist auf der Ebene des Gesetzes und seiner Auslegung mitentscheidend, wie viele Personen wie intensiven Beeinträchtigungen ausgesetzt sind (vgl BVerfGE_100,313 <376>). | |
aa) In ihrem Grundrecht aus Art.10 Abs.1 GG betroffen sind diejenigen Anschlussinhaber, die nach Durchführung einer Zielwahlsuche auf Grundd er Herstellung einer Verbindung zu dem fraglichen Anschluss aus dem Datenbestand ermittelt und als "Treffer" den Strafverfolgungsbehörden mitgeteilt werden. Sie sind der Ausgangspunkt für weitere Maßnahmen, etwa zur Ermittlung des Aufenthaltsorts des Beschuldigten. Die betroffenen Personen sind in grundrechtlicher Hinsicht in vergleichbarer Weise belastet wie die von der Erhebung der ohnehin vorhandenen Verbindungsdaten erfassten Personen. | |
bb) Der Informationswert einer im Rahmen der Zielwahlsuche erfolgenden Auskunft erschöpft sich nicht in seinem positiven, die weitere Strafverfolgung ermöglichenden Gehalt. Da sich der Datenabgleich der Zielwahlsuche auf den Gesamtbestand der bei einem Diensteanbieter gespeicherten Verbindungsdaten bezieht, enthält die Auskunft zugleich die negative Aussage, dass während des Auskunftszeitraums von keinen anderen als den genannten Anschlüssen Verbindungen zu dem fraglichen Anschluss hergestellt worden sind. Dieser Aussagegehalt betrifft einen viele Millionen umfassenden Personenkreis. Der Zugriff erfolgt allerdings maschinell und bleibt im Fall des erfolglosen Abgleichs anonym, spurenlos und ohne Erkenntnisinteresse für die Strafverfolgungsbehörden. Eine Beeinträchtigung subjektiver Rechte erfolgt insoweit nicht. | |
cc) Auch wenn die meisten der von der Zielwahlsuche erfassten Telekommunikationsteilnehmer daher nicht in einer einen Grundrechtseingriff auslösenden Qualität betroffen werden (vgl BVerfGE_100,313 <366>), ist für die Beurteilung der Angemessenheit einer gesetzlichen Ermächtigung und ihrer Auslegung der große Kreis Betroffener bedeutsam. Art.10 GG schützt den Einzelnen vor staatlichen Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis und gewährleistet in seinem objektivrechtlichen Gehalt die Vertraulichkeit der Telekommunikation auch in ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung. Es gefährdet die Unbefangenheit der Nutzung der Telekommunikation und in der Folge die Qualität der Kommunikation einer Gesellschaft, wenn die Streubreite von Ermittlungsmaßnahmen dazu beiträgt, dass Risiken des Missbrauchs und ein Gefühl des Überwachtwerdens entstehen. Die zum Schutze der Grundrechtsträger geschaffenen gesetzlichen Vorkehrungen kommen auch dem Vertrauen der Allgemeinheit zugute. Schutzmöglichkeiten können darüber hinaus durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen geschaffen werden (vgl BVerfGE_65,1 <44>; 67,157 <183>; 100,313 <359 ff>). | |
dd) Es bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, ob die Angemessenheit der Zielwahlsuche allein durch Beachtung der Subsidiarität der Maßnahme, wie sie jetzt § 100g Abs.2 StPO ausdrücklich vorsieht, gewahrt werden konnte. Angesichts der Schwere des Tatvorwurfs des dreifachen Mordes, der konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte für den Tatverdacht und für die Eigenschaft der Beschwerdeführerin zu 2 als Nachrichtenmittlerin sowie der mehr als zwanzig Jahre dauernden vergeblichen Versuche, den Aufenthaltsort des Beschuldigten Klein zu ermitteln, sind die materiellen Anforderungen an die Angemessenheit eines Eingriffs jedenfalls im vorliegenden Fall auch für die Zielwahlsuche erfüllt. Ebenfalls ist der Richtervorbehalt beachtet worden ( siehe oben 3 ee). Angesichts der besonderen Schwere der Straftat bedarf im vorliegenden Fall auch keiner Klärung, ob eine Zielwahlsuche grundsätzlich nur in Verbindung mit Sicherungen auch ihrer nachträglichen Kontrolle, etwa durch Datenschutzbeauftragte oder parlamentarische Gremien, in Betracht kommt. | |
Auszug aus BVerfG U, 12.03.03, - 1_BvR_330/96 -, www.BVerfG.de, Abs.75 ff | |
§§§ | |
03.015 | Genetischer Fingerabdruck |
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LB 1) Die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung des DNA-Identifizierungsmusters greift in das durch Art.2 Abs.1 iVm Art.1 Abs.1 GG verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Diese Verbürgung darf nur in überwiegendem Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden; die Einschränkung darf nicht weiter gehen als es zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist. | |
LB 2) Dem Schrankenvorbehalt für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung trägt die gesetzliche Regelung in § 2 DNA-IfG iVm § 81g StPO ausreichend Rechung. Sie bezweckt die Erleichterung der Aufklärung künftiger Straftaten von erheblicher Bedeutung und dient damit einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege, der ein hoher Rang zukommt ( BVerfGE_77,65 <76>; BVerfGE_80,367 <375>). | |
LB 3) Die Gerichte sind allerdings bei der Anwendung und Auslegung des § 2 DNA-IfG gehalten, bei ihrer Entscheidung die Bedeutung und Tragweite des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, in das die Feststellung, Speicherung und Verwendung des DNA-Identifizierungsmusters eingreifen, hinreichend zu berücksichtigen. Notwendig für die Anordnung der Maßnahme nach § 2 DNA-IfG ist, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftat, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Vorausgesetzt ist als Anlass für die Maßnahme im Vorfeld eines konkreten Strafverfahrens eine Straftat von erheblicher Bedeutung, wobei das Vorliegen eines Regelbeispiels im Sinne von § 81g Abs.1 StPO nicht in jedem Fall einer einzelfallbezogenen Prüfung der Erheblichkeit der Straftat entbindet. Gibt es etwa mit Blick auf milde Strafen oder eine Strafaussetzung zur Bewährung Hinweise aus den zu Grunde liegenden Strafverfahren auf das Vorliegen einer von der Regel abweichenden Ausnahme, muss die Entscheidung sich damit im Einzelnen auseinander setzen. | |
LB 4) Soweit das Gericht bei der Annahme einer Straftat von erheblicher Bedeutung auf eine "Katalogtat nach § 2c DNA-IfG" abstellt, verkennt es schon im Ansatz, dass es für diese Prüfung nicht auf den für den Suchlauf der Staatsanwaltschaften im Bundeszentralregister geschaffenen Katalog in der Anlage zu § 2c DNA-IfG, sondern auf denjenigen nach § 81g Abs.1 StPO ankommt. Darüber hinaus lässt es außer Acht, dass das Vorliegen einer Katalogtat nicht zwingend eine Straftat von erheblicher Bedeutung belegt. Im Hinblick auf die im unteren Bereich des Strafrahmens liegende Strafe gegen den Beschwerdeführer und die ihm gewährte Strafaussetzung zur Bewährung hätte Anlass bestanden, die Annahme einer Ausnahme zu prüfen. | |
LB 5) Der alleinige Hinweis auf einschlägige Vorverurteilungen des Beschwerdeführers genügt insoweit nicht den an eine Gefahrenprognose von Verfassungs wegen zu stellenden Anforderungen. Insoweit ist eine auf den Einzelfall bezogenen individuellen Prüfung erforderlich, die nicht durch allgemeinen Ausführungen des Gerichts zu den Anforderungen an eine Prognoseentscheidung ersetzt werden kann. Im Rahmen der Abwägung wäre zum einen darauf einzugehen gewesen, dass die Anlasstat lange zurückliegt, die damals verhängte Strafe zur Bewährung ausgesetzt war und inzwischen erlassen ist. Zum anderen wäre eine ins Einzelne gehende Würdigung der Persönlichkeit des Beschwerdeführers erforderlich gewesen, um nachvollziehbar darzutun, warum auch heute, mehr als zehn Jahre nach der letzten Verurteilung, noch Grund zu der Annahme bestehen soll, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden. | |
§§§ | |
03.016 | NPD-Verbot |
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LB 1) "Nachteilig" im Sinne des § 15 Abs.4 Satz 1 BVerfGG ist grundsätzlich jede Entscheidung, die die Rechtsposition des Antragsgegners verschlechtern oder sonst negativ beeinflussen kann. | |
LB 2) Dies ist in einem Verfahren nach Art.21 Abs.2 GG dann der Fall, wenn der Parteiverbotsantrag zum Erfolg führt und das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit einer politischen Partei feststellt ( Art.21 Abs.2 Satz 2 GG iVm § 46 Abs.1 BVerfGG). Ebenfalls dem Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit unterliegt vor allem auch die im Vorverfahren gemäß § 45 BVerfGG zu treffende Entscheidung, dass der Verbotsantrag zulässig sowie hinreichend begründet und deshalb die Verhandlung durchzuführen ist. Schon die Durchführung der mündlichen Verhandlung beeinträchtigt den Antragsgegner in seiner Rechtsstellung. | |
LB 3) Eine Beschränkung des Abstimmungsquorums auf die abschließende Entscheidung über den Parteiverbotsantrag ergibt sich aus § 15 Abs.4 Satz 1 BVerfGG nicht (vgl Brox, in: Ritterspach/Geiger | |
LB 4) Aus der durch Art.21 Abs.1 GG verfassungsrechtlich anerkannten Rolle der Parteien folgt in formeller und materieller Hinsicht eine erhöhte Schutz- und Bestandsgarantie. Da Parteien durch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit ( Art.21 Abs.2 GG iVm § 46 Abs.1 BVerfGG) und die Auflösung ihrer Organisation ( § 46 Abs.3 Satz 1 BVerfGG) insgesamt von der freien Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes und damit von ihrer durch Art.21 Abs.1 GG verfassungsrechtlich garantierten Aufgabe ausgeschlossen werden, bedürfen gerichtliche Entscheidungen zum Nachteil einer Partei in einem Verbotsverfahren einer besonderen Legitimation. Dementsprechend soll § 15 Abs.4 Satz 1 BVerfGG verhindern, dass die besonders einschneidenden Folgen eines Parteiverbots sowie der übrigen nachteiligen Entscheidungen gegenüber der betroffenen Partei ohne hinreichend qualifizierte Mehrheit eintreten. | |
LB 5) Das Verfahren kann nicht fortgeführt werden, weil der von der Antragsgegnerin sinngemäß gestellte Antrag auf Einstellung des Verfahrens nicht die nach § 15 Abs.4 BVerfGG für eine Ablehnung erforderliche Mehrheit gefunden hat. Eine Mehrheit von vier Richtern ist der Auffassung, dass ein Verfahrenshindernis nicht besteht. Drei Richter sind der Auffassung, dass ein nicht behebbares Verfahrenshindernis vorliegt. | |
LB 6) Dass eine Minderheit von drei Richtern der Auffassung ist, in Folge mangelnder Staatsfreiheit der Antragsgegnerin auf der Führungsebene sowie mangelnder Staatsfreiheit des zur Antragsbegründung ausgebreiteten Bildes der Partei bestehe ein nicht behebbares Hindernis für die Fortführung des mit den Anträgen vom 30.Januar und 30.März 2001 eingeleiteten Verfahrens, wirkt sich gemäß § 15 Abs.4 Satz 1 BVerfGG bei der von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens vorzunehmenden Prüfung und Entscheidung über das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen aus. Danach steht fest, dass die Parteiverbotsanträge nicht zum Erfolg geführt werden können. | |
§§§ | |
03.017 | Rückmeldegebühr |
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1) Die Begrenzungs- und Schutzfunktion der Finanzverfassung begründet verbindliche Vorgaben auch für die Gebühren als Erscheinungsform der nichtsteuerlichen Abgaben. Die grundgesetzliche Finanzverfassung verlöre ihren Sinn und ihre Funktion, wenn unter Rückgriff auf die Sachgesetzgebungskompetenzen beliebig hohe Gebühren erhoben werden könnten; die Bemessung bedarf kompetenzrechtlich im Verhältnis zur Steuer einer besonderen, unterscheidungskräftigen Legitimation (Anschluss an BVerfGE_93,319 ff). | |
2) Nur dann, wenn legitime Gebührenzwecke nach der tatbestandlichen Ausgestaltung der Gebührenregelung von einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen werden, sind sie auch geeignet, sachlich rechtfertigende Gründe für die Gebührenbemessung zu liefern. Wählt der Gesetzgeber einen im Wortlaut eng begrenzten Gebührentatbestand, kann nicht geltend gemacht werden, er habe auch noch weitere, ungenannte Gebührenzwecke verfolgt. | |
* * * | |
Urteil | Entscheidungsformel:
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§§§ | |
03.018 | AWACS |
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LB 1) Gemäß Art.93 Abs.1 Nr.1 GG, § 63 BVerfGG können im Organstreitverfahren neben den obersten Bundesorganen auch Teile dieser Organe Anträge stellen, sofern sie im Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Die Antragstellerin ist als Fraktion des Deutschen Bundestages im Organstreitverfahren gemäß §§ 13 Nr.5, 63 ff BVerfGG parteifähig. Sie kann im eigenen Namen Rechte geltend machen, die dem Bundestag gegenüber der Bundesregierung zustehen (vgl BVerfGE_1,351 <359>; BVerfGE_2,143 <165>; BVerfGE_90,286 <336>; BVerfGE_104,151 <193>; stRspr). | |
LB 2) Der konstitutive Parlamentsvorbehalt ist in der Begründung auf das historische Bild eines Kriegseintritts zugeschnitten (vgl BVerfGE_90,286 <383>). Unter den heutigen politischen Bedingungen, in denen Kriege nicht mehr förmlich erklärt werden, steht eine sukzessive Verstrickung in bewaffnete Auseinandersetzungen dem offiziellen Kriegseintritt gleich. Deshalb unterliegt grundsätzlich jeder Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte der konstitutiven parlamentarischen Mitwirkung. | |
LB 3) Bei einer Folgenabwägung sind gegeneinander abzuwägen die Nachteile, die für den Bundestag - dessen Rechte die Antragstellerin wahrnimmt - einträten, wenn die begehrte einstweilige Anordnung abgelehnt wird, in der Hauptsache später aber sich herausstellt, dass der konkrete Einsatz deutscher Soldaten ohne Zustimmung des Bundestages dessen wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt verletzt, mit denjenigen Nachteilen, die sich ergäben, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen wird, sich später im Organstreitverfahren aber herausstellt, dass der Einsatz dem konstitutiven Parlamentsvorbehalt nicht unterlag. | |
LB 4) Der konstitutive Parlamentsvorbehalt hat ein hohes Gewicht, weil die Bundeswehr ein Parlamentsheer ist. Die Bundeswehr ist dadurch in die demokratisch rechtsstaatliche Verfassungsordnung eingefügt (vgl BVerfGE_90,286 <382> ). Die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Unternehmungen ohne Zustimmung des Bundestages greift deshalb prinzipiell tief in die Rechte des Parlaments ein. | |
LB 5) Auf der anderen Seite steht die außenpolitische Verantwortung der Exekutive mit ihrem Kernbereich eigener Entscheidungsfreiheit. Soweit der Parlamentsvorbehalt nicht eingreift, steht allein der Bundesregierung die Entscheidung zu, in welchem Umfang die Bundesrepublik Deutschland sich an der Ausführung des Beschlusses des Verteidigungsplanungsausschusses der NATO vom 19.Februar 2003 beteiligt. Die Bundesregierung müsste sich bei Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung in einer aktuellen außenpolitischen Krisensituation entweder um eine - in Wahrheit nicht erforderliche - politische Zustimmung des Bundestages bemühen, oder aber - wenn dies vermieden werden soll - die deutschen Soldaten aus den betreffenden integrierten NATO-Verbänden abziehen. Ein solcher Zwang griffe tief in den Kernbereich der außen- und sicherheitspolitischen Verantwortung der Bundesregierung ein. | |
LB 6) Es lässt sich nicht feststellen, dass bei dem anzulegenden strengen Prüfungsmaßstab die Rechte des Bundestages deutlich überwiegen. Die Abwägung dieser Positionen ist im Ergebnis offen. Die ungeschmälerte außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung in dem ihr durch die Verfassung zugewiesenen Kompetenzbereich hat auch im gesamtstaatlichen Interesse an der außen- und sicherheitspolitischen Verlässlichkeit Deutschlands bei der Abwägung ein besonderes Gewicht (vgl BVerfGE_33,195 <197>; BVerfGE_83,162 <173 f>. | |
§§§ | |
03.019 | Beitragssatzsicherungsgesetz IV |
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Die Beschwerdeführer betreiben pharmazeutische Unternehmen. Sie beantragen, die Regelungen in Art.1 Nr.8 sowie in Art.11 § 2 des Gesetzes zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung (Beitragssatzsicherungsgesetz - BSSichG) vom 23.Dezember 2002 (BGBl I S.4637) vorläufig außer Vollzug zu setzen. | |
LB 2) Die Folgenabwägung ergibt indessen, dass die Nachteile, die bei einer vorläufigen Aussetzung von Art.1 Nr.8 und Art.11 § 2 BSSichG eintreten würden, schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen, welche die beiden Regelungen für die Beschwerdeführer haben, wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht erlassen wird. | |
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T-03-07 | Pharmatzeutische Unternehmen |
"1. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Zustandekommen des Gesetzes ohne Zustimmung des Bundesrats und die Frage, ob das Gesetz mit Art.12 Abs.1 GG im Übrigen in Einklang steht, bedürfen der Klärung im Hauptsacheverfahren. | |
2. Die Folgenabwägung ergibt indessen, dass die Nachteile, die bei einer vorläufigen Aussetzung von Art.1 Nr.8 und Art.11 § 2 BSSichG eintreten würden, schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen, welche die beiden Regelungen für die Beschwerdeführer haben, wenn die beantragte einstweilige Anordnung nicht erlassen wird. | |
a) Ergeht die einstweilige Anordnung, erweisen sich aber Art.1 Nr.8 und Art.11 § 2 BSSichG später als verfassungsgemäß, drohen dem gemeinen Wohl schwere Nachteile. | |
Die im Falle des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu erwartenden Mehrausgaben in Höhe von jährlich 420 Mio Euro sind absolut und relativ von erheblicher Bedeutung für das System der gesetzlichen Krankenversicherung, solange der Fehlbetrag nicht anderweitig kompensiert wird. Geht man mit dem Gesetzgeber davon aus, dass jeder Teilbeitrag im Beitragssatzsicherungsgesetz erforderlich ist, um die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung als Ganzes - zumindest vorläufig bis zu einer Strukturreform - zu erhalten, wird die Erreichung dieses Ziels in dem Ausmaß gefährdet, in dem die Rabatte nicht realisiert werden können. Das Beitragssatzsicherungsgesetz sieht ein Paket von Maßnahmen zur Bekämpfung des Defizits im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Das Beitragsaufkommen wird durch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze erhöht, das Sterbegeld wird abgesenkt, Ärzten, Zahnärzten und Krankenhäusern werden so genannte Nullrunden vorgeschrieben und bei den Arzneimitteln haben neben den Pharmaunternehmen auch die Großhändler und die Apotheken durch Rabatte zu den Minderausgaben beizutragen. Erst die Summe aller Sparmaßnahmen ergibt eine spürbare Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen. Allen Maßnahmen kommt im Hinblick auf das Gemeinwohl gleiches Gewicht zu. | |
Träte infolge der einstweiligen Anordnung ein Teil der finanziellen Entlastung nicht ein, müssten sich die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung sowie der Gesetzgeber sofort auf höhere Ausgaben einstellen und hierauf gegebenenfalls mit Beitragserhöhungen, mit der Belastung sonstiger Gruppen oder mit Einsparungen bei den Leistungen reagieren. | |
b) Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweisen sich die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Regelungen aber später im Hauptsacheverfahren als verfassungswidrig, drohen allerdings den Beschwerdeführern und sonstigen pharmazeutischen Unternehmen jedenfalls bis zur Entscheidung in der Hauptsache wirtschaftliche Nachteile. Ein endgültiger und auf Dauer nicht kompensierbarer Schaden ist nicht anzunehmen. Die vorübergehend zu erwartenden Nachteile aber sind nicht sehr schwerwiegend. | |
Gemessen an ihrem Umsatz im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung werden die pharmazeutischen Unternehmen lediglich geringfügige finanzielle Einbußen erleiden. Ein Teil des Arzneimittelumsatzes geht nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung und ist von den angegriffenen Regelungen gar nicht betroffen. Insoweit reduzieren sich noch die von den Beschwerdeführern geschilderten Nachteile. | |
Die von den Beschwerdeführern befürchteten weiteren nachteiligen Folgen, wie eine Verminderung der Anzahl der Apotheken im Zuge von Insolvenzen, betreffen wirtschaftliche Risiken, die aus dem Marktgeschehen resultieren, an dem die Beschwerdeführer teilnehmen, wobei ein unmittelbarer Zusammenhang dieser Folgen mit der gesetzlichen Regelung in Art.1 Nr.8 und Art.11 § 2 BSSichG nicht besteht. | |
c) Schon wenn die jeweiligen Nachteile der abzuwägenden Folgenkonstellationen einander in etwa gleichgewichtig gegenüber stehen, gebietet es die gegenüber der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers notwendige Zurückhaltung des Gerichts, das angegriffene Gesetz nicht auszusetzen, bevor geklärt ist, ob es vor der Verfassung Bestand hat (vgl BVerfGE_104,51 <60>). Vorliegend ergibt die Abwägung, dass die Nachteile für das gemeine Wohl bei Erlass der einstweiligen Anordnung diejenigen sogar überwiegen, die den Beschwerdeführern bei Ablehnung des Antrags drohen. | |
Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführer können eine generelle Gefährdung der Arzneimittelversorgung und eine Minderversorgung der Kranken hier ausgeschlossen werden. Denn aus dem Vortrag der Beschwerdeführer, die lediglich Gewinneinbußen geltend machen, lässt sich eine Gefährdung der Existenz ihrer Unternehmen nicht ableiten. So belegen die für die Beschwerdeführerin zu 1) vorgelegten Zahlen, dass bei einem prognostizierten Jahresgewinn vor Steuern von 8 Mio Euro und einem unterstellten Gewinneinbruch von 38,8 vom Hundert noch eine nennenswerte Rendite erzielt werden kann. Auch für die Pharmaindustrie insgesamt ist eine solche Gefährdung nicht ersichtlich. Im Übrigen ist die Behauptung nicht nachvollziehbar, dass die Forschung der deutschen Pharmaindustrie durch Abschläge in Höhe von 0,4 Mrd. Euro insgesamt bei einem Gesamtvolumen ihrer Forschungsausgaben von 4,1 Mrd. Euro (Pharma-Daten 2002 Kompakt des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie eV) gefährdet wäre. Denn die Abschläge verteilen sich auf alle Pharmaunternehmen ohne Rücksicht darauf, ob sie selbst Forschung betreiben. Die Unternehmen haben außerdem unterschiedliche Möglichkeiten, auf die Preisabschläge zu reagieren. | |
Unter diesen Umständen überwiegt das Anliegen des Gesetzgebers, bis zu einer größeren Reform die gesetzliche Krankenversicherung unter Einbeziehung zahlreicher Gruppen sofort finanziell zu entlasten. Denn die negativen Folgen für die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung treten bei einer vorläufigen Aussetzung des Gesetzes sofort ein, können später kaum oder nur unzureichend ausgeglichen werden und beeinflussen die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Dem Gemeinwohlbelang der finanziellen Sicherung der gesetzlichen Krankenversicherung kann nicht entgegengehalten werden, dass die von den pharmazeutischen Unternehmen zu gewährenden Abschläge nur einen geringen Anteil an den Gesamtausgaben darstellen. Bei einem Spargesetz, das viele Gruppen in Anspruch nimmt, ist jeder Teilbeitrag von Bedeutung. Das gesetzgeberische Konzept würde zu Lasten anderer unterlaufen, wenn einzelne Gruppen sich darauf berufen dürften, dass ihr Anteil am Gesamtvolumen eines Spargesetzes für das gesamtwirtschaftliche Interesse minder bedeutsam sei." | |
Auszug aus BVerfG B, 26.03.03, - 1_BvR_112/03 -, www.BVerfG.de, Abs.21 ff | |
§§§ | |
03.020 | Schießordnungen |
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LB 1) Die Vereinigungsfreiheit gewährt nicht nur Einzelpersonen, sondern auch den Vereinigungen selbst Schutz (vgl BVerfGE_30,227 <241>; BVerfGE_84,372 <378>). Geschützt sind neben dem Recht auf Entstehen und Bestehen die Selbstbestimmung über die eigene Organisation, das Verfahren der Willensbildung und die Führung der Geschäfte (vgl BVerfGE_50,290 <354>; BVerfGE_80,244 <253>). Auch die spezifisch vereinsmäßige Tätigkeit ist geschützt (vgl BVerfGE_30,227 <241>; BVerfGE_80,244 <253>). | |
LB 2) Allerdings sind der Vereinigungsfreiheit in dem nicht durch Art.9 Abs.2 GG erfassten Bereich Grenzen gesetzt. Dem Gesetzgeber darf es nicht verwehrt sein, der Betätigung des Vereins Schranken zu ziehen, die zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind (vgl BVerfGE_30,227 <243> ). Auch die Vereinigungsfreiheit lediglich ausgestaltende Regelungen müssen sich jedoch am Schutzgut des Art.9 Abs.1 GG orientieren und einen Ausgleich zwischen diesem Gut und schutzbedürftigen Interessen Dritter oder der Allgemeinheit finden, der die zwingenden Voraussetzungen und Bedürfnisse freier Assoziation grundsätzlich wahrt (vgl BVerfGE_50,290 <355>; BVerfGE_84,372 <378 f>). | |
LB 3) Das gilt zunächst für § 15 Abs.1 bis 4 WaffG. Erklärtes Ziel des Gesetzgebers ist es, einer festgestellten missbräuchlichen Ausnutzung des bisher Mitgliedern beliebiger Schießsportvereine gewährten Bedürfnisnachweisprivilegs und damit einhergehenden erheblichen Defiziten für die öffentliche Sicherheit zu begegnen. Dazu soll das Privileg auf Mitglieder solcher Verbände beschränkt werden, die nach Größe und Organisation Gewähr für eine ordnungsgemäße Ausübung des Schießsports in ihren Mitgliedsvereinen bieten. Der Schusswaffenumgang soll auf ernsthafte und verantwortungsvolle Sportschützen beschränkt werden. Gruppierungen, die den Schießsport als Vorwand für Waffenbeschaffung missbrauchen, sollen zurückgedrängt werden (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, BRDrucks 596/01, S.90, 107, 120 f). Diese Zielsetzung des Gesetzgebers ist legitim und wird in § 15 Abs.1 bis 4 WaffG im Einklang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz umgesetzt. | |
LB 4) Die Anerkennungsregelung ist zur Verfolgung dieses Zwecks geeignet und erforderlich. Eine bloße Meldepflicht mit Verbotstatbeständen wäre ein Kontrollinstrument, das für Vollzugsdefizite wesentlich anfälliger und insofern nicht gleich geeignet wäre. Wenn der Gesetzgeber hier eine Regelungstechnik für erforderlich gehalten hat, welche die Verbände angesichts sonst drohender faktischer Nachteile veranlasst, sich von sich aus um eine Anerkennung und um die Erfüllung der Anerkennungsvoraussetzungen zu bemühen, so hat er damit seinen Gestaltungsspielraum (vgl BVerfGE_30,250 <262 f>; BVerfGE_39,1 <44>; BVerfGE_88,203 <262>) nicht überschritten. | |
LB 5) Der Umstand, dass es sich im Fall des § 15 Abs.2 WaffG nicht um eine gebundene, sondern um eine Ermessensentscheidung handelt, macht die Regelung nicht verfassungswidrig. Im Rahmen der Ermessensausübung kann und muss die Vereinigungsfreiheit der Beschwerdeführerin hinreichend berücksichtigt werden. | |
LB 6) Mit der Regelung über die Genehmigung von Sportordnungen und deren Verknüpfung mit der Anerkennungsfähigkeit eines Verbandes verschafft sich der Staat eine Kontrolle darüber, ob die Verbände in ihren Sportordnungen die vom Waffengesetz und dessen Verordnungen gesetzten Grenzen einhalten. Auch hier gilt, dass der Gesetzgeber angesichts der erheblichen, von Schusswaffen ausgehenden Missbrauchsgefahren und der unter dem bisherigen Waffenrecht festgestellten Missbrauchstendenzen eine für Vollzugsdefizite unanfällige Regelungstechnik für erforderlich halten durfte. Es ist ferner nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit dem Kontrollinstrument des § 15 Abs.7 Satz 1 WaffG die Grenzen eines verhältnismäßigen Ausgleichs zwischen dem durch Art.9 Abs.1 GG geschützten Interesse der Beschwerdeführerin an einer autonomen Willensbildung über die Ausgestaltung der Ausübung des Vereinszwecks einerseits und dem Anspruch der Allgemeinheit auf Schutz vor den von Schusswaffen ausgehenden Gefahren andererseits überschritten hätte. Die Regelung respektiert die Verbandsautonomie, indem sie die Genehmigung auf die waffenrechtsrelevanten Teile der Sportordnungen beschränkt. Hinsichtlich dieser Teile können die Verbände einer behördlichen Präventivkontrolle unterworfen werden, ohne dass damit unangemessen in den Gewährleistungsbereich ihrer Vereinigungsfreiheit eingegriffen würde. | |
§§§ | |
03.021 | Kindergeldanrechnung |
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1) § 1612b Abs.5 BGB verstößt nicht gegen Art.3 Abs.1 GG, soweit er zur Sicherung des Existenzminimums des unterhaltsberechtigten Kindes die Anrechnung des Kindergeldes auf den Kindesunterhalt von der Leistungsfähigkeit des barunterhaltspflichtigen Elternteils abhängig macht und diesen vor dem betreuenden Elternteil verpflichtet, seinen Kindergeldanteil zur Deckung eines Defizits beim Kindesunterhalt einzusetzen. | |
2) Das Rechtsstaatsprinzip des Art.20 Abs.3 GG gebietet dem Gesetzgeber, bei der von ihm gewählten Ausgestaltung eines Familienleistungsausgleichs Normen zu schaffen, die auch in ihrem Zusammenwirken dem Grundsatz der Normenklarheit entsprechen. Dem genügen die das Kindergeld betreffenden Regelungen in ihrer sozial-, steuer- und familienrechtlichen Verflechtung immer weniger. | |
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Beschluss | Entscheidungsformel:
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§§§ | |
03.022 | Biologischer Vater |
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1) Art.6 Abs.2 Satz 1 GG schützt den leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater (so genannter biologischer Vater) in seinem Interesse, die rechtliche Stellung als Vater einzunehmen. Ihm ist verfahrensrechtlich die Möglichkeit zu eröffnen, die rechtliche Vaterposition zu erlangen, wenn dem der Schutz einer familiären Beziehung zwischen dem Kind und seinen rechtlichen Eltern nicht entgegensteht. | |
2) Auch der biologische Vater bildet mit seinem Kind eine von Art.6 Abs.1 GG geschützte Familie, wenn zwischen ihm und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht. Der Grundrechtsschutz umfasst auch das Interesse am Erhalt dieser Beziehung. Es verstößt gegen Art.6 Abs.1 GG, den so mit seinem Kind verbundenen biologischen Vater auch dann vom Umgang mit dem Kind auszuschließen, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient. | |
3) Zur Verfassungsmäßigkeit der §§ 1600, 1685 BGB, § 1711 Abs.2 BGB | |
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Beschluss | Entscheidungsformel:
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§§§ | |
03.023 | Rechtliches Gehör |
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Zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung fachgerichtlichen Rechtsschutzes bei Verstößen gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art.103 Abs.1 GG). | |
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Plenumsbeschluss | Entscheidungsformel:
I. |
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T-03-08 | Rechtswegegarantie + Justizgewährungsanspruch |
Der Rechtsweg steht im Rahmen des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs auch zur Überprüfung einer behaupteten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch ein Gericht offen. Dies folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art.103 Abs.1 GG. Das Plenum gibt die vom Bundesverfassungsgericht bisher vertretene gegenteilige Auffassung auf. I. | |
Die Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes ist nicht auf Rechtsschutz gegen Akte der vollziehenden Gewalt im Sinne von Art.19 Abs.4 GG beschränkt, sondern umfassend angelegt. Sie sichert allerdings keinen Rechtsmittelzug. | |
1. Die Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes ist ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaates (vgl BVerfGE_88,118 <123>; BVerfGE_96,27 <39 f.>). Das Grundgesetz garantiert Rechtsschutz vor den Gerichten nicht nur gemäß Art.19 Abs.4 GG, sondern darüber hinaus im Rahmen des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs. Dieser ist Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips in Verbindung mit den Grundrechten, insbesondere Art.2 Abs.1 GG (vgl BVerfGE_93,99 <107> ). Die grundgesetzliche Garantie des Rechtsschutzes umfasst den Zugang zu den Gerichten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche gerichtliche Entscheidung. | |
2. Das Grundgesetz sichert im Bereich des Art.19 Abs.4 GG wie auch in dem des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs das Offenstehen des Rechtswegs. Die Garantie einer gerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeit gegen behauptete Rechtsverletzungen eröffnet jedoch keinen unbegrenzten Rechtsweg. | |
a) Das Rechtsstaatsprinzip fordert, dass jeder Rechtsstreit um der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens willen irgendwann ein Ende findet (vgl bereits BVerfGE_1,433 <437> ). Wann dies der Fall ist, entscheidet das Gesetz. Das Risiko eines immerwährenden Rechtswegs besteht nach dem Grundgesetz nicht, weil es sowohl in Art.19 Abs.4 GG als auch im Rahmen des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs nur das Offenstehen des Rechtswegs garantiert, also die Öffnung des Zugangs zum Gericht. Der Rechtsweg steht für Streitigkeiten zwischen Trägern öffentlicher Gewalt und Privatpersonen oder zwischen Privatpersonen offen. Dies ermöglicht die Entscheidung eines unabhängigen Gerichts über Rechte und Pflichten. Insofern reicht es grundsätzlich aus, ist in einem Rechtsstaat aber auch als Minimum zu sichern, dass die Rechtsordnung eine einmalige Möglichkeit zur Einholung einer gerichtlichen Entscheidung eröffnet. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, unter Abwägung und Ausgleich der verschiedenen betroffenen Interessen zu entscheiden, ob es bei einer Instanz bleiben soll oder ob mehrere Instanzen bereitgestellt werden und unter welchen Voraussetzungen sie angerufen werden können (vgl BVerfGE_54,277 <291> ). Ein Instanzenzug ist von Verfassungs wegen nicht garantiert. Ob es Streitigkeiten gibt, für die aus rechtsstaatlichen Gründen die Überprüfung durch eine weitere gerichtliche Instanz vorzusehen ist, bedarf im vorliegenden Zusammenhang keiner Entscheidung. Das Risiko eines Rechtswegs ohne Ende besteht auch in einem solchen Fall nicht. | |
b) Die Garantie einer einmaligen gerichtlichen Entscheidung über ein behauptetes Recht zielt darauf ab, Konflikte um eine mögliche Rechtsverletzung einer Prüfung und einer bestandskräftigen Entscheidung zuzuführen. Weiter reicht diese Garantie nicht. Verfassungsrechtlich ist es nicht geboten, auch den Akt der gerichtlichen Überprüfung selbst daraufhin kontrollieren zu können, ob in ihm die für den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Rechtsnormen nunmehr vom Gericht verletzt wurden. Im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens nimmt das verfassungsrechtlich gewährleistete Rechtsschutzsystem bei der Überprüfung eines Verhaltens ein verbleibendes Risiko falscher Rechtsanwendung durch das Gericht in Kauf. | |
c) Dies ist im Rechtsstaat des Grundgesetzes nicht zuletzt deshalb hinnehmbar, weil durch institutionelle Vorkehrungen und entsprechende Verfahrensvorgaben Sorge dafür getragen worden ist, dass Rechtsanwendungsfehler möglichst unterbleiben. Die Unabhängigkeit der Richter (Art.97 Abs.1 GG) soll sichern, dass die Gerichte ihre Entscheidung allein an Gesetz und Recht ausrichten. Die Verfahrensgrundrechte, insbesondere Art.101 Abs.1 Satz 2 und Art.103 Abs.1 GG, sollen gewährleisten, dass die richterliche Entscheidung willkürfrei durch eine nach objektiven Kriterien bestimmte Instanz auf einer hinreichend gesicherten Tatsachengrundlage und auf Grund einer unvoreingenommenen rechtlichen Würdigung unter Einbeziehung des Vortrags der Parteien ergeht. Überprüfen die unabhängigen Gerichte in diesem Rahmen einen Vorgang auf rechtliche Fehler und begehen sie dabei keinen neuen eigenständigen Verstoß gegen die grundgesetzlichen Verfahrensgarantien, ist es verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich, wenn die gerichtliche Entscheidung nicht mehr durch eine weitere Instanz auf Fehler hin überprüft werden kann. | |
3. Im rechtsstaatlichen Kerngehalt unterscheiden sich der allgemeine Justizgewährungsanspruch und als dessen Spezialregelung die Rechtsweggarantie des Art.19 Abs.4 GG nicht. Unterschiede bestehen hinsichtlich der Anwendungsbereiche. | |
a) Art.19 Abs.4 GG wird in der Rechtsprechung und einem Teil der Literatur dahingehend verstanden, dass der dort benutzte Begriff der öffentlichen Gewalt einengend auszulegen und nur auf die vollziehende Gewalt anzuwenden sei. Dies wird regelmäßig in die Formel gefasst, das Grundgesetz gewährleiste Rechtsschutz durch den Richter, nicht aber gegen den Richter (vgl BVerfGE_15,275 <280>; BVerfGE_49,329 <340>; BVerfGE_65,76 <90> sowie aus der Literatur Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art.19 IV Rn.96 | |
Die Anrufung des Plenums durch den Ersten Senat gibt keinen Anlass zur Abweichung von der bisherigen Auslegung des Art.19 Abs.4 GG. Die vom Ersten Senat angestrebte Aufgabe der bisherigen Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts zum Rechtsschutz bei entscheidungserheblichen Verletzungen des Verfahrensgrundrechts aus Art.103 Abs.1 GG setzt nicht voraus, dass der Anwendungsbereich des Art.19 Abs.4 GG neub estimmt wird. Denn diese Norm steht der Annahme nicht entgegen, dass der allgemeine Justizgewährungsanspruch Rechtsschutz unter zum Teil anderen tatbestandlichen Voraussetzungen garantiert (cc). Die einengende Auslegung des Begriffs der öffentlichen Gewalt in Art.19 Abs.4 GG (aa) unterliegt unter dem Aspekt der Rechtsstaatlichkeit jedenfalls dann keinen Bedenken, wenn der allgemeine Justizgewährungsanspruch Rechtsschutz auch ind en von Art.19 Abs.4 GG nicht erfassten Fällen ermöglicht, soweit dies rechtsstaatlich geboten ist (bb). | |
Ziel der Normierung der Rechtsschutzgarantie in Art.19 Abs.4 GG war auf Grund historischer Erfahrungen der Schutz vor dem Risiko der Missachtung des Rechts durch ein Handeln der Exekutive. Daran knüpft die Auslegung des hier verwendeten Begriffs der öffentlichen Gewalt im überwiegenden Teil der Lehre und in der Rechtsprechung an. | |
Im Anschluss an die Vorgängervorschriften des § 182 der Paulskirchen-Verfassung und des Art.107 der Weimarer Reichsverfassung sah der Herrenchiemseer Entwurf zum Grundgesetz in Art.138 zunächst vor, dass gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen könne, "wer sich durch eine Anordnung oder durch die Untätigkeit einer Verwaltungsbehörde in seinen Rechten verletzt oder mit einer ihm nicht obliegenden Pflicht beschwert glaubt". Dieser Entwurf verfolgte das Ziel, nicht der Exekutive allein die Kontrolle der Verwaltung zu überlassen. Vielmehr sollte gesichert werden, dass es gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Verwaltung gibt. In den Beratungen z um Grundgesetz wurde diese Einengung allerdings kritisiert. So wurde die Forderung formuliert, wirklich oder vermeintlich rechtswidrige Eingriffe des Staates in die Rechts- und Freiheitssphäre müssten umfassend einer gerichtlichen Prüfung zugeführt werden (vgl die Nachweise bei Voßkuhle, aaO, S.151 ff; siehe ferner JöR NF, Bd.1, 1951, S.183 ff). | |
Art.19 Abs.4 GG hat dies so nicht aufgenommen, ist aber doch weiter formuliert als der Herrenchiemseer Entwurf. Die ausdrückliche Bezugnahme auf die Verwaltung ist entfallen. Ob die offenere Formulierung dahingehend zu verstehen ist, dass in Art.19 Abs.4 GG keine Einschränkung auf die vollziehende Gewalt erfolgen sollte, ist den Materialien zum Grundgesetz allerdings nicht zweifelsfrei zu entnehmen. Insofern lässt die Entstehungsgeschichte Raum für unterschiedliche Auslegungen. Die Rechtsprechung und die herrschende Meinung im Schrifttum haben die Norm im Anschluss an die historische Stoßrichtung der Rechtsschutzgewährung stets in der einengenden Weise der Beschränkung auf die vollziehende Gewalt ausgelegt. Dem ist das Bundesverfassungsgericht gefolgt und hat betont, die Bedeutung der Gewährleistung bestehe vornehmlich darin, die "Selbstherrlichkeit" der vollziehenden Gewalt im Verhältnis z um Bürger zu beseitigen (vgl BVerfGE_10,264 <267>; 35,263 <274> ). Durch Art.19 Abs.4 GG in dieser Auslegung wird gesichert, dass gegenüber Akten der Exekutive stets ein unabhängiges Gericht zur Prüfung einer geltend gemachten Rechtsverletzung einzuschalten ist. Sehen die Prozessordnungen allerdings eine weitere gerichtliche Instanz vor, so sichert Art.19 Abs.4 GG die Effektivität des Rechtsschutzes auch insoweit (vgl BVerfGE_96,27 <39>; stRspr). | |
Das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff der öffentlichen Gewalt allerdings nicht auf die Exekutive im organisatorischen Sinne begrenzt. Es hat den Rechtsschutz auch für den Fall eröffnet, dass das Handeln einer nicht zurE xekutive gehörenden, aber auch nicht in richterlicher Unabhängigkeit handelndenI nstanz als rechtswidrig angegriffen wird. So zählt das BundesverfassungsgerichtA kte des Rechtspflegers ebenso zur öffentlichen Gewalt gemäß Art.19 Abs.4 GG (vgl.BVerfGE 101, 397 <407>) wie die Justizverwaltungsakte der Kostenbeamten in den Geschäftsstellen der Gerichte (vgl BVerfGE_28,10 <14 f>). Zur Ausübung öffentlicher Gewalt gehören ebenfalls Anordnungen der Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde (vgl BVerfGE_103,142 <156>). | |
Als öffentliche Gewalt im Verständnis des Art.19 Abs.4 GG werden auch die Gerichte eingeordnet, wenn sie außerhalb ihrer spruchrichterlichen Tätigkeit auf Grund eines ausdrücklich normierten Richtervorbehalts tätig werden (vgl BVerfGE_96,27 <39 ff>; 104,220 <231 ff>). In diesen Fällen handeln die Gerichte zwar in voller richterlicher Unabhängigkeit, aber nicht in ihrer typischen Funktion als Instanzen der unbeteiligten Streitentscheidung. Vielmehr nehmen sie auf Antrag eigenständig einen Eingriff vor, der aber, auch soweit er funktional Ausübung vollziehender Gewalt ist, im Interesse eines besonderen rechtsstaatlichen Schutzes nicht der Exekutive oder jedenfalls nicht ihr allein überlassen wird (vgl BVerfGE_103,142 <151> ). Die Besonderheit gegenüber der spruchrichterlichen Tätigkeit wirkt sich in der Möglichkeit spezifischer verfahrensrechtlicher Regeln für solche Entscheidungen aus, so häufig im Ausschluss rechtlichen Gehörs. Umso wichtiger ist die Garantie einer anschließenden gerichtlichen Kontrolle der Maßnahme unter Gewährung rechtlichen Gehörs. Dies garantiert Art.19 Abs.4 GG. | |
Die Ausweitung der Anwendung des Art.19 Abs.4 GG sichert aber nicht auch Rechtsschutz gegenüber behaupteten Verletzungen der Verfahrensgrundrechte des Grundgesetzes durch ein Gericht. Kann dieser über den allgemeinen Justizgewährungsanspruch in Fällen verwirklicht werden, in denen Rechtsschutz rechtsstaatlich geboten ist, besteht insoweit von Verfassungs wegen keine Notwendigkeit, die engeA uslegung des Art.19 Abs.4 GG aufzugeben. | |
Das Bundesverfassungsgericht hat den aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Grundrechten folgenden allgemeinen Justizgewährungsanspruch zunächst als Grundlage des Rechtsschutzes in zivilrechtlichen Streitigkeiten anerkannt, für die Art.19 Abs.4 GG nicht anwendbar ist (vgl BVerfGE_88,118 <123>; 93,99 <107>; 97,169 <185> ). Auf diesem Wege wird gesichert, dass ein Gericht verbindlich über das Bestehen von Rechten und Pflichten in einer zivilrechtlichenA ngelegenheit entscheidet. | |
Der Justizgewährungsanspruch ermöglicht Rechtsschutz aber auch in weiteren Fällen, in denen dies rechtsstaatlich geboten ist. So liegt es bei der erstmaligen Verletzung von Verfahrensgrundrechten durch ein Gericht. | |
Die Verfahrensgrundrechte, insbesondere die des Art.101 Abs.1 und des Art.103 Abs.1 GG, sichern in Form eines grundrechtsgleichen Rechts die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards. In einem Rechtsstaat gehört zu einer grundrechtlichen Garantie die Möglichkeit einer zumindest einmaligen gerichtlichen Kontrolle ihrer Einhaltung. Allenfalls im Interesse des Schutzes besonders hochrangiger Rechtsgüter kann die Verfassung Ausnahmen vorsehen, wie es in Art.10 Abs.2 Satz 2 GG geschehen ist (vgl BVerfGE_30,1). | |
Die das gerichtliche Verfahren betreffenden Verfahrensgrundrechte können nicht durch einen Träger der vollziehenden Gewalt verletzt werden, denn sie sind ausschließlich an die Gerichte adressiert (vgl BVerfGE_101,3 97 <404 f>). Wird Art.19 Abs.4 GG einengend dahin ausgelegt, dass er den Rechtsschutz gegen richterliche Akte nicht umfasst, verbleibt dort ein Rechtsschutzdefizit, das aber durch den allgemeinen Justizgewährungsanspruch behoben wird. Er ermöglicht Rechtsschutz hinsichtlich der gerichtlichen Verfahrensdurchführung, soweit durch sie die Verfahrensgrundrechte verletzt sein können. Andernfalls bliebe eine Verletzung dieser Grundrechte ohne verfassungsrechtlich gesicherte Möglichkeit fachgerichtlicher Abhilfe. | |
Art.19 Abs.4 GG steht nicht entgegen, denn es heißt dort nicht, dass Rechtsschutz "nur" in seinem Rahmen garantiert sei. Auch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes ergibt nichts für einen Ausschluss weiter gehenden Rechtsschutzes (siehe oben aa). Die Verfolgung des mit der einengenden Auslegung des Art.19 Abs.4 GG von der Rechtsprechung und herrschenden Meinung im Schrifttum verbundenen rechtsstaatlichen Ziels, den endlosen Rechtsweg auszuschließen, darf nicht dazu führen, dass rechtlicher Schutz auch insoweit verweigert wird, als gar kein unendlicher Rechtsweg droht. Dieses Risiko besteht bei der Anwendung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs nicht, weil er - ebenso wie Art.19 Abs.4 GG - nur das Offenstehen des Rechtswegs garantiert, also die Öffnung des Zugangs zum Gericht (siehe oben 2a). | |
4. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, das Rechtsschutzsystem näher auszuformen und insbesondere die prozessualen Voraussetzungen für Rechtsmittel und Rechtsbehelfe festzulegen. Die Verfahrensordnung ist so auszugestalten, dass effektiver Rechtsschutz für den einzelnen Rechtsuchenden besteht, aber auch Rechtssicherheit hergestellt wird (vgl BVerfGE_88,118 <123 f>; BVerfGE_93,99 <107 f>). | |
Abwägung und Ausgleich der einander widerstreitenden Interessen können bei der vorläufigen Rechtsschutzgewährung anders erfolgen als bei der endgültigen. Auch darf der Gesetzgeber differenzierend berücksichtigen, ob die angegriffene Maßnahme von der Exekutive oder der Judikative ausgeht. So muss Rechtsschutz gegen Akte eines Richters nicht zwingend zur Befassung einer höheren Instanz führen, sofern die rechtsstaatlich notwendige Kontrolle des behaupteten Verfahrensfehlers anderweitig in hinreichender Weise gesichert werden kann. II. | |
Der Vorlagebeschluss des Ersten Senats ist auf Rechtsschutz gegen die behauptete Verletzung des Art.103 Abs.1 GG beschränkt. Die Besonderheiten dieses Verfahrensgrundrechts wirken sich auf die Rechtsschutzgarantie aus. | |
1. Das Grundgesetz sichert rechtliches Gehör im gerichtlichen Verfahren durch das Verfahrensgrundrecht des Art.103 Abs.1 GG. Rechtliches Gehör ist nicht nur ein "prozessuales Urrecht" des Menschen, sondern auch ein objektivrechtliches Verfahrensprinzip, das für ein rechtsstaatliches Verfahren im Sinne des Grundgesetzes schlechthin konstitutiv ist (vgl BVerfGE_55,1 <6> ). Seine rechtsstaatliche Bedeutung ist auch in dem Anspruch auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs.1 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie in Art.47 Abs.2 der Europäischen Grundrechte-Charta anerkannt. Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl BVerfGE_9,89 <95> ). Rechtliches Gehör sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Insbesondere sichert es, dass sie mit Ausführungen und Anträgen gehört werden. | |
Dementsprechend bedeutsam für den Rechtsschutz ist die Möglichkeit der Korrektur einer fehlerhaften Verweigerung rechtlichen Gehörs. Erst die Beseitigung eines solchen Fehlers eröffnet das Gehörtwerden im Verfahren. Dann steht der Weg zum Gericht nicht nur formal offen. Dies schafft einen wesentlichen Teil der Rechtfertigung dafür, dass der Gesetzgeber es den Beteiligten zumutet, die Entscheidung gegebenenfalls ohne weitere Korrekturmöglichkeit hinzunehmen (siehe oben I 2 b). Nicht nur die individualrechtssichernde, sondern auch die über den Einzelfall hinausreichende objektivrechtliche Bedeutung der Gehörsgarantie ist eine wesentliche Grundlage der Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats und der Erwartung an die Bürger, sich zur Streitbeilegung auf das Gerichtsverfahren einzulassen. | |
Art.103 Abs.1 GG steht daher in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie (vgl BVerfGE_81,123 <129>). Diese sichert den Zugang zum Verfahren, während Art.103 Abs.1 GG auf einen angemessenen Ablauf des Verfahrens zielt: Wer bei Gericht formell ankommt, soll auch substantiell ankommen, also wirklich gehört werden. Wenn ein Gericht im Verfahren einen Gehörsverstoß begeht, vereitelt es die Möglichkeit, eine Rechtsverletzung vor Gericht effektiv geltend zu machen. | |
2. Wird das Verfahrensgrundrecht aus Art.103 Abs.1 GG verletzt, so geschieht dieser Fehler unabhängig von dem Anlass, der zur Einleitung des Gerichtsverfahrens geführt hat, und damit von den für den Ausgangskonflikt maßgebenden Rechtsnormen. Die Anrufung des Gerichts zielt auf die Kontrolle der Beachtung dieser Normen. Das Verfahrensgrundrecht enthält nicht etwa dafür einen Maßstab, wohl aber für die Rechtmäßigkeit des richterlichen Verhaltens bei der Verfahrensdurchführung. | |
3. Es entspricht dem Rechtsstaatsprinzip, wenn die Prüfung von gerichtlichen Gehörsverstößen und ihre Beseitigung in erster Linie durch die Fachgerichte erfolgen. Das Rechtsstaatsprinzip zielt auf die Effektivität des Rechtsschutzes. Dieses Ziel wird am wirkungsvollsten durch eine möglichst sach- und zeitnahe Behebung von Gehörsverstößen erreicht, die von den Fachgerichten ohne weitere Umwege geleistet werden kann. | |
4. Der Justizgewährungsanspruch sichert Rechtsschutz gegen die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in jeder gerichtlichen Instanz, also auch dann, wenn das Verfahrensgrundrecht erstmalig in einem Rechtsmittelverfahren verletzt wird. | |
Die Maßgeblichkeit der Rechtsschutzgarantie entfällt nicht allein deshalb, weil eine Partei schon in der vorangegangenen Instanz die Möglichkeit gehabt hat, sich zur Sache zu äußern. Art.103 Abs.1 GG enthält weiter gehende Garantien als die, sich irgendwie zur Sache einlassen zu können, so beispielsweise den Schutz vor einer Überraschungsentscheidung (vgl BVerfGE_84,188 <190>; BVerfGE_86,133 <144 f> ). Hat die Partei sich in einer Instanz zur Sache geäußert und dabei alles vortragen können, was mit Blick auf diese Instanz erheblich schien, können sich in einer weiteren Instanz auf Grund neuer tatsächlicher Gegebenheiten oder anderer rechtlicher Auffassungen der nun entscheidenden Richter neue oder veränderte relevante Gesichtspunkte ergeben; deshalb muss die Partei in der Lage sein, ihren Sachvortrag auch darauf auszurichten. Wird ihr dies verwehrt, wird die Garantie rechtlichen Gehörs verletzt. Gäbe es gegen diese neue und eigenständige Verletzung keinen Rechtsschutz, bliebe die Beachtung des Grundrechts aus Art.103 Abs.1 GG kontrollfrei. | |
Ist noch ein Rechtsmittel gegen die gerichtliche Entscheidung gegeben, das auch zur Überprüfung der behaupteten Verletzung des Verfahrensgrundrechts führen kann, ist dem Anliegen der Justizgewährung hinreichend Rechnung getragen. Erfolgt die behauptete Verletzung des Verfahrensgrundrechts in der letzten in der Prozessordnung vorgesehenen Instanz und ist der Fehler entscheidungserheblich, muss die Verfahrensordnung eine eigenständige gerichtliche Abhilfemöglichkeit vorsehen. | |
5. Stets aber genügt die Möglichkeit, eine behauptete Rechtsverletzung bei einem gerichtlichen Verfahrenshandeln einer einmaligen gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen. Begeht das Rechtsbehelfsgericht einen Fehler im Zuge der Überprüfung, ob Art.103 Abs.1 GG bei der vorangegangenen gerichtlichen Verfahrensdurchführung beachtet worden ist, führt dies nicht zur erneuten Eröffnung des Rechtswegs. Auch hier gilt, dass ein Risiko fehlerhafter Überprüfung hinzunehmen ist. Das gebotene Mindestmaß an Rechtsschutz ist jedenfalls gewahrt. Nunmehr darf das Gebot der Rechtssicherheit Vorrang haben, das ebenso wie der Justizgewährungsanspruch seine Grundlage im Rechtsstaatsprinzip hat (vgl BVerfGE_60,253 <267> ). Daher ist ein endloser Rechtsweg auch dann nicht zu erwarten, wenn Rechtsschutz gegen die Verletzung des Verfahrensgrundrechts in einer Rechtsbehelfsinstanz eingeräumt wird." | |
Auszug aus BVerfG B, 30.04.03, - 1_PBvU_1/02 -, www.BVerfG.de, Abs.14 ff | |
§§§ | |
03.024 | Versorgungausgleich |
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LB 1) Der Versorgungsausgleich verwirklicht für den Fall der Scheidung die grundsätzlich gleiche Berechtigung der Eheleute am in der Ehe erworbenen Versorgungsvermögen. Er ist dabei grundsätzlich auch nicht dadurch bedingt, dass der ausgleichsberechtigte Ehegatte auf die Übertragung der Anwartschaften angewiesen ist (vgl BTDrucks 7/650, S.162). | |
LB 2) Umgekehrt unterliegt die Durchführung des Versorgungsausgleichs auch dann keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn er dazu führt, dass der Verpflichtete aufgrund der Kürzung seiner Anwartschaften auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sein wird (vgl BVerfGE_53,257 <298 f> ). | |
LB 3) Erst wenn die Durchführung des Versorgungsausgleichs unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände, wozu bei atypischen Vermögenslagen auch eine anderweitige Sicherung des Ausgleichberechtigten bei besonderer Bedürftigkeit des Verpflichteten gehören kann, zu einem insgesamt nicht mehr dem Grundsatz der hälftigen Berechtigung der Eheleute am gemeinsam in der Ehezeit erwirtschafteten Vermögen entsprechenden Ergebnis führt, kann die Härtefallklausel zur Vermeidung grundrechtswidriger Ergebnisse herangezogen werden. Dies setzt jedoch zwingend auch eine Prüfung der Situation des Ausgleichsverpflichteten unter Berücksichtigung der Folgen voraus, die die Durchführung des Versorgungsausgleichs für ihn hat. | |
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T-03-09 | Schutz der Ehe als Lebensgemeinschaft |
"Art.6 Abs.1 in Verbindung mit Art.3 Abs.2 GG schützt die Ehe als eine Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner (vgl BVerfGE_10,59 <66 f>; BVerfGE_35,382 <408>). Die Ehegatten können ihre persönliche und wirtschaftliche Lebensführung in gemeinsamer Verantwortung bestimmen und dabei insbesondere selbstverantwortlich darüber entscheiden, wie sie untereinander die Familien- und Erwerbsarbeit aufteilen wollen (vgl BVerfGE_57,361 <390>; BVerfGE_61,319 <347>; BVerfGE_66,84 <94>; BVerfGE_68,256 <268> ). Dabei sind die jeweiligen Leistungen, die die Ehegatten im Rahmen ihrer innerfamiliären Arbeitsteilung erbringen, als grundsätzlich gleichwertig anzusehen. Haushaltsführung und Kinderbetreuung haben für das gemeinsame Leben der Ehepartner keinen geringeren Wert als das Erwerbseinkommen des berufstätigen Ehegatten (vgl BVerfGE_66,324 <330>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 5.Februar 2002, 1 BvR 105/95 ua, amtlicher Umdruck, S.18). Aus Art. 6 Abs.1 in Verbindung mit Art.3 Abs.2 GG folgt in diesem Zusammenhang, dass beide Eheleute gleichermaßen an dem in der Ehe erworbenen Vermögen berechtigt sind (vgl BVerfGE_53,257 <296> ). Deshalb dürfen die während der Ehe nach Maßgabe der von den E hegatten vereinbarten Arbeitsteilung erwirtschafteten Versorgungsanrechte nach der Scheidung gleichmäßig auf beide Partner verteilt werden (vgl BVerfGE_53,257 <296>). Der Versorgungsausgleich dient ebenso wie der Zugewinnausgleich der Aufteilung von gemeinsam erwirtschafteten Vermögen der Eheleute, welches nur wegen der in der Ehe gewählten Aufgabenverteilung einem der Ehegatten rechtlich zugeordnet war (vgl BGH, NJW 1990, S.2746). Dabei korrespondiert mit der Rechtfertigung des Eingriffs in die durch Art.14 Abs.1 GG geschützten Rechtspositionen des ausgleichsverpflichteten Ehegatten durch Art.6 Abs.1 in Verbindung mit Art.3 Abs.2 GG ein verfassungsrechtlicher Anspruch aus eben diesen Grundrechten auf gleiche Teilhabe am in der Ehe erworbenen Vermögen (vgl BVerfG, Beschluss vom 5.Februar 2002, 1 BvR 105/95 ua, aaO, S.19). | |
In diesem Zusammenhang hat die Härtefallklausel des § 1587c Nr.1 BGB die Funktion eines Gerechtigkeitskorrektivs. Sie soll als Ausnahmeregelung eine am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Entscheidung in solchen Fällen ermöglichen, in denen die schematische Durchführung des Versorgungsausgleichs zur "Prämierung" einer groben Verletzung der aus der ehelichen Gemeinschaft folgenden Pflichten führen (vgl BVerfGE_53,257 <298>) oder gegen die tragenden Prinzipien des Versorgungsausgleichs verstoßen würde (vgl BVerfGE_66,324 <331>). Bei der Auslegung des Merkmales der "groben Unbilligkeit" in § 1587c Nr.1 BGB ist daher zu beachten, dass es Zweck dieser Vorschrift ist, solche mit der Durchführung des Versorgungsausgleichs verbundenen Eingriffe in die durch Art.14 Abs.1 GG bzw 33 Abs.5 GG geschützten Rechte des Ausgleichsverpflichteten zu vermeiden, die nicht mehr durch Art.6 Abs.1 in Verbindung mit Art.3 Abs.2 GG gerechtfertigt sind. Die Vorschrift kann daher nicht dazu herhalten, jegliches eheliches Fehlverhalten durch einen Ausschluss oder eine Beschränkung des Versorgungsausgleichs zu sanktionieren. Ihre Auslegung hat sich vielmehr an der gesetzgeberischen Zielsetzung des Versorgungsausgleichs insgesamt zu orientieren. Soll die Norm die gleichberechtigte Teilhabe der Eheleute an dem in der Ehe erworbenen Versorgungsvermögen verwirklichen und dem Ehegatten, der insbesondere wegen der Aufteilung der Erwerbs- und Familienarbeit in der Familie keine eigenen Versorgungsanwartschaften hat aufbauen können, eine eigene Versorgung verschaffen (vgl BTDrucks 7/4361, S.43), muss sich das Vorliegen einer groben Unbilligkeit, wie auch der Wortlaut von § 1587c Nr.1 BGB zeigt, aus den beiderseitigen Verhältnissen der Eheleute ergeben. Es bedarf daher einer Würdigung aller Umstände, die die Verhältnisse der Eheleute in Ansehung des Versorgungsausgleichs prägen. | |
Auszug aus BVerfG B, 20.05.03, - 1_BvR_237/97 -, www.BVerfG.de, Abs.17 | |
§§§ | |
03.025 | Umgangskontakt |
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LB 1) Art.2 Abs.1 GG gewährleistet in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dieses Recht schützt grundsätzlich vor der Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung und den Charakter (vgl BVerfGE_32,373 <378 ff>; BVerfGE_44,353 <372 f>; BVerfGE_65,1 <41 f>; BVerfGE_78,77 <84>; BVerfGE_84,192 <194 f>; BVerfGE_89,69 <82>; vgl auch Fehnemann, FamRZ 1979, S.661, 662 f). | |
LB 2) Der Schutz ist umso intensiver, je näher die Daten der Intimsphäre des Betroffenen stehen, die als unantastbarer Bereich privater Lebensgestaltung gegenüber aller staatlichen Gewalt Achtung und Schutz beansprucht (vgl BVerfGE_32,373 <378 f>; BVerfGE_65,1 <45 f>; BVerfGE_89,69 <82>). | |
LB 3) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist nicht absolut geschützt. Vielmehr muss jeder Bürger staatliche Maßnahmen hinnehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit auf gesetzlicher Grundlage unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots getroffen werden, soweit sie nicht den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung beeinträchtigen (vgl BVerfGE_32,373 <379>; BVerfGE_65,1 <44>; BVerfGE_89,69 <84>). Aus der gesetzlichen Grundlage müssen sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben (vgl BVerfGE_65,1 <44>). In grundlegenden normativen Bereichen hat der Gesetzgeber dabei alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen (vgl BVerfGE_61,260 <275>; BVerfGE_88,103 <116>). | |
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T-03-10 | Eingriffsermächtigung |
"An einer solchen verfassungsrechtlich gebotenen klaren und unmissverständlichen gesetzlichen Grundlage fehlt es für den hier vorliegenden weitreichenden Eingriff. Die Anordnung, die den Betroffenen zwingt, sich im Rahmen eines sorge- bzw umgangsrechtlichen Verfahrens psychologisch untersuchen zu lassen und zu diesem Zweck bei einem Sachverständigen zu erscheinen, kann sich auf keine sie legitimierende Gesetzesnorm stützen (vgl hierzu auch OLG Koblenz, FamRZ 2000, S. 1233; OLG Karlsruhe, FamRZ 1993, S.1479 <1480>; OLG Hamm, 1.FamS, FamRZ 1982, S.94 <95>; 4.FamS, FamRZ 1981, S.706 <707>; BayObLG, FamRZ 1979, S.737 <739>; OLG Stuttgart, OLGZ 1975, 132 ff; Schmidt, in: Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 14.Aufl, § 15 Rz.49; Bassenge/Herbst, FGG/RPflG, 8.Aufl, § 15 Rz.31; Jansen, FGG I.Bd, 2.Aufl, § 12 Rz.68; Weychardt, ZfJ 1999, S.326 <332>; Säcker, FamRZ 1971, S.81 <83, 84>). Als Ermächtigungsgrundlagen können weder § 33 FGG noch § 1684 Abs.1 BGB bzw §§ 12, 15 Abs.1 FGG herangezogen werden. | |
§ 33 FGG, der die Verhängung von Zwangsmitteln regelt, setzt voraus, dass die durch eine gerichtliche Verfügung einem Verfahrensbeteiligten aufgegebene Handlung, Unterlassung bzw Duldung ihrerseits eine gesetzliche Grundlage hat; aus § 33 FGG selbst kann diese nicht hergeleitet werden (vgl OLG Karlsruhe, FamRZ 1993, S.1479 <1480>; BayObLG, FamRZ 1979, S.737 <739>; OLG Stuttgart, OLGZ 1975,132 ff.; vgl auch OLG Koblenz, FamRZ 2000, S.1233; OLG Hamm, 1.FamS, FamRZ 1982, S.94; 4.FamS, FamRZ 1981, S.706; Zimmermann, in: Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 14.Aufl, § 33 Rz.1; Fehnemann, FamRZ 1979, S.661 <662 f>; Säcker, FamRZ 1971, S.81). | |
Als gesetzliche Grundlage für die dem Beschwerdeführer mit der Anordnung auferlegte Handlung und Duldung scheidet § 1 684 Abs.1 BGB aus. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die in dieser Norm statuierte Umgangsverpflichtung die zwangsweise Durchführunge ines Umgangskontaktes gegen den Willen des betroffenen Elternteils legitimieren kann. Denn der durch das Oberlandesgericht angeordnete "Umgang" in den Räumen des Sachverständigen sollte zugleich, wenn nicht sogar vorrangig der weiteren Sachverhaltsermittlung und -aufklärung als Grundlage einer Begutachtung auch des Beschwerdeführers und seines Verhaltens dienen. Die zwangsweise Beobachtung und Begutachtung des Umgangs durch einen Sachverständigen wird aber von § 1684 Abs.1 BGB nicht erfasst. | |
Auch § 12 und § 15 Abs.1 FGG können nicht als Rechtsgrundlage für die gerichtliche Anordnung herangezogen werden. | |
Gemäß § 12 FGG hat das Gericht von Amts wegen die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen anzustellen und die geeignet erscheinenden Beweise aufzunehmen. Im Gegensatz zu §§ 68b Abs.3, Abs.4, 70e Abs.2 FGG, die die Gutachtenerstellung im Betreuungs- bzw. Unterbringungsverfahren regeln, räumt § 12 FGG dem Gericht keine Befugnis ein, die Untersuchung des Betroffenen zur Vorbereitung eines Gutachtens zu erzwingen (vgl OLG Karlsruhe, FamRZ 1993, S.1 479 <1480>; OLG Hamm, 4.FamS, FamRZ 1981, S.706; BayObLG, FamRZ 1979, S.737 < 739>; OLG Stuttgart, OLGZ 1975,132 <133>; Fehnemann, FamRZ 1979, S.661 <662 f>; Säcker, FamRZ 1971, S.81; Jansen, FGG I.Bd, 2.Aufl, § 12 Rz.68). | |
§ 15 FGG erklärt die Vorschriften der Zivilprozessordnung für die Beweisaufnahme im FGG-Verfahren im Wesentlichen für entsprechend anwendbar. Zwar enthält § 372a ZPO für Fälle, in denen die Abstammung einer Person gerichtlicher Klärung bedarf, die Verpflichtung der Beteiligten, Untersuchungen, insbesondere die Entnahme von Blut, zu dulden. Bei dieser Norm handelt es sich indes um eine spezielle Ausnahmevorschrift, der eine allgemeine Verpflichtung, gerichtliche Anordnungen vergleichbarer Art hinzunehmen und ihre Vollziehung bei Vermeidung von Zwangsmaßnahmen zu dulden, nicht entnommen werden kann (OLG Hamm, 4.FamS, FamRZ 1981, S.706 <707>; OLG Stuttgart, OLGZ 1975, 132 <133>; im Ergebnis ebenso: OLG Koblenz, FamRZ 2000, S.1233; OLG Karlsruhe, FamRZ 1993, S.1479 <1480>; OLG Hamm, 1.FamS, FamRZ 1982, S.94 <95>; BayObLG, FamRZ 1979, S.737 <739>; Schmidt, in: Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 14.Aufl, § 15 Rz.49; Bassenge/Herbst, FGG/RPflG, 8.Aufl, § 15 Rz.31; iE wohl auch Säcker, FamRZ 1971, S.81 <82 f>)." | |
Auszug aus BVerfG B, 20.05.03, - 1_BvR_2222/01 -, www.BVerfG.de, Abs.12 ff | |
§§§ | |
03.026 | Kinderumgang |
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LB 1) Das Umgangsrecht des nichtsorgeberechtigten Elternteils steht ebenso wie die elterliche Sorge des anderen Elternteils unter dem Schutz des Art.6 Abs.2 Satz 1 GG. Können sich die Eltern über die Ausübung des Umgangsrechts nicht einigen, haben die Gerichte eine Entscheidung zu treffen, die sowohl die beiderseitigen Grundrechtspositionen der Eltern als auch das Wohl des Kindes und dessen Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigt (vgl BVerfGE_31,194 <206 f>; 64,180 <187 f>). Ein Verstoß gegen das Kindeswohl begründet zudem zugleich einen Verstoß gegen das Elternrecht (vgl BVerfGE_99,145 <164>). | |
LB 2) Zwar gilt für abgeschobene Ausländer - wie den Beschwerdeführer - ein generelles Verbot der Wiedereinreise nach Deutschland (§ 8 Abs.2 AuslG). Daran ändert auch die Elternschaft zu einem deutschen Kind nichts. Denn Art.6 Abs.2 Satz 1 GG vermittelt einem ausländischen Familienangehörigen keinen Anspruch auf Einreise nach Deutschland (vgl BVerfGE_76,1 <48>). | |
LB 3) Ausnahmsweise kann aber auch einem abgeschobenen Ausländer das kurzfristige Betreten des Bundesgebiets erlaubt werden, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde (vgl § 9 Abs.3 AuslG). Dem Interesse eines Ausländers an der Ausübung eines ihm eingeräumten Umgangsrechts mit seinem hier lebenden deutschen Kind kommt als Aufenthaltszweck eine Bedeutung zu, die von der Ausländerbehörde im Rahmen der nach § 9 Abs.3 AuslG vorzunehmenden Abwägung mit den gegen eine Gestattung der Wiedereinreise des zuvor abgeschobenen Ausländers sprechenden Belangen zu beachten ist. Denn Art.6 Abs.1 in Verbindung mit Abs.2 GG als wertentscheidende Grundsatznorm verpflichtet die Ausländerbehörden, familiäre Bindungen eines Ausländers an Personen, die sich berechtigter Weise im Bundesgebiet aufhalten, bei der Entscheidung über ausländerrechtliche Maßnahmen im Einzelfall zu beachten (vgl BVerfGE_76,1 <49 f>; BVerfG, Beschluss der 2.Kammer des Zweiten Senats vom 30.Januar 2002 - 2_BvR_231/00 -, FamRZ 2002, S.601 <602>). | |
§§§ | |
03.027 | Selbstablehnung |
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LB 1) Die Besorgnis der Befangenheit eines Richters des Bundesverfassungsgerichts nach § 19 BVerfGG setzt einen Grund voraus, der geeignet ist, Zweifel an seiner Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich parteilich oder befangen ist oder ob er sich selbst für befangen hält. | |
LB 2) Entscheidend ist allein, ob bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass besteht, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl BVerfGE_88,17 <22 f>; BVerfGE_99,51 <56>; BVerfGE_101,46 <50 f>; BVerfGE_102,192 <195>). | |
LB 3) Eine Besorgnis der Befangenheit im Sinne des § 19 BVerfGG kann nicht aus den allgemeinen Gründen hergeleitet werden, die nach der ausdrücklichen Regelung des § 18 Abs.2 und 3 BVerfGG nicht zum Ausschluss von der Ausübung des Richteramts führen. | |
LB 4) Es wäre ein Wertungswiderspruch, könnte gerade auf diese Gründe dennoch ohne Weiteres eine Besorgnis der Befangenheit gestützt werden. Daher können erst Umstände, die über die in § 18 Abs.2 und 3 BVerfGG genannten hinausgehen, eine Besorgnis der Befangenheit begründen (vgl BVerfGE_88,17 <23>; BVerfGE_102,192 <195>). | |
LB 5) Die Tatsache, dass Herr Kanther in der von Richter Jentsch begründeten Rechtsanwaltskanzlei mit dessen Einverständnis unter den in der dienstlichen Äußerung mitgeteilten Bedingungen seinen Beruf als Rechtsanwalt ausübt, ist geeignet, Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters Jentsch in dem zur Entscheidung anstehenden Verfahren zu begründen. | |
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T-03-11 | Richter Jentsch |
"1. Bei der dienstlichen Äußerung des Richters Jentsch handelt es sich um eine Erklärung im Sinne des § 19 Abs.3 BVerfGG. Diese Regelung setzt nicht voraus, dass der Richter sich selbst für befangen hält. Es genügt, dass er Umstände anzeigt, die Anlass geben, eine Entscheidung über die Besorgnis | |
der Befangenheit zu treffen (vgl BVerfGE_88,1 <3>; BVerfGE_88,17 <22>; BVerfGE_98,134 <137>; BVerfGE_101,46 <50>; BVerfGE_102,192 <194>). Die mitgeteilten Umstände geben zu einer Senatsentscheidung gemäß § 19 Abs.3 in Verbindung mit § 19 Abs.1 BVerfGG über die Besorgnis der Befangenheit des Richters Jentsch Anlass. | |
2. Der von dem Richter Jentsch mit dienstlicher Äußerung vom 19.März 2003 angezeigte Sachverhalt begründet die Besorgnis der Befangenheit. Er enthält hinreichende Gründe, die geeignet sind, Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters Jentsch auszulösen. | |
a) Die Besorgnis der Befangenheit eines Richters des Bundesverfassungsgerichts nach § 19 BVerfGG setzt einen Grund voraus, der geeignet ist, Zweifel an seiner Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich parteilich oder befangen ist oder ob er sich selbst für befangen hält. Entscheidend ist allein, ob bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass besteht, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl BVerfGE_88,17 <22 f>; BVerfGE_99,51 <56>; BVerfGE_101,46 <50 f>; BVerfGE_102,192 <195>). | |
Eine Besorgnis der Befangenheit im Sinne des § 19 BVerfGG kann nicht aus den allgemeinen Gründen hergeleitet werden, die nach der ausdrücklichen Regelung des § 18 Abs.2 und 3 BVerfGG nicht zum Ausschluss von der Ausübung des Richteramts führen. Es wäre ein Wertungswiderspruch, könnte gerade auf diese Gründe dennoch ohne Weiteres eine Besorgnis der Befangenheit gestützt werden. Daher können erst Umstände, die über die in § 18 Abs.2 und 3 BVerfGG genannten hinausgehen, eine Besorgnis der Befangenheit begründen (vgl BVerfGE_88,17 <23>; BVerfGE_102,192 <195>). | |
b) Die Tatsache, dass Herr Kanther in der von Richter Jentsch begründeten Rechtsanwaltskanzlei mit dessen Einverständnis unter den in der dienstlichen Äußerung mitgeteilten Bedingungen seinen Beruf als Rechtsanwalt ausübt, ist geeignet, Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters Jentsch in dem zur Entscheidung anstehenden Verfahren zu begründen. | |
Zwar ist nach § 18 Abs.2 BVerfGG ein Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht mit der Folge eines Ausschlusses von der Ausübung seines Richteramts am Verfahren im Sinne des § 18 Abs.1 Nr.1 BVerfGG "beteiligt", wenn er "aufgrund ... seines Berufs ... oder aus einem ähnlich allgemeinen Gesichtspunkt am Ausgang des Verfahrens interessiert ist". Die Beziehung des Richters Jentsch zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde geht jedoch über eine solche allgemeine, in der Regel keine Besorgnis der Befangenheit auslösende "Beteiligung" hinaus. | |
Die Verfassungsbeschwerde hat zwar nicht unmittelbar die Rechtmäßigkeit des Finanzgebarens der hessischen CDU zum Gegenstand; vielmehr geht es um die Anforderungen an einen Rechenschaftsbericht, der die Voraussetzungen für die Festsetzung der staatlichen Parteienfinanzierung erfüllt. Die dabei in Rede stehende Fehlerhaftigkeit des Rechenschaftsberichts der CDU für das Jahr 1998 beruht aber auf den umstrittenen finanziellen Transaktionen der CDU des Landes Hessen in einem Zeitraum, in dem Herr Kanther Generalsekretär und später Landesvorsitzender der hessischen CDU war; während seiner Amtszeit soll das nicht deklarierte Vermögen der CDU ins Ausland transferiert worden sein. Hinzu kommt, dass er selbst hieran sogar beteiligt gewesen sein soll. Die behauptete Verstrickung von Herrn Kanther in die Vorgänge um die "Schwarzen Kassen" der hessischen CDU steht deshalb in einem wesentlich engeren Zusammenhang zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens als seinerzeit zum abstrakten Normenkontrollverfahren betreffend die Wahlprüfung in Hessen (vgl BVerfGE_102,192 und BVerfGE_103,111): Dort ging es allein um die Verfassungsgemäßheit der personellen Zusammensetzung des hessischen Wahlprüfungsgerichts sowie um die Verfassungsmäßigkeit von Teilen des ihm vorgegebenen Prüfungsmaßstabs und der sofortigen Rechtskraft seiner Urteile (vgl BVerfGE_102,192 <196>); das Finanzgebaren der CDU Hessens war als Sachverhalt nicht einmal mittelbar Gegenstand des Verfahrens. Für die im vorliegenden Fall von der Beschwerdeführerin mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Rechte hat es hingegen maßgebliche Bedeutung, weil es den entscheidungserheblichen Rechenschaftsbericht für das Jahr 1998 unstreitig inhaltlich beeinflusst hat. | |
Dieser Unterschied führt auch zu einem größeren Gewicht des möglichen Interesses von Richter Jentsch am Ausgang des vorliegenden Verfahrens aus der maßgeblichen Sicht eines objektiven Dritten. Der Senat hat im Fall der Wahlprüfung in Hessen ausgeführt, dass Herr Kanther der Sache nach als rehabilitiert erscheinen könnte, wenn der zur Prüfung gestellte Grund für eine Ungültigkeit der Wahl und die Zusammensetzung des Wahlprüfungsgerichts für verfassungswidrig erklärt würden; ein derartiger Ausgang des Verfahrens wäre geeignet, das Ansehen sowie den wirtschaftlichen Wert der Rechtsanwaltskanzlei zu steigern und daher die ökonomischen Interessen des Richters Jentsch vornehmlich für die Zeit nach seinem Ausscheiden als Bundesverfassungsrichter zu berühren; solche möglichen mittelbaren Folgewirkungen einer anstehenden Entscheidung rechtfertigten aber - bei einer vernünftigen Würdigung aus dem maßgeblichen Blickwinkel der in einem abstrakten Normenkontrollverfahren beteiligten Staatsorgane - nicht die Besorgnis, der Richter Jentsch sei in Bezug auf den Gegenstand des Verfahrens befangen (vgl BVerfGE_102,192 <196>). | |
Dies ist nunmehr im Hinblick auf die Nähe von Herrn Kanther zu den umstrittenen Finanzaktionen der hessischen CDU, dem hieraus resultierenden Fehler im Rechenschaftsbericht für das Jahr 1998 und der nachfolgenden, auf diesen Fehler gestützten und mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Versagung von staatlichen Geldern der Parteienfinanzierung anders zu bewerten. Der Ausgang des Verfahrens über die Gewährung dieser finanziellen Mittel könnte möglicherweise für Herrn Kanther weitere Verfahren nach sich ziehen, in denen es um die rechtliche Beurteilung seines Verhaltens beim Umgang mit dem Parteivermögen und eine mögliche Haftung hierfür geht. Dies könnte Auswirkungen auf die von Richter Jentsch begründete Anwaltskanzlei haben. | |
Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Richter des Bundesverfassungsgerichts über jene innere Unabhängigkeit und Distanz verfügen, die sie befähigen, in Unvoreingenommenheit und Objektivität zu entscheiden (vgl BVerfGE_35,171 <173 f> und abweichende Meinung S.175 ff; BVerfGE_73,330 <335 f>). Bei den Vorschriften über die Besorgnis der Befangenheit geht es aber auch darum, bereits den bösen Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit zu vermeiden. Bei vernünftiger Würdigung aller Umstände besteht hinreichender Anlass, wegen der Verbindung mit Herrn Kanther in einer gemeinsamen Anwaltskanzlei an der Unvoreingenommenheit des Richters Jentsch zu zweifeln." | |
Auszug aus BVerfG B, 18.06.03, - 2_BvR_383/03 -, www.BVerfG.de, Abs.16 ff | |
§§§ | |
03.028 | Auslieferung |
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LB 1) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben deutsche Gerichte in Auslieferungsverfahren zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte mit dem nach Art.25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind (vgl BVerfGE_63,332 <337 f>; BVerfGE_75,1 <19>). | |
LB 2) Den zuständigen Organen der Bundesrepublik Deutschland ist es danach verwehrt, einen Verfolgten auszuliefern, wenn die Strafe, die ihm im ersuchenden Staat droht, unerträglich hart, mithin unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erschiene. | |
LB 3) Anderes gilt hingegen dann, wenn die zu vollstreckende Strafe lediglich als in hohem Maße hart anzusehen ist und bei einer strengen Beurteilung anhand deutschen Verfassungsrechts nicht mehr als angemessen erachtet werden könnte. | |
LB 4) Das Grundgesetz geht nämlich von der Eingliederung des von ihm verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft aus (vgl Präambel, Art.1 Abs.2, Art.9 Abs.2, Art.23 bis 26 GG). Es gebietet damit zugleich, fremde Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten (vgl BVerfGE_75,1 <16 f>), auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen. | |
LB 5) Zur abweichenden Meinung des Richters Sommer und der Richterin Lübbe-Wolff siehe BVerfGE_108,145 = www.BverfG.de Abs.61 ff. | |
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T-03-12 | Auslieferung nach Indien |
"1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben deutsche Gerichte in Auslieferungsverfahren zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte mit dem nach Art.25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind (vgl BVerfGE_63,332 <337 f>; BVerfGE_75,1 <19>). | |
Die Grenzen, die einer Auslieferung hierdurch gezogen werden, hat das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Ausgestaltung des Straf- und Vollstreckungsverfahrens, das den Auszuliefernden in dem ersuchenden Staat erwartet, konkretisiert. Danach zählt zu den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Kernbereich des aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Gebots der Verhältnismäßigkeit. Den zuständigen Organen der Bundesrepublik Deutschland ist es danach verwehrt, einen Verfolgten auszuliefern, wenn die Strafe, die ihm im ersuchenden Staat droht, unerträglich hart, mithin unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erschiene. Ebenso zählt es zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung, dass eine angedrohte oder verhängte Strafe nicht grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein darf. Die zuständigen Organe der Bundesrepublik Deutschland sind deshalb gehindert, an der Auslieferung eines Verfolgten mitzuwirken, wenn dieser eine solche Strafe zu gewärtigen oder zu verbüßen hat. | |
Anderes gilt hingegen dann, wenn die zu vollstreckende Strafe lediglich als in hohem Maße hart anzusehen ist und bei einer strengen Beurteilung anhand deutschen Verfassungsrechts nicht mehr als angemessen erachtet werden könnte. Das Grundgesetz geht nämlich von der Eingliederung des von ihm verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft aus (vgl Präambel, Art.1 Abs.2, Art.9 Abs.2, Art.23 bis 26 GG). Es gebietet damit zugleich, fremde Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten (vgl BVerfGE_75,1 <16 f>), auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen. Soll der in gegenseitigem Interesse bestehende zwischenstaatliche Auslieferungsverkehr erhalten und auch die außenpolitische Handlungsfreiheit der Bundesregierung unangetastet bleiben, so dürfen die Gerichte als unüberwindbares Hindernis für eine Auslieferung nur die Verletzung der unabdingbaren Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung zu Grunde legen. | |
2. Nach diesem verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab ist der Verfassungsbeschwerde ein Verfassungsverstoß durch die angefochtenen Entscheidungen nicht zu entnehmen. | |
a) Soweit der Beschwerdeführer unter Hinweis auf Berichte von amnesty international und Auswärtigem Amt geltend macht, ihm drohten als strafverdächtiger Person in Indien Folter und Misshandlungen, so rügt er im Kern die aus seiner Sicht falsche Einschätzung der tatsächlichen Verhältnisse seitens des Gerichts. | |
Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind Sache der dafür zuständigen Fachgerichte (vgl BVerfGE_18,85 <93>; BVerfGE_30,173 <196 f>; BVerfGE_57,250 <272>; BVerfGE_74,102 <127> stRspr). Auch in Auslieferungsverfahren prüft das Bundesverfassungsgericht insoweit nur, ob die Rechtsanwendung oder das dazu eingeschlagene Verfahren unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht (vgl Beschluss der 1.Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11.Dezember 2000 - 2_BvR_2184/00 -; vgl auch BVerfGE_80,48 <51>). Diese Grenzen sind in dem hier zu entscheidenden Fall nicht überschritten. | |
aa) (1) Das Oberlandesgericht München stellt in seinem Beschluss vom 30.April 2003 bezüglich der behaupteten Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei einer Auslieferung ausdrücklich darauf ab, dass begründete Anhaltspunkte für die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung vorliegen müssen. Dieser Prüfungsmaßstab entspricht sowohl der vom Oberlandesgericht zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl Beschluss der 3.Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 31.Mai 1994 - 2_BvR_1193/93 -, NJW 1994, S.2883 = NStZ 1994, S.492) als auch der des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl EGMR, Urteil vom 7.Juli 1989, Series A No.161, S.35 Ziff.91 = NJW 1990, S.2183, 2185 - Soering; Reports of Judgments and Decisions 1996-V, 1853, Ziff.73 f - Chahal), der inhaltlich gleichbedeutend von "begründeten Tatsachen" (substantial grounds) für ein "tatsächliches Risiko" (real risk) von Folter spricht. Daher hat das Oberlandesgericht entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers keinen überzogenen Maßstab angewendet. Insbesondere kann allein aus der Formulierung des Beschlusses vom 30.April 2003, wonach für eine "konkrete Gefahr <...> als unmittelbar bevorstehend" keine Erkenntnisse vorlägen, nicht geschlossen werden, dass das Oberlandesgericht nunmehr einen anderen Maßstab anlegen wollte. | |
(2) Eine Gefahr in dem beschriebenen Sinne kann angenommen werden, wenn stichhaltige Gründe vorgetragen sind, nach denen gerade in dem konkreten Fall eine "beachtliche Wahrscheinlichkeit" (vgl Beschluss der 3.Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22.Juni 1992 - 2 BvR 1901/91 -, abgedruckt in: Eser/Lagodny/Willkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rechtsprechungssammlung, 2.Aufl 1993, Nr.U 202) besteht, in dem ersuchenden Staat das Opfer von Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu werden. | |
Auf konkrete Anhaltspunkte gerade im Fall des Auszuliefernden kommt es in der Regel nur dann nicht an, wenn in dem ersuchenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte herrscht (vgl dazu den Wortlaut von Art.3 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10.Dezember 1984 - UN-Antifolterkonvention,BGBl 1990 II S.246 <248>). Die Auslieferung in Staaten, die eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschrechtsrechtsverletzungen aufweisen, wird regelmäßig die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der elementaren Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung begründen. | |
b) Es ist nicht ersichtlich, dass die Feststellungen in den angegriffenen Entscheidungen, mit denen eine entsprechende Gefahr von Folter für den Beschwerdeführer verneint wurde, willkürlich sind. | |
Für eine solche Annahme reicht der Hinweis des Beschwerdeführers auf die Berichte von amnesty international und des Auswärtigen Amtes, wonach Folterungen und Misshandlungen von strafverdächtigen Personen in Indien weit verbreitet sowie Folter eine "häufig von der Polizei angewandte Vernehmungsmethode" und ein Erpressungsmittel seien, nicht aus. | |
(1) Das Oberlandesgericht hat in seinem Beschluss vom 30. April 2003 nicht in Zweifel gezogen, dass in Indien Folter zum Teil als Vernehmungsmethode oder als Erpressungsmittel angewendet wird. Für seine Einschätzung, dass dem Beschwerdeführer gleichwohl keine konkrete Gefahr von Folter drohe, hat es sich darauf gestützt, dass Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe zwar vorkämen, jedoch verstärkt rechtlich geahndet würden. Dies entspricht der Einschätzung des Auswärtigen Amtes in seinem Lagebericht "Indien". Ferner hat das Gericht darauf hingewiesen, dass Folter in Indien durch Gesetz verboten sei und nicht durch den Staat zielgerichtet gefördert werde, der indische Staat vielmehr Folterer bestrafe und in letzter Zeit auch eine Kampagne zur Bewusstseinserhöhung unter seinen Sicherheitskräften in die Wege geleitet habe. Auch dies findet seine Grundlage in dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes. | |
Bereits diese Gesichtspunkte lassen die Einschätzung des Oberlandesgerichts nachvollziehbar erscheinen, allein auf Grund des Umstandes, dass Folter in Indien eine häufig von der Polizei angewandte Vernehmungsmethode oder ein Erpressungsmittel sei, drohe dem Beschwerdeführer keine konkrete Gefahr von Folter mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, insgesamt sei Indien demnach kein Staat, in dem eine ständige Praxis umfassender oder systematischer Menschrechtsrechtsverletzungen herrsche. | |
(2) (a) Diese Einschätzung des Oberlandesgerichts wird auch von seiner Erwägung getragen, dass der zwischen Deutschland und Indien am 27.Juni 2001 geschlossene Auslieferungsvertrag zu berücksichtigen sei. Der Vertrag sei zwar noch nicht ratifiziert, der Umstand des Vertragsschlusses spreche jedoch dafür, dass die im Asyllagebericht des Auswärtigen Amtes erwähnten Methoden gerade nicht der Normalfall seien, sondern Ausnahmecharakter hätten, andernfalls es nicht zu einem solchen Abkommen gekommen wäre. Dem kann der Beschwerdeführer nicht mit Erfolg entgegenhalten, dies sei eine willkürliche "hypothetische" Erwägung, da man angesichts der entgegenstehenden Erkenntnisse nicht vom Soll- auf den Ist-Zustand schließen könne. | |
(b) Die Tatsache des Vertragsschlusses unterstützt ein Verständnis des in seinen Aussagen heterogenen und auf die Situation politisch Verfolgter konzentrierten Asyllageberichts, wonach eine systematische menschenrechtswidrige Praxis gerade auch im Strafvollzug nicht bestehe, weil ansonsten unter Federführung des Auswärtigen Amtes ein Auslieferungsvertrag jedenfalls im Jahr 2001 gar nicht erst geschlossen worden wäre. Darüber hinaus mindert auch die Tatsache des Vertragsschlusses selbst eine etwaige Gefahr für den Beschwerdeführer, weil aus ihm heraus Rechtspflichten für die Republik Indien in Bezug auf die Achtung des menschenrechtlichen Mindeststandards im konkreten Fall der Auslieferung erwachsen. Schon aus der Tatsache des Vertragsschlusses folgt ein völkerrechtliches Frustrationsverbot, wonach die Vertragsparteien verpflichtet sind, nach der Unterzeichnung und vor der Ratifikation des Abkommens alles zu unterlassen, was den Zielen des Vertrags zuwiderläuft (siehe Art.18 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.Mai 1969,BGBl 1985 II S.926 ; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3.Aufl 1984, §§ 705, 719 mwN). Die menschenunwürdige Behandlung von Personen, die von Deutschland nach Indien auf noch vertragsloser Grundlage ausgeliefert werden, würde dem Vertrag widersprechen, da eine solche Praxis die Schaffung einer stabilen bilateralen Beziehung in Rechtshilfe- und Auslieferungssachen - die durch den Abschluss des Abkommens angestrebt wird - verhindern würde. Art.5 des Auslieferungsvertrags enthält einen ordre-public-Vorbehalt, der die Ablehnung eines Auslieferungsersuchens im Fall des § 73 IRG gestatten würde (vgl Denkschrift der Bundesregierung zu dem Vertrag, zu Artikel 5, BRDrucks 241/03, S.17). Funktionell betrachtet treten damit die Rechtsbindungen des Auslieferungsvertrags an die Stelle der Zusicherung im vertragslosen Zustand. Eine solche Zusicherung der Einhaltung menschenrechtlicher Mindeststandards im Strafverfahren oder menschenwürdiger Haftbedingungen kann im Vertragszustand regelmäßig nicht verlangt werden, weil damit der anderen Seite ein Vertragsbruch unterstellt wird; dies gilt gerade im aktuellen Zeitpunkt des Inkraftsetzens des Vertrags. | |
Hierbei handelt es sich um Erwägungen, die einen Rückschluss auf die tatsächliche Lage in Indien für den Beschwerdeführer erlauben. In dem konkreten Fall hat die Bundesregierung die Auslieferung des Beschwerdeführers mit Verbalnote vom 23. April 2003 "nach Maßgabe der Grundsätze des deutsch-indischen Auslieferungsvertrages" bewilligt. Daraus folgt, dass das deutsch-indische Auslieferungsabkommen, obwohl nicht formell in Kraft getreten, auf Grund des völkerrechtlichen Frustrationsverbotes und der Ausgestaltung der Bewilligung materiell zur Grundlage der Auslieferung des Beschwerdeführers geworden ist. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Indien den Ratifikationsprozess bereits abgeschlossen und damit nochmals seinen Willen bekundet hat, die mit dem Abkommen begründeten völkerrechtlichen Verpflichtungen einzuhalten. | |
Hielte sich Indien nicht an die materiellen Regelungen des Abkommens, läge darin ein Verstoß gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen. Die Bewilligung steht demnach unter der Bedingung, dass Indien den Beschwerdeführer nach der Übergabe entsprechend den völkerrechtlichen Mindeststandards behandelt. | |
Außerdem findet die Einschätzung des Oberlandesgerichts auch in der im vorliegenden Verfahren der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht München gegebenen Mitteilung des Auswärtigen Amtes vom 25.März 2003 eine Stütze. Danach habe bereits der bisherige vertragslose Auslieferungsverkehr mit Indien auf der Grundlage stattgefunden, dass menschenrechtliche Mindeststandards im indischen Strafverfahren und Strafvollzug eingehalten würden; im Einzelfall sei jeweils auf den deutsch-indischen Auslieferungsvertrag Bezug genommen worden, der am 27.Juni 2001 unterzeichnet worden sei und voraussichtlich im Laufe dieses Jahres in Kraft treten werde. Dies kann nichts anderes bedeuten als dass, auch wenn in Indien generell Folter und Misshandlungen weit verbreitet sind, jedenfalls für von der Bundesrepublik Deutschland unter Bezugnahme auf den deutsch-indischen Auslieferungsvertrag ausgelieferte Personen nach Einschätzung der Bundesregierung die menschenrechtlichen Mindeststandards im indischen Strafverfahren und Strafvollzug eingehalten worden sind. | |
Es kann im Übrigen angenommen werden, dass die Bundesregierung über ihre diplomatischen Vertretungen das weitere Verfahren in Indien von sich aus beobachtet. | |
(3) Der Beschwerdeführer hat auch keine Gründe vorgetragen, die gerade in seinem Fall eine menschenunwürdige Behandlung bei der Rückkehr nach Indien beachtlich wahrscheinlich machen. Das Oberlandesgericht weist nachvollziehbar darauf hin, es sei nicht bekannt, dass die Mitangeklagten des Beschwerdeführers in der Vergangenheit gefoltert worden seien. Der Beschwerdeführer, der von einem indischen Rechtsbeistand vertreten wird, hat nichts vorgetragen, was diese Feststellung in Frage stellen könnte. | |
c) Im Hinblick auf menschenunwürdige Haftbedingungen gelten weitgehend die Ausführungen zur Gefahr der menschenrechtswidrigen Behandlung durch Folter (vgl III.2. a und b). Der Beschwerdeführer rügt auch insoweit im Kern die aus seiner Sicht unzureichende Auseinandersetzung des Gerichts mit den tatsächlichen Verhältnissen im indischen Strafvollzug. | |
aa) Diese Rüge wird vom Bundesverfassungsgericht am Maßstab des Willkürverbots des Art.3 Abs.1 GG nur daraufhin überprüft, ob die Rechtsanwendung und das dazu eingeschlagene Verfahren unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, die Entscheidung beruhe auf sachfremden und daher willkürlichen Erwägungen (vgl oben III.2.a). | |
bb) Dies vermag die Beschwerdebegründung nicht darzutun. Der Hinweis des Beschwerdeführers auf die Berichte von amnesty international und den Asyllagebericht des Auswärtigen Amtes reicht hierfür nicht aus. | |
Das Oberlandesgericht hat in der Begründung seines Beschlusses vom 30.April 2003 zu diesem Vorbringen zwar nur knapp im Anschluss an seine Ausführungen zu der geltend gemachten Foltergefahr erklärt, gleiches gelte für die vorgetragenen Haftbedingungen; Erkenntnisse für eine konkrete Gefahr für den Beschwerdeführer lägen nicht vor. | |
Damit hat das Gericht aber - jedenfalls auch - Bezug genommen auf seine tragende Erwägung zur Foltergefahr, bei der der Abschluss des deutsch-indischen Auslieferungsvertrags zu berücksichtigen sei. Aus den oben genannten Gründen kann für die Haftbedingungen im Strafverfahren und im Strafvollzug nichts anderes gelten als für die vom Beschwerdeführer angeführte Foltergefahr: Unabhängig von den Haftbedingungen für einen Großteil der Inhaftierten sind keine Anhaltspunkte erkennbar, dass speziell bei den von der Bundesrepublik Deutschland nach Indien ausgelieferten Personen dort die menschenrechtlichen Mindeststandards nicht eingehalten würden. | |
cc) Dass im Fall des Beschwerdeführers Besonderheiten vorliegen, die eine andere - wenn auch ansonsten weit verbreitete - Behandlung in der Haft besorgen lassen, hat er nicht dargelegt. | |
d) Es ist schließlich auch nicht ersichtlich, dass das Oberlandesgericht München den bei einer Auslieferung zu beachtenden Kernbereich der Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips berührt hat, indem es die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Indien ungeachtet der ihm dort maximal drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe für zulässig erklärt hat. | |
aa) Der Beschwerdeführer wird beschuldigt, in erheblichem Umfang Vermögensdelikte im Wege einer kriminellen Verschwörung begangen zu haben. Durch die Straftaten ist ein Schaden von rund 2.140.000,-- eingetreten, sodass sie einen insgesamt hohen Unrechtsgehalt aufweisen. Es ist daher nicht unerträglich hart im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl oben unter III.1. und BVerfGE_75,1 <16 ff> , Beschluss der 3.Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4.März 1994 - 2_BvR_2037/93 -, NJW 1994, S.2884), wenn der indische demokratische Gesetzgeber den Strafrahmen für diese Straftaten bis zur lebenslänglichen Freiheitsstrafe festgesetzt hat. | |
Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Staaten generell und speziell im Bereich der Vermögensdelikte unterschiedliche Auffassungen über die Strafwürdigkeit von kriminellem Verhalten haben können. Das Bundesverfassungsgericht kann deshalb nur prüfen, ob eine im ersuchenden Staat drohende Strafe "schlechthin unangemessen" ist, selbst wenn im Einzelfall die konkret angedrohte Strafe für den Beschwerdeführer eine Härte bedeutet. | |
bb) Das Oberlandesgericht hat in seinem Beschluss vom 30. April 2003 schließlich darauf hingewiesen, dass auch nach der deutschen Rechtslage für die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Taten, in der konkreten Begehungsform der Mittäterschaft, ein Strafhöchstmaß von 15 Jahren Gesamtfreiheitsstrafe in Betracht käme. | |
3. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung." | |
Auszug aus BVerfG B, 24.06.03, - 2_BvR_685/03 -, www.BVerfG.de, Abs.29 ff | |
§§§ | |
03.029 | Sozietätswechsel |
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Zur Bedeutung der Berufsfreiheit beim Sozietätswechsel von Rechtsanwälten. | |
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Beschluss | Entscheidungsformel:
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T-03-13 | Berufsfreiheit bei Sozietätswechsel |
"Die angegriffene Entscheidung bestätigt eine gegen die Beschwerdeführer gerichtete Verfügung der Rechtsanwaltskammer. Ob eine solche Verfügung schon deshalb rechtswidrig sein könnte, weil es der Rechtsanwaltskammer an einer Rechtsgrundlage fehlt, Berufspflichtverletzungen mit dem Erlass von Ge- und Verboten zu begegnen (vgl BGH, MDR 2003, S.418 mit ablehnender Anmerkung von Hartung), bedarf vorliegend keiner Vertiefung. Denn die an die Beschwerdeführer gerichtete Aufforderung der Rechtsanwaltskammer, die Mandate niederzulegen, findet der Sache nach im Gesetz keine der Verfassung entsprechende Grundlage. Die dem § 43a Abs.4 BRAO durch den Bundesgerichtshof gegebene Auslegung verletzt die Beschwerdeführer in ihrer Berufsausübungsfreiheit aus Art.12 Abs.1 GG (I.). Die vom Bundesgerichtshof bestätigend herangezogene Vorschrift des § 3 Abs.2 BORA ist aus diesem Grund nichtig (II.); hingegen ermöglicht § 43a Abs.4 BRAO eine der Verfassung entsprechende Auslegung und Anwendung. | |
1. Die Vertretung von Mandanten ist ein wesentlicher Teil der durch Art.12 Abs.1 GG geschützten anwaltlichen Berufsausübung. | |
Anwälte streiten berufsmäßig für die Interessen ihrer Mandanten, die ihrerseits frei sind, den ihnen zusagenden Rechtsvertreter zu wählen und zu mandatieren. Das personale Vertrags- und Vertrauensverhältnis betrifft einen Beruf, der staatliche Kontrolle und Bevormundung prinzipiell ausschließt (vgl BVerfGE_34,293 <302>) und unter der Herrschaft des Grundgesetzes der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des Einzelnen überantwortet ist, soweit sie nicht durch verfassungsgemäße Regelungen beschränkt ist (vgl BVerfGE_50,16 <29>). Ihre eigenständige und unabhängige Funktion in der Durchsetzung des Rechts nehmen die Rechtsanwälte gerade in Bezug auf ihre jeweiligen Mandanten wahr. | |
Das in erster Linie durch persönliche und eigenverantwortliche Dienstleistung charakterisierte Verhältnis zum Mandanten wird durch berufliche Zusammenschlüsse nicht aufgehoben oder wesentlich verändert (so für den Strafverteidiger BVerfGE_43,79 <91 f>). Gesetzliche Einschränkungen der beruflichen Betätigung treffen den einzelnen Anwalt persönlich und sind in erster Linie den Interessen der Mandanten geschuldet. Diesem Mandatsverhältnis dienen die in § 43a BRAO normierten Grundpflichten des Rechtsanwalts. Dazu zählen insbesondere die strafbewehrte (§ 203 Abs.1 Nr.3 StGB) und durch ein Zeugnisverweigerungsrecht geschützte (§ 383 Abs.1 Nr.6 ZPO, § 53 StPO, § 84 Abs.1 FGO iVm § 102 AO) Pflicht zur Verschwiegenheit nach § 43a Abs.2 Satz 1 BRAO sowie das ebenfalls in bestimmten Begehungsformen strafbewehrte (vgl § 356 StGB) Verbot in § 43a Abs.4 BRAO, widerstreitende Interessen zu vertreten. In Verbindung mit dem in § 43a Abs.1 BRAO enthaltenen Gebot, dass der Rechtsanwalt keine Bindungen eingehen darf, die seine berufliche Unabhängigkeit gefährden, garantieren diese Grundpflichten dem Mandanten, dass ihm als Rechtsuchendem unabhängige Anwälte als berufene Berater und Vertreter gegenüber dem Staat oder gegenüber Dritten zur Seite stehen (vgl §§ 1, 3 BRAO). | |
2. Der Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Beschwerdeführer in Gestalt der Verpflichtung zur Beendigung eines Mandats darf nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen (vgl § 3 Abs.2 BRAO), das den Anforderungen von Art.12 Abs.1 GG genügt. | |
a) An einer ausdrücklichen gesetzlichen Normierung der Pflicht zur Mandatsbeendigung für Sozietäten fehlt es. § 43a Abs.4 BRAO bezieht sich auf den Einzelanwalt, der in derselben Sache nicht Parteien mit gegenläufigem Interesse vertreten darf. Die Wortfassung ist von besonderer Bedeutung, weil dasselbe Gesetz an anderer Stelle die Erstreckung von Verboten auf die mit dem Rechtsanwalt in Sozietät oder sonstiger Weise zur gemeinschaftlichen Berufsausübung verbundenen Rechtsanwälte im Wortlaut vorsieht (§ 45 Abs.3 und § 46 Abs.3 BRAO). | |
b) Das Fehlen einer ausdrücklichen Regelung bedeutet allerdings nicht notwendig, dass eine die Berufsausübung einschränkende Verfügung und eine sie bestätigende Gerichtsentscheidung den Anforderungen des Art.12 Abs.1 Satz 2 GG widersprechen. Der vorliegende Fall gibt keinen Anlass, die Grenzen richterlicher Rechtsauslegung und -fortbildung bei Einschränkungen der freien Berufsausübung allgemein und abschließend festzulegen. Die Auslegung des einfachen Gesetzesrechts einschließlich der Wahl der hierbei anzuwendenden Methode ist Sache der Fachgerichte. Auch aus dem in Art.20 Abs.3 GG angeordneten Vorrang des Gesetzes folgt kein Verbot für den Richter, gegebenenfalls vorhandene gesetzliche Lücken im Wege richterlicher Rechtsfortbildung zu schließen. | |
Die Fachgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung des Gesetzes jedoch die Bedeutung des betroffenen Grundrechts und den Umfang seines Schutzbereichs zu beachten. Sie müssen eine unverhältnismäßige Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit vermeiden. Die Gerichte sind, wenn sie Einschränkungen der grundsätzlich freien Berufsausübung für geboten erachten, an dieselben Maßstäbe gebunden, die nach Art.12 Abs.1 GG den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers einschränken (vgl BVerfGE_54,224 <235>; BVerfGE_97,12 <27>). | |
3. Dem wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht, die Rechtsanwälte oder Anwaltssozietäten zur Beendigung eines Mandats verpflichtet, obwohl diese zuvor selbst die widerstreitenden Interessen auf der Gegenseite nicht vertreten haben und sie auch nicht zu vertreten beabsichtigen. Eine solche Berufsausübungseinschränkung, die damit begründet wird, dass sich die Rechtsanwälte zur Berufsausübung mit einem Anwalt verbinden, der zuvor auf der Gegenseite angestellt war, kann vor Art.12 Abs.1 GG nur Bestand haben, wenn das Verbot durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt ist und der Eingriff nicht weiter geht, als es die rechtfertigenden Gemeinwohlbelange erfordern (vgl BVerfGE_54,301 <313>). Eingriffszweck und Eingriffsintensität müssen in einem angemessenen Verhältnis stehen (vgl BVerfGE_101,331 <347>). | |
a) Ersichtlich dient § 43a Abs.4 BRAO der Wahrung des Vertrauensverhältnisses zum eigenen Mandanten und der Sicherung der Unabhängigkeit insoweit, als ein Anwalt, der sich zum Diener gegenläufiger Interessen macht, jegliche unabhängige Sachwalterstellung im Dienste des Rechtsuchenden verliert. | |
aa) Es ist hier nicht darüber zu entscheiden, welche Folgerungen zu ziehen wären, wenn der die Sozietät wechselnde Rechtsanwalt das "widerstreitende" Mandat selbst betreut, es gar in die aufnehmende Kanzlei einbringt. Nicht zu behandeln sind auch Fälle, in denen der bekannt gewordene Sozietätswechsel die Mandanten in ihrem Vertrauen tatsächlich erschüttert, so dass sie das Mandatsverhältnis zur abgebenden oder zur aufnehmenden Kanzlei von sich aus beenden. Des Weiteren steht hier nicht zur Entscheidung, wie zu verfahren ist, wenn durch den Sozietätswechsel die Verschwiegenheitspflicht des § 43a Abs.2 BRAO gefährdet oder verletzt würde. Dafür bieten die Ausgangsverfahren keine Anhaltspunkte. | |
bb) Wenn die vom Sozietätswechsel betroffenen Mandanten beider Seiten das Vertrauensverhältnis zu ihren jeweiligen Rechtsanwälten nicht als gestört ansehen und mit einer Fortführung der eigenen ebenso wie der gegnerischen Mandate einverstanden sind, können der Schutz anwaltlicher Unabhängigkeit und der Erhalt des konkreten Vertrauensverhältnisses zum Mandanten nicht als Gemeinwohlgründe angeführt werden. | |
b) § 43a Abs.4 BRAO dient aber nicht nur dem Schutz des individuellen Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Mandant und der Wahrung der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts, sondern darüber hinaus dem Gemeinwohl in Gestalt der Rechtspflege, die auf eine Geradlinigkeit der anwaltlichen Berufsausübung angewiesen ist (vgl BTDrucks 12/4993, S.27), also darauf, dass ein Anwalt nur einer Seite dient. Alle diese Belange treten nebeneinander und bedingen einander. | |
aa) Als unabhängige Organe der Rechtspflege und als berufene Berater und Vertreter der Rechtsuchenden haben Anwälte die Aufgabe, sachgerechte Konfliktlösungen herbeizuführen, vor Gericht zugunsten ihrer Mandanten den Kampf um das Recht zu führen und dabei zugleich staatliche Stellen möglichst vor Fehlentscheidungen zu Lasten ihrer Mandanten zu bewahren (vgl BVerfGE_76,171 <192> ). Die Wahrnehmung anwaltlicher Aufgaben setzt den unabhängigen, verschwiegenen und nur den Interessen des eigenen Mandanten verpflichteten Rechtsanwalt voraus. Diese Eigenschaften stehen nicht zur Disposition der Mandanten. Der Rechtsverkehr muss sich darauf verlassen können, dass der Pflichtenkanon des § 43a BRAO befolgt wird, damit die angestrebte Chancen- und Waffengleichheit der Bürger untereinander und gegenüber dem Staat gewahrt wird und die Rechtspflege funktionsfähig bleibt (vgl BVerfGE_63,266 <284>; BVerfGE_93,213 <236>). | |
Dies bedeutet indessen nicht, dass die Definition, was den Interessen des eigenen Mandanten und damit zugleich der Rechtspflege dient, abstrakt und verbindlich von Rechtsanwaltskammern oder Gerichten ohne Rücksicht auf die konkrete Einschätzung der hiervon betroffenen Mandanten vorgenommen werden darf. Kann sich durch einen Sozietätswechsel bei generalisierender Betrachtung eine Gefahr für die Verschwiegenheit und die geradlinige Interessenvertretung ergeben, kommt die Einschätzung, ob eine Rechtsbeeinträchtigung konkret droht, in erster Linie den Mandanten beider Kanzleien zu, die deshalb wahrheitsgemäß und umfassend zu informieren sind. Daneben liegt es in der gesetzesgeleiteten verantwortlichen Einschätzung der betroffenen Rechtsanwälte, ob die Konfliktsituation oder doch jedenfalls das Ziel der Vermeidung zukünftiger Störungen des Vertrauensverhältnisses eine Mandatsniederlegung gebietet (vgl. das in der Stellungnahme der Deutschen Delegation beim Rat der Anwaltschaften der Europäischen Gemeinschaft erwähnte Institut der délicatesse im französischen Recht, das den Grad an eigenverantwortlicher Selbsteinschätzung des Rechtsanwalts umschreibt). Ein verantwortlicher Umgang mit einer solchen Situation kann von einem Rechtsanwalt ebenso erwartet werden wie von einem Richter bei der Offenlegung von Gründen zur Selbstablehnung (vgl § 19 Abs.3 BVerfGG und hierzu BVerfGE_46,34 <41 f). | |
Soweit die Bundesnotarkammer in ihrer Stellungnahme davon ausgeht, das wirtschaftliche Interesse eines Rechtsanwalts, ein Mandat fortzuführen, nehme ihm die nötige Unabhängigkeit und Unparteilichkeit für ein am Maßstab des § 43a Abs.4 BRAO ausgerichtetes gesetzeskonformes Handeln, entspricht dies nicht der gesetzgeberischen Einschätzung. Der Gesetzgeber bezeichnet die Rechtsanwälte als unabhängige Organe der Rechtspflege (§ 1 BRAO). Auf deren Integrität, Professionalität und Zuverlässigkeit ist die Rechtspflege angewiesen (vgl BVerfGE_87,287 <320>). Das Gesetz geht nicht davon aus, dass ein berufswürdiges und gesetzeskonformes Handeln der Rechtsanwälte nur im Wege der Einzelkontrolle oder mit Mitteln des Strafrechts gewährleistet werden kann. Das anwaltliche Berufsrecht beruht auch nicht auf der Annahme, dass eine situationsgebundene Gelegenheit zur Pflichtverletzung im Regelfall pflichtwidriges Handeln zur Folge hat. | |
bb) In tatsächlicher Hinsicht können die Fallgestaltungen, auf die sich die Verbotsnorm des § 43a Abs.4 BRAO bezieht, sehr vielseitig sein (vgl hierzu Zuck, NJW 1999, S.263 <265>; Henssler, NJW 2001, S.1521 <1525 f>; Müller, AnwBl 2001, S.491 <493>; Schlosser, NJW 2002, S.1376 <1379 f.>). So kann die Arbeitsteilung in der abgebenden Kanzlei durch räumliche Trennung (bei überörtlichen Sozietäten und bei Bürogemeinschaften), durch organisatorische Vorkehrungen (chinese wall), durch Ausgestaltung des Vertragsverhältnisses (Sozius, Angestellter oder freier Mitarbeiter), durch die schiere Größe oder die fachliche Abschottung der verschiedenen Bereiche einer Kanzlei (beispielsweise Baurecht, Familienrecht, Patentrecht) gewährleisten, dass die Verschwiegenheitspflicht schon deshalb nicht gefährdet ist, weil es für den wechselnden Anwalt nichts zu verschweigen gibt. | |
Die gesetzliche Pflicht zur Verschwiegenheit und das Vertrauen der Mandanten in die Verschwiegenheit des einzelnen Anwalts kommen erst zur Geltung, wenn der Rechtsanwalt über geheimhaltungsbedürftige Informationen verfügt. Diese können dem Rechtsanwalt die innere Unabhängigkeit nehmen oder den Mandanten verunsichern und deshalb zur Beendigung des Mandats durch Auftragnehmer oder Auftraggeber führen. Möglicherweise hält aber ein Mandant der abgebenden Kanzlei solche Kenntnisse über Sachverhalt und Rahmenbedingungen oder von Einzelproblemen im konkreten Fall für unschädlich, sofern der wechselnde Rechtsanwalt in der aufnehmenden Kanzlei von jeder Rechtsbesorgung (im Sinne von beraten, unterstützen, vertreten) fern gehalten wird. Auf die Verschwiegenheit ihrer Anwälte sind Mandanten bei einem Sozietätswechsel in derselben Weise angewiesen wie in den Fällen, in denen der eigene Anwalt bei späteren und anderen Auseinandersetzungen von der Gegenseite mandatiert wird. | |
cc) Im Interesse der Rechtspflege sowie eindeutiger und geradliniger Rechtsbesorgung verlangt § 43a Abs.4 BRAO lediglich, dass im konkreten Fall die Vertretung widerstreitender Interessen vermieden wird. Soweit die vom Kanzleiwechsel unterrichteten und beiderseits betroffenen Mandanten einen solchen Widerstreit nicht befürchten und Vertrauen in die getroffenen Vorkehrungen sowie die Verschwiegenheit ihrer Anwälte zeigen, besteht im Interesse der Rechtspflege nur Anlass zum Eingreifen, wenn hierfür sonstige Indizien sprechen, die den Mandanten verborgen geblieben oder von ihnen unzutreffend eingeschätzt worden sind. Die Rechtsanwaltskammern sind insoweit berechtigt und verpflichtet, allen Hinweisen nachzugehen. Eine Vermutung oder einen Anschein pflichtwidrigen Verhaltens dürfen sie indessen ihren Maßnahmen nicht zugrunde legen. Die Bundesrechtsanwaltsordnung knüpft an solche abstrakten Gefährdungen der Rechtspflege nur in Ausnahmefällen an (vgl § 7 Nr.9 und 10). Dem entspricht die Fassung von § 43a Abs.4 BRAO nicht. | |
c) Diesen Grundsätzen wird die an § 3 Abs.2 BORA ausgerichtete Auslegung von § 43a Abs.4 BRAO durch den Bundesgerichtshof nicht gerecht. Sie beschränkt die Freiheit der Berufsausübung in der aufnehmenden Kanzlei über das zum Schutz der betroffenen Rechtsgüter erforderliche Maß hinaus, weil sie die Möglichkeit verstellt, den Besonderheiten des jeweiligen Falles Rechnung zu tragen. § 43a Abs.4 BRAO gebietet eine dem Einzelfall gerecht werdende Abwägung aller Belange unter besonderer Berücksichtigung der konkreten Mandanteninteressen. | |
§ 3 Abs.2 BORA, der keinen Raum für eine Einzelabwägung lässt, ist aus diesem Grund in der ursprünglichen wie in der Fassung späterer Bekanntmachungen mit Art.12 Abs.1 GG unvereinbar und nichtig. Die Vorschrift vernachlässigt nicht nur die Interessen der Mandanten; sie berücksichtigt - soweit die Befugnis zur Ausgestaltung nach § 59b Abs.2 Nr.1 Buchstabe e BRAO reicht - auch weder die Berufsausübungsfreiheit des die Sozietät wechselnden Rechtsanwalts noch die der Mitglieder der aufnehmenden Sozietät in hinreichendem Maße. | |
1. a) Art.12 Abs.1 GG schützt jede berufliche Tätigkeit, gleichgültig ob sie selbständig oder unselbständig ausgeübt wird (vgl BVerfGE_7,377 <398 f>; BVerfGE_54,301 <322>). Zur Berufsausübung gehört das Recht, sich beruflich zusammenzuschließen (vgl BVerfGE_80,269 <278>), aber auch das Recht, einen Arbeitsplatz nach eigener Wahl anzunehmen, beizubehalten oder aufzugeben (vgl BVerfGE_85,360 <372 f>; BVerfGE_97,169 <175>). Ein Eingriff liegt auch vor, wenn die wirtschaftlichen Folgen von Rechtsnormen die Eingehung von Arbeitsverhältnissen wesentlich erschweren. | |
b) Die Möglichkeit des Sozietätswechsels ist für die Anwaltschaft zunehmend von Bedeutung. | |
Der Beruf des Rechtsanwalts wird nicht mehr fast ausschließlich allein in eigener Kanzlei oder gemeinsam mit nur wenigen selbständigen Partnern ausgeübt (vgl Busse, NJW 1999, S.3017). Etwa 7.000 Rechtsanwälte arbeiten in großen Sozietäten mit 30 bis 500 Rechtsanwälten zusammen; fast 20.000 Rechtsanwälte gehen in Sozietäten mit 4 bis 30 Rechtsanwälten ihrem Beruf nach (vgl Heussen, Anwalt 2003, Heft 5, S.16 f). Viele von ihnen arbeiten im Angestelltenverhältnis oder sie sind freie Mitarbeiter (vgl Huff, Anwalt 2002, Heft 11, S.8 ff). Mittlere Kanzleien gehen überörtliche Sozietäten ein oder benennen feste Kooperationspartner in anderen Regionen oder im europäischen Ausland. In welchem Maße einem jungen Berufseinsteiger Gelegenheit zur Spezialisierung in einer größeren Kanzlei geboten wird und in welchem Umfang er mit sonstigen Mandaten in der Kanzlei in Berührung kommt, hängt von der jeweiligen Kanzleiorganisation ab. | |
Zugleich hat die Spezialisierung unter den Rechtsanwälten zugenommen. Etwa 14 vom Hundert führen eine Fachanwaltsbezeichnung; andere zeigen durch die Wahl von Tätigkeitsschwerpunkten an, welche Ausschnitte des Rechts sie mit Vorzug bearbeiten (vgl BRAK-Mitt 2002, S.122). Selbst für hochspezialisierte Rechtsanwälte etwa im Recht der Gentechnologie, im Kartell- und Vergaberecht oder im Börsenrecht kommt noch ein Kanzleiwechsel in Betracht; er beschränkt sich indessen auf einen kleinen Kreis von Kanzleien, die nicht selten in früheren oder noch anhängigen Verfahren die Gegenseite vertreten haben oder vertreten. Solchen Beschränkungen unterliegen, worauf der Deutsche AnwaltVerein und die Beklagte des Ausgangsverfahrens hingewiesen haben, auch junge Anwälte mit örtlicher Bindung in Kleinstädten und im ländlichen Raum. | |
Ein Kanzleiwechsel ist keine Seltenheit mehr. Das Bild der ein Berufsleben lang andauernden Zusammenarbeit weniger Rechtsanwälte ist stark von Verhältnissen geprägt, die der Vergangenheit angehören. Nicht nur angestellte Rechtsanwälte, sondern auch Sozien suchen inzwischen vermehrt durch Kanzleiwechsel ihre Einkommens- oder Karrierechancen zu verbessern (vgl Huff, Anwalt 2002, Heft 11, S.8 <9>; vgl. auch K Westerwelle, Rechtsanwaltssozietäten und das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 1997, S.130). Die Möglichkeit der Mobilität hat demnach für den Einzelnen an Gewicht gewonnen. | |
2. Schon wenn sich durch den Vertragsschluss die Partner selbst wechselseitig in ihrer beruflichen Handlungsfreiheit beschränken, indem sie einem der Vertragschließenden den Arbeitsplatzwechsel erheblich erschweren (Konkurrenzklauseln), sind die Rechtsfolgen anhand des Maßstabs des Art.12 Abs.1 GG zu prüfen (vgl BVerfGE_81,242 ). Von vergleichbarem Gewicht ist eine Satzungsregelung wie § 3 Abs.2 BORA, die unabhängig von eigener Einflussnahme durch die Handelnden den Berufswechsel erschwert, weil der aufnehmenden Kanzlei grundsätzlich die Mandatsniederlegung und damit der Verzicht auf Einnahmen zugemutet wird. Die hiermit verbundenen Beeinträchtigungen der Berufsausübungsfreiheit dürfen nicht weiter gehen als vom Eingriffszweck her unumgänglich. | |
3. § 3 Abs.2 BORA beschränkt die Nachteile für die aufnehmende Sozietät nicht auf das zum Schutz von Gemeinwohlinteressen erforderliche Minimum. Die Vorschrift enthält keine Regeln, die eine Prüfung im Einzelfall ermöglichen, ob Sicherungen zur Wahrung des Vertrauens in die Beachtung der Verschwiegenheitspflicht bestehen. | |
In der ursprünglichen Fassung kannte § 3 Abs.2 BORA überhaupt keine Ausnahmen zugunsten bestimmter Kooperationsformen; das Verbot der Wahrnehmung widerstreitender Interessen aus § 43 a BRAO wurde einschränkungslos auf alle Anwälte erstreckt, sofern sie zu der abgebenden Kanzlei in irgendeiner Rechtsbeziehung gestanden hatten. Sozien, Angestellte, freie Mitarbeiter oder in Bürogemeinschaft verbundene Personen wurden gleich behandelt. Inzwischen mildert § 3 Abs.3 BORA in der Fassung von 1999 die Rechtsfolgen für Angestellte im Innenverhältnis ab, sofern sie mit der Rechtssache tatsächlich nicht befasst waren. Aber auch nach dieser Änderung bleibt § 3 Abs.2 BORA unverhältnismäßig. | |
Wie oben dargelegt ist das Verbot, widerstreitende Interessen zu vertreten, geeignet und erforderlich, im Interesse von Mandanten und Rechtspflege die mit dem Gesetz bezweckten Ziele zu erreichen. In welchem Ausmaß das Verbot aber auf Dritte zu erstrecken ist, mit denen der tatsächlich mandatierte Rechtsanwalt zusammenarbeitet oder zusammengearbeitet hat, muss unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit austariert werden. Die für die Außenhaftung und für die Außenvollmacht entwickelten Grundsätze der zivilgerichtlichen Rechtsprechung, die Mandanten und Rechtsverkehr eine erleichterte Zurechnung ermöglichen (vgl BGHZ_56,355), können insofern nicht maßgeblich sein. Denn der Schutzzweck des § 43a Abs.4 BRAO ist - wie unter I. dargelegt - ein anderer. Auch aus der Berufsordnung, die es in § 8 gestattet, freie Mitarbeiter durch Aufnahme in den Briefkopf zu Außensozien zu machen, lassen sich keine Abwägungskriterien gewinnen. Diese Regelung dient der Selbstdarstellung der abgebenden Kanzlei und hat nicht den Interessenwiderstreit nach einem Sozietätswechsel im Blick. Für die hier zu beurteilende Frage ist demgegenüber entscheidend, welcher Informationsfluss zwischen Rechtsanwälten stattfindet, die lediglich in Bürogemeinschaft verbunden sind. Das hängt aber von der Organisation und der Ausgestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den Anwälten ab. | |
Undifferenziert an diese formalen Außenbeziehungen ein Mobilitätshindernis zu knüpfen, weil beim Wechsel in eine andere Kanzlei die gegnerischen Mandate auch dann niederzulegen sind, wenn der freie Mitarbeiter nur eng umgrenzte Einzelaufgaben, möglicherweise sogar am heimischen Arbeitsplatz wahrgenommen oder in der Bürogemeinschaft kein Wissenstransfer stattgefunden hat, ist unangemessen. Die Norm des § 3 Abs.2 BORA trägt den typischen Merkmalen überörtlicher Sozietäten und europaweiten Kooperationen, insbesondere den Vertragsgestaltungen bei Bürogemeinschaften, sowie den theoretischen und praktischen Möglichkeiten der Abschottung in der aufnehmenden Kanzlei nicht ausreichend Rechnung. Der Sozietätswechsel darf nicht erschwert werden, wenn hinreichend gesichert ist, dass Pflichtverletzungen nicht zu besorgen sind. Diese Prüfung im Einzelfall aber sieht § 3 Abs.2 BORA nicht vor. | |
Im Ergebnis folgt daraus eine unverhältnismäßige Erschwerung des Kanzleiwechsels, weil die aufnehmende Kanzlei finanzielle Einbußen nur dann in Kauf nehmen wird, wenn sie ein ganz besonderes Interesse an der Hinzugewinnung der neuen Arbeitskraft hat. Noch gravierender sind die Auswirkungen, wenn der Sozietätswechsel nicht freiwillig und langfristig geplant erfolgt, weil es unvorhergesehen zu einer Trennung der Sozien, zu einer Auflösung oder Abspaltung von Kanzleien oder zu wirtschaftlichen Engpässen bei der abgebenden Kanzlei kommt. In derartigen Fällen kann die Berufsausübungsregelung eine Zeit lang Folgen haben, die einer Berufswahlregelung nahe kommen. Bis zur Abwicklung der Altmandate wird sich insbesondere dann selten eine aufnehmende Kanzlei finden, wenn der Kreis der denkbaren Sozien oder Arbeitgeber durch einen hohen Spezialisierungsgrad eng gezogen ist. Solche einschneidenden Folgen für die Berufsausübung verlangen ausreichend gewichtige Interessen auf Seiten der Mandanten oder der Rechtspflege, die nach den Ausführungen oben unter B.I. nicht ausnahmslos und ohne Rücksicht auf typisierbare Fallvarianten unterstellt werden dürfen." | |
Auszug aus BVerfG B, 03.07.03, - 1_BvR_238/01 -, www.BVerfG.de, Abs.31 ff | |
§§§ | |
03.030 | Telekommunikationslinie |
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Der Gesetzgeber muss bei Regelungen zur Bestimmung von Verwaltungszuständigkeiten nach Art.30 und Art.83 ff GG die rechtsstaatlichen Grundsätze der Normenklarheit und Widerspruchsfreiheit beachten, um die Länder vor einem Eindringen des Bundes in den ihnen vorbehaltenen Bereich der Verwaltung zu schützen. | |
LB 2) § 50 Abs.4 TKG ist mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig. Die Regelung über die Zuständigkeit für die Erteilung der Zustimmung in § 50 Abs.4 TKG verstößt gegen Art.30 in Verbindung mit Art.86, Art.87f Abs.2 Satz 2 GG. | |
LB 3) In § 50 Abs.3 TKG geht der Gesetzgeber von einem eher engen Verständnis des Begriffs "Hoheitsaufgaben im Bereich der Telekommunikation" aus. Entsprechend dem Grundsatz, dass die Verwaltung jedenfalls der Landes- und Gemeindestraßen grundsätzlich Sache der Länder und Kommunen ist, überträgt er die Entscheidungen über die Zustimmung zur Verlegung neuer oder die Änderung vorhandener Telekommunikationslinien den jeweiligen Wegebaulastträgern. Im Einklang auch mit Art.30 GG erklärt der Gesetzgeber die Länder und Kommunen ganz überwiegend für zuständig für solche Entscheidungen und ordnet diese prinzipiell dem Bereich der Straßenverwaltung zu. | |
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Beschluss | Entscheidungsformel:
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§§§ | |
03.031 | Altenpflege |
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1) Die Information des Parlaments und der Öffentlichkeit durch vollständige Dokumentation der Sonderabgaben ist ein Gebot wirksamer parlamentarisch-demokratischer Legitimation und Kontrolle von Planung und Entscheidung über die finanzielle Inanspruchnahme der Bürger für öffentliche Aufgaben. | |
2) Zur Verfassungsmäßigkeit landesrechtlicher Abgaben zur Finanzierung von Ausbildungsvergütungen in der Altenpflege. | |
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Beschluss | Entscheidungsformel: |
§§§ | |
03.032 | Sammelklage |
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LB 1) Der Vorbehalt in Art.13 HZÜ für die Anwendung ausländischen Rechts wird durch Rechtsprechung und Literatur im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Haager Zustellungsübereinkommens eng ausgelegt. | |
LB 2) Der Abschluss und die Ratifikation des Haager Zustellungsübereinkommens konkretisiert die Entscheidung des Grundgesetzes, dass der von ihm verfasste Staat in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft eingegliedert ist. | |
LB 3) Werden Verfahren vor staatlichen Gerichten in einer offenkundig mißbräuchlichen Art und Weise genutzt, um mit publizistischem Druck und dem Risiko einer Verurteilung einen Marktteilnehmer gefügig zu machen, könnte dies deutsches Verfassungsrecht verletzen. | |
LB 4) Art.40 Abs.3 EGBGB bestimmt insoweit, dass Ansprüche, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, nicht geltend gemacht werden können, soweit sie wesentlich weiter gehen als zur angemessenen Entschädigung des Verletzten erforderlich oder offensichtlich anderen Zwecken als einer angemessenen Entschädigung des Verletzten dienen oder haftungsrechtlichen Regelungen eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Übereinkommens widersprechen. | |
LB 5) Verstößt schon die Zustellung einer ausländischen Klage gegen unverzichtbare Grundsätze des freiheitlichen Rechtsstaates, so ist fraglich, ob deutsche Behörden in diesem Fall die Rechtshilfe mit dem Hinweis leisten dürfen, der Betroffene habe noch im weiteren Verlauf des Verfahrens - etwa im Rahmen der Anerkennung des ausländischen Titels nach § 328 Abs.1 ZPO - die Möglichkeit, den Verstoß zu rügen. Denn aus der Zustellung ergeben sich für den Empfänger Rechtsfolgen, die geeignet sind, ihn in seinen grundrechtlich geschützten Positionen zu beeinträchtigen. | |
LB 6) Auf Grund einer Folgenabwägung, die zugunsten der Beschwerdeführern ausfiel, hat das BVerfG eine Einstweilige Anordnung erlassen. | |
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Beschluss | Entscheidungsformel:
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T-03-14 | Zustellung |
"Das Begehren in der Hauptsache ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. | |
1. Das Haager Zustellungsübereinkommen will die gegenseitige Rechtshilfe unter den Vertragsparteien dadurch verbessern, dass die technische Abwicklung der Zustellung vereinfacht und beschleunigt wird. Dadurch soll sichergestellt werden, dass gerichtliche und außergerichtliche Schriftstücke, die im Ausland zuzustellen sind, ihren Empfängern rechtzeitig zur Kenntnis gelangen (vgl BVerfGE_91,335 <339 f>). Diese Erwägungen schließen es grundsätzlich aus, dass die innerstaatliche Rechtsordnung zum Prüfungsmaßstab für die Zustellung gemacht wird (vgl Koch/Diedrich, Grundrechte als Maßstab für Zustellungen nach dem Haager Zustellungsübereinkommen?, ZIP 1994, S.1830 <1831>). Andernfalls könnte die materielle Prüfung des Zustellungsersuchens zu Verzögerungen bei der Zustellung oder, wegen der Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Rechtsauffassungen zu einer Vereitelung der Zustellung führen, die durch das Haager Zustellungsübereinkommen gerade ausgeschlossen werden sollten. Ein Zustellungsersuchen kann nach dem Wortlaut von Art.13 Abs.1 HZÜ jedoch abgelehnt werden, wenn der ersuchte Staat die Zustellung für geeignet hält, seine Hoheitsrechte oder seine Sicherheit zu gefährden. | |
Der Vorbehalt in Art.13 HZÜ für die Anwendung ausländischen Rechts wird durch Rechtsprechung und Literatur im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Haager Zustellungsübereinkommens eng ausgelegt (vgl OLG Frankfurt, RIW 2001, S.464 = NJW-RR 2002, S.357; siehe Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, 2.Aufl, 2003, Art.13 HZÜ Rn.3 mwN). So hat auch das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Gewährung von Rechtshilfe durch die Zustellung einer Klage, mit der Ansprüche auf Strafschadensersatz nach US-amerikanischem Recht (punitive damages) geltend gemacht werden, in der Regel nicht die allgemeine Handlungsfreiheit in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt (vgl BVerfGE_91,335 <340>). Die Entscheidung hat jedoch offen gelassen, ob die Zustellung einer solchen Klage mit Art.2 Abs.1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip zu vereinbaren ist, wenn das mit der ausländischen Klage angestrebte Ziel offensichtlich gegen unverzichtbare Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaats verstößt (BVerfGE_91,335 <343>; vgl auch Schlosser, aaO, Art.13 HZÜ Rn.3). | |
2. Im Hauptsacheverfahren ist die Frage zu klären, ob diese Grenze in dem hier zu beurteilenden Fall überschritten ist. Insoweit ist die Bedeutung und Reichweite von Art.13 Abs.1 HZÜ zu klären (vgl Juenger/Reimann, Zustellung von Klagen auf punitive damages nach dem Haager Zustellungsübereinkommen, NJW 1994, S.3274; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 4.Aufl, 2001, Rn.2159). | |
a) Der Abschluss und die Ratifikation des Haager Zustellungsübereinkommens konkretisiert die Entscheidung des Grundgesetzes, dass der von ihm verfasste Staat in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft eingegliedert ist (vgl Präambel, Art.1 Abs.2, Art.9 Abs.2, Art.16 Abs.2 und Art.23 bis 26 GG). Das Grundgesetz gebietet damit zugleich, fremde Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten (vgl BVerfGE_75,1 <16 f> , Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24.Juni 2003 - 2_BvR_685/03 -, im Umdruck S.11), auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen. | |
Im Hinblick auf das Haager Zustellungsübereinkommen hat sich die deutsche Rechtsordnung für das Recht des ersuchenden Staates im Bereich des Zivilprozessrechts geöffnet. Die deutsche öffentliche Gewalt wird für die ersuchende ausländische Behörde tätig, um das in jener Rechtsordnung anhängige, innerstaatliche Verfahren über die Grenzen der nationalen Hoheitsgewalt hinaus zu fördern. Dies schließt grundsätzlich auch die Zustellung von Klagen mit ein, die in für die deutsche Rechtsordnung unbekannten Verfahrensarten erhoben worden sind. | |
Diese Respektierungspflicht könnte jedoch ihre Grenze dort erreichen, wo die ausländische, im Klageweg geltend gemachte Forderung - jedenfalls in ihrer Höhe - offenkundig keine substantielle Grundlage hat. Werden Verfahren vor staatlichen Gerichten in einer offenkundig mißbräuchlichen Art und Weise genutzt, um mit publizistischem Druck und dem Risiko einer Verurteilung einen Marktteilnehmer gefügig zu machen, könnte dies deutsches Verfassungsrecht verletzen. Ein ähnlicher Gedanke hat im Jahre 1999 durch Art.40 Abs.3 Nr.2 EGBGB auch Eingang in das deutsche internationale Privatrecht gefunden. Die Vorschrift regelt das Deliktsstatut und schließt Schadenersatzansprüche auf der Grundlage ausländischen Rechts unter bestimmten Voraussetzungen dem Grunde nach aus (vgl Heldrich, in: Palandt, 62.Aufl, 2003, Art.40 EGBGB Rn.1, 20). Art.40 Abs.3 EGBGB bestimmt insoweit, dass Ansprüche, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, nicht geltend gemacht werden können, soweit sie wesentlich weiter gehen als zur angemessenen Entschädigung des Verletzten erforderlich oder offensichtlich anderen Zwecken als einer angemessenen Entschädigung des Verletzten dienen oder haftungsrechtlichen Regelungen eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Übereinkommens widersprechen. | |
b) Bei der Prüfung der Frage, ob die beabsichtigte Zustellung gegen Art.2 Abs.1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstößt, ist auch die Ausgestaltung der multilateralen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Rechtshilfe zu würdigen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die ersuchte Vertragspartei ihre Behörden in den Dienst des ersuchenden Staates stellt, indem Schriftstücke entgegengenommen und die für die innerstaatliche Zustellung erforderlichen Maßnahmen veranlasst werden. Bei der Zustellung handelt es sich um einen staatlichen Hoheitsakt, mit dem Gerichtsverfahren einer fremden Rechtsordnung gefördert werden. | |
Verstößt schon die Zustellung einer ausländischen Klage gegen unverzichtbare Grundsätze des freiheitlichen Rechtsstaates, so ist fraglich, ob deutsche Behörden in diesem Fall die Rechtshilfe mit dem Hinweis leisten dürfen, der Betroffene habe noch im weiteren Verlauf des Verfahrens - etwa im Rahmen der Anerkennung des ausländischen Titels nach § 328 Abs.1 ZPO - die Möglichkeit, den Verstoß zu rügen. Denn aus der Zustellung ergeben sich für den Empfänger Rechtsfolgen, die geeignet sind, ihn in seinen grundrechtlich geschützten Positionen zu beeinträchtigen. III. | |
Die Folgenabwägung fällt zu Gunsten der Beschwerdeführerin aus. 39 | |
1. Bei einer Folgenabwägung sind gegeneinander abzuwägen die Nachteile, die für die Beschwerdeführerin einträten, wenn die begehrte einstweilige Anordnung abgelehnt wird, in der Hauptsache sich aber später herausstellt, dass die Zustellung der Klage deren grundrechtlich geschützte Positionen verletzt, mit denjenigen Nachteilen, die sich ergäben, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen wird, sich später aber herausstellt, dass die Zustellung mit dem Grundgesetz vereinbar war. | |
2. Erginge die beantragte einstweilige Anordnung, stellte sich die Verfassungsbeschwerde später aber als unbegründet heraus, hätte sich die Zustellung der Klage im Wege der Rechtshilfe verzögert. Es ist nicht erkennbar, dass die Kläger des US-amerikanischen Ausgangsverfahrens bereits dadurch unwiederbringliche Rechtsnachteile erlitten. | |
Es ist auch nicht zu erwarten, dass eine Verzögerung der Rechtshilfe die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinigten Staaten von Amerika ernstlich belasten könnte. Der Erlass der einstweiligen Anordnung führt noch nicht zu einer nachhaltigen Beschränkung des Rechtshilfeverkehrs zwischen beiden Staaten auf der Grundlage des Haager Zustellungsübereinkommens. | |
3. Unterbliebe der Erlass der einstweiligen Anordnung, erwiese sich die Gewährung der Rechtshilfe im Hauptsacheverfahren dagegen als verfassungswidrig, müsste das Bundesverfassungsgericht davon ausgehen, dass die Beschwerdeführerin in das US-amerikanische Verfahren einbezogen ist und das erkennende Bundesgericht über die Zulassung der Klage als class action mit den entsprechenden Rechtsfolgen entscheidet. | |
Mit der Zustellung und dem Fortgang des US-amerikanischen Verfahrens ist die Beschwerdeführerin der Gefahr einer Verurteilung ausgesetzt, die bei unterstelltem Erfolg in der Hauptsache den Maßstäben des Grundgesetzes - wie sie von Art. 13 Abs.1 in das Haager Übereinkommen aufgenommen werden - nicht standhielte. Die Möglichkeit, dass das Urteil in einem späteren Verfahrensstadium im Inland nicht anerkannt oder für nicht vollstreckbar erklärt wird, könnte die Beschwerdeführerin weder vor einer Vollstreckung in ihr in den Vereinigten Staaten belegenes Vermögen noch vor einem mit der Zustellung geförderten Reputationsverlust bewahren." | |
Auszug aus BVerfG B, 25.07.03, - 2_BvR_1198/03 -, www.BVerfG.de, Abs.29 ff | |
§§§ | |
03.033 | Durchsuchung |
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1) Soweit ein Abgeordneter die Verletzung eines Rechts, das sich aus seinem Status ergibt, in keinem anderen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen kann, ist die Verfassungsbeschwerde statthaft. | |
2) a) In den Räumen des Bundestags hat der Abgeordnete unmittelbare Herrschaftsmacht über Schriftstücke im Sinne des Art.47 Satz 2 GG, die seinem Direktionsrecht unterliegen. Solche Schriftstücke dürfen in den Räumlichkeiten des Bundestags auch bei dem Mitarbeiter eines Abgeordneten nicht beschlagnahmt werden. | |
3) Der Abgeordnete hat aus Art.38 Abs.1 Satz 2 in Verbindung mit Art.47 Satz 2 GG nur einen Anspruch darauf, dass der Bundestagspräsident bei Genehmigungsentscheidungen nach Art.40 Abs.2 Satz 2 GG den Abgeordnetenstatus nicht grob verkennt und sich nicht von sachfremden, willkürlichen Motiven leiten lässt. | |
§§§ | |
03.034 | Internetwerbung |
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LB 1) In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt, dass dem Arzt nicht jede, sondern lediglich die berufswidrige Werbung verboten ist (vgl BVerfGE_71,162 <174>). Für interessengerechte und sachangemessene Information, die keinen Irrtum erregt, muss im rechtlichen und geschäftlichen Verkehr Raum bleiben (vgl BVerfGE_82,18 <28>). | |
LB 2) Die Wahl des Mediums Internet rechtfertigt es nicht, die Grenzen für die erlaubte Außendarstellung von Ärzten enger zu ziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass ein zur Selbstdarstellung gewähltes Medium für sich betrachtet nicht die Unzulässigkeit der Werbung begründen kann (vgl BVerfGE_94,372 <392 f>). Dies gilt für die Werbung im Internet umso mehr, als eine Homepage eine passive Darstellungsplattform ist, die sich nicht unaufgefordert potentiellen Patienten aufdrängt, sondern im Gegenteil von diesen erst aktiv aufgerufen werden muss | |
LB 3) Dem Arzt, der ein bestimmtes Fremdprodukt bewirbt, geht es regelmäßig weder um die Gesundheitsinteressen der Patienten noch um zulässige Informationen über eigene Leistungen. Er erweckt den Anschein, zugunsten der durch ihn beworbenen Fremdfirma zu handeln, also gewerbliche Interessen zu fördern (vgl VG Münster, MedR 1999, S.146 <148>); es besteht sogar die erhebliche und begründete Gefahr, dass der Bevölkerung der Eindruck vermittelt wird, der Arzt verbinde mit diesem Verhalten finanzielle Interessen. | |
LB 4) Die im Internet geschaltete Werbung ist weder im Hinblick auf die Informationen über die Auslandsaufenthalte der Zahnärzte noch in Bezug auf die Angabe der Anzahl der in der Praxis schon behandelten Patienten sowie die Angaben über die Zugehörigkeit der Beschwerdeführer zu bestimmten berufsbezogenen Zusammenschlüssen (etwa der Deutschen Gesellschaft für Implantologie ... eV) berufswidrig. Diese Informationen geben Auskunft über den beruflichen Werdegang und die Praxiserfahrungen der Zahnärzte; sie zeigen auf, dass die Beschwerdeführer sich Möglichkeiten eröffnet haben, Informationen über Neuentwicklungen zu beziehen und eine gewisse Nach- und Weiterbildung zu betreiben. Dies zu erfahren, hat ein Patient ebenfalls ein legitimes Interesse. | |
LB 5) Nicht mit Art.12 Abs.1 GG vereinbar ist auch die Beanstandung des Hinweises auf das Beherrschen des einheimischen Dialekts. Die Werbung mit Fremdsprachenkenntnissen wird nach § 20 Abs.3 BO vom Satzungsgeber zu Recht als sachangemessen beurteilt, weil die ärztliche Tätigkeit auf eine gute Kommunikation zwischen Arzt und Patienten angewiesen ist. Für die vertrauenbildende Verständigung auf der Grundlage der örtlichen Sprechweise gilt insoweit nichts anderes. | |
§§§ | |
03.035 | Selbstablehnung |
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LB 1) Wissenschaftliche Äußerungen zu einer für das Verfahren relevanten Rechtsfrage können für sich genommen zwar keine Befangenheit begründen. | |
LB 2) Etwas anderes gilt nach dem Beschluss des Ersten Senats vom 26.Mai 1998 (1 BvL 11/94) aber dann, wenn die Nähe solcher Äußerungen zu der von einem Beteiligten vertretenen Rechtsauffassung bei einer Gesamtbetrachtung nicht zu übersehen ist und die wissenschaftliche Tätigkeit des Richters vom Standpunkt anderer Beteiligter aus die Unterstützung dieses Beteiligten bezweckte. Die Sorge, dass der Richter die streitige Rechtsfrage nicht mehr offen und unbefangen beurteilen werde, ist dann bei lebensnaher Betrachtungsweise verständlich (vgl BVerfGE_98,134 <138>). | |
* * * | |
T-03-15 | Präsident Papier |
"1. Die Erklärung von Präsident Papier ist eine Erklärung nach § 19 Abs.3 BVerfGG, mit der er sich selbst für befangen erklärt. Die Erklärung lässt erkennen, dass er eine Senatsentscheidung über die Besorgnis seiner Befangenheit für erforderlich hält. Die mitgeteilten Umstände geben dazu auch objektiv Anlass. | |
2. Die Selbstablehnung ist begründet. | |
a) Besorgnis der Befangenheit ist gegeben, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl BVerfGE_82,30 <38>; BVerfGE_98,134 <137>; stRspr). Wissenschaftliche Äußerungen zu einer für das Verfahren relevanten Rechtsfrage können für sich genommen zwar keine Befangenheit begründen. Etwas anderes gilt nach dem Beschluss des Ersten Senats vom 26.Mai 1998 ( 1_BvL_11/94) aber dann, wenn die Nähe solcher Äußerungen zu der von einem Beteiligten vertretenen Rechtsauffassung bei einer Gesamtbetrachtung nicht zu übersehen ist und die wissenschaftliche Tätigkeit des Richters vom Standpunkt anderer Beteiligter aus die Unterstützung dieses Beteiligten bezweckte. Die Sorge, dass der Richter die streitige Rechtsfrage nicht mehr offen und unbefangen beurteilen werde, ist dann bei lebensnaher Betrachtungsweise verständlich (vgl BVerfGE_98,134 <138>). | |
b) So liegt es auch im vorliegenden Fall. § 6 Abs.2 AAÜG in der hier zur Prüfung vorgelegten Fassung nimmt zwar eine weniger weit reichende Begrenzung der Berücksichtigung von Arbeitsentgelten und Arbeitseinkommen bei der Bemessung der Renten vor als § 6 Abs.2 AAÜG in der Fassung, über die der Senat bereits entschieden hat (vgl BVerfGE_100,59). Insofern bezieht sich die Selbstablehnung von Präsident Papier auf eine andere Regelung als seinerzeit. Es liegt aber nahe, dass bei unbefangener Betrachtungsweise der Eindruck entstehen kann, die Bejahung der Verfassungsmäßigkeit des § 6 Abs.2 AAÜG in der Fassung des Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes durch Präsident Papier werde sich auch auf die weniger "strenge" Bestimmung des § 6 Abs.2 AAÜG in der hier zur Prüfung gestellten Fassung erstrecken und könne als Unterstützung der Rechtsauffassung eines Beteiligten gewertet werden. Insofern ist die vorliegende Erklärung von Präsident Papier rechtlich nicht anders zu beurteilen als seine Selbstablehnung, die dem Beschluss des Senats vom 26.Mai 1998 zugrunde lag." | |
Auszug aus BVerfG B, 17.09.03, - 1_BvL_3/98 -, www.BVerfG.de, Abs.4 ff | |
§§§ | |
03.036 | Fußballplatz für Türken |
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LB 1) Die inkriminierte Äußerung, dass der Bürgermeister nichts tue, um den türkischen Fußballspielern zu einem Fußballplatz zu verhelfen, ist als Tatsachenbehauptung ein zu ordnen. Im Gegensatz zu rein wertenden Äußerungen wie "zu wenig" oder "nicht genug" handelt es sich dabei um eine auf überprüfbaren Tatsachen gegründete Sachaussage. | |
LB 2) Auch wenn die fachgerichtliche Rechtsprechung zu Recht davon ausgeht, dass zu dem für eine Auslegung maßgeblichen Kontext einer Äußerung ihre Stellung innerhalb eines Kommentars in einer Zeitung gehören kann, ist eine auf die einzelne Aussage bezogene Deutung nicht nur möglich, sie bleibt auch notwendig. | |
LB 3) Die zivilrechtliche Verurteilung zu einer Gegendarstellung greift zwar in den Schutzbereich des Grundrechts auf Pressefreiheit iSd Art.5 Abs.1 S.2 GG ein, der Eingriff kann aber aufgrund § 11 LPresseG (BW) gerechtfertigt sein. | |
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T-03-16 | Gegendarstellung + Pressefreiheit |
"Zwar ist es nach dem Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs.2 BVerfGG) in der Regel geboten, vor einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zunächst den Rechtsweg in der Hauptsache zu beschreiten, wenn sich dort die Chance bietet, der gerügten Grundrechtsverletzung abzuhelfen. Das erscheint vorliegend jedoch nicht zumutbar, weil nicht zu erwarten ist, dass sich in einem durchzuführenden Hauptsacheverfahren abweichende Erkenntnisse ergeben könnten (vgl BVerfG, 1.Kammer des Ersten Senats, NJW 1999, S.483 <484>). | |
Auch besteht trotz Feststellung der Erledigung der Hauptsache ein fortwirkendes Rechtsschutzinteresse der Beschwerdeführerin an der Klärung der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Gegendarstellung. | |
2. Die Verfassungsbeschwerde bleibt ohne Erfolg, denn die Beschwerdeführerin ist nicht in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit (Art.5 Abs.1 Satz 2 GG) verletzt. In dessen Schutzbereich wird zwar durch die Verurteilung zur Gegendarstellung eingegriffen (vgl BVerfGE_97,125 <144 f.>). Dieser Eingriff ist jedoch durch § 11 LPresseG Baden-Württemberg gerechtfertigt. | |
a) Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine zivilgerichtliche Verurteilung. Die hierfür maßgeblichen Bestimmungen auszulegen und anzuwenden, ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte, die bei ihrer Entscheidung der Einwirkung der Grundrechte auf die Vorschriften des bürgerlichen Rechts Rechnung zu tragen haben. Das Bundesverfassungsgericht prüft lediglich nach, ob die grundrechtlichen Normen und Maßstäbe, hier das Grundrecht der Pressefreiheit aus Art.5 Abs.1 Satz 2 GG, beachtet worden sind (vgl BVerfGE_7,198 <208 ff>; BVerfGE_18,85 <92>; BVerfGE_43,130 <136 ff.>; stRspr). | |
b) Die in den angegriffenen Entscheidungen vorgenommene Einordnung der streitigen Äußerung als gegendarstellungsfähige Tatsachenbehauptung (vgl BVerfGE_97,125 <127>; BVerfG, 1.Kammer des Ersten Senats, NJW 2002, S.3388 <3389>) ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. | |
Die Bedeutung des Kontextes für die Deutung und die Einordnung einer Aussage als Tatsachenbehauptung oder Meinungsäußerung (vgl BVerfGE_93,266 <295>; BVerfGE_94,1 <10 f> ) - hier der Einbau in einen Zeitungskommentar - ist nicht verkannt worden. Auch wenn die fachgerichtliche Rechtsprechung zu Recht davon ausgeht, dass zu dem für eine Auslegung maßgeblichen Kontext einer Äußerung ihre Stellung innerhalb eines Kommentars in einer Zeitung gehören kann (vgl Seitz/Schmidt/ Schoener, Der Gegendarstellungsanspruch, 3.Aufl Rn.332), ist eine auf die einzelne Aussage bezogene Deutung nicht nur möglich, sie bleibt auch notwendig. Vor dem Hintergrund der Feststellung, dass sich in der Rubrik "Tagesspiegel" neben wertenden Äußerungen ("Der Bürgermeister trägt die Ausgrenzung im Kopf") auch andere Tatsachenbehauptungen finden, etwa dass der türkische Fußballverein seit über einem Jahr keinen Platz findet, dass er Rechnungen zu spät gezahlt haben soll oder dass die Stadt für über eine Million Mark die Sportplätze der Stadt renovieren lässt, ist die Einordnung des angegriffenen Satzes wegen seines tatsachenbezogenen Aussageschwerpunktes nicht zu beanstanden. ]8) 19 ]8[ Eine Verkennung verfassungsrechtlicher Anforderungen ergibt sich nicht aus der Formulierung der abgedruckten Gegendarstellung, die sich gemäß § 11 Abs.2 Satz 3 LPresseG Baden-Württemberg allein auf tatsächliche Angaben zu beschränken hat. Zwar enthält sie auch ein wertendes Element, indem der Bürgermeister darin ausführt, dass er sich "intensiv" um die Beschaffung eines Fußballplatzes für den türkischen Fußballverein kümmere. Im Rahmen einer kontextbezogenen Auslegung haben die Gerichte die Gegendarstellung in erster Linie als auf die tatsachenbezogene Äußerung des "Nichtstuns" bezogen erachtet. Diese Anwendung einfachen Rechts ist verfassungsrechtlich letztlich nicht zu beanstanden." | |
Eine Verkennung verfassungsrechtlicher Anforderungen ergibt sich nicht aus der Formulierung der abgedruckten Gegendarstellung, die sich gemäß § 11 Abs.2 Satz 3 LPresseG Baden-Württemberg allein auf tatsächliche Angaben zu beschränken hat. Zwar enthält sie auch ein wertendes Element, indem der Bürgermeister darin ausführt, dass er sich "intensiv" um die Beschaffung eines Fußballplatzes für den türkischen Fußballverein kümmere. Im Rahmen einer kontextbezogenen Auslegung haben die Gerichte die Gegendarstellung in erster Linie als auf die tatsachenbezogene Äußerung des "Nichtstuns" bezogen erachtet. Diese Anwendung einfachen Rechts ist verfassungsrechtlich letztlich nicht zu beanstanden." | |
Auszug aus BVerfG B, 17.09.03, - 1_BvR_825/99 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.12 | |
§§§ | |
03.037 | Kopftuch |
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1) Ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, findet im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage. | |
2) Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein. | |
LB 3) Das Tragen eines Kopftuchs macht im hier zu beurteilenden Zusammenhang die Zugehörigkeit der Beschwerdeführerin zur islamischen Religionsgemeinschaft und ihre persönliche Identifikation als Muslima deutlich. | |
LB 4) Die Qualifizierung eines solchen Verhaltens als Eignungsmangel für das Amt einer Lehrerin an Grund- und Hauptschulen greift in das Recht der Beschwerdeführerin auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt aus Art.33 Abs.2 GG in Verbindung mit dem ihr durch Art.4 Abs.1 und 2 GG gewährleisteten Grundrecht der Glaubensfreiheit ein, ohne dass dafür gegenwärtig die erforderliche, hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage besteht. | |
LB 5) Das grundrechtsgleiche Recht des Art.33 Abs.2 GG gewährleistet das Maß an Freiheit der Berufswahl (Art.12 Abs.1 GG), das angesichts der von der jeweils zuständigen öffentlich-rechtlichen Körperschaft zulässigerweise begrenzten Zahl von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst möglich ist (vgl BVerfGE_7,377 <397 f>; BVerfGE_39,334 <369>). | |
LB 6) Art.33 Abs.2 GG vermittelt keinen Anspruch auf Übernahme in ein öffentliches Amt (vgl BVerfGE_39,334 <354>; BVerwGE_68,109 <110>). ) | |
LB 7) Der Zugang zu einer Tätigkeit in einem öffentlichen Amt (die Zulassung zum Beruf, die gleichzeitig die freie Berufswahl betrifft) darf insbesondere durch subjektive Zulassungsvoraussetzungen beschränkt werden (vgl BVerfGE_39,334 <370>). | |
LB 8) Auch im Beamtenverhältnis beanspruchen die Grundrechte Geltung, wobei der Pflichtenkreis des Beamten gemäß Art.33 Abs.5 GG dessen rechtliche Möglichkeit begrenzt, von Grundrechten Gebrauch zu machen (vgl BVerfGE_39,334 <366 f>): | |
LB 9) Die Beurteilung der Eignung eines Bewerbers für das von ihm angestrebte öffentliche Amt durch den Dienstherrn bezieht sich auf die künftige Amtstätigkeit des Betroffenen und enthält zugleich eine Prognose, die eine konkrete und einzelfallbezogene Würdigung der gesamten Persönlichkeit des Bewerbers verlangt (vgl BVerfGE_39,334 <353>; BVerfGE_92,140 <155>). | |
LB 10) Eine dem Beamten auferlegte Pflicht, als Lehrer die eigene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft in Schule und Unterricht nicht durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln sichtbar werden zu lassen, greift in die von Art.4 Abs.1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein. | |
LB 11) Art.4 GG garantiert in Absatz 1 die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, in Absatz 2 das Recht der ungestörten Religionsausübung. Beide Absätze des Art.4 GG enthalten ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht (vgl BVerfGE_24,236 <245 f>; BVerfGE_32,98 <106>; BVerfGE_44,37 <49>; BVerfGE_83,341 <354>). | |
LB 12) Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten (vgl BVerfGE_24,236 <245>). | |
LB 13) Die in Art.4 Abs.1 und 2 GG verbürgte Glaubensfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Einschränkungen müssen sich daher aus der Verfassung selbst ergeben. Hierzu zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (vgl BVerfGE_28,243 <260 f>; BVerfGE_41,29 <50 f>; BVerfGE_41,88 <107>; BVerfGE_44,37 <49 f, 53>; BVerfGE_52,223 <247>; BVerfGE_93,1 <21>). | |
LB 14) Die Einschränkung der vorbehaltlos gewährleisteten Glaubensfreiheit bedarf überdies einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage (vgl BVerfGE_83,130 <142>). | |
LB 15) Durch Art.33 Abs.3 ist ein Zusammenhang zwischen der Zulassung zu öffentlichen Ämtern und dem religiösen Bekenntnis ausgeschlossen. | |
LB 16) Art.33 Abs.3 GG richtet sich in erster Linie gegen eine Ungleichbehandlung, die unmittelbar an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion anknüpft. Darüber hinaus verbietet die Vorschrift jedenfalls auch, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern aus Gründen zu verwehren, die mit der in Art.4 Abs.1 und 2 GG geschützten Glaubensfreiheit unvereinbar sind (vgl BVerfGE_79,69 <75>). | |
LB 17) Eine Verpflichtung von Frauen zum Tragen eines Kopftuchs in der Öffentlichkeit lässt sich nach Gehalt und Erscheinung als islamisch-religiös begründete Glaubensregel dem Schutzbereich des Art.4 Abs.1 und 2 GG hinreichend plausibel zuordnen (vgl dazu auch BVerfGE_83,341 <353>). | |
LB 18) Das Grundgesetz begründet für den Staat als Heimstatt aller Staatsbürger in Art.4 Abs.1, Art.3 Abs.3 Satz 1, Art.33 Abs.3 sowie durch Art.136 Abs.1 und 4 und Art.137 Abs.1 WRV in Verbindung mit Art.140 GG die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger (vgl BVerfGE_19,206 <216>; BVerfGE_24,236 <246>; BVerfGE_33,23 <28>; BVerfGE_93,1 <17>). | |
LB 19) Christliche Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule sind nicht schlechthin verboten; die Schule muss aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein (vgl BVerfGE_41,29 <51>; BVerfGE_52,223 <236 f>). In dieser Offenheit bewahrt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität (vgl BVerfGE_41,29 <50>). | |
LB 20) Das unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen positiver Glaubensfreiheit eines Lehrers einerseits und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der negativen Glaubensfreiheit der Schüler andererseits unter Berücksichtigung des Toleranzgebots zu lösen, obliegt dem demokratischen Landesgesetzgeber, der im öffentlichen Willensbildungsprozess einen für alle zumutbaren Kompromiss zu suchen hat. Er muss sich bei seiner Regelung daran orientieren, dass einerseits im Bereich des Schulwesens Art.7 GG weltanschaulich-religiöse Einflüsse unter Wahrung des Erziehungsrechts der Eltern zulässt und dass andererseits Art.4 GG gebietet, bei der Entscheidung für eine bestimmte Schulform weltanschaulich-religiöse Zwänge so weit wie irgend möglich auszuschalten. | |
LB 21) Das Einbringen religiöser oder weltanschaulicher Bezüge in Schule und Unterricht durch Lehrkräfte kann den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Erziehungsauftrag, das elterliche Erziehungsrecht und die negative Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler beeinträchtigen. Sollen bereits derartige bloße Möglichkeiten einer Gefährdung oder eines Konflikts aufgrund des Auftretens der Lehrkraft und nicht erst ein konkretes Verhalten, das sich als Versuch einer Beeinflussung oder gar Missionierung der anvertrauten Schulkinder darstellt, als Verletzung beamtenrechtlicher Pflichten oder als die Berufung in das Beamtenverhältnis hindernder Mangel der Eignung bewertet werden, so setzt dies, weil damit die Einschränkung des vorbehaltlos gewährten Grundrechts aus Art.4 Abs.1 und 2 GG einhergeht, eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage voraus, die dies erlaubt. | |
LB 22) Beamtenrechtlich können nach dem oben dargestellten Verständnis der Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität im Bereich der Schule weder der in § 11 Abs.1 LBG enthaltene Begriff der Eignung noch die in §§ 70 ff LBG für Beamte statuierten Pflichten, die bei der Eignungsbeurteilung eines Bewerbers um ein öffentliches Amt als Orientierung heranzuziehen sind, als Grundlage für eine Verpflichtung von Lehrern dienen, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder Weltanschauung nicht äußerlich erkennbar werden zu lassen, um so möglichen Gefahren schon vorbeugend zu begegnen. | |
LB 23) Zur abweichenden Meinung der Richter Jensch, Di Fabio Mellinghoff siehe BVerfGE_108,314 = www.BVerfG.de Abs.75 ff. | |
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Urteil | Entscheidungsformel:
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T-03-17 | Eignung als Lehrerin |
"Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen gegen Art.33 Abs.2 GG in Verbindung mit Art.4 Abs.1 und 2 GG und mit Art.33 Abs.3 GG. | |
Das Tragen eines Kopftuchs macht im hier zu beurteilenden Zusammenhang die Zugehörigkeit der Beschwerdeführerin zur islamischen Religionsgemeinschaft und ihre persönliche Identifikation als Muslima deutlich. Die Qualifizierung eines solchen Verhaltens als Eignungsmangel für das Amt einer Lehrerin an Grund- und Hauptschulen greift in das Recht der Beschwerdeführerin auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt aus Art.33 Abs.2 GG in Verbindung mit dem ihr durch Art.4 Abs.1 und 2 GG gewährleisteten Grundrecht der Glaubensfreiheit ein, ohne dass dafür gegenwärtig die erforderliche, hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage besteht. Damit ist der Beschwerdeführerin der Zugang zu einem öffentlichen Amt in verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Weise verwehrt worden. | |
Die verfassungsgerichtliche Kontrolle im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde beschränkt sich in der Regel auf die Prüfung, ob die angegriffenen Entscheidungen bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von Bedeutung und Tragweite des in Anspruch genommenen Grundrechts beruhen oder willkürlich sind (vgl hierzu BVerfGE_18,85 <93>; stRspr). Soweit allerdings das Gericht, dessen Entscheidung mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen wird, Grundrechtsbestimmungen unmittelbar selbst ausgelegt und angewandt hat, obliegt es dem Bundesverfassungsgericht, Reichweite und Grenzen der Grundrechte zu bestimmen und festzustellen, ob Grundrechte nach ihrem Umfang und Gewicht in verfassungsrechtlich zutreffender Weise berücksichtigt worden sind. So liegt es hier. Das Bundesverwaltungsgericht und auch die Vorinstanzen haben eine bestimmte Interpretation von Art.33 Abs.2 GG in Verbindung mit Art.4 Abs.1 und 2 GG zur tragenden Grundlage ihrer Entscheidungen gemacht. Entsprechend seiner Aufgabe, das Verfassungsrecht zu bewahren, zu entwickeln und fortzubilden und insbesondere die verschiedenen Funktionen einer Grundrechtsnorm zu erschließen (vgl BVerfGE_6,55 <72>; BVerfGE_7,377 <410>), ist das Bundesverfassungsgericht insoweit im Verhältnis zu den Fachgerichten nicht auf die Prüfung beschränkt, ob diese das Verfassungsrecht willkürfrei zugrunde gelegt haben, sondern hat selbst letztverbindlich über dessen Auslegung und Anwendung zu entscheiden. | |
1. Art.33 Abs.2 GG eröffnet jedem Deutschen nach Maßgabe seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt. | |
a) Das grundrechtsgleiche Recht des Art.33 Abs.2 GG gewährleistet das Maß an Freiheit der Berufswahl (Art.12 Abs.1 GG), das angesichts der von der jeweils zuständigen öffentlich-rechtlichen Körperschaft zulässigerweise begrenzten Zahl von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst möglich ist (vgl BVerfGE_7,377 <397 f>; BVerfGE_39,334 <369>). Art.33 Abs.2 GG vermittelt keinen Anspruch auf Übernahme in ein öffentliches Amt (vgl BVerfGE_39,334 <354>; BVerwGE_68,109 <110>). Der Zugang zu einer Tätigkeit in einem öffentlichen Amt (die Zulassung zum Beruf, die gleichzeitig die freie Berufswahl betrifft) darf insbesondere durch subjektive Zulassungsvoraussetzungen beschränkt werden (vgl BVerfGE_39,334 <370>). Dies geschieht nach Maßgabe des § 7 des Beamtenrechtsrahmengesetzes (BRRG) vom 31.März 1999 (BGBl I S.654 ) in den Beamtengesetzen der Länder durch Regelungen über die für die Berufung in ein Beamtenverhältnis erforderlichen persönlichen Voraussetzungen. § 11 Abs.1 des hier maßgeblichen Landesbeamtengesetzes Baden-Württemberg (LBG) in der Fassung vom 19.März 1996 (GBl S.286) bestimmt, dass Ernennungen nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung ohne Rücksicht auf Geschlecht, Abstammung, Rasse, Glauben, religiöse oder politische Anschauungen, Herkunft oder Beziehungen vorzunehmen sind. | |
b) Der Gesetzgeber hat bei der Aufstellung von Eignungskriterien für das jeweilige Amt und bei der Ausgestaltung von Dienstpflichten, nach denen die Eignung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst zu beurteilen ist, grundsätzlich eine weite Gestaltungsfreiheit. Grenzen dieser Gestaltungsfreiheit ergeben sich aus den Wertentscheidungen in anderen Verfassungsnormen; insbesondere die Grundrechte setzen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Schranken. Auch im Beamtenverhältnis beanspruchen die Grundrechte Geltung, wobei der Pflichtenkreis des Beamten gemäß Art.33 Abs.5 GG dessen rechtliche Möglichkeit begrenzt, von Grundrechten Gebrauch zu machen (vgl BVerfGE_39,334 <366 f>): Der Grundrechtsausübung des Beamten im Dienst können Grenzen gesetzt werden, die sich aus allgemeinen Anforderungen an den öffentlichen Dienst oder aus besonderen Erfordernissen des jeweiligen öffentlichen Amtes ergeben (vgl etwa BVerwGE_56,227 <228 f>). Wird indessen schon der Zugang zu einem öffentlichen Amt im Hinblick auf ein künftiges Verhalten des Bewerbers verweigert, das unter grundrechtlichem Schutz steht, muss sich die Annahme eines hierauf gestützten Eignungsmangels ihrerseits vor dem betroffenen Grundrecht rechtfertigen lassen. | |
c) Die Beurteilung der Eignung eines Bewerbers für das von ihm angestrebte öffentliche Amt durch den Dienstherrn bezieht sich auf die künftige Amtstätigkeit des Betroffenen und enthält zugleich eine Prognose, die eine konkrete und einzelfallbezogene Würdigung der gesamten Persönlichkeit des Bewerbers verlangt (vgl BVerfGE_39,334 <353>; BVerfGE_92,140 <155>). Sie umfasst auch eine vorausschauende Aussage darüber, ob der Betreffende die ihm in dem angestrebten Amt obliegenden beamtenrechtlichen Pflichten erfüllen wird. Bei diesem prognostischen Urteil steht dem Dienstherrn ein weiter Beurteilungsspielraum zu; die Nachprüfung durch die Fachgerichte beschränkt sich im Wesentlichen darauf, ob der Dienstherr von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, den beamten- und verfassungsrechtlichen Rahmen verkannt, allgemein gültige Wertmaßstäbe nicht beachtet oder sachfremde Erwägungen angestellt hat (vgl BVerfGE_39,334 <354>; BVerwGE_61,176 <186>; BVerfGE_68,109 <110>; BVerfGE_86,244 <246>). Die Prognose des Dienstherrn über die Eignung eines Bewerbers um ein öffentliches Amt hat sich an den dem Beamten obliegenden Pflichten (§§ 35 ff BRRG; §§ 70 ff LBG) zu orientieren. Dienstpflichten, deren Erfüllung vom Bewerber erwartet wird, müssen gesetzlich hinreichend bestimmt sein und die durch seine Grundrechte gesetzten Grenzen beachten. | |
2. Eine dem Beamten auferlegte Pflicht, als Lehrer die eigene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft in Schule und Unterricht nicht durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln sichtbar werden zu lassen, greift in die von Art.4 Abs.1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein. Sie stellt den Betroffenen vor die Wahl, entweder das angestrebte öffentliche Amt auszuüben oder dem von ihm als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten. | |
Art.4 GG garantiert in Absatz 1 die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, in Absatz 2 das Recht der ungestörten Religionsausübung. Beide Absätze des Art. 4 GG enthalten ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht (vgl BVerfGE_24,236 <245 f>; BVerfGE_32,98 <106>; BVerfGE_44,37 <49>; BVerfGE_83,341 <354>). Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten (vgl BVerfGE_24,236 <245>). Dazu gehört auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze, sondern auch solche religiösen Überzeugungen, die ein Verhalten als das zur Bewältigung einer Lebenslage richtige bestimmen (vgl BVerfGE_32,98 <106 f>; BVerfGE_33,23 <28>; BVerfGE_41,29 <49>). | |
Die in Art. 4 Abs.1 und 2 GG verbürgte Glaubensfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Einschränkungen müssen sich daher aus der Verfassung selbst ergeben. Hierzu zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (vgl BVerfGE_28,243 <260 f>; BVerfGE_41,29 <50 f>; BVerfGE_41,88 <107>; BVerfGE_44,37 <49 f, 53>; BVerfGE_52,223 <247>; BVerfGE_93,1 <21>). Die Einschränkung der vorbehaltlos gewährleisteten Glaubensfreiheit bedarf überdies einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage (vgl BVerfGE_83,130 <142>). 39 | |
3. Auch Art.33 Abs.3 GG ist berührt. Danach ist die Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig von dem religiösen Bekenntnis (Satz 1); niemandem darf aus der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnis oder zu einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen (Satz 2). Mithin ist ein Zusammenhang zwischen der Zulassung zu öffentlichen Ämtern und dem religiösen Bekenntnis ausgeschlossen. Art.33 Abs.3 GG richtet sich in erster Linie gegen eine Ungleichbehandlung, die unmittelbar an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion anknüpft. Darüber hinaus verbietet die Vorschrift jedenfalls auch, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern aus Gründen zu verwehren, die mit der in Art.4 Abs.1 und 2 GG geschützten Glaubensfreiheit unvereinbar sind (vgl BVerfGE_79,69 <75>). Dies schließt die Begründung von Dienstpflichten, die in die Glaubensfreiheit von Amtsinhabern und Bewerbern um öffentliche Ämter eingreifen und damit für glaubensgebundene Bewerber den Zugang zum öffentlichen Dienst erschweren oder ausschließen, nicht aus, unterwirft sie aber den strengen Rechtfertigungsanforderungen, die für Einschränkungen der vorbehaltlos gewährleisteten Glaubensfreiheit gelten; außerdem ist das Gebot strikter Gleichbehandlung der verschiedenen Glaubensrichtungen sowohl in der Begründung als auch in der Praxis der Durchsetzung solcher Dienstpflichten zu beachten. | |
4. a) Das Tragen eines Kopftuchs durch die Beschwerdeführerin auch in der Schule fällt unter den Schutz der in Art.4 Abs.1 und 2 GG verbürgten Glaubensfreiheit. Die Beschwerdeführerin betrachtet nach den von den Fachgerichten getroffenen und im Verfahren über die Verfassungsbeschwerde nicht angezweifelten tatsächlichen Feststellungen das Tragen eines Kopftuchs als für sich verbindlich von den Regeln ihrer Religion vorgegeben; das Befolgen dieser Bekleidungsregel ist für sie Ausdruck ihres religiösen Bekenntnisses. Auf die umstrittene Frage, ob und inwieweit die Verschleierung für Frauen von Regeln des islamischen Glaubens vorgeschrieben ist, kommt es nicht an. Zwar kann nicht jegliches Verhalten einer Person allein nach deren subjektiver Bestimmung als Ausdruck der besonders geschützten Glaubensfreiheit angesehen werden; vielmehr darf bei der Würdigung eines vom Einzelnen als Ausdruck seiner Glaubensfreiheit reklamierten Verhaltens das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft nicht außer Betracht bleiben (vgl BVerfGE_24,236 <247 f> ). Eine Verpflichtung von Frauen zum Tragen eines Kopftuchs in der Öffentlichkeit lässt sich nach Gehalt und Erscheinung als islamisch-religiös begründete Glaubensregel dem Schutzbereich des Art.4 Abs.1 und 2 GG hinreichend plausibel zuordnen (vgl dazu auch BVerfGE_83,341 <353>); dies haben die Fachgerichte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise getan. | |
b) Die Annahme, der Beschwerdeführerin fehle für die Wahrnehmung der Aufgaben einer Lehrerin an Grund- und Hauptschulen die erforderliche Eignung, weil sie in Widerspruch zu einer bestehenden Dienstpflicht in Schule und Unterricht ein Kopftuch tragen wolle, das ihre Zugehörigkeit zur islamischen Religionsgemeinschaft deutlich mache, und die darauf gegründete Verweigerung des Zugangs zu einem öffentlichen Amt wären mit Art.4 Abs.1 und 2 GG vereinbar, wenn der beabsichtigten Ausübung der Glaubensfreiheit Rechtsgüter von Verfassungsrang entgegenstünden und sich diese Begrenzung der freien Religionsausübung auf eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage stützen könnte. Als mit der Glaubensfreiheit in Widerstreit tretende Verfassungsgüter kommen hier neben dem staatlichen Erziehungsauftrag (Art.7 Abs.1 GG), der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen ist, das elterliche Erziehungsrecht (Art.6 Abs.2 GG) und die negative Glaubensfreiheit der Schulkinder (Art.4 Abs.1 GG) in Betracht. | |
aa) Das Grundgesetz begründet für den Staat als Heimstatt aller Staatsbürger in Art.4 Abs.1, Art.3 Abs.3 Satz 1, Art.33 Abs.3 sowie durch Art.136 Abs.1 und 4 und Art.137 Abs.1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger (vgl.BVerfGE 19, 206 <216>; 24, 236 <246>; 33, 23 <28>; 93, 1 <17> ). Der Staat hat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten (vgl BVerfGE_19,1 <8>; BVerfGE_19,206 <216>; BVerfGE_24,236 <246>; BVerfGE_93,1 <17>) und darf sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren (vgl BVerfGE_30,415 <422>; BVerfGE_93,1 <17>). Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes ist gekennzeichnet von Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen und gründet dies auf ein Menschenbild, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung geprägt ist (vgl BVerfGE_41,29 <50>). | |
Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist indes nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen. Art.4 Abs.1 und 2 GG gebietet auch in positivem Sinn, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern (vgl BVerfGE_41,29 <49>; BVerfGE_93,1 <16>). Der Staat darf lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden (vgl BVerfGE_93,1 <16 f>). Auch verwehrt es der Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität dem Staat, Glauben und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten (vgl BVerfGE_33,23 <29>). | |
Dies gilt nach dem bisherigen Verständnis des Verhältnisses von Staat und Religion, wie es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seinen Niederschlag gefunden hat, insbesondere auch für den vom Staat in Vorsorge genommenen Bereich der Pflichtschule, für den seiner Natur nach religiöse und weltanschauliche Vorstellungen von jeher relevant waren (vgl BVerfGE_41,29 <49>; BVerfGE_52,223 <241> ). Danach sind christliche Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht schlechthin verboten; die Schule muss aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein (vgl BVerfGE_41,29 <51>; BVerfGE_52,223 <236 f>). In dieser Offenheit bewahrt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität (vgl BVerfGE_41,29 <50>). Für die Spannungen, die bei der gemeinsamen Erziehung von Kindern unterschiedlicher Weltanschauungs- und Glaubensrichtungen unvermeidlich sind, muss unter Berücksichtigung des Toleranzgebots als Ausdruck der Menschenwürde (Art.1 Abs.1 GG) nach einem Ausgleich gesucht werden (vgl BVerfGE_41,29 <63>; BVerfGE_52,223 <247, 251>; BVerfGE_93,1 <21 ff>; vgl näher unten dd>). | |
bb) Art.6 Abs.2 Satz 1 GG garantiert den Eltern die Pflege und Erziehung ihrer Kinder als natürliches Recht und umfasst zusammen mit Art.4 Abs.1 GG auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht; daher ist es zuvörderst Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten (vgl BVerfGE_41,29 <44, 47 f>; BVerfGE_52,223 <236>; BVerfGE_93,1 <17>). Dem entspricht das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen fern zu halten, die den Eltern als falsch oder schädlich erscheinen (vgl BVerfGE_93,1 <17>). Jedoch enthält Art.6 Abs.2 GG keinen ausschließlichen Erziehungsanspruch der Eltern. Eigenständig und in seinem Bereich gleichgeordnet neben den Eltern übt der Staat, dem nach Art.7 Abs.1 GG die Aufsicht über das gesamte Schulwesen übertragen ist, in der Schule einen eigenen Erziehungsauftrag aus (vgl BVerfGE_34,165 <183>; BVerfGE_41,29 <44>). Wie dieser im Einzelnen zu erfüllen ist und insbesondere in welchem Umfang religiöse Bezüge in der Schule ihren Platz haben sollen, unterliegt innerhalb der vom Grundgesetz, vor allem in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, abgesteckten Grenzen der Gestaltungsfreiheit der Länder (vgl BVerfGE_41,29 <44, 47 f>; BVerfGE_52,223 <242 f>; vgl näher unten dd>). | |
cc) Schließlich trifft die von der Beschwerdeführerin in Anspruch genommene Freiheit der Betätigung ihrer Glaubensüberzeugung durch das Tragen des Kopftuchs in Schule und Unterricht auf die negative Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler. Art.4 Abs.1 und 2 GG, der die negative wie die positive Äußerungsform der Glaubensfreiheit gleichermaßen schützt, gewährleistet auch die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fern zu bleiben; das bezieht sich auch auf Kulte und Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellt. Art.4 GG überlässt es dem Einzelnen zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkennt und verehrt und welche er ablehnt. Zwar hat er in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in welcher der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeit dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist (vgl BVerfGE_93,1 <15 f>). Insofern entfaltet Art.4 Abs.1 und 2 GG seine freiheitssichernde Wirkung gerade in Lebensbereichen, die nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen, sondern vom Staat in Vorsorge genommen worden sind (vgl BVerfGE_41,29 <49>); dies bekräftigt Art.140 GG in Verbindung mit Art.136 Abs.4 WRV, wonach es verboten ist, jemanden zur Teilnahme an religiösen Übungen zu zwingen. | |
dd) Das Grundgesetz lässt den Ländern im Schulwesen umfassende Gestaltungsfreiheit; auch in Bezug auf die weltanschaulich-religiöse Ausprägung der öffentlichen Schulen hat Art.7 GG die weit gehende Selbständigkeit der Länder und im Rahmen von deren Schulhoheit die grundsätzlich freie Ausgestaltung der Pflichtschule im Auge (vgl BVerfGE_41,29 <44 f>; BVerfGE_52,223 <242 f>). Das unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen positiver Glaubensfreiheit eines Lehrers einerseits und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der negativen Glaubensfreiheit der Schüler andererseits unter Berücksichtigung des Toleranzgebots zu lösen, obliegt dem demokratischen Landesgesetzgeber, der im öffentlichen Willensbildungsprozess einen für alle zumutbaren Kompromiss zu suchen hat. Er muss sich bei seiner Regelung daran orientieren, dass einerseits im Bereich des Schulwesens Art.7 GG weltanschaulich-religiöse Einflüsse unter Wahrung des Erziehungsrechts der Eltern zulässt und dass andererseits Art.4 GG gebietet, bei der Entscheidung für eine bestimmte Schulform weltanschaulich-religiöse Zwänge so weit wie irgend möglich auszuschalten. Die Vorschriften sind zusammen zu sehen, ihre Interpretation und ihr Wirkungsbereich sind aufeinander abzustimmen. Dies schließt ein, dass die einzelnen Länder zu verschiedenen Regelungen kommen können, weil bei dem zu findenden Mittelweg auch Schultraditionen, die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse Verwurzelung berücksichtigt werden dürfen (vgl BVerfGE_41,29 <50 f>; BVerfGE_93,1 <22 f>). | |
Diese Grundsätze gelten auch für die Beantwortung der Frage, in welchem Umfang Lehrern unter Beschränkung ihres individuellen Grundrechts der Glaubensfreiheit für ihr Auftreten und Verhalten in der Schule Pflichten in Bezug auf die Wahrung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates auferlegt werden dürfen. | |
5. Das Einbringen religiöser oder weltanschaulicher Bezüge in Schule und Unterricht durch Lehrkräfte kann den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Erziehungsauftrag, das elterliche Erziehungsrecht und die negative Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler beeinträchtigen. Es eröffnet zumindest die Möglichkeit einer Beeinflussung der Schulkinder sowie von Konflikten mit Eltern, die zu einer Störung des Schulfriedens führen und die Erfüllung des Erziehungsauftrags der Schule gefährden können. Auch die religiös motivierte und als Kundgabe einer Glaubensüberzeugung zu interpretierende Bekleidung von Lehrern kann diese Wirkungen haben. Dabei handelt es sich aber lediglich um abstrakte Gefahren. Sollen bereits derartige bloße Möglichkeiten einer Gefährdung oder eines Konflikts aufgrund des Auftretens der Lehrkraft und nicht erst ein konkretes Verhalten, das sich als Versuch einer Beeinflussung oder gar Missionierung der anvertrauten Schulkinder darstellt, als Verletzung beamtenrechtlicher Pflichten oder als die Berufung in das Beamtenverhältnis hindernder Mangel der Eignung bewertet werden, so setzt dies, weil damit die Einschränkung des vorbehaltlos gewährten Grundrechts aus Art.4 Abs.1 und 2 GG einhergeht, eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage voraus, die dies erlaubt. Daran fehlt es hier. | |
a) Bei der Beurteilung der Frage, ob einer bestimmten Bekleidung oder anderen äußeren Zeichen ein religiöser oder weltanschaulicher Aussagegehalt nach Art eines Symbols zukommt, ist die Wirkung des verwendeten Ausdrucksmittels ebenso zu berücksichtigen wie alle dafür in Betracht kommenden Deutungsmöglichkeiten. Das Kopftuch ist - anders als das christliche Kreuz (vgl dazu BVerfGE_93,1 <19 f>) - nicht aus sich heraus ein religiöses Symbol. Erst im Zusammenhang mit der Person, die es trägt, und mit deren sonstigem Verhalten kann es eine vergleichbare Wirkung entfalten. Das von Musliminnen getragene Kopftuch wird als Kürzel für höchst unterschiedliche Aussagen und Wertvorstellungen wahrgenommen: | |
Neben dem Wunsch, als verpflichtend empfundene, religiös fundierte Bekleidungsregeln einzuhalten, kann es auch als ein Zeichen für das Festhalten an Traditionen der Herkunftsgesellschaft gedeutet werden. In jüngster Zeit wird in ihm verstärkt ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen, das die Abgrenzung zu Werten der westlichen Gesellschaft, wie individuelle Selbstbestimmung und insbesondere Emanzipation der Frau, ausdrückt. Nach den auch in der mündlichen Verhandlung bestätigten tatsächlichen Feststellungen im fachgerichtlichen Verfahren ist das jedoch nicht die Botschaft, welche die Beschwerdeführerin mit dem Tragen des Kopftuchs vermitteln will. | |
Die in der mündlichen Verhandlung gehörte Sachverständige Frau Dr. Karakasoglu hat auf der Grundlage einer von ihr durchgeführten Befragung von etwa 25 muslimischen Pädagogikstudentinnen - davon zwölf Kopftuchträgerinnen - dargelegt, dass das Kopftuch von jungen Frauen auch getragen werde, um in einer Diasporasituation die eigene Identität zu bewahren und zugleich auf die Traditionen der Eltern Rücksicht zu nehmen; als Grund für das Tragen des Kopftuchs sei darüber hinaus der Wunsch genannt worden, durch ein Zeichen für sexuelle Nichtverfügbarkeit mehr eigenständigen Schutz zu erlangen und sich selbstbestimmt zu integrieren. Das Tragen des Kopftuchs solle zwar in der Öffentlichkeit den Stellenwert religiöser Orientierung im eigenen Lebensentwurf dokumentieren, werde aber als Ausdruck individueller Entscheidung begriffen und stehe nicht im Widerspruch zu einer modernen Lebensführung. Die Bewahrung ihrer Differenz ist nach dem Verständnis der befragten Frauen Voraussetzung ihrer Integration. Auf der Grundlage der von der Sachverständigen geführten und ausgewerteten qualitativen Interviews lassen sich zwar keine repräsentativen Aussagen für alle in Deutschland lebenden Musliminnen treffen; die Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass angesichts der Vielfalt der Motive die Deutung des Kopftuchs nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden darf. Vielmehr kann das Kopftuch für junge muslimische Frauen auch ein frei gewähltes Mittel sein, um ohne Bruch mit der Herkunftskultur ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Auf diesem Hintergrund ist nicht belegt, dass die Beschwerdeführerin allein dadurch, dass sie ein Kopftuch trägt, etwa muslimischen Schülerinnen die Entwicklung eines den Wertvorstellungen des Grundgesetzes entsprechenden Frauenbildes oder dessen Umsetzung im eigenen Leben erschweren würde. | |
Für die Beurteilung der Frage, ob die Absicht einer Lehrerin, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, einen Eignungsmangel begründet, kommt es darauf an, wie ein Kopftuch auf einen Betrachter wirken kann (objektiver Empfängerhorizont); deshalb sind alle denkbaren Möglichkeiten, wie das Tragen eines Kopftuchs verstanden werden kann, bei der Beurteilung zu berücksichtigen. Dies ändert aber nichts daran, dass die Beschwerdeführerin, die für ihre Entscheidung, in der Öffentlichkeit stets ein Kopftuch zu tragen, in plausibler Weise religiös motivierte Gründe angegeben hat, sich für dieses Verhalten auf den Schutz des Art.4 Abs.1 und 2 GG berufen kann, der in enger Beziehung zum obersten Verfassungswert der Menschenwürde (Art.1 Abs.1 GG) steht (vgl BVerfGE_52,223 <247>). | |
b) Im Hinblick auf die Wirkung religiöser Ausdrucksmittel ist danach zu unterscheiden, ob das in Frage stehende Zeichen auf Veranlassung der Schulbehörde oder aufgrund eigener Entscheidung von einer einzelnen Lehrkraft verwendet wird, die hierfür das individuelle Freiheitsrecht des Art.4 Abs.1 und 2 GG in Anspruch nehmen kann. Duldet der Staat in der Schule eine Bekleidung von Lehrern, die diese aufgrund individueller Entscheidung tragen und die als religiös motiviert zu deuten ist, so kann dies mit einer staatlichen Anordnung, religiöse Symbole in der Schule anzubringen, nicht gleichgesetzt werden (zu letzterem vgl BVerfGE_93,1 <18>). Der Staat, der eine mit dem Tragen eines Kopftuchs verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Lehrerin hinnimmt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen. Die Wirkung eines von der Lehrerin aus religiösen Gründen getragenen Kopftuchs kann allerdings deshalb besondere Intensität erreichen, weil die Schüler für die gesamte Dauer des Schulbesuchs mit der im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens stehenden Lehrerin ohne Ausweichmöglichkeit konfrontiert sind. Andererseits kann der religiöse Aussagegehalt eines Kleidungsstücks von der Lehrkraft den Schulkindern differenzierend erläutert und damit in seiner Wirkung auch abgeschwächt werden. | |
c) Die Annahme einer Dienstpflichtverletzung wegen befürchteter bestimmender Einflüsse des Kopftuchs der Beschwerdeführerin auf die religiöse Orientierung der Schulkinder kann sich nicht auf gesicherte empirische Grundlagen stützen. | |
Der in der mündlichen Verhandlung dazu angehörte Sachverständige Professor Dr. Bliesener hat ausgeführt, dass es aus entwicklungspsychologischer Sicht derzeit noch keine gesicherten Erkenntnisse gebe, die eine Beeinflussung von Kindern allein durch die tägliche Begegnung mit einer Lehrerin belegen könnten, die in Schule und Unterricht ein Kopftuch trägt. Erst bei Hinzutreten von Konflikten zwischen Eltern und Lehrern, die im Zusammenhang mit dem Kopftuch der Lehrerin entstehen können, seien belastende Auswirkungen insbesondere auf jüngere Schülerinnen und Schüler zu erwarten. Die beiden anderen vom Senat angehörten Sachverständigen, Frau Psychologiedirektorin Leinenbach sowie Professor Dr. Riedesser, haben keine hiervon abweichenden Erkenntnisse vorgetragen. Eine derart ungesicherte Erkenntnislage reicht als Grundlage einer behördlichen Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Eignung, die erheblich in das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art.4 Abs.1 und 2 GG eingreift, nicht aus. | |
d) Für die Ablehnung der Beschwerdeführerin wegen mangelnder Eignung infolge ihrer Weigerung, das Kopftuch in Schule und Unterricht abzulegen, fehlt es jedenfalls an einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. | |
Der von der Schulbehörde und den Fachgerichten angeführte Gesichtspunkt, die Absicht der Beschwerdeführerin, im Schuldienst ein Kopftuch tragen zu wollen, begründe deshalb einen Eignungsmangel, weil schon vorbeugend möglichen Beeinflussungen der Schülerinnen und Schüler entgegengewirkt und nicht auszuschließende Konflikte zwischen Lehrer und Schülern sowie deren Eltern von vornherein vermieden werden sollten, rechtfertigt gegenwärtig den Eingriff in das grundsrechtsgleiche Recht der Beschwerdeführerin aus Art.33 Abs.2 GG und die damit einhergehende Einschränkung ihrer Glaubensfreiheit nicht. Für eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens durch das Auftreten der Beschwerdeführerin mit Kopftuch sind im fachgerichtlichen Verfahren keine greifbaren Anhaltspunkte sichtbar geworden. Die Befürchtung, dass Konflikte mit Eltern auftreten könnten, welche die Unterrichtung ihrer Kinder durch eine ein Kopftuch tragende Lehrerin ablehnen, kann sich nicht auf Erfahrungen mit der bisherigen Lehrtätigkeit der Beschwerdeführerin als Referendarin stützen. Für ein mit der Abwehr abstrakter Gefährdungen begründetes Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, reicht die im Land Baden-Württemberg geltende beamten- und schulrechtliche Gesetzeslage nicht aus. Die Tatsache allein, dass Konflikte für die Zukunft nicht auszuschließen sind, rechtfertigt es nicht, ohne eine darauf zugeschnittene Rechtsgrundlage aus dem allgemeinen beamtenrechtlichen Erfordernis der Eignung eine Dienstpflicht abzuleiten, nach der die Beschwerdeführerin in Schule und Unterricht auf die Betätigung ihrer Glaubensüberzeugung durch das Tragen eines Kopftuchs zu verzichten hätte. | |
Beamtenrechtlich können nach dem oben unter B.II.4. b) aa) dargestellten Verständnis der Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität im Bereich der Schule weder der in § 11 Abs.1 LBG enthaltene Begriff der Eignung noch die in §§ 70 ff LBG für Beamte statuierten Pflichten, die bei der Eignungsbeurteilung eines Bewerbers um ein öffentliches Amt als Orientierung heranzuziehen sind, als Grundlage für eine Verpflichtung von Lehrern dienen, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder Weltanschauung nicht äußerlich erkennbar werden zu lassen, um so möglichen Gefahren schon vorbeugend zu begegnen. | |
Nach § 70 Abs.1 Satz 1 LBG dient der Beamte dem ganzen Volk und hat nach Satz 2 der Vorschrift seine Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfüllen sowie bei seiner Amtsführung auf das Wohl der Allgemeinheit Bedacht zu nehmen. Er muss nach § 70 Abs.2 LBG sich durch sein gesamtes Verhalten zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes bekennen und für deren Einhaltung eintreten. Es ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin durch das Tragen eines Kopftuchs hieran gehindert wäre. Auch das Mäßigungsgebot des § 72 LBG, wonach der Beamte bei politischer Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren hat, die sich aus seiner Stellung gegenüber der Gesamtheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten seines Amts ergeben, erfasst den Fall des religiös motivierten Tragens eines Kopftuchs nicht. Das selbe gilt für die Pflicht des Beamten, sich mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen (§ 73 Satz 1 LBG), sein Amt uneigennützig nach bestem Gewissen zu verwalten (§ 73 Satz 2 LBG) und sein Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes danach auszurichten, dass es der Achtung und dem Vertrauen gerecht wird, die sein Beruf erfordern (§ 73 Satz 3 LBG). Aus diesen allgemeinen beamtenrechtlichen Pflichten lässt sich ein grundrechtsbeschränkendes Verbot, als Lehrerin an einer öffentlichen Grund- und Hauptschule aus religiösen Gründen ein Kopftuch zu tragen, nicht herleiten. Schließlich besteht für Lehrer keine Regelung über eine bestimmte Dienstkleidung nach § 94 LBG. | |
Auch die Bestimmungen der Art.11 bis 22 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11.November 1953 (GBl S.173) über Erziehung und Unterricht sowie das Schulgesetz für Baden-Württemberg (SchG) in der Fassung vom 1.August 1983 (GBl S. 397), insbesondere dessen §§ 1 und 38, enthalten keine Regelung, aufgrund derer sich die allgemeinen beamtenrechtlichen Pflichten zu Mäßigung und Zurückhaltung für Lehrer zweifelsfrei dahin konkretisieren ließen, dass sie in der Schule keine Kleidung oder sonstige Zeichen tragen dürften, die ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft erkennen lassen. Damit fehlt es für eine Entscheidung, die Lehrerinnen islamischen Glaubens wegen ihrer erklärten Absicht, in der Schule ein Kopftuch zu tragen, die Eignung für den Dienst an Grund- und Hauptschulen abspricht und sie dadurch in ihrem Grundrecht aus Art.4 Abs.1 und 2 GG beschränkt, gegenwärtig an der notwendigen hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. | |
6. Dem zuständigen Landesgesetzgeber steht es jedoch frei, die bislang fehlende gesetzliche Grundlage zu schaffen, etwa indem er im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben das zulässige Maß religiöser Bezüge in der Schule neu bestimmt. Dabei hat er der Glaubensfreiheit der Lehrer wie auch der betroffenen Schüler, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität in angemessener Weise Rechnung zu tragen. | |
a) Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem angegriffenen Urteil u.a. hervorgehoben, dass das Neutralitätsgebot mit wachsender kultureller und religiöser Vielfalt - bei einem sich vergrößernden Anteil bekenntnisloser Schüler - zunehmend an Bedeutung gewinne und nicht etwa im Hinblick darauf aufzulockern sei, dass die kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt in Deutschland inzwischen auch das Leben in der Schule präge. In der mündlichen Verhandlung hat auch der Vertreter des Oberschulamts Stuttgart, Professor Dr F Kirchhof, ausgeführt, dass die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität im Bereich der Schule angesichts der gewandelten Verhältnisse nunmehr strenger gehandhabt werden müsse. | |
Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein. Aus einer hierauf zielenden Regelung in den Schulgesetzen können sich dann für Lehrkräfte Konkretisierungen ihrer allgemeinen beamtenrechtlichen Pflichten auch in Bezug auf ihr äußeres Auftreten ergeben, soweit dieses ihre Verbundenheit mit bestimmten Glaubensüberzeugungen oder Weltanschauungen deutlich werden lässt. Insoweit sind unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben auch gesetzliche Einschränkungen der Glaubensfreiheit denkbar. Ist von vornherein absehbar, dass ein Bewerber solchen Verhaltensregeln nicht nachkommen wird, kann ihm dies dann als Mangel seiner Eignung entgegen gehalten werden. | |
Eine Regelung, die Lehrern untersagt, äußerlich dauernd sichtbar ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft oder Glaubensrichtung erkennen zu lassen, ist Teil der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion im Bereich der Schule. Die gewachsene religiöse Vielfalt in der Gesellschaft spiegelt sich hier besonders deutlich wider. Die Schule ist der Ort, an dem unterschiedliche religiöse Auffassungen unausweichlich aufeinander treffen und wo sich dieses Nebeneinander in besonders empfindlicher Weise auswirkt. Ein tolerantes Miteinander mit Andersgesinnten könnte hier am nachhaltigsten durch Erziehung geübt werden. Dies müsste nicht die Verleugnung der eigenen Überzeugung bedeuten, sondern böte die Chance zur Erkenntnis und Festigung des eigenen Standpunkts und zu einer gegenseitigen Toleranz, die sich nicht als nivellierender Ausgleich versteht (vgl BVerfGE_41,29 <64>). Es ließen sich deshalb Gründe dafür anführen, die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz zu nutzen, um so einen Beitrag in dem Bemühen um Integration zu leisten. Andererseits ist die beschriebene Entwicklung auch mit einem größeren Potenzial möglicher Konflikte in der Schule verbunden. Es mag deshalb auch gute Gründe dafür geben, der staatlichen Neutralitätspflicht im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen und demgemäß auch durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fern zu halten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder anderen Lehrkräften von vornherein zu vermeiden. | |
b) Wie auf die gewandelten Verhältnisse zu antworten ist, insbesondere, welche Verhaltensregeln in Bezug auf Kleidung und sonstiges Auftreten gegenüber den Schulkindern für Lehrerinnen und Lehrer zur näheren Konkretisierung ihrer allgemeinen beamtenrechtlichen Pflichten und zur Wahrung des religiösen Friedens in der Schule aufgestellt werden sollen und welche Anforderungen demgemäß zur Eignung für ein Lehramt gehören, hat nicht die Exekutive zu entscheiden. Vielmehr bedarf es hierfür einer Regelung durch den demokratisch legitimierten Landesgesetzgeber. Für die Beurteilung der tatsächlichen Entwicklungen, von der abhängt, ob gegenläufige Grundrechtspositionen von Schülern und Eltern oder andere Werte von Verfassungsrang eine Regelung rechtfertigen, die Lehrkräfte aller Bekenntnisse zu äußerster Zurückhaltung in der Verwendung von Kennzeichen mit religiösem Bezug verpflichten, verfügt nur der Gesetzgeber über eine Einschätzungsprärogative, die Behörden und Gerichte nicht für sich in Anspruch nehmen können (vgl BVerfGE_50,290 <332 f>; BVerfGE_99,367 <389 f>). Die Annahme, dass ein Verbot des Kopftuchtragens in öffentlichen Schulen als Element einer gesetzgeberischen Entscheidung über das Verhältnis von Staat und Religion im Schulwesen eine zulässige Einschränkung der Religionsfreiheit darstellen kann, steht auch im Einklang mit Art.9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (vgl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Entscheidung vom 15.Februar 2001, NJW 2001, S.2871 ff). | |
aa) Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung folgt aus dem Grundsatz des Parlamentsvorbehalts. Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichten den Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen (vgl BVerfGE_49,89 <126>; BVerfGE_61,260 <275>; BVerfGE_83,130 <142>). Wie weit der Gesetzgeber die für den fraglichen Lebensbereich erforderlichen Leitlinien selbst bestimmen muss, richtet sich nach dessen Grundrechtsbezug. Eine Pflicht dazu besteht, wenn miteinander konkurrierende grundrechtliche Freiheitsrechte aufeinander treffen und deren jeweilige Grenzen fließend und nur schwer auszumachen sind. Dies gilt vor allem dann, wenn die betroffenen Grundrechte - wie hier die positive und negative Glaubensfreiheit sowie das elterliche Erziehungsrecht - nach dem Wortlaut der Verfassung ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet sind und eine Regelung, welche diesen Lebensbereich ordnen will, damit notwendigerweise ihre verfassungsimmanenten Schranken bestimmen und konkretisieren muss. Hier ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Schranken der widerstreitenden Freiheitsgarantien jedenfalls so weit selbst zu bestimmen, wie eine solche Festlegung für die Ausübung dieser Freiheitsrechte wesentlich ist (vgl BVerfGE_83,130 <142>). | |
Wann es einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, lässt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den dort verbürgten Grundrechten zu entnehmen (vgl BVerfGE_98,218 <251>). Zwar führt allein der Umstand, dass eine Regelung politisch umstritten ist, nicht dazu, dass diese als wesentlich verstanden werden müsste (vgl BVerfGE_98,218 <251>). Nach der Verfassung sind die Einschränkung von grundrechtlichen Freiheiten und der Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechten aber dem Parlament vorbehalten, um sicherzustellen, dass Entscheidungen von solcher Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären (vgl BVerfGE_85,386 <403 f>). | |
Insbesondere im Schulwesen verpflichten Rechtsstaatsgebot und Demokratieprinzip des Grundgesetzes den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Schulverwaltung zu überlassen (vgl BVerfGE_40,237 <249>; BVerfGE_58,257 <268 f>). Das gilt auch und gerade dann, wenn und soweit auf gewandelte gesellschaftliche Verhältnisse und zunehmende weltanschaulich-religiöse Vielfalt in der Schule mit einer strikteren Zurückdrängung jeglicher religiöser Bezüge geantwortet und damit die staatliche Neutralitätspflicht innerhalb der von der Verfassung gezogenen Grenzen neu abgesteckt werden soll. Eine solche Entscheidung hat erhebliche Bedeutung für die Verwirklichung von Grundrechten im Verhältnis zwischen Lehrern, Eltern und Kindern sowie dem Staat. | |
bb) Eine Regelung, nach der es zu den Dienstpflichten einer Lehrerin gehört, im Unterricht auf das Tragen eines Kopftuchs oder anderer Erkennungsmerkmale der religiösen Überzeugung zu verzichten, ist eine im Sinne der Rechtsprechung zum Parlamentsvorbehalt wesentliche. Sie greift in erheblichem Maße in die Glaubensfreiheit der Betroffenen ein. Sie betrifft außerdem Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit unterschiedlich intensiv, je nachdem, ob sie die Befolgung bestimmter Bekleidungssitten als zur Ausübung ihrer Religion gehörig ansehen oder nicht. Dementsprechend hat sie besondere Ausschlusswirkungen für bestimmte Gruppen. Wegen dieses Gruppenbezuges kommt der Begründung einer solchen Dienstpflicht für Lehrkräfte über ihre Bedeutung für die individuelle Grundrechtsausübung hinaus auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Ordnungsfunktion der Glaubensfreiheit wesentliche Bedeutung zu. | |
Schließlich bedarf die Einführung einer Dienstpflicht, die es Lehrern verbietet, in ihrem äußeren Erscheinungsbild ihre Religionszugehörigkeit erkennbar zu machen, auch deshalb einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung, weil eine solche Dienstpflicht in verfassungsmäßiger - unter anderem mit Art. 33 Abs. 3 GG vereinbarer - Weise nur begründet und durchgesetzt werden kann, wenn Angehörige unterschiedlicher Religionsgemeinschaften dabei gleich behandelt werden. Dies ist nicht in gleichem Maße gewährleistet, wenn es den Behörden und Gerichten überlassen bleibt, über das Bestehen und die Reichweite einer solchen Dienstpflicht von Fall zu Fall nach Maßgabe ihrer Prognosen über das Einfluss- und Konfliktpotenzial von Erkennungsmerkmalen der Religionszugehörigkeit im Erscheinungsbild der jeweiligen Lehrkraft zu entscheiden. III. | |
Solange keine gesetzliche Grundlage besteht, aus der sich mit hinreichender Bestimmtheit ablesen lässt, dass für Lehrer an Grund- und Hauptschulen eine Dienstpflicht besteht, auf Erkennungsmerkmale ihrer Religionszugehörigkeit in Schule und Unterricht zu verzichten, ist auf der Grundlage des geltenden Rechts die Annahme fehlender Eignung der Beschwerdeführerin mit Art.33 Abs.2 in Verbindung mit Art.4 Abs.1 und 2 GG und Art.33 Abs.3 GG nicht vereinbar. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen verletzen deshalb die in diesen Vorschriften gewährleistete Rechtsposition der Beschwerdeführerin. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist aufzuheben und die Sache an das Bundesverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs.2 BVerfGG). Es ist zu erwarten, dass das Verfahren dort auf der Grundlage des gemäß § 127 Nr.2 BRRG revisiblen § 11 Abs.1 LBG zum Abschluss gebracht werden kann; der maßgebliche Begriff der Eignung ist dabei entsprechend den - gegebenenfalls veränderten - Vorgaben im Schulrecht des Landes auszulegen und anzuwenden." | |
Auszug aus BVerfG U, 24.09.03, - 2_BvR_1436/02 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.29 ff | |
§§§ | |
03.038 | Kalifatstaat |
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LB 1) Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt, dass Art.4 Abs.1 und 2 GG, die Religionsfreiheit zwar vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos garantiert. | |
LB 2) Nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung können auch den Freiheiten des Art.4 GG durch andere Bestimmungen des Grundgesetzes Grenzen gezogen werden (vgl BVerfGE_32,98 <107 f>; BVerfGE_33,23 <29>; BVerfGE_52,223 <246 f>). Solche Grenzen können sich vor allem aus kollidierenden Grundrechten anderer Grundrechtsträger (vgl BVerfGE_41,29 <50>; BVerfGE_52,223 <247>), aber auch aus anderen mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgütern ergeben (vgl BVerfGE_28,243 <261>; stRspr). Dabei ist der Konflikt mit den anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen, der fordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren (vgl BVerfGE_93,1 <21> mwN). | |
LB 3) Die religiöse Vereinigungsfreiheit hat in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes besonderes Gewicht (vgl dazu BVerfGE_83,341 <354 f>; BVerfGE_105,279<293 f>). Das ist bei der Auseinandersetzung mit religiösen Gemeinschaften, die sich vereinsmäßig zusammengeschlossen haben und religiöse Ziele propagieren, auch dann zu beachten, wenn sich diese Gemeinschaften dem Staat sowie seiner Verfassungs- und Rechtsordnung gegenüber kritisch verhalten (vgl auch BVerfGE_105,279 <293 ff>). | |
LB 4) Mit Recht hat das Bundesverwaltungsgericht deshalb angenommen, dass der schwerwiegende Eingriff des Verbots einer religiösen Vereinigung nur gerechtfertigt ist, wenn er bei der Abwägung mit den Verfassungsgütern, die mit dem Verbot geschützt werden sollen, nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unerlässlich ist. Auch die Annahme, dass dies in der Regel der Fall sei, wenn sich die Vereinigung aktiv-kämpferisch gegen die in Art.79 Abs.3 GG genannten Verfassungsgrundsätze richtet, ist von Verfassungs wegen nicht grundsätzlich zu beanstanden. | |
§§§ | |
03.039 | Rechtliches Gehör |
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Zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung fachgerichtlichen Rechtsschutzes bei Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Umsetzung des Beschlusses des Plenums des Bundesverfassungsgerichts vom 30.April 2003 - 1 PBvU 1/02 -). | |
LB 2) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstößt es gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfGE_84,188 <190>; BVerfGE_86,133 <144 f>; BVerfGE_96,189 <204>). | |
LB 3) Wie das Plenum des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 30.April 2003 (BVerfG, NJW 2003, S.1924) entschieden hat, verstößt es gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art.103 Abs.1 GG, wenn eine Verfahrensordnung bei entscheidungserheblichen Verstößen gegen das Verfahrensgrundrecht des Art.103 Abs.1 GG keine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit vorsieht. | |
* * * | |
Beschluss | Entscheidungsformel: |
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T-03-18 | Gewandelte Rechtsauffassung |
"Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie sich gegen das Urteil des Oberlandesgerichts wendet, begründet. Dagegen bleibt sie im Ergebnis ohne Erfolg, soweit auch der Beschluss des Bundesgerichtshofs angegriffen wird. I. | |
1. Das Urteil des Oberlandesgerichts verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Verfahrensgrundrecht aus Art.103 Abs.1 GG. | |
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstößt es gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfGE_84,188 <190>; BVerfGE_86,133 <144 f>; BVerfGE_96,189 <204>). Dies kann im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen (vgl BVerfGE_98,218 <263>). | |
Vorliegend konnten die Beschwerdeführer bereits im Hinblick auf die eindeutig formulierten Ausführungen in dem Hinweis- und Aufklärungsbeschluss des Oberlandesgerichts auf die Zulassung der Revision vertrauen, so dass kein Anlass bestand, zu der grundsätzlichen Bedeutung der Sache näher vorzutragen oder den Klagantrag auf einen revisiblen Betrag zu erweitern. Da das Oberlandesgericht die Revision gleichwohl ohne vorherigen - erneuten - Hinweis auf die nunmehr gewandelte Auffassung des Gerichts nicht zugelassen hat, handelt es sich um eine unzulässige Überraschungsentscheidung. Hierbei kann offen bleiben, ob der bei den Beschwerdeführern hervorgerufene Vertrauenstatbestand möglicherweise noch dadurch verstärkt worden ist, dass der neue Vorsitzende des Senats - so der unter Beweis gestellte Vortrag der Beschwerdeführer in der Verfassungsbeschwerde - in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, von einer so kraftvollen Äußerung des Hinweis- und Aufklärungsbeschlusses werde auch in der neuen Besetzung nicht abgewichen werden. Die Pflicht des Oberlandesgerichts, auf die gewandelte Anschauung hinzuweisen und Vortrag dazu zu ermöglichen, folgte bereits aus der vorherigen eindeutigen und schriftlichen Äußerung der Rechtsauffassung, die ein Vertrauen der Parteien in den Fortbestand dieser Auffassung rechtfertigte. | |
2. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts beruht auf dem Fehlen eines Hinweises auf die gewandelte Rechtsauffassung. | |
Die Möglichkeit einer anderen, für die Beschwerdeführer günstigen Entscheidung hätte sich aus weiterem tatsächlichen und rechtlichen Vortrag zur Zulassung der Revision gemäß § 546 Abs.1 ZPO aF ergeben können. Außerdem hätten die Beschwerdeführer auf Grund eines rechtzeitigen Hinweises die Möglichkeit gehabt, die Entscheidung des Gerichts durch eine Klageerweiterung revisibel zu machen, mithin durch eigenes prozessuales Verhalten den Zugang zu einer weiteren Instanz und zu einer Sachprüfung ihres Rechtsmittels zu erhalten. Denn gemäß § 545 Abs.1, § 546 Abs.1 ZPO aF bedurfte es einer Entscheidung zur Zulassung der Revision nur bei Urteilen, die einer Partei eine Beschwer von nicht mehr als 60.000 DM auferlegten. | |
3. Da die oberlandesgerichtliche Entscheidung bereits wegen des Gehörsverstoßes aufzuheben ist, braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob das Vorgehen des Oberlandesgerichts auch den Anspruch der Beschwerdeführer auf ein faires Verfahren (vgl BVerfGE_78,123 <126>) verletzt. II. | |
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs steht mit dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Justizgewährungsanspruch in Verbindung mit Art.103 Abs.1 GG nicht im Einklang. Sie beruht auf der Anwendung der Zivilprozessordnung in der Fassung, die bis zum 31.Dezember 2001 galt. Diese war mit dem Justizgewährungsanspruch unvereinbar, soweit in ihr eine Möglichkeit des Rechtsschutzes gegen Verletzungen des rechtlichen Gehörs durch oberlandesgerichtliche Berufungsurteile außerhalb der streitwertabhängigen Revision nicht vorgesehen war. Gleiches gilt für die seit dem 1.Januar 2002 geltende Gesetzesfassung, soweit sie eine solche Rechtsschutzmöglichkeit nicht vorsieht. Allerdings ist die bisherige Rechtslage in einer Übergangszeit bis zum 31.Dezember 2004 noch hinzunehmen. | |
1. Wie das Plenum des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 30.April 2003 (BVerfG, NJW 2003, S.1924) entschieden hat, verstößt es gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art.103 Abs.1 GG, wenn eine Verfahrensordnung bei entscheidungserheblichen Verstößen gegen das Verfahrensgrundrecht des Art.103 Abs.1 GG keine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit vorsieht. | |
Die grundgesetzliche Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes, die nicht nur von Art.19 Abs.4 GG, sondern auch vom allgemeinen Justizgewährungsanspruch umfasst ist, sichert den Zugang zu den Gerichten, die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die verbindliche gerichtliche Entscheidung. Das Grundgesetz sichert rechtliches Gehör im gerichtlichen Verfahren durch das Verfahrensgrundrecht des Art.103 Abs.1 GG. Garantiert ist den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Insbesondere sichert das Verfahrensgrundrecht, dass sie mit Ausführungen und Anträgen gehört werden. Dementsprechend bedeutsam für den Rechtsschutz ist die Möglichkeit der Korrektur einer fehlerhaften Verweigerung rechtlichen Gehörs. Dies setzt die Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle der Beachtung des Verfahrensgrundrechts voraus. Das Risiko eines unendlichen Rechtswegs besteht nicht, da der Justizgewährungsanspruch nicht auch die Möglichkeit einer erneuten Kontrolle der Entscheidung garantiert, durch die der behauptete Rechtsverstoß überprüft wird. | |
Ist ein Verstoß gegen das Verfahrensgrundrecht aus Art.103 Abs.1 GG erfolgt, ermöglicht erst die Beseitigung dieses Verstoßes das Gehörtwerden im Verfahren. Die Überprüfung hat die Fachgerichtsbarkeit selbst vorzunehmen, der die rechtsprechende Gewalt in erster Linie anvertraut ist. Die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht eröffnet wegen des Grundsatzes der Subsidiarität (§ 90 Abs.2 Satz 1 BVerfGG) und des in den §§ 93a ff BVerfGG normierten Annahmeverfahrens für sich allein keine ausreichende Rechtsschutzmöglichkeit für die Beseitigung solcher Gehörsverstöße (vgl BVerfG, NJW 2003, S.1924 <1927 f>). | |
2. Die Zivilprozessordnung in der Fassung, die bis zum 31.Dezember 2001 galt, entsprach diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen insoweit nicht, als die Rüge der Verletzung des Verfahrensgrundrechts weder im allgemeinen Rechtsmittelverfahren noch mit Hilfe eines besonderen Rechtsbehelfs erhoben werden konnte. | |
Nach den §§ 545 bis 547 ZPO aF konnte eine Gehörsverletzung durch ein oberlandesgerichtliches Berufungsurteil nur im Rahmen einer ohnehin zulässigen Revision geltend gemacht werden. Dieses Rechtsmittel stand nicht zur Verfügung, wenn - wie hier - weder die Summe der Beschwer von 60.000 DM überschritten wurde noch das Oberlandesgericht die Revision zugelassen hatte. Die Gehörsverletzung selbst war kein eigenständiger Zulassungsgrund. Auch außerhalb der Revisionsvorschriften sah die Zivilprozessordnung insoweit keinen Rechtsbehelf zur Abhilfe von Gehörsverstößen vor. | |
Um Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem zu schließen, sind von der Rechtsprechung teilweise außerhalb des geschriebenen Rechts außerordentliche Rechtsbehelfe geschaffen worden (vgl den Überblick bei Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 22.Aufl, 2001, Einl Rn.103). Diese genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit jedoch nicht. Rechtsbehelfe müssen in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für den Bürger erkennbar sein (vgl BVerfG, NJW 2003, S.1924 <1928 f>). Das war für die Überprüfung einer behaupteten Verletzung des Verfahrensgrundrechts aus Art.103 Abs.1 GG im Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht nicht der Fall. Da eine Rechtsbehelfsregelung fehlte, konnte der Bundesgerichtshof die Revision nicht zulassen. Allerdings verstieß die seinem Beschluss zu Grunde liegende Ausgestaltung der Zivilprozessordnung gegen den Justizgewährungsanspruch. Die Zurückweisung des Rechtsmittels der Beschwerdeführer beruhte auf der Anwendung einer Verfahrensordnung, die eine ausreichende Rechtsschutzmöglichkeit bei Gehörsverletzungen durch oberlandesgerichtliche Berufungsurteile nicht vorsah. | |
3. Mit der seit dem 1.Januar 2002 geltenden Neuregelung der Revisionszulassung (§ 543 Abs.2 ZPO) soll nach der Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zwar auch die Möglichkeit zur Überprüfung von behaupteten Verstößen gegen das Verfahrensgrundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs eröffnet werden (vgl BTDrucks 14/4722, S.67, 104). Der Gesetzgeber hat insofern jedoch keinen eigenständigen Revisionsgrund geschaffen. Verstöße gegen Art. 103 Abs. 1 GG können deshalb nur gerügt werden, wenn sie zu einem der allgemeinen Revisionszulassungsgründe des § 543 Abs.2 ZPO führen. Die Klärung, wie weit die Möglichkeit der Revision reicht, ist Aufgabe der Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von § 543 Abs.2, § 544 ZPO. Nach der, im Einzelnen bisher allerdings nicht einheitlichen, Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl die Beschlüsse des V.Zivilsenats, BGH, NJW 2002, S.2957; NJW 2003, S.1943 <1946> und den Beschluss des XI.Zivilsenats, BGH, NJW 2003, S. 65 <68>) ist die Möglichkeit einer Revisionszulassung zur Überprüfung von Verstößen gegen Art.103 Abs.1 GG offenbar begrenzt. | |
4. Der Gesetzgeber ist nach der Entscheidung des Plenums verpflichtet, Lücken im Rechtsschutz gegenüber Gehörsverstößen zu schließen. Dies muss nicht notwendig zu einer Veränderung der Vorschriften über die Revisionszulassung führen. Es bleibt vielmehr der Entscheidung des Gesetzgebers überlassen, ob er den verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsschutz zur Wahrung des Art.103 Abs.1 GG durch die Möglichkeit einer Selbstkorrektur durch das Ausgangsgericht (iudex a quo) oder durch die Möglichkeit der Anrufung eines Rechtsmittelgerichts (iudex ad quem) eröffnet (vgl BVerfG, NJW 2003, S.1924 <1927 f>). | |
In der Übergangszeit bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, die spätestens zum 31.Dezember 2004 zu erfolgen hat, kann die bisherige Rechtslage unter Einschluss der von der Rechtsprechung entwickelten außerordentlichen Rechtsbehelfe hingenommen werden. Sollte der Gesetzgeber keine rechtzeitige Neuregelung treffen, besteht nach Ablauf der erwähnten Frist die Möglichkeit, einen Antrag zu stellen, das Verfahren vor dem Gericht fortzusetzen, dessen Entscheidung wegen einer behaupteten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör angegriffen wird. Dieser Antrag ist binnen 14 Tagen seit Zustellung der Entscheidung zu stellen (vgl BVerfG, NJW 2003, S.1924 <1928 f>). | |
Da die geltende Rechtslage bis zum Ablauf der genannten Übergangsfrist noch hinzunehmen ist, können auch Entscheidungen, die - wie der angegriffene Beschluss des Bundesgerichtshofs - nach dem bis zum 31.Dezember 2001 maßgeblich gewesenen Recht ergangen sind, verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden. Die Verfassungsbeschwerde ist deshalb insoweit, als sie sich gegen diese Entscheidung richtet, zurückzuweisen (vgl BVerfGE_103,1 <20>)." | |
Auszug aus BVerfG B, 07.10.03, - 1_BvR_10/99 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.12 ff | |
§§§ | |
03.040 | Ehegattensplitting |
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Zur Berücksichtigung steuerlicher Vorteile aus dem Ehegattensplitting bei der Bemessung des an den ehemaligen Ehegatten zu leistenden Unterhalts. | |
LB 2) Art.6 Abs.1 GG begründet als wertentscheidende Grundsatznorm für den gesamten Bereich des die Ehe betreffenden privaten und öffentlichen Rechts die Pflicht des Staates, die Ehe zu schützen und zu fördern | |
LB 3) Dabei gilt dieser Schutz unterschiedslos jeder Ehe (vgl BVerfGE_55,114 <128 f>). | |
LB 4) Nicht nur die bestehende Ehe, sondern auch die Folgewirkungen einer geschiedenen Ehe werden durch Art.6 Abs.1 GG geschützt (vgl BVerfGE_53,257 <296>). | |
LB 5) Wegen der Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit einer geschiedenen mit einer erneut geschlossenen Ehe bei jeweils unterschiedlichen, auch widerstreitenden Interessenlagen, die aus ihrer Aufeinanderfolge herrühren und die es gleichermaßen zu schützen gilt, lassen sich aus Art.6 Abs.1 GG für die Ausgestaltung der jeweiligen Rechtspositionen durch den Gesetzgeber keine besonderen Anforderungen herleiten (vgl BVerfGE_66,84 <94 f>). | |
LB 6) Der Gesetzgeber kann grundsätzlich selbst bestimmen, auf welche Weise er den ihm aufgetragenen Schutz der Ehe unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Ehekonstellationen verwirklichen will (vgl BVerfGE_87,1 <36>). | |
LB 7) Zu prüfen ist lediglich, ob es für eine Verschiedenbehandlung von Ehen durch den Gesetzgeber hinreichende Gründe gibt. | |
LB 8) Da Art.6 Abs.1 GG auch der geschiedenen Ehe Schutz zukommen lässt, der sich auf Unterhaltsansprüche nach der Scheidung als Folgewirkung der personalen Verantwortung der Ehegatten füreinander erstreckt, ist es, wie das Bundesverfassungsgericht schon entschieden hat (vgl BVerfGE_66,84), verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber beim Aufeinandertreffen von Unterhaltsansprüchen aus der geschiedenen und aus der neuen Ehe eines Unterhaltspflichtigen dem geschiedenen Unterhaltsberechtigten mit § 1582 BGB einen Vorrang eingeräumt hat. | |
LB 9) Ebenso aber kann der Gesetzgeber einer bestehenden Ehe Vorteile einräumen, die er einer geschiedenen Ehe vorenthält. Nur bei zusammenlebenden Ehegatten kann er davon ausgehen, dass sie grundsätzlich zusammen eine Gemeinschaft des Erwerbs und Verbrauchs bilden, in der die Ehegatten jeweils an den Einkünften wie Lasten des anderen teilhaben (vgl BVerfGE_61,319 <345 f>). | |
LB 10) Steuerliche Vorteile, deren Entstehen vom Eheschluss ausgelöst werden, die das Zusammenleben der Ehegatten voraussetzen und die der Gesetzgeber in Konkretisierung seines Schutzauftrags allein der bestehenden Ehe einräumt, dürfen ihr durch die Gerichte nicht dadurch wieder entzogen werden, dass sie der geschiedenen Ehe zugeordnet werden und über die Unterhaltsberechnung auch den Unterhalt des geschiedenen Ehegatten erhöhen. | |
LB 11) Die angegriffenen Urteile verkennen Art.6 Abs.1 GG schon allein deshalb, weil sie einen steuerlichen Vorteil, der sich aus dem Steuersplitting gemäß § 32a Abs.5 EStG ergeben kann, der geschiedenen Ehe haben zukommen lassen. | |
* * * | |
Beschluss | Entscheidungsformel:
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T-03-19 | Ehegattensplitting |
"Die zulässigen Verfassungsbeschwerden sind auch begründet. Die angegriffenen Entscheidungen halten der verfassungsgerichtlichen Prüfung am Maßstab des Art.6 Abs.1 GG nicht stand. I. | |
Der vom Gesetzgeber einerseits der geschiedenen Ehe durch die Unterhaltsregelungen und andererseits der bestehenden Ehe durch die steuerrechtlichen Regelungen gewährte Schutz steht mit der Gleichwertigkeit von Ehen nach Art.6 Abs.1 GG in Einklang (1 und 2). Steuerliche Vorteile, die in Konkretisierung des Schutzauftrags aus Art.6 Abs.1 GG gesetzlich allein der bestehenden Ehe eingeräumt sind, dürfen ihr durch die Gerichte nicht wieder entzogen und an die geschiedene Ehe weitergegeben werden (3). | |
1. Art.6 Abs.1 GG begründet als wertentscheidende Grundsatznorm für den gesamten Bereich des die Ehe betreffenden privaten und öffentlichen Rechts die Pflicht des Staates, die Ehe zu schützen und zu fördern (vgl BVerfGE_6,55 <76>; BVerfGE_28,104 <113>; BVerfGE_82,60 <81>; BVerfGE_87,1 <35>; BVerfGE_105,313 <346>). Dabei gilt dieser Schutz unterschiedslos jeder Ehe (vgl BVerfGE_55,114 <128 f>). Nicht nur die bestehende Ehe, sondern auch die Folgewirkungen einer geschiedenen Ehe werden durch Art.6 Abs.1 GG geschützt (vgl BVerfGE_53,257 <296>). Wegen der Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit einer geschiedenen mit einer erneut geschlossenen Ehe bei jeweils unterschiedlichen, auch widerstreitenden Interessenlagen, die aus ihrer Aufeinanderfolge herrühren und die es gleichermaßen zu schützen gilt, lassen sich aus Art.6 Abs.1 GG für die Ausgestaltung der jeweiligen Rechtspositionen durch den Gesetzgeber keine besonderen Anforderungen herleiten (vgl BVerfGE 66,84 <94 f>). Der Gesetzgeber kann grundsätzlich selbst bestimmen, auf welche Weise er den ihm aufgetragenen Schutz der Ehe unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Ehekonstellationen verwirklichen will (vgl BVerfGE_87,1 <36>). Zu prüfen ist lediglich, ob es für eine Verschiedenbehandlung von Ehen durch den Gesetzgeber hinreichende Gründe gibt. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht nicht zu entscheiden, ob der Gesetzgeber die gerechteste oder zweckmäßigste Regelung getroffen, sondern ob er die Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit gewahrt hat (vgl BVerfGE_52,277 <281>), die auch mit dem Grundsatz der Gleichwertigkeit der Ehen durch Art.6 Abs.1 GG gesetzt sind. | |
2. a) Da Art.6 Abs.1 GG auch der geschiedenen Ehe Schutz zukommen lässt, der sich auf Unterhaltsansprüche nach der Scheidung als Folgewirkung der personalen Verantwortung der Ehegatten füreinander erstreckt, ist es, wie das Bundesverfassungsgericht schon entschieden hat (vgl BVerfGE_66,84 ), verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber beim Aufeinandertreffen von Unterhaltsansprüchen aus der geschiedenen und aus der neuen Ehe eines Unterhaltspflichtigen dem geschiedenen Unterhaltsberechtigten mit § 1582 BGB einen Vorrang eingeräumt hat. Er hat damit dem Umstand Rechnung getragen, dass der Anspruch des geschiedenen Ehegatten schon bestanden hat, bevor die neue Ehe eingegangen worden ist, beide neuen Ehepartner von dieser wirtschaftlichen Last aus der ersten Ehe gewusst haben und sich insoweit darauf haben einrichten können (vgl BVerfG, aaO, S.98). Dies sind nach wie vor hinreichende Gründe, die die unterschiedliche unterhaltsrechtliche Behandlung von geschiedenen und verheirateten Unterhaltsberechtigten rechtfertigen. | |
b) Ebenso aber kann der Gesetzgeber einer bestehenden Ehe Vorteile einräumen, die er einer geschiedenen Ehe vorenthält. Nur bei zusammenlebenden Ehegatten kann er davon ausgehen, dass sie grundsätzlich zusammen eine Gemeinschaft des Erwerbs und Verbrauchs bilden, in der die Ehegatten jeweils an den Einkünften wie Lasten des anderen teilhaben (vgl BVerfGE_61,319 <345 f>). Nur in dieser Erwerbsgemeinschaft erbringt auch der Nichterwerbstätige einen Beitrag zum gemeinsamen Lebensunterhalt. | |
3. Steuerliche Vorteile, deren Entstehen vom Eheschluss ausgelöst werden, die das Zusammenleben der Ehegatten voraussetzen und die der Gesetzgeber in Konkretisierung seines Schutzauftrags allein der bestehenden Ehe einräumt, dürfen ihr durch die Gerichte nicht dadurch wieder entzogen werden, dass sie der geschiedenen Ehe zugeordnet werden und über die Unterhaltsberechnung auch den Unterhalt des geschiedenen Ehegatten erhöhen. | |
a) Die Auslegung und Anwendung gesetzlicher Vorschriften ist Sache der Fachgerichte. Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert insoweit nur, ob - von Verstößen gegen das Willkürverbot abgesehen - bei Auslegung und Anwendung einfachen Rechts der Einfluss der Grundrechte grundlegend verkannt ist (vgl BVerfGE_18,85 <92 f, 96>; BVerfGE_85,248 <257 f>). Dies gilt auch für Normen, die der Gesetzgeber zur Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes erlassen hat (vgl BVerfGE_53,30 <57 f>). Bei Vorschriften, die grundrechtliche Schutzpflichten erfüllen sollen, ist das maßgebende Grundrecht dann verletzt, wenn ihre Auslegung und Anwendung den vom Grundrecht vorgezeichneten Schutzzweck grundlegend verfehlen (vgl BVerfGE_89,276 <285 f>). | |
Differenziert der Gesetzgeber in Erfüllung und Ausgestaltung seiner Verpflichtung aus Art.6 Abs.1 GG zwischen geschiedenen und bestehenden Ehen und gewährt er ihnen unterschiedliche Vorteile, mit denen er ihrer jeweiligen Bedarfslage gerecht werden will, haben die Gerichte dies bei ihren Entscheidungen zu beachten. Das folgt aus dem Gebot des Art.6 Abs.1 GG, jeder Ehe Schutz zukommen zu lassen, der in der jeweiligen gesetzlichen Ausformung seine Konkretisierung findet. | |
b) Mit dem Geschiedenenunterhalt hat der Gesetzgeber zwar der personalen Verantwortung der Ehegatten auch nach der Scheidung Ausdruck verliehen und die Unterhaltslast des gegenüber seinem geschiedenen Ehegatten Unterhaltspflichtigen auch dessen neuer Ehe aufgebürdet. Er hat jedoch mit § 1578 Abs.1 Satz 1 BGB das Maß des Unterhalts eines geschiedenen Ehegatten an den ehelichen Lebensverhältnissen ausgerichtet und damit auf diejenige Einkommenssituation beschränkt, die die Ehe der früheren Ehegatten bis zu deren Scheidung bestimmt hat. Dies schließt es nach dem Willen des Gesetzgebers aus, solche Vorteile bei der Bemessung des nachehelichen Unterhalts zu berücksichtigen, die nicht aus der geschiedenen Ehe herrühren und weiterbestehen, sondern erst mit einem neuen Eheschluss entstanden sind. | |
c) Die Ausgangsfälle bieten keinen Anlass, zu den Verfassungsfragen des Ehegattensplittings Stellung zu nehmen, denn sie sind nicht entscheidungserheblich. Die angegriffenen Urteile verkennen Art.6 Abs.1 GG schon allein deshalb, weil sie einen steuerlichen Vorteil, der sich aus dem Steuersplitting gemäß § 32a Abs.5 EStG ergeben kann, der geschiedenen Ehe haben zukommen lassen. | |
Der Gesetzgeber hat den Vorteil, der aus dem Steuersplitting folgen kann, der bestehenden Ehe von gemeinsam steuerlich veranlagten und zusammenlebenden Ehegatten zugewiesen. Der Splittingtarif kommt deshalb zum Wegfall, wenn die Eheleute dauerhaft getrennt leben oder sich scheiden lassen. Um eine gleichzeitig mit dem Wegfall des Splittingvorteils durch einen Unterhaltsanspruch des getrennt lebenden oder geschiedenen Ehegatten eintretende Belastung des Unterhaltspflichtigen steuerlich aufzufangen, hat der Gesetzgeber geschiedenen Ehegatten die Möglichkeit des Realsplittings eingeräumt, die so lange eröffnet ist, wie die Unterhaltsverpflichtung besteht, ungeachtet einer Wiederheirat des Unterhaltspflichtigen. Geht dieser aber eine neue Ehe ein, ist dies bei Zusammenveranlagung der Ehegatten anspruchsbegründender Tatbestand für den Eintritt eines möglichen Splittingvorteils. Dabei handelt es sich nicht um ein Wiederaufleben des steuerlichen Splittingvorteils, in dessen Genuss die geschiedenen Ehegatten bei Bestehen ihrer Ehe gekommen waren oder hätten kommen können. Vielmehr entsteht mit der neuen Ehe eine neue Einkommenskonstellation zwischen den nunmehr miteinander verbundenen Ehegatten, die maßgeblich dafür ist, ob und inwieweit ihre Ehe durch das Splittingverfahren steuerliche Vorteile erfährt. Der neuen Ehe und nicht der geschiedenen Ehe des wiederverheirateten Unterhaltspflichtigen soll also eine steuerliche Entlastung zuteil werden. Dass diese Entlastung und das der neuen Ehe insoweit steuerlich belassene Einkommen auch der Abdeckung von Verpflichtungen der Ehegatten dienen können und damit gegebenenfalls auch der Pfändung unterliegen, ändert nichts daran, dass der Gesetzgeber die steuerliche Entlastung der neuen Ehe und nicht der geschiedenen Ehe zugewiesen hat. Hätte er unterhaltsrechtlich die Zuordnung zur geschiedenen Ehe beabsichtigt, hätte er dies ausdrücklich gesetzlich regeln müssen. Dies hat er aber gerade nicht getan, sondern ausschließlich bestehenden Ehen den Splittingvorteil eingeräumt und geschiedene Ehen auf das Realsplitting verwiesen. Eine solche gesetzgeberische Ausgestaltung entspricht dem Schutzauftrag nach Art.6 Abs.1 GG, der auch bei der Auslegung von § 1578 Abs.1 Satz 1 BGB zu beachten ist. II. | |
1. Dies haben die Gerichte bei der Interpretation von § 1578 Abs.1 Satz 1 BGB in den mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Entscheidungen grundlegend verkannt. Sie haben den neuen Ehen der Beschwerdeführer den Schutz nach Art.6 Abs.1 GG, der ihnen in Ausformung dieses grundgesetzlichen Auftrags durch den Gesetzgeber zukommt, dadurch entzogen, dass sie bei der Bemessung des Unterhaltsbedarfs das um den Splittingvorteil für die neue Ehe erhöhte Einkommen des wiederverheirateten Unterhaltspflichtigen real berücksichtigt oder fiktiv in Ansatz gebracht haben, weil sie der Auffassung sind, dieser Vorteil müsse auch der geschiedenen Ehefrau des Unterhaltspflichtigen zugute kommen. Sie haben zugleich den der neuen Ehe gewährten Steuervorteil der geschiedenen Ehe zugute gebracht, obwohl der Gesetzgeber damit gerade der nunmehr bestehenden neuen Ehe den Schutz hat zukommen lassen wollen, der auch ihr nach Art.6 Abs.1 GG gebührt. | |
a) Es gibt keinen Grund für die Annahme, Vorteile, die der neuen Ehe eines geschiedenen Unterhaltspflichtigen erwachsen, seien schon in dessen früherer Ehe angelegt gewesen und hätten die Lebensverhältnisse der nunmehr Geschiedenen bestimmt. Zwar hat in den letzten Jahrzehnten die Scheidungsrate und damit auch die Zahl von Wiederverheiratungen zugenommen. Es wäre aber schon wegen der Dauerhaftigkeit, die die Ehe grundsätzlich auszeichnet, unzulässig und würde auch durch keine Anhaltspunkte in der Wirklichkeit gestützt, wenn man deshalb unterstellen wollte, mit einer eingegangenen Ehe sei zugleich deren mögliches Scheitern sowie eine darauf folgende neue Ehe mitgedacht und würden nicht nur das Verhalten der Ehegatten, sondern auch deren Einkommensverhältnisse geprägt. | |
b) Der geschiedene unterhaltsberechtigte Ehegatte erfährt auch keine Benachteiligung durch ein Belassen des Steuervorteils bei der neuen Ehe. Sein Unterhaltsanspruch bleibt dem des mit dem Unterhaltspflichtigen nunmehr Verheirateten vorrangig, bemisst sich allerdings allein an der Einkommenssituation in der geschiedenen Ehe. Dass dabei nicht mehr der Steuervorteil Berücksichtigung findet, der auch der geschiedenen Ehe während ihres Bestehens zugeflossen sein kann, ist Folge der Regelung, nach der die gemeinsame steuerliche Veranlagung nur bei zusammenlebenden Ehegatten erfolgen kann, und nicht Folge der Wiederverheiratung des Unterhaltspflichtigen. | |
c) Schließlich können auch Praktikabilitätserwägungen nicht rechtfertigen, der neuen Ehe des Unterhaltspflichtigen den ihr in Ausgestaltung des Schutzes aus Art.6 Abs.1 GG vom Gesetzgeber zugedachten Steuervorteil dadurch zu entziehen, dass der Unterhaltspflichtige auch mit diesem Vorteil zur Unterhaltszahlung an seinen geschiedenen Ehegatten herangezogen wird. Zwar ist es für die Unterhaltsberechnung einfacher, vom tatsächlich erzielten Nettoeinkommen des Unterhaltspflichtigen auszugehen, das der monatlichen Gehaltsabrechnung entnommen werden kann. Die Rechtsprechung stellt aber diese Erwägungen selbst hintan, wenn die in der neuen Ehe des Unterhaltspflichtigen gewählte Steuerklassenkombination nicht vorrangig bei diesem den Splittingvorteil schon beim monatlichen Steuerabzug eintreten lässt, und berechnet hier das der Unterhaltsbemessung zugrunde zu legende Einkommen fiktiv. Ebenso verfährt sie, wenn ein Mangelfall vorliegt. Auch im Übrigen ist aber eine etwas schwierigere, jedoch mögliche und durch Technik und Programme unterstützte Berechnung kein hinreichender Grund, Steuervorteile in Abweichung von der gesetzgeberischen Absicht zuzuordnen. | |
2. a) Den Verfassungsbeschwerden ist deshalb stattzugeben. Soweit die mit ihnen angegriffenen Entscheidungen auf der Verkennung von Art.6 Abs.1 GG beruhen, sind sie nach § 95 Abs.2 BVerfGG aufzuheben. Im Verfahren 1_BvR_246/93 wird die Sache an das Oberlandesgericht, im Verfahren 1 BvR 2298/94 an das Amtsgericht zurückverwiesen. Die Gerichte werden sicherzustellen haben, dass der den neuen Ehen der Beschwerdeführer eingeräumte Splittingvorteil auch bei diesen verbleibt. Wie sie dies vornehmen, haben sie zu entscheiden. | |
b) Mit der Aufhebung werden die angegriffenen Entscheidungen rückwirkend beseitigt und das Ausgangsverfahren in den Stand vor ihrem Erlass zurückversetzt. Bei einer etwaigen Rückforderung überzahlten Unterhalts seitens der Beschwerdeführer haben die Fachgerichte gegebenenfalls zu prüfen, ob sich die Unterhaltsberechtigten auf den Wegfall der Bereicherung berufen können (vgl dazu BGH, FamRZ 1998, S.951; NJW 2000, S.740). | |
Für Unterhaltstitel, die nicht Gegenstand der Verfassungsbeschwerdeverfahren sind, folgt die auf die Zukunft beschränkte Rechtsfolgenwirkung aus § 323 Abs.3 Satz 1 ZPO beziehungsweise aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl NJW 2001, S.3618 <3621>; NJW 2003, S.1181 <1182>)." | |
Auszug aus BVerfG B, 07.10.03, - 1_BvR_246/93 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.30 ff | |
§§§ | |
03.041 | Briefbeförderung |
| |
1) Die Ermächtigung zur Übertragung ausschließlicher Rechte für die Erbringung von Postdienstleistungen nach Art.143b Abs.2 Satz 1 GG verdrängt Art.12 Abs.1 GG in dem monopolisierten Bereich. | |
2) Art.87f Abs.2 Satz 1 GG legt die Erbringung von Postdienstleistungen nicht uneingeschränkt auf das Wettbewerbsprinzip fest. | |
3) Die übergangsweise Einräumung von Ausschließlichkeitsrechten an die Deutsche Post AG im Bereich der Beförderung von Briefen und adressierten Katalogen durch die Regelungen des Postgesetzes ist mit Art.143b Abs.2 Satz 1 GG vereinbar. | |
§§§ | |
03.042 | Bund-Länder-Streit |
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Wird in einer Streitigkeit zwischen dem Bund und einem Land zunächst das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 50 Abs.1 Nr.1 VwGO angerufen und stellt das Bundesverfassungsgericht auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts gemäß § 50 Abs.3 VwGO den verfassungsrechtlichen Charakter der Streitigkeit fest, ist die für verfassungsrechtliche Streitigkeiten im Sinne von § 13 Nr.7 BVerfGG geltende Antragsfrist gemäß § 69, § 64 Abs.3 BVerfGG nur dann gewahrt, wenn die Klage zum Bundesverwaltungsgericht binnen sechs Monaten nach Bekanntwerden der beanstandeten Maßnahme oder Unterlassung erhoben worden ist. | |
§§§ | |
03.043 | Einweisungsverfügung |
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LB 1) Da das Amt im statusrechtlichen Sinne sowohl bei einem Beamten als auch bei einem Richter unter anderem durch die Besoldungsgruppe mit ihrem Endgrundgehalt bestimmt wird, handelt es sich auch um mehrere Ämter im statusrechtlichen Sinne, wenn dieselbe Amtsbezeichnung in mehreren Besoldungsgruppen aufgeführt ist. Gemäß § 19 Abs.1 Satz 2 BBesG bestimmt sich dann das Grundgehalt nach der Besoldungsgruppe, die in der Einweisungsverfügung genannt ist. | |
LB 2) Damit kann aber die Einweisungsverfügung in diesen Fällen nicht nur haushaltsrechtliche, sondern eine den Status des Beamten oder Richters berührende, rechtsbegründende Bedeutung haben. Für die erstmalige Übertragung eines Amtes mit einer mehreren Besoldungsgruppen zugewiesenen Amtsbezeichnung wird angenommen, dass - wenn die Besoldungsgruppe nicht in einem gesonderten Verwaltungsakt benannt wird - die Einweisungsverfügung den Ernennungsakt hinsichtlich der Besoldungsgruppe konkretisiert und so einen die Ernennung ergänzenden Verwaltungsakt darstellt. | |
LB 3) Für den Parallelfall, dass unter Beibehaltung der Amtsbezeichnung eine andere, höhere Besoldungsgruppe zugewiesen wird, wird in der Einweisungsverfügung ein ernennungsähnlicher (oder beförderungsgleicher) Verwaltungsakt gesehen, der zwar nicht der Form der Ernennung bedarf, aber ebenfalls den Status berührt. | |
LB 4) In beiden Fällen hat dies zum einen die prozessuale Folge, dass die Klage auf "Einweisung" hier nicht als allgemeine Leistungsklage, sondern nur als Verpflichtungsklage zulässig ist. | |
LB 5) Die in besonderen Fällen mit der Einweisung verbundene beamtenrechtliche Statusbestimmung oder -änderung kann nicht rückwirkend erfolgen. | |
* * * | |
T-03-20 | Rückwirkende Einweisung |
"2. Das vorlegende Gericht verhält sich nicht zu der Frage, ob die vom Kläger mit dem Hauptantrag verfolgte rückwirkende Einweisung in die Besoldungsgruppe R 8 zum 1.Februar 1996 und Bezahlung von Bezügen nach R 8 ab 1.Februar 1996 rechtlich überhaupt möglich wäre, obwohl dies als höchst zweifelhaft erscheint. | |
Der Vorlagebeschluss knüpft den Zahlungsanspruch entsprechend dem Wortlaut des Hauptantrags an eine entsprechende Einweisung in die Besoldungsgruppe R 8 zum 1.Februar 1996. Die Klage auf rückwirkende Einweisung soll in Form der allgemeinen Leistungsklage zulässig sein, weil die Einweisung eine interne haushaltsrechtliche Maßnahme ohne Außenwirkung sei (Vorlagebeschluss S.6). Schon hier fehlt jede Auseinandersetzung mit der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung, dass die Einweisung in eine Besoldungsgruppe dann eine Doppelnatur haben kann, wenn ein Amt und eine Amtsbezeichnung nach der Besoldungsordnung mehreren Besoldungsgruppen zugeordnet ist (vgl Schwegmann/Summer, Bundesbesoldungsgesetz, Bd.II, Stand: April 2003, § 19 BBesG Rn.8; für beförderungsgleiche Maßnahmen: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 2.Dezember 1975, ZBR 1976, S.155 f.; Clemens/Millack/Engelking/Lantermann/Henkel, Besoldungsrecht des Bundes und der Länder, Bd.I, Stand: April 2003, § 3 BBesG Anm.3 a). Da das Amt im statusrechtlichen Sinne sowohl bei einem Beamten als auch bei einem Richter unter anderem durch die Besoldungsgruppe mit ihrem Endgrundgehalt bestimmt wird (Clemens/Millack/Engelking/Lantermann/Henkel, aaO, § 18 Anm.4.1; Plog/Wiedow/Lemhöfer/Bayer, Kommentar zum Bundesbeamtengesetz, Bd.1, Stand: Juli 2003, § 6 Rn.16 jeweils mwN; vgl. auch Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz, 5.Auflage, 1995, § 27 Rn.5), handelt es sich auch um mehrere Ämter im statusrechtlichen Sinne, wenn dieselbe Amtsbezeichnung in mehreren Besoldungsgruppen aufgeführt ist (Schwegmann/Summer, aaO, § 19 BBesG Rn.8 a). Gemäß § 19 Abs.1 Satz 2 BBesG bestimmt sich dann das Grundgehalt nach der Besoldungsgruppe, die in der Einweisungsverfügung genannt ist. Damit kann aber die Einweisungsverfügung in diesen Fällen nicht nur haushaltsrechtliche, sondern eine den Status des Beamten oder Richters berührende, rechtsbegründende Bedeutung haben. Für die erstmalige Übertragung eines Amtes mit einer mehreren Besoldungsgruppen zugewiesenen Amtsbezeichnung (zB Präsident des Landesarbeitsgerichts) wird angenommen, dass - wenn die Besoldungsgruppe nicht in einem gesonderten Verwaltungsakt benannt wird - die Einweisungsverfügung den Ernennungsakt hinsichtlich der Besoldungsgruppe konkretisiert und so einen die Ernennung ergänzenden Verwaltungsakt darstellt (Schwegmann/Summer, aaO, § 19 BBesG Rn.8 b). Für den Parallelfall, dass unter Beibehaltung der Amtsbezeichnung eine andere, höhere Besoldungsgruppe zugewiesen wird (also etwa der Präsident des Landesarbeitsgerichts von der Besoldungsgruppe R 6 in die Besoldungsgruppe R 8 eingewiesen wird), wird in der Einweisungsverfügung ein ernennungsähnlicher (oder beförderungsgleicher) Verwaltungsakt gesehen, der zwar nicht der Form der Ernennung bedarf, aber ebenfalls den Status berührt (Schwegmann/Summer, aaO, § 19 BBesG Rn.8c und Bd.I, § 3 BBesG Rn.6; Clemens/Millack/Engelking/Lantermann/Henkel, aaO, § 3 Anm.3 a; Weiß/Niedermaier/Summer/Zängl, Bayerisches Beamtengesetz, Bd. I, Stand: April 2003, Art.7 Anm.5 b und 9 g). In beiden Fällen hat dies zum einen die prozessuale Folge, dass die Klage auf "Einweisung" hier nicht als allgemeine Leistungsklage, sondern nur als Verpflichtungsklage zulässig ist. Vor allem aber ist als weitere Konsequenz zu beachten, dass die in diesen besonderen Fällen mit der Einweisung verbundene beamtenrechtliche Statusbestimmung oder -änderung nicht rückwirkend erfolgen kann. Das Verbot rückwirkender Statusbegründungen oder -änderungen gilt nach herrschender Auffassung als allgemeiner beamtenrechtlicher Grundsatz nicht nur für die Ernennung (vgl § 5 Abs.4 BRRG, § 12 Abs.3 Satz 2 LBG-BW für Beamte und § 8 LRiG-BW iVm § 12 Abs.3 S.2 LBG-BW für Richter des Landes Baden-Württemberg), sondern auch für den die Ernennung durch Konkretisierung der Besoldungsgruppe ergänzenden Verwaltungsakt und für ernennungsähnliche Verwaltungsakte (vgl. Schwegmann/Summer, a.a.O., § 3 BBesG Rn. 6 aE; Plog/Wiedow/Lemhöfer/Bayer, aaO, § 10 Rn.15 a, 16). Soweit die Bundes- und Landeshaushaltsordnungen (§ 49 Abs.2 BHO, § 49 Abs.2 LHO-BW) die Möglichkeit rückwirkender Einweisungen in besetzbare Planstellen vorsehen, handelt es sich nicht um Statusänderungen für die Vergangenheit, sondern um rein besoldungsrechtliche Maßnahmen, die im Übrigen auf einen Rückwirkungszeitraum von maximal drei Monaten begrenzt sind (Plog/Wiedow/Lemhöfer/Bayer, aaO, § 10 Rn.16; Schwegmann/Summer, aaO, § 3 BBesG Rn.6 aE). | |
Angewandt auf den Fall des Ausgangsverfahrens bedeutet dies: Da die Amtsbezeichnung "Präsident des Landesarbeitsgerichts" zum damaligen Zeitpunkt zwei Besoldungsgruppen (R 5 und R 6) zugeordnet war, hat die im Schreiben vom 19.Dezember 1995 erfolgte Einweisung in die Besoldungsgruppe R 6 mit Wirkung ab 1.Februar 1996 den Akt der Ernennung zum Präsidenten des Landesarbeitsgerichts in statusrechtlicher Hinsicht konkretisiert und ergänzt. Der Antrag des Klägers auf Einweisung in die Besoldungsgruppe R 8 rückwirkend zum 1.Februar 1996 bedeutet, dass er für die Vergangenheit ein anderes Amt im statusrechtlichen Sinne erstrebt, nämlich das eines Landesarbeitsgerichtspräsidenten in der Besoldungsgruppe R 8. Dies ist beamtenrechtlich nicht möglich. | |
Für eine rückwirkende Einweisung als rein besoldungsrechtliche Maßnahme gemäß § 49 Abs.2 iVm § 115 LHO-BW fehlt es nicht nur an einer besetzbaren Planstelle in der Besoldungsgruppe R 8; vielmehr begehrt der zwischenzeitlich im Ruhestand befindliche Kläger die Rückwirkung auch weit über die Drei-Monats-Grenze hinaus (vgl auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 2.Dezember 1975, ZBR 1976, S.155 <156>). 21 | |
Damit ist der Hauptantrag im Ausgangsverfahren auf eine rechtlich nicht mögliche Leistung gerichtet. Unerörtert bleiben kann deshalb die vom Finanzministerium Baden-Württemberg aufgeworfene Frage, ob angesichts des Umstandes, dass erst im Oktober 1996 mehr als 100 dauerhafte Stellen für Arbeitsrichter ausgewiesen waren, im Zeitpunkt der Ernennung im Hinblick auf eine mögliche Fluktuation und später im Hinblick auf § 19 Abs.2 BBesG - selbst bei Bestehen einer Rechtsgrundlage für die Besoldung in R 8 ab 101 Richterplanstellen - ein zwingender Anspruch auf Besoldung nach R 8 bestanden hätte (vgl dazu Schwegmann/Summer, aaO, § 18 BBesG Rn.11c und § 19 BBesG Rn.11, 12; Clemens/Millack/Engelking/Lantermann/Henkel, aaO, § 19 Anm. 5; BVerwG, Urteil vom 24.Januar 1985, DÖV 1985, S.875 <876>; OVG Lüneburg, Urteil vom 26.Februar 1991, ZBR 1992, S.213 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 2.Dezember 1975, ZBR 1976, S.155 <156>). | |
3. Mit dem oben unter 2. genannten Problem des auf eine unmögliche Leistung gerichteten Hauptantrags hat sich das Verwaltungsgericht in keiner Weise auseinander gesetzt und damit auch nicht mit der Frage, ob als Konsequenz der Hauptantrag eventuell anders ausgelegt werden muss bzw. ob ein Leistungsantrag gegen diesen Beklagten überhaupt in Betracht kommt. Solche Erwägungen an Stelle des Fachgerichts anzustellen, ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts." | |
Auszug aus BVerfG B, 10.10.03, - 2_BvL_7/02 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.17 ff | |
§§§ | |
03.044 | Einmalzahlungen |
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LB 1) Nach stRspr des Bundesverfassungsgerichts sind die Dienstbezüge so festzusetzen, dass sie einen je nach Dienstrang, Bedeutung und Verantwortung des Amtes und entsprechender Entwicklung der allgemeinen Verhältnisse angemessenen Lebensunterhalt gewähren und als Voraussetzung dafür genügen, dass sich der Beamte ganz dem öffentlichen Dienst als Lebensberuf widmen und in wirtschaftlicher Unabhängigkeit zur Erfüllung der dem Berufsbeamtentum vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgabe, im politischen Kräftespiel eine stabile, gesetzestreue Verwaltung zu sichern, beitragen kann (vgl BVerfGE_11,203 <216 f>; BVerfGE_39,196 <201>; BVerfGE_44,249 <265>). | |
LB 2) Dabei muss der Gesetzgeber auch berücksichtigen, dass nach allgemeiner Anschauung zu den Bedürfnissen, die der arbeitende Mensch soll befriedigen können, nicht nur dessen Grundbedürfnisse gehören, sondern auch ein Minimum an Lebenskomfort (vgl BVerfGE_44,249 <265 f>; BVerfGE_81,363 <376>; BVerfGE_99,300 <315>). Ob die Dienstbezüge einschließlich der Alters- und Hinterbliebenenversorgung nach diesem Maßstab ausreichend sind, lässt sich nur anhand des Nettoeinkommens beurteilen (vgl BVerfGE_44,249, <266>; BVerfGE_81,363 <377>; BVerfGE_99,300 <315>). | |
LB 3) Dem Gesetzgeber obliegt die Ausgestaltung der Höhe der Versorgungsbezüge. Er ist dabei auch nicht starr an bestimmte Prozentsätze gebunden. Wesentlich ist vielmehr allein, dass der Gesetzgeber seiner Alimentationspflicht in angemessenem Maße nachkommt. Bewegt er sich nicht an der untersten Grenze, so kann er den unterschiedlichen Finanzbedarf von aktiven und pensionierten Beamten innerhalb des von der Alimentationspflicht und des allgemeinen Gleichheitssatzes gezogenen Rahmens selbst definieren. | |
§§§ | |
03.045 | Auslieferung I |
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Es besteht keine allgemeine Regel des Völkerrechts, wonach niemand in den ersuchenden Staat ausgeliefert werden darf, der aus seinem Heimatstaat mit List, aber ohne Beeinträchtigung seiner Entscheidungsfreiheit in den ersuchten Staat gelockt worden ist. | |
§§§ | |
03.046 | Auslieferung II |
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Es besteht keine allgemeine Regel des Völkerrechts, wonach niemand in den ersuchenden Staat ausgeliefert werden darf, der aus seinem Heimatstaat mit List, aber ohne Beeinträchtigung seiner Entscheidungsfreiheit in den ersuchten Staat gelockt worden ist. | |
§§§ | |
03.047 | Mutterschaftsgeld |
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1) Die gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung eines Zuschusses zum Mutterschaftsgeld ist an der Berufsfreiheit des Art.12 Abs.1 GG zu messen (Abweichung von BVerfGE_37,121 <131>). | |
2) Art.6 Abs.4 GG begründet keine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die Kosten des Mutterschutzes allein zu tragen.
]c> ]c[ 3) Der Gesetzgeber kann im Rahmen seines Gestaltungsermessens entscheiden, wie er dem Gebot des Art.3 Abs.2 GG nachkommt. Legt der Gesetzgeber in Erfüllung seines Schutzauftrags zugunsten der Mutter dem Arbeitgeber Lasten auf, ist durch geeignete Regelungen im Rahmen des Möglichen der Gefahr zu begegnen, dass sich Schutzvorschriften auf Arbeitnehmerinnen faktisch diskriminierend auswirken.
]EF1> Beschluss ]EF1[ Entscheidungsformel: | |
3) Der Gesetzgeber kann im Rahmen seines Gestaltungsermessens entscheiden, wie er dem Gebot des Art.3 Abs.2 GG nachkommt. Legt der Gesetzgeber in Erfüllung seines Schutzauftrags zugunsten der Mutter dem Arbeitgeber Lasten auf, ist durch geeignete Regelungen im Rahmen des Möglichen der Gefahr zu begegnen, dass sich Schutzvorschriften auf Arbeitnehmerinnen faktisch diskriminierend auswirken. | |
* * * | |
Beschluss | Entscheidungsformel: |
§§§ | |
03.048 | Landw-Altersicherung |
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Die Einbeziehung der Ehegatten von Landwirten in die Versicherungspflicht der landwirtschaftlichen Alterssicherung nach § 1 Abs.3 des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte ist mit dem Grundgesetz auch insoweit vereinbar, als sie Ehegatten betrifft, die im landwirtschaftlichen Betrieb des Ehepartners nicht mitarbeiten. | |
§§§ | |
03.049 | Computerdateien-Beschlagnahme |
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LB: Verlängerung der Einstweiligen Anordnung : Beschlagnahme der Computerdateien einer Anwaltskanzlei und Steuerberatungsgesellschaft im Steuerstrafverfahren. | |
* * * | |
Beschluss | Entscheidungsformel: |
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T-03-21 | Beschlagnahme |
"Auf der Grundlage des Schreibens der Freien und Hansestadt Hamburg vom 19.November 2003 kann wegen des die Datensicherung beeinflussenden Zeitablaufes in dem der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden Ermittlungsverfahren ein Beweismittelverlust nicht mehr ausgeschlossen werden. Dieser Gefahr kann durch eine weitere Kopie der gesicherten Daten entsprechend dem Beschlusstenor vorgebeugt werden. Bei der gemäß § 32 Abs.1 BVerfGG erforderlichen Folgenabwägung waren in der Einstweiligen Anordnung vom 17.Juli 2002 die nachhaltige Störung für das Vertrauensverhältnis zwischen den Beschwerdeführern und ihren Auftraggebern einerseits und die Möglichkeit der Beweissicherung andererseits berücksichtigt worden. Die erneute Datensicherung unter Aufsicht des zuständigen Ermittlungsrichters sowie die sich daran anschließende erneute Versiegelung und Hinterlegung der Datenkopien tragen den vorgenannten Abwägungskriterien Rechnung. Eine Sichtung der Daten wird dadurch ebenso vermieden wie ein Verlust von Beweismitteln." | |
Auszug aus BVerfG B, 18.12.03, - 2_BvR_1027/02 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.1 | |
§§§ |
2002 | RS-BVerfG - 2003 | 2004 [ ] |
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§§§