2000   (2)  
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00.031 Funktionszulage I

  1. BVerfG,     U, 21.07.00,     – 2_BvH_3/91 –

  2. BVerfGE_102,224 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.38 Abs.1, GG_Art.38 Abs.1 S.2, GG_Art.93/1 Nr.4;

  4. Landesorganstreitverfahren / Abgeordnete mit besonderer Funktion / Funktionszuage / Parlamentsautonomie / Freiheit des Mandats.

T-00-19

1) Die gesetzliche Gewährung von zusätzlichen Entschädigungen mit Einkommenscharakter für Abgeordnete mit besonderen Funktionen ist eine Maßnahme im Rahmen der Parlamentsautonomie, die der Landtag grundsätzlich in eigener Verantwortung trifft.

 

2) Die Regelungsmacht des Parlaments in eigenen Angelegenheiten wird - soweit Funktionszulagen in Rede stehen - durch Art.38 Abs.1 GG eingeschränkt. Das auf Art.38 Abs.1 Satz 1 GG fußende Freiheitsgebot des Art.38 Abs.1 Satz 2 GG verlangt, die Abgeordneten in Statusfragen formal gleich zu behandeln, damit keine Abhängigkeiten oder Hierarchien über das für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments unabdingbare Maß hinaus entstehen.

 

3) Um eine der Freiheit des Mandats und der Statusgleichheit der Abgeordneten entsprechende, von sachfremden Einflüssen freie politische Willensbildung zu gewährleisten, ist die Zahl der mit Zulagen bedachten Funktionsstellen auf wenige politisch besonders herausgehobene parlamentarische Funktionen zu beschränken.

Abs.51

LB 4) Die beispielhaft im Grundgesetz aufgeführten Rechte, wie die Geschäftsordnungsautonomie (Art.40 Abs.1 Satz 2 GG), das Selbstversammlungsrecht (Art.39 Abs.3 GG), die Wahl eigener Organe (Art.40 Abs.1 Satz 1 GG), das Enqueterecht (Art.44 Abs.1 GG), die Immunität der Abgeordneten (Art.46 GG) sowie Hausrecht und Polizeigewalt (Art.40 Abs.2 GG), bilden den Kern der verfassungsrechtlich begründeten Parlamentsautonomie.

Abs.52

LB 5) Das Bundesverfassungsgericht zählt zu den Regelungsgegenständen des Selbstorganisationsrechts die Abläufe des Gesetzgebungsverfahrens, soweit es nicht in der Verfassung selbst geregelt ist, sowie die Funktion, Zusammensetzung und Arbeitsweise der Ausschüsse, die Wahrnehmung von Initiativ-, Informations- und Kontrollrechten, die Bildung und die Rechte von Fraktionen und die Ausübung des parlamentarischen Rederechts (BVerfGE_80,188 <219>).

Abs.54

LB 6) Kraft seiner Autonomie darf das Parlament auf diese neuen politischen Arbeitsbedingungen nicht nur durch den Ausbau von parlamentarischen Organisationsstrukturen reagieren. Auch die Schaffung besonders zu entschädigender Funktionsstellen ist dem Binnenbereich parlamentarischer Organisation zuzurechnen. Die für diese eingeräumten Zusatzentschädigungen haben ihre Grundlage nicht in dem Mandat, sondern in besonderen Wahl- und Bestellungsakten des Parlaments (Sondervotum Seuffert BVerfGE_40,296 <340>).

Abs.59

LB 7) Die Gleichheit aller Staatsbürger in der freien Ausübung ihres Wahlrechts findet im Parlament ihren Ausdruck in dem freien Mandat. Denn nur die rechtlich freie Entscheidung fördert das Denken in Alternativen, öffnet die Aufmerksamkeit für die Vielfalt der Interessen und ermöglicht deren Ausgleich. Das freie Mandat "schließt die Rückkopplung zwischen Parlamentariern und Wahlvolk nicht aus, sondern ganz bewußt ein" und schafft durch den Zwang zur Rechtfertigung Verantwortlichkeit. Dieses letztlich auf Art.38 Abs.1 Satz 1 GG fußende Freiheitsgebot des Art.38 Abs.1 Satz 2 GG verlangt, die Abgeordneten in Statusfragen formal gleich zu behandeln, damit keine Abhängigkeiten oder Hierarchien über das für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments unabdingbare Maß hinaus entstehen.

Abs.67

LB 8) Nach diesem Maßstab sind die Rechte der Antragsteller durch den Erlass der angegriffenen Regelungen nicht verletzt, soweit die Fraktionsvorsitzenden eine steuerpflichtige Zusatzentschädigung erhalten (1.). Hingegen sind die Rechte der Antragsteller verletzt, soweit stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen und den Ausschussvorsitzenden Funktionszulagen gewährt werden.

* * *

T-00-19Abgeordnete

34

"Der Antrag im Landesorganstreitverfahren ist unzulässig, soweit die dreizehnmalige Zahlung von Funktionszulagen pro Jahr gerügt wird, im Übrigen zulässig.

35

1. Das Bundesverfassungsgericht ist im vorliegenden Fall gemäß Art.93 Abs.1 Nr.4, 3. Fall GG, § 71 Abs.1 Nr.3 BVerfGG zuständig. Das subsidiäre Landesorganstreitverfahren gewährleistet einen lückenlosen Rechtsschutz für die am Verfassungsleben eines Landes Beteiligten gegen alle Verletzungen ihrer eigenen Rechte aus der Landesverfassung (vgl BVerfGE_93,195 <202>). Die Verletzung kann auch im Erlass eines Gesetzes bestehen (vgl BVerfGE_99,332 <336 f> ). Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts entfällt allerdings, wenn und sobald das Landesrecht für die Streitbeteiligten einen eigenen Rechtsweg zur Entscheidung der konkreten landesverfassungsrechtlichen Streitigkeit bereithält (vgl BVerfGE_90,43 <45> ). Daran fehlt es hier. Die durch die Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25.Oktober 1993 und das Gesetz über den Thüringer Verfassungsgerichtshof vom 28.Juni 1994 für Thüringer Landtagsabgeordnete geschaffene Möglichkeit, einen Organstreit vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof zu führen, hat für die konkrete Streitigkeit keinen vorrangigen Rechtsweg eröffnet. Denn die Antragsteller hätten nicht die Antragsfrist von sechs Monaten nach Bekanntwerden der beanstandeten Maßnahme (§ 39 Abs.3 ThürVerfGHG) einhalten können. Eine Übergangsvorschrift, die dem Thüringer Verfassungsgerichtshof die Entscheidung über einen Fall wie diesen ermöglicht, fehlt.

36

2. Die Antragsteller sind im Landesorganstreitverfahren parteifähig (§ 71 Abs.1 Nr.3 BVerfGG). Sie wurden als Mitglieder des Thüringer Landtags, eines obersten Landesorgans, bereits durch §§ 2, 9 der Vorläufigen Landessatzung für das Land Thüringen mit eigenen Rechten ausgestattet. Sie haben ihre Parteifähigkeit nicht mit dem Ausscheiden aus dem Thüringer Landtag verloren. Maßgeblich für die Parteifähigkeit von Abgeordneten im Organstreit ist ihr Status zu dem Zeitpunkt, zu dem sie den Verfassungsstreit anhängig gemacht haben (vgl BVerfGE_4,144 <152>).

37

3. Die Antragsteller haben hinreichend geltend gemacht, durch den Streitgegenstand in ihren Rechten oder Zuständigkeiten unmittelbar berührt zu sein (§ 71 Abs.1 Nr.3 BVerfGG). Die Antragsbefugnis im Organstreit ist gegeben, wenn Antragsteller schlüssig behaupten, dass sie und der Antragsgegner an einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis unmittelbar beteiligt sind und dass der Antragsgegner hieraus erwachsende eigene verfassungsmäßige Rechte und Zuständigkeiten der Antragsteller durch die beanstandete Maßnahme oder das Unterlassen verletzt oder unmittelbar gefährdet hat (vgl BVerfGE_93,195 <203>). Schlüssig ist die Behauptung, wenn die Rechtsverletzung nach dem vorgetragenen Sachverhalt möglich erscheint (vgl BVerfGE_93,195 <204>). Das trifft auf das Vorbringen der Antragsteller zu. Sie wären als Abgeordnete ohne zusätzlich dotierte Funktion verfassungswidrig in ihrem Status beeinträchtigt, wenn die Vorläufige Landessatzung eine Verfassung ist, die Zusatzentschädigungen verbietet. Das liegt angesichts der vom Senat im Diäten-Urteil geäußerten Auffassung nicht fern, der zufolge Funktionszulagen als Teil der Abgeordnetenentschädigung zu begreifen und dem formalen Gleichheitssatz unterworfen sind (vgl BVerfGE_40,296 <318>).

38

4. a) Das Rechtsschutzinteresse an einer Entscheidung in der Sache ist auch nach dem Ausscheiden der Antragsteller aus dem Thüringer Landtag nicht entfallen, soweit die Funktionszulagen in Rede stehen.

39

Im Grundsatz gilt allerdings, dass ein objektives Interesse an der Klärung einer Streitfrage des Landesverfassungsrechts durch das Bundesverfassungsgericht nicht besteht, wenn das subjektive Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller fortgefallen ist. Denn in dem föderativ gestalteten Bundesstaat des Grundgesetzes stehen die Verfassungsbereiche des Bundes und der Länder grundsätzlich selbstständig nebeneinander. Entsprechendes gilt für die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes und der Länder. Daraus folgt, dass die Landesverfassungsgerichtsbarkeit nicht in größere Abhängigkeit gebracht werden darf, als es nach dem Bundesverfassungsrecht unvermeidbar ist (vgl BVerfGE_96,231 <242> ). Besondere Zurückhaltung ist bei der subsidiären Landesorganstreitigkeit angezeigt, weil dem Verfassungsgericht des Bundes durch Art.93 Abs.1 Nr.4, 3. Fall GG die Entscheidungszuständigkeit in denjenigen Fällen eingeräumt wird, die nach der Landesverfassung dem Verfassungsgericht des Landes vorenthalten sind. Dies lässt sich nur mit dem Gedanken rechtfertigen, dass nach der grundgesetzlichen Ordnung auch in den - durch das Grundgesetz mitverfassten - Ländern Rechtsschutz für Verfassungsorgane und -organteile notwendig ist, soweit diese zur Wahrnehmung ihrer Funktion des Schutzes bedürfen (vgl BVerfGE_60,319 <326>; BVerfGE_91,246 <250>).

40

Im vorliegenden Fall bleibt das Bundesverfassungsgericht ausnahmsweise zur Entscheidung in der Sache berufen. Das Diäten-Urteil hat mit seinen Ausführungen zur grundsätzlichen Verfassungswidrigkeit von Funktionszulagen vielfach den Eindruck vermittelt, dieses Verdikt gelte verbindlich für den Bund und alle Länder. Nach diesem Rechtsstandpunkt wäre ein Landesverfassungsgericht ohnehin gehalten, nach Art.100 Abs.3 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn es Funktionszulagen in einem größeren Umfang für verfassungsgemäß hielte als der Senat in seinem Diäten-Urteil. Eine erneute Entscheidung des . Bundesverfassungsgerichts in der Sache bleibt daher geboten

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b) Das Rechtsschutzinteresse ist hingegen entfallen, soweit die Antragsteller auch noch nach dem Ausscheiden aus dem Thüringer Landtag die dreizehnmalige Zahlung der Funktionszulagen pro Jahr gemäß § 5 Abs.2 Satz 2 ThürAbgG aF rügen. Die Norm ist durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Thüringer Abgeordnetengesetzes vom 28.Februar 1995 (ThürGVBl S.109) abgeändert worden. Nunmehr wird die Zusatzentschädigung nur noch zwölfmal im Jahr gezahlt. Für ein gleichwohl fortbestehendes Interesse an der Klärung einer landesverfassungsrechtlichen Frage ist nichts ersichtlich.

C.

42

Der Antrag hat in der Sache zum Teil Erfolg. Die in § 5 Abs.2 Satz 1 ThürAbgG angeordneten Zahlungen von zusätzlichen Entschädigungen für stellvertretende Fraktionsvorsitzende, parlamentarische Geschäftsführer der Fraktionen und die Vorsitzenden der Ausschüsse verstoßen gegen § 2 Abs.1 der Vorläufigen Landessatzung für das Land Thüringen in Verbindung mit Art.38 Abs.1, Art.28 Abs.1 Satz 1 und 2 GG. Die ebenfalls angegriffene Anordnung der Zahlung von zusätzlichen Entschädigungen an Fraktionsvorsitzende hält dagegen der verfassungsrechtlichen Überprüfung stand.

I.

43

1. Der verfassungsrechtliche Maßstab für die Überprüfung des Antrags ist in erster Linie der Vorläufigen Landessatzung für das Land Thüringen vom 7.November 1990 zu entnehmen, in zweiter Linie dem Grundgesetz.

44

a) Die Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25.Oktober 1993 bildet nicht den Maßstab, weil sie am maßgeblichen Tag des Erlasses von § 5 Abs.2 Satz 1 ThürAbgG noch nicht in Kraft getreten war. Der Antrag im Landesorganstreitverfahren richtet sich gegen eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners (vgl § 71 Abs.2 iVm § 64 Abs.3 BVerfGG), bei einem Streit um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes also gegen den Erlass der Norm und nicht etwa gegen die Norm als solche. Anzuknüpfen ist an den Tag, an dem der Landtag das Gesetz beschlossen hat (vgl BVerfGE_99,332 <336 f>), hier der 30.Januar 1991.

45

b) Die Vorläufige Landessatzung für das Land Thüringen, die am Tag des angegriffenen Gesetzesbeschlusses galt, ist eine Landesverfassung im Sinne der §§ 71 Abs.1 Nr.3, 72 Abs.2 Satz 1 BVerfGG. Ihr besonderer, über einem einfachen Gesetz stehender Rang ergibt sich aus ihrer Präambel sowie aus der in § 17 der Vorläufigen Landessatzung angeordneten erschwerten Abänderbarkeit und erhöhten Bestandskraft ihrer Normen.

46

c) Regelt das Landesverfassungsrecht den Status und die Entschädigung von Landtagsabgeordneten, ergibt sich aus dem Grundgesetz grundsätzlich kein zusätzlicher verfassungsrechtlicher Maßstab. Denn das Grundgesetz gewährleistet den Ländern, soweit es für deren Verfassungen keine ausdrücklichen Vorgaben enthält, eigenständige Verfassungsbereiche (vgl BVerfGE_96,345 <368 f>; BVerfGE_99,1 <11>). Die Bedeutung der parlamentsrechtlichen Regelungen des Grundgesetzes und der zu ihnen ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beschränkt sich darauf, den nach Art.28 Abs.1 Satz 1 GG zu gewährleistenden Grundsätzen der verfassungsmäßigen Ordnung in den Ländern in Bezug auf das Landesparlament Konturen zu geben. Die Bestimmungen über den Status der Bundestagsabgeordneten und die Stellung des Bundestags sind dabei nicht in ihren konkrete Ausgestaltungen, sondern nur in ihren essentiellen, den deutschen Parlamentarismus prägenden Grundsätzen für die Verfasstheit der Länder von Bedeutung (vgl BVerfGE_90,6 <84 f>). Im Übrigen steht es den Ländern frei, den Status und die Fragen der finanziellen Ausstattung der Landtagsabgeordneten abweichend von den Art.38 ff GG zu regeln

47

2. Die Schaffung von parlamentarischen Funktionsstellen und deren finanzielle Ausstattung unterfallen der Regelungsmacht des Parlaments in eigenen Angelegenheiten. 48

48

a) Die Vorläufige Landessatzung für das Land Thüringen bestimmte die Stellung des Landtags und dessen Aufgaben ebenso wie das Grundgesetz für den Bundestag. Danach war der Landtag als Repräsentationsorgan des Landesvolkes für alle grundlegenden politischen Entscheidungen, insbesondere für die Gesetzgebung und die Kontrolle der Landesregierung verantwortlich. Aus dieser hervorgehobenen verfassungsrechtlichen Stellung folgt eine im sachlichen Umfang weit reichende Parlamentsautonomie (vgl die den Landtag betreffenden Regelungen der §§ 2 bis 9 der Vorläufigen Landessatzung).

49

b) Die gesetzliche Gewährung von zusätzlichen Entschädigungen mit Einkommenscharakter für Abgeordnete mit besonderen Funktionen ist eine Maßnahme im Rahmen der Parlamentsautonomie, die der Landtag grundsätzlich in eigener Verantwortung trifft.

50

aa) Die dem Landtag als Verfassungsorgan zustehende Autonomie erstreckt sich nicht nur auf Angelegenheiten der Geschäftsordnung im Sinne des § 3 der Vorläufigen Landessatzung für das Land Thüringen und Art.40 Abs.1 Satz 2 GG. Autonomie bezeichnet die allgemeine Befugnis des Parlaments, seine eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln (Pietzcker, in: Schneider/Zeh , Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, S.334). Diese Befugnis fand ihren Hauptanwendungsbereich zwar ursprünglich in Fragen der Geschäftsordnung. Das Recht des Parlaments, seine inneren Angelegenheiten zu regeln, erstreckt sich daher traditionell auf die Bereiche "Geschäftsgang" und "Disziplin". Doch gehört dazu auch die Befugnis, sich selbst zu organisieren und sich dadurch in Stand zu setzen, seine Aufgaben zu erfüllen (vgl BVerfGE_80,188 <219>).

51

bb) Weder das Grundgesetz noch die Landesverfassungen haben die überkommenen Grundsätze der Parlamentsautonomie umfassend und einheitlich geregelt. Die aus ihr fließenden wesentlichen, beispielhaft im Grundgesetz aufgeführten Rechte, wie die Geschäftsordnungsautonomie (Art.40 Abs.1 Satz 2 GG), das Selbstversammlungsrecht (Art.39 Abs.3 GG), die Wahl eigener Organe (Art.40 Abs.1 Satz 1 GG), das Enqueterecht (Art.44 Abs.1 GG), die Immunität der Abgeordneten (Art.46 GG) sowie Hausrecht und Polizeigewalt (Art.40 Abs.2 GG), bilden den Kern der verfassungsrechtlich begründeten Parlamentsautonomie.

52

Das Bundesverfassungsgericht zählt zu den Regelungsgegenständen des Selbstorganisationsrechts die Abläufe des Gesetzgebungsverfahrens, soweit es nicht in der Verfassung selbst geregelt ist, sowie die Funktion, Zusammensetzung und Arbeitsweise der Ausschüsse, die Wahrnehmung von Initiativ-, Informations- und Kontrollrechten, die Bildung und die Rechte von Fraktionen und die Ausübung des parlamentarischen Rederechts (BVerfGE_80,188 <219>).

53

cc) Dieser Katalog zählt die Regelungsgegenstände und Instrumente der Parlamentsautonomie nicht erschöpfend auf. Denn auch dieses Recht muß im Hinblick auf die jeweiligen politischen Verhältnisse konkretisiert werden, um eine Anpassung an veränderte Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. So kann die Parlamentsautonomie eine gegenüber früheren Verfassungsepochen gewandelte Aktualität durch den Umstand gewinnen, dass nicht mehr wie in der klassischen Lehre Parlament und Regierung einander gegenüberstehen, sondern die Grenze quer durch das Plenum verläuft: Regierung und die sie unterstützende Parlamentsmehrheit bilden gegenüber der Opposition politisch eine Einheit. Auch auf die zunehmende Komplexität der Regelungsbedürfnisse muss das Parlament im Rahmen des Selbstorganisationsrechts reagieren. Das moderne Parlament muss daher Strategien des arbeitsteiligen Zusammenwirkens und der Koordination der politischen Willensbildung entwickeln, will es seine Arbeitsfähigkeit nicht einbüßen.

54

dd) Kraft seiner Autonomie darf das Parlament auf diese neuen politischen Arbeitsbedingungen nicht nur durch den Ausbau von parlamentarischen Organisationsstrukturen reagieren. Auch die Schaffung besonders zu entschädigender Funktionsstellen ist dem Binnenbereich parlamentarischer Organisation zuzurechnen. Die für diese eingeräumten Zusatzentschädigungen haben ihre Grundlage nicht in dem Mandat, sondern in besonderen Wahl- und Bestellungsakten des Parlaments (Sondervotum Seuffert - BVerfGE_40,296 <340>).

55

3. Die Regelungsmacht des Parlaments in eigenen Angelegenheiten ist allerdings nicht unbegrenzt. Sie wird - soweit die Funktionszulagen in Rede stehen - durch Art.38 Abs.1 GG eingeschränkt. In beiden Sätzen dieser Vorschrift ist das Prinzip der repräsentativen Demokratie verankert. Es gewährleistet für jeden der nach den Grundsätzen des Satzes 1 gewählten Abgeordneten sowohl die Freiheit in der Ausübung seines Mandates als auch die Gleichheit im Status als Vertreter des ganzen Volkes (a). Um eine diesen Anforderungen entsprechende, von sachfremden Einflüssen freie politische Willensbildung zu gewährleisten, ist die Zahl der mit Zulagen bedachten Funktionsstellen auf wenige politisch besonders herausgehobene parlamentarische Funktionen zu beschränken (b).

56

a) Die vom Volk ausgehende und in der Wahl ausgeübte Staatsgewalt wird vom Parlament als Ganzes im Sinne der Gesamtheit seiner Mitglieder wahrgenommen. Die genannten Grundlagen der repräsentativen Demokratie wirken auch auf das parlamentarische Entscheidungsverfahren ein, indem sie grundsätzlich die Mitwirkung aller Abgeordneten bei der Willensbildung des Parlaments erfordern und bei der Schaffung der äußeren Bedingungen, unter denen die Parlamentsbeschlüsse zustande kommen, Berücksichtigung verlangen (vgl BVerfGE_44,308 <315 f>). Dies setzt zum einen die gleiche Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten im Rahmen der parlamentarischen Arbeit voraus (vgl BVerfGE_80,188 <218> ). Der Senat hat in dem Diäten-Urteil das Gebot der formalisierten Gleichbehandlung zum anderen auf die Bemessung der Abgeordnetenentschädigung erstreckt. Er hat dies aus dem in den Art.38 Abs.1 Satz 1 und Art.28 Abs.1 Satz 2 GG zum Ausdruck gelangten Prinzip abgeleitet, wonach jedermann seine staatsbürgerlichen Rechte in formal möglichst gleicher Weise soll ausüben können. Das gelte nicht nur für die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts im engeren Sinne, sondern auch für die Ausübung des Mandats. Denn das Grundgesetz kenne keine für den Status des Abgeordneten erheblichen besonderen, in seiner Person liegenden Umstände, die es rechtfertigten, innerhalb des Status zu differenzieren. Aus diesem Recht auf gleiche Teilhabe im Prozess der politischen Willensbildung folge auch das Gebot der gleichen Entschädigung. Denn nur dann könnten die Abgeordneten praktisch als Vertreter des ganzen Volkes gelten, wenn Vertreter aus allen Schichten des Volkes Abgeordnete sein können (vgl BVerfGE_40,296 <317 f> und insoweit übereinstimmend BayVerfGH_35,148 <158 f>).

57

In seiner jüngeren - allerdings nicht die Abgeordnetenentschädigung betreffenden - Rechtsprechung hat der Senat Fragen der Stellung der Abgeordneten im Parlament nicht mehr im Rückgriff auf den aus Art.38 Abs.1 Satz 1 GG abgeleiteten Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit beantwortet. Dessen Anwendung, so der Senat in seinem Urteil vom 16. Juli 1991, "ist auf Wahlen beschränkt". Demgegenüber habe der parlamentsbezogene Grundsatz, wonach alle Mitglieder des Parlaments einander gleichgestellt seien, seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art.38 Abs.1 Satz 2 GG (BVerfGE_84,304 <325>). Der in dieser Norm gewährleistete repräsentative Status der Abgeordneten umfasse das Recht auf gleiche Teilhabe am Prozeß der parlamentarischen Willensbildung (so mit Bezug auf die Abgeordneten des Bundestags BVerfGE_96,264 <278>).

58

Der Senat gibt, soweit die Entschädigung der Abgeordneten in Rede steht, die isolierte Bezugnahme auf jeweils einen der beiden Sätze des Art.38 Abs.1 GG auf. Denn diese stehen im Hinblick auf das durch sie konkretisierte Prinzip der repräsentativen Demokratie in einem unauflösbaren, sich wechselseitig bedingenden Zusammenhang. So setzt sich insbesondere die Gleichheit der Wahl in der gleichen Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten fort. Beide besonderen Gleichheitssätze stützen den Repräsentationsgedanken aus unterschiedlichen Richtungen.

59

Die Gleichheit aller Staatsbürger in der freien Ausübung ihres Wahlrechts findet im Parlament ihren Ausdruck in dem freien Mandat. Denn nur die rechtlich freie Entscheidung fördert das Denken in Alternativen, öffnet die Aufmerksamkeit für die Vielfalt der Interessen und ermöglicht deren Ausgleich. Das freie Mandat "schließt die Rückkopplung zwischen Parlamentariern und Wahlvolk nicht aus, sondern ganz bewußt ein" und schafft durch den Zwang zur Rechtfertigung Verantwortlichkeit (Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh , aaO, S.185). Dieses letztlich auf Art.38 Abs.1 Satz 1 GG fußende Freiheitsgebot des Art.38 Abs.1 Satz 2 GG verlangt, die Abgeordneten in Statusfragen formal gleich zu behandeln, damit keine Abhängigkeiten oder Hierarchien über das für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments unabdingbare Maß hinaus entstehen.

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b) Die formelle Gleichheit der Abgeordneten sowie die angemessene Entschädigung gemäß § 9 Abs.4 Vorläufige Landessatzung und Art.48 Abs.3 GG sollen die Freiheit des Mandats gewährleisten. Die der Bedeutung des Amtes angemessene Entschädigung soll dem Abgeordneten ermöglichen, als Vertreter des ganzen Volkes frei von wirtschaftlichen Zwängen zu wirken (vgl BVerfGE_40,296 <315 f>). In der parlamentarischen Arbeit können jedoch zusätzliche Entschädigungen für einzelne Abgeordnete die Entscheidungsfreiheit aller Abgeordneten beeinträchtigen, wenn durch solche Zulagen die Gefahr entsteht, dass das parlamentarische Handeln am Leitbild einer "Abgeordnetenlaufbahn" und dem Erreichen einer höheren Einkommensstufe ausgerichtet wird (vgl H Meyer, Das fehlfinanzierte Parlament, in: Huber/Mößle/Stock , Zur Lage der parlamentarischen Demokratie, 1995, S.62 ff).

61

Der Abgeordnete bewegt sich zwar in einem Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit seines Mandats und einer Einordnung in die Fraktionsdisziplin. Das politische Eingebundensein des Abgeordneten in Partei und Fraktionen im Bund und in den Ländern ist jedoch verfassungsrechtlich zulässig; denn das Grundgesetz weist den Parteien eine besondere Rolle im Prozess der politischen Willensbildung zu (Art.21 Abs.1 GG). Die von den Abgeordneten einer Partei gebildeten Fraktionen nehmen in diesem Prozess Koordinierungsaufgaben wahr, die angesichts der Vielzahl und Vielschichtigkeit der im Parlament zu behandelnden Regelungsbedürfnisse für die parlamentarische Arbeit unabdingbar sind. Wenn der einzelne Abgeordnete im Parlament politisch Einfluss ausüben will, bedarf er der Unterstützung seiner Fraktion (dazu näher Schüttemeyer, Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949 - 1997, 1998, S.24, 27, 38 f; Sontheimer/Bleek, Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 1999, S.290).

62

Daraus folgende Abhängigkeiten des einzelnen Abgeordneten von Fraktionsbeschlüssen sind im Rahmen funktioneller Differenzierung der Parlamentsarbeit auch mit Blick auf Art.21 Abs.1 GG hinzunehmende. Wird jedoch die Verteilung parlamentarischer Funktionen mit unterschiedlicher Dotierung der Abgeordneten verbunden, so entstehen zusätzliche Abhängigkeiten, die durch die Aufgaben des Abgeordneten innerhalb effektiv organisierter Parlamentsarbeit nicht gerechtfertigt werden, sondern hierzu in Widerspruch treten können: Innerparlamentarische Einkommenshierarchien lassen es erstrebenswert erscheinen, parlamentarische Funktionen aus ökonomischen Gründen, unabhängig von individuellen politischen Intentionen und Kompetenzen, zu übernehmen, auszuüben und gegenüber Konkurrenten zu behaupten.

63

4. Aus den vorangehenden maßstäblichen Erwägungen läßt sich nicht unmittelbar ablesen, unter welchen Voraussetzungen zusätzliche Entschädigungen für parlamentarische Funktionen geschaffen werden dürfen, ohne die Statusgleichheit der Abgeordneten und die Freiheit des Mandats zu beeinträchtigen. Regelungen über die innere Ordnung des Parlaments bedürfen der Flexibilität, um eine Anpassung an die veränderte Verfassungswirklichkeit zu ermöglichen. In der Gestaltung hat das Parlament schon im Hinblick auf seine besonderen Arbeitsbedingungen (etwa als Vollzeit- oder Teilzeitparlament) weitgehende Freiheit. Dabei muss in Kauf genommen werden, dass sich solche Regeln unter Umständen ungleichmäßig auswirken (vgl BVerfGE_10,4 <19 f>). Hinsichtlich der Reichweite und Grenzen der Parlamentsautonomie in Bezug auf Funktionszulagen lassen sich daher nur sehr allgemeine Kriterien aufzeigen, die als Leitgesichtspunkte dienen können. 64

64

a) Vornan muss das Parlament zeitgemäße Strukturen ausbilden können, die der Vielzahl, Bandbreite und Komplexität der Gegenstände parlamentarischer Gesetzgebung und Kontrolle Rechnung tragen. Demgemäß setzt das Gelingen einer wirksamen und rationalen parlamentarischen Arbeit besondere Qualifikationen demokratischer Führung, vor allem besondere Sach- und Verfahrenskunde sowie Fähigkeiten der Information, Kommunikation und des Vermittelns voraus. Dies spricht dafür, dass Funktionen geschaffen und unter bestimmten Voraussetzungen auch besonders honoriert werden können, mit deren Hilfe die politische Willensbildung koordiniert werden kann.

65

b) Auf der anderen Seite ist der Gefahr zu begegnen, dass durch die systematische Ausdehnung von Funktionszulagen "Abgeordnetenlaufbahnen" und Einkommenshierarchien geschaffen werden, die der Freiheit des Mandats abträglich sind und die Bereitschaft der Abgeordneten beeinträchtigen, ohne Rücksicht auf eigene wirtschaftliche Vorteile die jeweils beste Lösung für das Gemeinwohl anzustreben. Funktionszulagen können darum zum einen nur in geringer Zahl vorgesehen werden und sind zum anderen auf besonders herausgehobene politisch-parlamentarische Funktionen zu begrenzen.

66

Durch eine Vielzahl von besonders zu entschädigenden Funktionsstellen verstärkt sich die Abhängigkeit des einzelnen Abgeordneten von der politischen Gruppe, der er angehört. Bei den zahlenmäßig begrenzten Spitzenpositionen im Parlament dagegen ist die Gefahr eines solchen den Prinzipien der Gleichheit und der Freiheit aller Abgeordneten grundsätzlich zuwiderlaufenden Mechanismus eher gering zu veranschlagen; denn solche Ämter werden vorzugsweise aus politischen und weniger aus finanziellen Erwägungen angestrebt. Wird einer nur geringen Anzahl von Funktionsträgern eine zusätzliche Entschädigung gewährt, so ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass sich der einzelne Abgeordnete bei der Ausübung seines Mandats an sachfremden Gesichtspunkten wie an zusätzlichen Einkommenschancen orientiert. Hingegen könnte eine breite Streuung der besonders zu entschädigenden Funktionsstellen die Bereitschaft gerade der einflussreichen, mit Funktionszulagen ausgestatteten Abgeordneten mindern, die reguläre Entschädigung von Zeit zu Zeit den steigenden Lebenshaltungskosten anzupassen; auch dadurch, dass die Entschädigung im Gefolge der wirtschaftlichen Entwicklung allmählich die Grenze der Angemessenheit unterschreitet, wird die Freiheit des Mandats gefährdet.

II.

67

Nach diesem Maßstab sind die Rechte der Antragsteller durch den Erlass der angegriffenen Regelungen nicht verletzt, soweit die Fraktionsvorsitzenden eine steuerpflichtige Zusatzentschädigung erhalten (1.). Hingegen sind die Rechte der Antragsteller verletzt, soweit stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen und den Ausschussvorsitzenden Funktionszulagen gewährt werden (2.).

68

1. Der Landtag handelt innerhalb seines ihm verfassungsrechtlich zustehenden Rechts zur Selbstorganisation und überschreitet nicht seinen Gestaltungsspielraum, wenn er in seinem Binnenbereich die Funktionsstellen für Fraktionsvorsitzende schafft und sie mit einer zusätzlichen Abgeordnetenentschädigung bedenkt, die nicht von dem Gedanken des Aufwendungsersatzes geleitet ist (im Ergebnis anders insoweit BVerfGE_40,296 <318> ). Die Posten der Fraktionsvorsitzenden sind in der Anzahl begrenzt und in ihrer politischen Bedeutung in besonderem Maße herausgehoben.

69

a) Die politische Bedeutung der Fraktionsvorsitzenden folgt aus der Stellung der Fraktionen als notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens. Das Bundesverfassungsgericht hat sie als maßgebliche Faktoren der politischen Willensbildung bezeichnet. Sie sind als Gliederungen des Bundestags der organisierten Staatlichkeit eingefügt (vgl BVerfGE_20,56 <104> und BVerfGE_80,188 <231>). Die Fraktionen als zentrale Organisationseinheiten des Parlaments, die unterschiedliche Vorstellungen und Ziele bündeln, garantieren die parlamentarische Handlungsfähigkeit. Auch ein Landtag kommt heute, um seine Aufgaben bewältigen zu können, nicht ohne eine Gliederung in Fraktionen aus (vgl Schüttemeyer, aaO, S.24, 27, 38 f). Die Länderparlamente haben den Herausforderungen des ökonomischen und technologischen Wandels sowie der Tatsache gerecht zu werden, dass immer mehr Entscheidungen unter den Bedingungen der Ungewissheit zu treffen sind. Den Landtagen wird heute die Koordinierung von Europa-, Bundes- und Landesrecht abverlangt, die ohne die organisatorische und steuernde Tätigkeit der Fraktionsvorstände nicht zu leisten wäre. Auch die Fraktionen in den Landtagen haben Organisationsstrukturen und Arbeitsformen entwickelt, die es möglich machen, den zunehmend spezialisierte Sachkenntnisse erfordernden Entscheidungs- und Kontrollaufgaben gerecht zu werden sowie die parlamentarische Arbeit zu straffen und zu rationalisieren.

70

b) Das arbeitsteilige Zusammenwirken der Abgeordneten in der Fraktion sowie das Aufeinanderabstimmen von Sach- und Überzeugungsarbeit im Parlament steuern und verantworten die Fraktionsvorsitzenden in besonderem Maße. Ihre Vorbereitung und Koordination der politischen Willensbildung trägt zur Arbeitsfähigkeit der Volksvertretung entscheidend bei. Vor allem die Fraktionsvorsitzenden haben nicht nur auf die Geschlossenheit der Fraktion hinzuwirken, durch politische Vermittlung Kompromisse zu finden und parlamentarische Mehrheiten zu suchen. Neben der innerfraktionellen sind sie auch für die interfraktionelle Zusammenarbeit verantwortlich, sie haben miteinander die Abläufe im Landtag und dessen Initiativen abzustimmen.

71

Der Fraktionsvorsitz gilt heute als die Schaltstelle der Macht im Parlament. Die Vorsitzenden der Fraktionen, die die Regierung tragen, übernehmen dabei Vermittlungs- und Koordinierungsaufgaben zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit, während die Vorsitzenden der Oppositionsfraktionen in besonderer Weise die Alternative zur Regierung und damit Handlungsoptionen und künftige Wahlmöglichkeiten repräsentieren. Von ihrem Wirken hängen in besonderer Weise das parlamentarische Leben und die öffentliche Wirkung des Parlaments als obersten Organs demokratischer Willensbildung ab (vgl Schüttemeyer, aaO, S.11 und 60 ff).

72

c) Die Funktionszulage lediglich für Fraktionsvorsitzende führt nicht zu einer "Abgeordnetenlaufbahn" und Einkommenshierarchie innerhalb des Landtags, die mit der Freiheit und Gleichheit des Abgeordnetenmandats unvereinbar wäre. Die Anzahl der Fraktionsvorsitzenden ist begrenzt. Im Thüringer Landtag sind es gegenwärtig drei. Die Einrichtung dieser Funktionsstellen liegt nicht im Belieben des Landtags. Die Abgeordnetengleichheit wird durch die finanzielle Differenzierung zu Gunsten der Fraktionsvorsitzenden nur geringfügig beeinträchtigt. Die Repräsentation des Volkes durch jeden Abgeordneten sowie die Entschließungsfreiheit jedes Abgeordneten bleiben unberührt.

73

d) Die Höhe der den Fraktionsvorsitzenden gewährten Zusatzentschädigung steht nicht außer Verhältnis zur Grundentschädigung. Unbedenklich ist auch, dass die Zulage für die Fraktionsvorsitzenden ebenso hoch ist wie die für den Parlamentspräsidenten. Beiden Funktionen ist die besonders herausgehobene Bedeutung im parlamentarischen Betrieb gleichermaßen eigen.

 

Auszug aus BVerfG U, 21.07.00, - 2_BvH_3/91 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.34 ff

§§§

00.032 Funktionszulage II

  1. BVerfG,     U, 21.07.00,     – 2_BvH_4/91 –

  2. BVerfGE_102,245 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.38 Abs.1, GG_Art.38 Abs.1 S.2; BVerfGG_§_93 Abs.1 Nr.4;

  4. Landesorganstreitverfahren / Landesverfassung (RP) - Änderung /

T-00-20

LB 1) Durch eine Änderung der Landesverfassung von Rheinland-Pfalz ist das Landesorganstreitverfahren unzulässig geworden.

Abs.22

LB 2) Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE_90,43 <45>).

Abs.24

LB 3) Der Verweisung der Antragstellerin auf den Rechtsweg zum Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz steht der prozessrechtliche Grundsatz fortwährender Zuständigkeit des einmal angerufenen Gerichts (perpetuatio fori; vgl § 17 Abs.1 Satz 1 GVG, § 261 Abs.3 Nr.2 ZPO) nicht entgegen. Dieser Grundsatz ist im Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den Landesverfassungsgerichten nicht anzuwenden.

* * *

T-00-20Wegfall des Rechtsweges

16

"Die Anträge sind unzulässig geworden. I.

17

1. Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht als "subsidiäres Landesverfassungsgericht" im Verfahren gemäß Art.93 Abs.1 Nr.4, 3.Fall GG (vgl BVerfGE_99,1 <17>) ist nur eröffnet, wenn der Antragsteller nicht die Möglichkeit hat, ein Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht einzuleiten. Durch Art.93 Abs.1 Nr.4, 3.Fall GG soll ein lückenloser Rechtsschutz für die am Verfassungsleben eines Landes Beteiligten gegen Verletzungen ihrer eigenen verfassungsmäßigen Rechte gewährleistet werden. Das kommt durch die Formulierung "soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist" deutlich zum Ausdruck. Das Bundesverfassungsgericht ist daher nur dann zuständig, wenn das Landesrecht für Organstreitigkeiten entweder überhaupt keine Zuständigkeit des Landesverfassungsgerichts vorsieht oder den Kreis der Antragsberechtigten enger zieht als nach der die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts umschreibenden Vorschrift des Art.93 Abs.1 Nr.4 GG in Verbindung mit § 71 Abs.1 Nr.3 BVerfGG. Hat das Landesrecht den Kreis der für Verfassungsstreitigkeiten Aktivlegitimierten enger gezogen als das Grundgesetz, so kann ein nach Landesrecht nicht Antragsberechtigter das Bundesverfassungsgericht anrufen, wenn er nach Bundesrecht "Beteiligter" in einem Verfassungsrechtsstreit ist (vgl BVerfGE_93,195 <202 f>).

18

2. Nach diesen Grundsätzen lag noch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 2. Mai 2000 eine verfassungsrechtliche Streitigkeit innerhalb eines Landes vor, für die der Antragstellerin ein anderer Rechtsweg nicht eröffnet war. Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz hatte gemäß Art.135 Abs.1 Nr.1 Verf Rh-Pf darüber zu entscheiden, "ob ein Gesetz oder die sonstige Handlung eines Verfassungsorgans verfassungswidrig ist (Artikel 130 Abs.1 und 3)". Art.130 Abs.1 Verf Rh-Pf lautete zu diesem Zeitpunkt:

19

Die Landesregierung, der Landtag und jede Landtagsfraktion und jede Körperschaft des öffentlichen Rechts, die sich in ihren Rechten beeinträchtigt glaubt, sowie jede politische Partei, die bei der letzten Landtagswahl 10 vom Hundert der gültigen Stimmen erhalten hat, können eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes darüber beantragen, ob ein Gesetz oder die sonstige Handlung eines Verfassungsorgans, soweit es sich nicht um eine Gesetzesvorlage handelt, verfassungswidrig ist.

20

In Rheinland-Pfalz gab es somit bis zum 18.Mai 2000 ein Normenkontrollverfahren mit Antragsrecht zwar für Verfassungsorgane und andere Beteiligte, nicht jedoch für einzelne Abgeordnete.

II.

21

Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht ist hinsichtlich der unverändert fortgeltenden Vorschriften des Abgeordnetengesetzes nicht mehr gegeben.

22

1. Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art.93 Abs.1 Nr.4 GG, §§ 71 f BVerfGG entfällt, sobald das Landesrecht für die Streitbeteiligten einen eigenen Rechtsweg zur Entscheidung der konkreten verfassungsrechtlichen Streitigkeit bereithält (vgl BVerfGE_90,43 <45>).

23

Die Antragstellerin hat seit dem 18.Mai 2000 die Möglichkeit, über die Vereinbarkeit der im vorliegenden Verfahren angegriffenen und seit Eingang des Antrags beim Bundesverfassungsgericht unverändert fortgeltenden §§ 1a, 5 Abs.2, 6 Abs.2 Nr.2 und Abs.6 sowie § 21 Abs.2 AbgG RhPf mit der Landesverfassung gemäß Art.130 Abs.1 Verf Rh-Pf eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs herbeizuführen. Sie wäre als "andere Beteiligte", die durch die Landesverfassung mit eigenen Rechten ausgestattet ist, parteifähig. Wie im subsidiären Landesorganstreit vor dem Bundesverfassungsgericht kann die Antragstellerin geltend machen, durch das Gesetz in eigenen Rechten verletzt zu sein. Für sie ist das Verfahren nicht fristgebunden (vgl Art.135 Abs.2 Satz 2 Verf Rh-Pf nF).

24

2. Der Verweisung der Antragstellerin auf den Rechtsweg zum Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz steht der prozessrechtliche Grundsatz fortwährender Zuständigkeit des einmal angerufenen Gerichts (perpetuatio fori; vgl § 17 Abs.1 Satz 1 GVG, § 261 Abs.3 Nr.2 ZPO) nicht entgegen. Dieser Grundsatz ist im Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den Landesverfassungsgerichten nicht anzuwenden. Es widerspräche dem Verfassungsrang des föderativen Prinzips, wenn unter Berufung auf jenen Grundsatz das nach der Landesverfassung geschaffene Verfassungsgericht von der Entscheidung eines Falles ausgeschlossen würde, der seiner Zuständigkeit unterliegt (vgl BVerfGE_90,40 <42 f>; BVerfGE_90,43 <45 f>).

25

3. Dem steht nicht entgegen, dass das Landesrecht für die Antragstellerin einen Rechtsweg zum Landesverfassungsgericht erst nach der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht zur Verfügung gestellt hat. Denn der Rechtsweg wurde noch vor Verkündung des Urteils im vorliegenden Verfahren eröffnet.

26

Dabei kann dahinstehen, welches der maßgebliche Zeitpunkt für die Zulässigkeit von Anträgen in anderen verfassungsgerichtlichen Verfahren ist. Denn zu den Besonderheiten des subsidiären Landesorganstreitverfahrens gehört, dass das Bundesverfassungsgericht nur bei Fehlen eines Rechtswegs zum Landesverfassungsgericht über landesverfassungsrechtliche Streitigkeiten in der Sache zu entscheiden hat. Wird ein solcher Rechtsweg nach Antragstellung eröffnet, greift die Subsidiaritätsklausel ein. Auf den Termin der mündlichen Verhandlung als maßgeblichen Zeitpunkt kann in diesem Fall nicht abgestellt werden. Diese soll rechtliches Gehör bieten, aber nicht für alle Verfahrensarten den maßgeblichen Zeitpunkt für das Vorliegen der Zulässigkeitsvoraussetzungen bestimmen. III.

27

Auch die Anträge gegen den Erlass der seit der Antragstellung geänderten §§ 6 Abs.2 Nr.1, 21 Abs.1 und der §§ 10 bis 12 AbgG RhPf sind unzulässig geworden.

28

1. Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht ist insoweit allerdings nicht entfallen. Die genannten Vorschriften sind vom Landesgesetzgeber novelliert worden, nachdem der Antrag beim Bundesverfassungsgericht gestellt worden war. Die Antragstellerin hat daher nicht die Möglichkeit, gegen diese Normen in ihrer damaligen Fassung ein Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof einzuleiten. Der Antrag gemäß Art. 130 Abs. 1 Verf. Rh.-Pf. dürfte für den Regelfall den Angriff auf ein geltendes Gesetz voraussetzen. Abweichende Gesichtspunkte drängen sich nicht auf. Rechtlich relevante Nachwirkungen dieser Vorschriften in der Fassung zur Zeit der Antragstellung gegenüber der Antragstellerin sind nicht ersichtlich.

29

2. Infolge der Neufassung des Art.130 Abs.1 Verf Rh-Pf ist jedoch das objektive Rechtsschutzinteresse an der Feststellung eines Verstoßes gegen die Landesverfassung durch das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der novellierten Vorschriften entfallen. Die Eröffnung des Rechtswegs zum Landesverfassungsgericht berührt insoweit auch die Zulässigkeit der Anträge hinsichtlich derjenigen Vorschriften, die nicht mehr im Verfahren des Art.130 Abs.1 Verf Rh-Pf vor den Verfassungsgerichtshof gebracht werden können.

30

Im subsidiären Landesorganstreitverfahren kommt es entscheidend auf das objektive Interesse an der Klärung einer landesverfassungsrechtlichen Frage durch das Bundesverfassungsgericht an (vgl BVerfGE_99,332 <336>). Dieses Verfahren steht nur subsidiär zur Gewährleistung eines Mindestrechtsschutzes zur Verfügung. Die Auslegung und Fortentwicklung des Landesverfassungsrechts soll prinzipiell Aufgabe des Landesverfassungsgerichts sein. Diese Ausrichtung des subsidiären Landesorganstreitverfahrens und die gebotene Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts aus Rücksicht auf die Selbstständigkeit der Verfassungsbereiche der Länder (vgl BVerfGE_96,231 <242>) stehen deshalb einem objektiven Interesse an einer Klärung der landesverfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der zwischenzeitlich novellierten Vorschriften entgegen. Die §§ 6 Abs.2 Nr.1, 21 Abs.1 und die §§ 10 bis 12 AbgG RhPf sind in novellierter Form weiterhin in Kraft und können daher zulässiger Gegenstand eines Antrags gemäß Art.130 Abs.1 Verf Rh-Pf. sein. IV.

31

Eine Verweisung des Rechtsstreits an den zuständigen Verfassungsgerichtshof ist wegen Fehlens entsprechender gesetzlicher Bestimmungen und wegen des besonders gearteten Verhältnisses zwischen den beiden Gerichtsbarkeiten nicht statthaft (vgl BVerfGE_90,40 <43>; BVerfGE_90,43 <46>)."

 

Auszug aus BVerfG U, 21.07.00, - 2_BvH_4/91 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.16 ff

§§§

00.033 Fernsehaufnahmen

  1. BVerfG,     B, 21.07.00,     – 1_BvQ_17/00 –

  2. www.BVerfG.de NJW_00,2890 -91

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.5 Abs.1 S.2; BVerfGG_§_32 Abs.1

  4. Öffentliche Sitzung / Richter + Schöffen / Medienöffentlichkeit / Grundsatz der Öffentlichkeit / Berichterstattungsinteresse / Beeinträchtigungen.

 

LB 1) Richter und Schöffen stehen bei der Teilnahme an einer öffentlichen Sitzung des Spruchkörpers im Blickpunkt der Öffentlichkeit einschließlich der Medienöffentlichkeit. Angesichts der Bedeutung des Grundsatzes der Öffentlichkeit für ein rechtsstaatliches Verfahren ist deshalb ein Interesse der Richter und Schöffen nur durch die in der Sitzung Anwesenden wahrgenommen zu werden, regelmäßig nicht anzunehmen.

 

LB 2) Das Persönlichkeitsrecht kann aber dann das Berichterstattungsinteresse überwiegen, wenn besondere Umstände Anlass zu der Befürchtung geben, eine Übertragung der Mitglieder des Spruchkörpers über das Fernsehen werde dazu führen, dass sie künftig erheblichen Beeinträchtigungen ausgesetzt sein werden.

§§§

00.034 Landeshundeverordnung

  1. BVerfG,     E, 18.08.00,     – 1_BvR_1329/00 –

  2. www.BVerfG.de

  3. BVerfGG_§_93a Abs.2; (NW) LHV_§_4 Abs.1, LHV_§_6 Abs.3, LHV_§_7

  4. Verfassungsbeschwerde / Landeshundeverordnung NRW / Subsidiaritätsgrundsatz.

T-00-21

Die Verfassungsbeschwerde gegen die Hundeverordnung von NRW wurde nicht angenommen, da ihr keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und ihre Annahme auch nicht zur Durchsetzung der von den Beschwerdeführern als verletzt gerügten Grundrechte angezeigt ist.

* * *

T-00-21Grundsatz der Subsidiarität

7

"Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden steht, soweit diese sich gegen § 4 Abs.1, § 6 Abs.3 und § 7 LHV NRW richten, der Grundsatz der Subsidiarität der verfassungsgerichtlichen Rechtsbehelfe entgegen.

8

aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet dieser Grundsatz auch bei einer unmittelbar gegen Rechtsnormen gerichteten Verfassungsbeschwerde Anwendung (vgl BVerfGE_69,122 <125 f>; BVerfGE_74,69 <74>; BVerfGE_90, 128 <136 f>). Er verpflichtet den jeweiligen Beschwerdeführer, mit seinem Anliegen vor einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich die dafür allgemein zuständigen Gerichte zu befassen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass das Bundesverfassungsgericht nicht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage weit reichende Entscheidungen trifft. Bei der Rechtsanwendung durch die fachlich zuständigen und insoweit sachnäheren Gerichte können - aufgrund deren besseren Sachverstands - möglicherweise für die verfassungsrechtliche Prüfung erhebliche Tatsachen zutage gefördert werden, die dem Bundesverfassungsgericht bei unmittelbarer Anrufung verschlossen blieben (vgl BVerfG, 1.Kammer des Ersten Senats, NVwZ 1999, S.867).

9

Die Pflicht zur Beschreitung des Rechtswegs zu den zunächst zuständigen Gerichten besteht allerdings dann ausnahmsweise nicht, wenn die angegriffene Regelung den Beschwerdeführer zu Dispositionen zwingt, die später nicht mehr korrigiert werden können, oder wenn die Beschreitung dieses Wegs dem Beschwerdeführer nicht zuzumuten ist. Kann der mit dem Subsidiaritätsgrundsatz insbesondere verfolgte Zweck, eine Klärung der verfassungsrechtlich relevanten Sach- und Rechtsfragen herbeizuführen, im einschlägigen Rechtsweg nicht erreicht werden, ist die vorherige Anrufung der dafür zuständigen Gerichte gleichfalls entbehrlich (vgl BVerfGE_79,1 <20>).

10

bb) Nach diesen Grundsätzen sind die Beschwerdeführer auf den Rechtsweg zu verweisen, soweit sie § 4 Abs.1, § 6 Abs.3 und § 7 LHV NRW angreifen.

11

aaa) Nach § 4 Abs.1 LHV NRW bedarf das Halten von Hunden der Anlagen 1 und 2 LHV NRW der ordnungsbehördlichen Erlaubnis. Den Beschwerdeführern ist es zuzumuten, vor Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts eine solche Erlaubnis zu beantragen und, falls sie ihnen auch im Widerspruchsverfahren nicht erteilt wird, den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten zu beschreiten, um dort die Verfassungswidrigkeit der Erlaubnispflicht geltend zu machen und so die behauptete Grundrechtsverletzung abzuwenden. Im Verwaltungsstreitverfahren steht ihnen in erster Linie die Möglichkeit der Verpflichtungsklage nach § 42 Abs.1 VwGO zur Verfügung. Bleibt die Behörde untätig, können die Beschwerdeführer nach Maßgabe des § 75 VwGO Untätigkeitsklage erheben. Schließlich kommt nach der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung auch in Betracht, dass die Beschwerdeführer nach § 43 Abs.1 VwGO auf die Feststellung der Erlaubnisfreiheit ihrer Hundehaltung klagen, wenn sie die Regelung des § 4 Abs.1 LHV NRW für verfassungswidrig und nichtig halten (vgl BVerwGE_39,247 <248>; Kopp/Schenke, VwGO, 11.Aufl 1998, § 43 Rn.12). Dieser Weg ist auch in den Bundesländern eröffnet, in denen der Gesetzgeber - wie in Nordrhein-Westfalen - von der Ermächtigung des § 47 Abs.1 Nr.2 VwGO keinen Gebrauch gemacht hat (vgl. OVG Münster, NVwZ-RR 1995, S. 138; Pietzcker, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Januar 2000, § 43 Rn.25). Kommen die angerufenen Gerichte zu der Überzeugung, § 4 Abs.1 LHV NRW sei mit dem Grundgesetz unvereinbar, können sie die Verfassungswidrigkeit der Regelung feststellen und von deren Anwendung absehen (vgl OVG Lüneburg, NVwZ 1997, S.816 <817 ff>; OVG Münster, NVwZ 1997, S.806 <807>; OVG Magdeburg, NVwZ 1999, S. 321). Denn das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich nur auf nachkonstitutionelle Gesetze im formellen Sinne, nicht dagegen auf Rechtsverordnungen (vgl BVerfGE_68,319 <326>; BVerfG, 1.Kammer des Ersten Senats, NJW 1999, S.2031).

12

bbb) Entsprechendes gilt, soweit sich die Beschwerdeführer gegen den Leinen- und Maulkorbzwang in § 6 Abs.3 LHV NRW wenden. Der Verordnungsgeber hat in § 6 Abs.4 LHV NRW die zuständige Behörde ermächtigt, für Hunde der Anlagen 1 und 2 LHV NRW Ausnahmen vom Leinen- und Maulkorbzwang zuzulassen. Es ist den Beschwerdeführern zuzumuten, eine solche Ausnahmegenehmigung zu erstreben. Sollte sie ihnen nicht gewährt werden, steht ihnen wiederum der Verwaltungsrechtsweg offen, in dem sie geltend machen können, dass der Leinen- und Maulkorbzwang - trotz der genannten Ausnahmeregelung - gegen das Grundgesetz verstoße.

13

ccc) Auch hinsichtlich § 7 LHV NRW sind die Verfassungsbeschwerden zum Bundesverfassungsgericht subsidiär. Nach dieser Vorschrift ist das Halten von Hunden der Anlagen 1 und 2 LHV NRW unter bestimmten Voraussetzungen und nach bestimmten Maßgaben zu untersagen (Absatz 1 und 2) oder es kann untersagt werden (Absatz 3). In beiden Fällen ergeht gegen den Hundehalter eine ordnungsbehördliche Verfügung, gegen die dieser bei den Verwaltungsgerichten mit der Anfechtungsklage nach § 42 Abs.1 VwGO vorgehen kann. Mit ihr können auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen die angegriffene Regelung geltend gemacht werden, die von den Verwaltungsgerichten verworfen werden kann, wenn sie diese Bedenken für berechtigt halten.

14

ddd) Es ist schließlich von den Beschwerdeführern nicht geltend gemacht worden und auch sonst nicht ersichtlich, dass sie durch die angegriffenen Regelungen zu Dispositionen veranlasst worden sind, die nicht mehr korrigiert werden können."

 

Auszug aus BVerfG E, 18.08.00, - 1_BvR_1329/00 -, www.BVerfG.de,  Abs.7 ff

§§§

00.035 Bekennerschreiben

  1. BVerfG,     B, 22.08.00,     – 1_BvR_77/96 –

  2. www.BVerfG.de NJW_01,507 -08

  3. GG_Art.5 Abs.1 S.2, GG_Art.5 Abs.2; StPO_§_53 Abs.1 Nr.5, StPO_§_97 Abs.2 S.3, StPO_§_97 Abs.5

  4. Beschlagnahme / Bekennerschreiben an Presse / Voraussetzungen.

 

LB 1) § 97 Abs.5 StPO ist verfassungsmäßig.

 

LB 2) Bekennerschreiben einer terroristischen Vereinigung, die zum Zwecke der Veröffentlichung einem Presseunternehmen übersandt worden sind, können unter bestimmten Voraussetzungen beschlagnahmt werden.

§§§

00.036 Willy Brand

  1. BVerfG,     B, 25.08.00,     – 1_BvR_2707/95 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1; KUG_§_23 Abs.1 Nr.1

  4. Verfassungsbeschwerde / Münzserie mit Bild Willy Brands / postmortales Persönlichkeitsrecht.

T-00-22

TH 1) Die Verfassungsbeschwerde wirft die Frage auf, ob das postmortale Persönlichkeitsrecht Willy Brandts durch die Edition einer Münzserie mit seinem Bild verletzt worden ist.

Abs.8

LB 2) Die mit Art.1 Abs.1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, endet nicht mit dem Tod.

 

LB 3) Dagegen besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kein Grundrechtsschutz des Verstorbenen aus Art.2 Abs.1 GG, weil Träger dieses Grundrechts nur die lebende Person ist (vgl BVerfGE_30,173 <194>).

 

LB 4) Das gemäß Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht scheidet damit als unmittelbarer Prüfungsmaßstab des angegriffenen Urteils aus.

 

LB 5) Das Bundesverfassungsgericht betont vielmehr in ständiger Rechtsprechung die Differenz zwischen Menschenwürde und allgemeinem Persönlichkeitsrecht, wie sich etwa daraus ergibt, dass die Menschenwürde im Konflikt mit der Meinungsfreiheit nicht abwägungsfähig ist, während es bei einem Konflikt der Meinungsfreiheit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht regelmäßig zu einer Abwägung kommt (vgl BVerfGE_93,266 <293 f>).

 

LB 6) Angesichts der größeren Reichweite des Persönlichkeitsschutzes lebender Personen gegenüber dem Verstorbener scheidet eine Annahme der Verfassungsbeschwerde jedenfalls dann aus, wenn sie nicht einmal am Maßstab des Persönlichkeitsschutzes Lebender Erfolg haben könnte.

Abs.13

LB 7) Nach Ansicht beider Gerichte müssen es sich "absolute" Personen der Zeitgeschichte gemäß § 23 Abs.1 Nr.1 KUG grundsätzlich gefallen lassen, der Öffentlichkeit auch ohne Einwilligung im Bild vorgestellt zu werden. Diese Duldungspflicht sei aber nicht schrankenlos.

 

LB 8) § 23 Abs.1 Nr.1 KUG wolle dem Interesse der Allgemeinheit an einer Unterrichtung über Persönlichkeiten der Zeitgeschichte dienen, weil und soweit die Öffentlichkeit sie als der Beachtung besonders wert empfinde.

 

LB 9) Der Schutzzweck der Regelung erfasse daher keine Veröffentlichungen, an denen ein schutzwürdiges Interesse der Allgemeinheit nicht anzuerkennen sei. Da auch Personen der Zeitgeschichte Anspruch darauf hätten, dass die Allgemeinheit Rücksicht auf ihre Persönlichkeit nehme, dürfe nicht außer Acht gelassen werden, dass das in § 23 Abs.1 Nr.1 KUG geschützte allgemeine Publikationsinteresse in einem Spannungsverhältnis zum Persönlichkeitsrecht des Abgebildeten stehe.

Abs.13

LB 10) Daher könne sich auf § 23 Abs.1 Nr.1 KUG nicht berufen, wer nicht einem schutzwürdigen Informationsinteresse der Allgemeinheit nachkomme, sondern durch Verwertung des Bildnisses eines anderen zu Werbezwecken allein sein Geschäftsinteresse befördern wolle.

Abs.13

LB 11) Mit diesen Erwägungen hat der Bundesgerichtshof ebenso wie zuvor bereits das Oberlandesgericht den Grundrechtsbelangen hinreichend Rechnung getragen.

Abs.16

LB 12) Bei einer Persönlichkeit wie Willy Brand liege bei der Veröffentlichung seines Bildes jedenfalls dann ein schutzwürdiges Publikationsinteresse vor, wenn sein Bild in einen für den Betrachter deutlichen Zusammenhang mit seinen Leistungen als Politiker und Staatsmann gestellt werde. Dies sei hier durch die aussagekräftigen Symbole und durch schlagwortartige verbale Umschreibungen seiner Leistungen und Ämter geschehen.

* * *

T-00-22Postmortales Persönlichkeitsrecht

5

"Die Voraussetzungen für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde liegen nicht vor.

6

1. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93a Abs.2 Buchstabe a BVerfGG). Die von ihr aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen betreffen das Verhältnis von (postmortalen) Persönlichkeitsrechten auf der einen und Informations- und Publikationsinteressen im Zusammenhang mit Abbildungen von Prominenten auf der anderen Seite. Diese Fragen sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinreichend geklärt (vgl BVerfGE_30,173; BVerfGE_101,361).

7

2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung von Verfassungsrechten angezeigt (§ 93a Abs.2 Buchstabe b BVerfGG). Das angegriffene Urteil des Bundesgerichtshofs verletzt keine Verfassungsrechte von Willy Brandt.

8

a) Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist das Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde aus Art.1 Abs.1 GG. Die mit Art.1 Abs.1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, endet nicht mit dem Tod. Dagegen besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kein Grundrechtsschutz des Verstorbenen aus Art.2 Abs.1 GG, weil Träger dieses Grundrechts nur die lebende Person ist (vgl BVerfGE_30,173 <194>). Das gemäß Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht scheidet damit als unmittelbarer Prüfungsmaßstab des angegriffenen Urteils aus. Der Beschwerdeführerin ist auch nicht darin zuzustimmen, dass die Schutzwirkungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts mit dem aus Art.1 Abs.1 GG resultierenden Schutz identisch seien. Eine solche Annahme liefe im Ergebnis auf eine Gleichsetzung der Menschenwürde mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht hinaus, welche weder der normativen Bedeutung von Art.1 Abs.1 GG gerecht würde noch in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Stütze fände. Das Bundesverfassungsgericht betont vielmehr in ständiger Rechtsprechung die Differenz zwischen Menschenwürde und allgemeinem Persönlichkeitsrecht, wie sich etwa daraus ergibt, dass die Menschenwürde im Konflikt mit der Meinungsfreiheit nicht abwägungsfähig ist, während es bei einem Konflikt der Meinungsfreiheit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht regelmäßig zu einer Abwägung kommt (vgl BVerfGE_93,266 <293 f>). Angesichts der größeren Reichweite des Persönlichkeitsschutzes lebender Personen gegenüber dem Verstorbener scheidet eine Annahme der Verfassungsbeschwerde jedenfalls dann aus, wenn sie nicht einmal am Maßstab des Persönlichkeitsschutzes Lebender Erfolg haben könnte.

9

b) Wäre das angegriffene Urteil zum Persönlichkeitsschutz Lebender ergangen, wäre von einer Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auszugehen gewesen. Zu den Schutzaspekten, die das allgemeine Persönlichkeitsrecht vermittelt, gehört das "Recht am eigenen Bild" (vgl BVerfGE_101,361 <380 ff>; stRspr). Dieses Recht gewährleistet dem Einzelnen Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten, soweit es um die Verwendung seines Bildes durch Dritte geht. Auch die stilisierte Abbildung einer Person auf einer Münze fällt in den Schutzbereich des Grundrechts, wenn die Person - wie hier - eindeutig zu identifizieren ist.

10

Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gilt allerdings nicht schrankenlos. Die Persönlichkeitsentfaltung ist gemäß Art.2 Abs.1 GG in die Grenzen der verfassungsmäßigen Ordnung verwiesen. Darunter sind alle Rechtsnormen zu verstehen, die sich formell und materiell mit dem Grundgesetz im Einklang befinden. Das ist bei § 23 KUG, auf welchen der Bundesgerichtshof sein Urteil gestützt hat, der Fall (vgl BVerfGE_101,361 <386 f>).

11

c) Die Auslegung und Anwendung verfassungsmäßiger Vorschriften des Zivilrechts ist Sache der Zivilgerichte. Sie müssen dabei aber nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bedeutung und Tragweite der von ihren Entscheidungen berührten Grundrechte beachten, damit deren wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl BVerfGE_7,198 <205 ff>). Da der Rechtsstreit ungeachtet des grundrechtlichen Einflusses ein privatrechtlicher bleibt und seine Lösung in dem - grundrechtsgeleitet interpretierten - Privatrecht findet, ist das Bundesverfassungsgericht darauf beschränkt, nachzuprüfen, ob die Zivilgerichte den Grundrechtseinfluss ausreichend beachtet haben (vgl BVerfGE_18,85 <92 f>). Dagegen ist es nicht seine Sache, den Zivilgerichten vorzugeben, wie sie den Streitfall im Ergebnis zu entscheiden haben (vgl BVerfGE_94,1 <9 f>). Ein Grundrechtsverstoß, der zur Beanstandung der angegriffenen Entscheidungen führt, liegt nur dann vor, wenn übersehen worden ist, dass bei Auslegung und Anwendung der verfassungsmäßigen Vorschriften des Privatrechts Grundrechte zu beachten waren, wenn der Schutzbereich der zu beachtenden Grundrechte unrichtig oder unvollkommen bestimmt oder ihr Gewicht unrichtig eingeschätzt worden ist, so dass darunter die Abwägung der beiderseitigen Rechtspositionen im Rahmen der privatrechtlichen Regelung leidet und die Entscheidung auf diesem Fehler beruht (vgl BVerfGE_101,361 <388>).

12

d) Unter Beachtung dieses Prüfungsumfangs ist das angegriffene Urteil des Bundesgerichtshofs verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

13

aa) Das ist unproblematisch mit Blick auf die rechtlichen Maßstäbe, von denen der Bundesgerichtshof und das Oberlandesgericht ungeachtet des entgegengesetzten Ergebnisses übereinstimmend ausgegangen sind. Nach Ansicht beider Gerichte müssen es sich "absolute" Personen der Zeitgeschichte gemäß § 23 Abs.1 Nr.1 KUG grundsätzlich gefallen lassen, der Öffentlichkeit auch ohne Einwilligung im Bild vorgestellt zu werden. Diese Duldungspflicht sei aber nicht schrankenlos. § 23 Abs.1 Nr.1 KUG wolle dem Interesse der Allgemeinheit an einer Unterrichtung über Persönlichkeiten der Zeitgeschichte dienen, weil und soweit die Öffentlichkeit sie als der Beachtung besonders wert empfinde. Der Schutzzweck der Regelung erfasse daher keine Veröffentlichungen, an denen ein schutzwürdiges Interesse der Allgemeinheit nicht anzuerkennen sei. Da auch Personen der Zeitgeschichte Anspruch darauf hätten, dass die Allgemeinheit Rücksicht auf ihre Persönlichkeit nehme, dürfe nicht außer Acht gelassen werden, dass das in § 23 Abs.1 Nr.1 KUG geschützte allgemeine Publikationsinteresse in einem Spannungsverhältnis zum Persönlichkeitsrecht des Abgebildeten stehe. Daher könne sich auf § 23 Abs.1 Nr.1 KUG nicht berufen, wer nicht einem schutzwürdigen Informationsinteresse der Allgemeinheit nachkomme, sondern durch Verwertung des Bildnisses eines anderen zu Werbezwecken allein sein Geschäftsinteresse befördern wolle.

14

Mit diesen Erwägungen hat der Bundesgerichtshof ebenso wie zuvor bereits das Oberlandesgericht den Grundrechtsbelangen hinreichend Rechnung getragen. Der Bundesgerichtshof hat die Tatbestandsvoraussetzungen des § 23 Abs.1 Nr.1 KUG nach dem Maßstab des Informationsinteresses der Allgemeinheit bestimmt. Dieser Ansatz ist - wie das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 15. Dezember 1999 ausdrücklich festgestellt hat - verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl BVerfGE_101,361 <391>). Ebenso wenig begegnet es verfassungsrechtlichen Bedenken, dass der Bundesgerichtshof § 23 Abs.1 Nr.1 KUG für unanwendbar hält, wenn das Bild einer Person ausschließlich zu Werbezwecken für ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Marke eingesetzt wird.

15

bb) Auch die Ausführungen des Bundesgerichtshofs auf der Rechtsanwendungsebene lassen keine verfassungsrechtlichen Fehler erkennen. Im Bereich der Rechtsanwendung liegt die Differenz zwischen Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof. Die Gerichte haben die Frage, ob die Beklagte des Ausgangsverfahrens mit der Herstellung und dem Vertrieb der "Abschiedsmedaille" ausschließlich eigene kommerzielle Interessen verfolgt oder zugleich ein schutzwürdiges Publikationsinteresse wahrgenommen hat, unterschiedlich beantwortet. Dass der Bundesgerichtshof dabei im Gegensatz zum Oberlandesgericht den Münzen einen gewissen Informationsgehalt beigemessen hat und davon ausgegangen ist, dass hinter dem Vertrieb der "Abschiedsmedaille" neben dem kommerziellen Interesse der Beklagten auch ein schutzwürdiges Informationsinteresse der Allgemeinheit stehe, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

16

Der Bundesgerichtshof hat sich mit der im Zentrum des Rechtsstreits stehenden Frage nach dem Informationsgehalt der Münze intensiv auseinander gesetzt und ist davon ausgegangen, dass ein zu berücksichtigendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit umso näher liegt, je stärker sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf eine Person richtet. Bei einer Persönlichkeit wie Willy Brandt sei das im besonderen Maße der Fall. Bei ihm liege bei der Veröffentlichung seines Bildes jedenfalls dann ein schutzwürdiges Publikationsinteresse vor, wenn sein Bild in einen für den Betrachter deutlichen Zusammenhang mit seinen Leistungen als Politiker und Staatsmann gestellt werde. Dies sei hier durch die aussagekräftigen Symbole und durch schlagwortartige verbale Umschreibungen seiner Leistungen und Ämter geschehen. Der Bundesgerichtshof hat sich auch mit dem Argument der Beschwerdeführerin, der Beklagte habe gerade das Sammler- und Anlageinteresse ansprechen wollen, auseinander gesetzt. Er ist davon ausgegangen, dass sich das Sammlerinteresse und die Bedeutung der Münze als Informationsträger nicht ausschlössen, sondern ohne weiteres nebeneinander stehen könnten.

17

Mit diesen Erwägungen hat der Bundesgerichtshof sein Verständnis der umstrittenen Bildveröffentlichung Willy Brandts unter Beachtung aller maßgeblichen Aspekte schlüssig begründet. Mehr fordert die Verfassung nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit nur die Beachtung der Anforderungen, welche die Verfassung an das Verständnis von Äußerungen richtet (vgl BVerfGE_94,1 <9>) und die sinngemäß auf das Verständnis von Abbildungen zu übertragen sind (vgl. BVerfG, 1.Kammer des Ersten Senats, NJW 2000, S.1026), sicherzustellen. Dagegen ist es nicht seine Sache, den Rechtsstreit selbst zu entscheiden. Dementsprechend hat es auch den Informationscharakter der umstrittenen Münzedition nicht selbst abschließend zu beurteilen oder das Verständnis der Münzen, welches der Bundesgerichtshof zugrunde gelegt hat, durch ein anderes zu ersetzen, das es für treffender hält.

18

Die Beschwerdeführerin hat in ihrer Verfassungsbeschwerde auch keine Aspekte darzulegen vermocht, welche vom Bundesgerichtshof nicht berücksichtigt worden wären. Letztlich will sie mit ihrer Verfassungsbeschwerde erreichen, dass das Bundesverfassungsgericht auf der Rechtsanwendungsebene die entscheidende Frage nach dem Informationsgehalt der Münze anders als der Bundesgerichtshof und wieder so wie das Oberlandesgericht beantwortet. Dass dies zum Persönlichkeitsschutz notwendig wäre, hat sie allerdings nicht aufzeigen können."

 

Auszug aus BVerfG B, 25.08.00, - 1_BvR_2707/95 -, www.BVerfG.de,  Abs.5 ff

§§§

00.037 Grundbucheinsicht

  1. BVerfG,     B, 28.08.00,     – 1_BvR_1307/91 –

  2. www.BVerfG.de NJW_01,503 -06 = JuS_01,697 -00

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.5 Abs.1 S.2, GG_Art.5 Abs.2, GG_Art.14 Abs.1, GG_Art.19 Abs.3; GBO_§_12 Abs.1

  4. Einsicht ins Grundbuch / Presse / berechtigtes Interesse / Bewertung.

 

LB 1) Da § 12 GBO kein allgemeines Einsichtsrecht gewährt, ist das Erfordernis einer Darlegung des berechtigten Interesses verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

 

LB 2) Die Darlegung des berechtigten Interesses ist weniger als Glaubhaftmachung und nicht mit der Darlegung eines rechtlichen Interesses zu verwechseln.

 

LB 3) Verlangt die Presse Einsicht in das Grundbuch müssen die Anforderungen an das berechtigte Interesse selbst und an dessen Darlegung der Besonderheit einer freien Presse Rechnung tragen. Das von der Presse dargelegte Informationsinteresse muß vom Grundbuchamt als solches - also nach Prüfung seines Bestehens ohne eigene Bewertung - dem weiteren Vorgehen zu Grunde gelegt werden.

 

LB 4) Ist eine publizistisch geeignete Information zu erwarten, wenn sich die Vermutung als zutreffend erweist, dann ist mit der Darlegung dieser Vermutung auch das Informationsinteresse hinreichend belegt.

 

LB 5) Eine Abwägung mit den Interessen der Eingetragenen an der Nichtzugänglichkeit der Daten kommt im Zuge der Prüfung der Eignung und Erforderlichkeit nicht in Betracht.

 

LB 6) Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung kommt der Abwägung zwischen dem Informationsinteresse und dem Persönlichkeitsrecht Bedeutung zu. Dabei hat das Zugangsinteresse der Presse Vorrang, wenn es um Fragen geht, die die Öffentlichkeit wesentlich angehen und wenn die Recherche der Aufbereitung einer ernsthaften und sachbezogenen Auseinandersetzung dient.

 

LB 7) Ein Anhörung des Eigentümers des Grundstücks im Rahmen der Anwendung des § 12 GBO ist verfassungsrechtlich nicht geboten.

§§§

00.038 Auskunftsanspruch

  1. BVerfG,     B, 10.10.00,     – 1_BvR_586/90 –

  2. www.BVerfG.de = DVBl_01,275 -78 = NVwZ_01,185

  3. GG_Art.1; (aF) BDSG_§_12 Abs.1, BDSG_§_13 Abs.2 Nr.1; BVerfSchG_§_12; (Bl) ASOG_§_50

  4. Akteneinsichtsrecht / Darlegungsanforderungen / informationnelle Selbstbestimmung / pauschale Ablehnung.

T-00-23

LB 1) § 15 Abs.1 BVerfSchG ermächtigt nicht dazu einen Antrag mit dem Auskunft über sämtliche zur Person gespeicherte Daten begehrt wird pauschal abzulehnen.

Abs.17

LB 2) Soweit § 15 Abs.2 BVerfSchG den in § 15 Abs.1 BVerfSchG grundsätzlich gewährten Auskunftsanspruch durch eine Reihe gegenläufiger Belange einschränkt, darf die Auskunft nur abgelehnt werden, soweit der behördliche Umgang mit jeweiligen Informationen und Daten überhaupt auf Grund bestimmter Belange geheimhaltungsbedürftig ist und eine im Einzelfall erfolgende Abwägung solcher konkret bestehender Belange mit den geschützten Interessen der betroffenen Person ergibt, dass diese Interessen zurückstehen müssen.

Abs.17

LB 3) Die Gründe der Auskunftsverweigerung sind aktenkundig zu machen, damit sie der gerichtlichen Überprüfung zugänglich sind.

Abs.18

LB 4) Die Beurteilung der Geheimhaltungsbedürftigkeit erfordert auch im Bereich der Aufgaben des Verfassungsschutzes eine differenzierte Betrachtung und darf sich nicht in abstrakten Überlegungen erschöpfen.

Abs.19

LB 5) Wird ein Auskunftsanspruch zugunsten des Betroffenen geändert, ist es ihm umbenommen, einen neuen Antrag auf Auskunft zu stellen, der nach den neuen gesetzlichen Bestimmungen beschieden werden muß.

Abs.11

LB 6) Darlegungsanforderungen im Rahmen von Auskunftsansprüchen (§ 50 Abs.1 S.2 BerlASOG) dienen dazu, der Behörde die Auskunft zu erleichtern und diese zugleich im Interesse des Auskunftsbegehrenden zu beschleunigen. Ein Auskunftsanspruch ohne nähere Darlegung darf keineswegs ohne weiteres abgelehnt werden.

* * *

T-00-23Darlegungsanforderungen

8

"Der vorliegende Rechtsstreit gibt keinen Anlass, solche Grundsatzfragen aufzuwerfen. Durch die seit dem Volkszählungsurteil erfolgte gesetzliche Ausgestaltung von Auskunftsrechten und -pflichten tragen die Gesetzgeber dem in Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG enthaltenen Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (vgl BVerfGE_65,1 <41 ff> ) Rechnung und ermöglichen es den Bürgern, gegebenenfalls gerichtlichen Rechtsschutz gegen einen unrechtmäßigen Umgang mit Daten in Anspruch zu nehmen. Durch den grundsätzlich gewährleisteten Anspruch auf Auskunft oder gegebenenfalls auf Akteneinsicht hat sich die Rechtsposition der Beschwerdeführerin im Vergleich zu der bis dahin zugrunde gelegten Lage verstärkt.

9

Der gesetzlich gewährleistete Auskunfts- oder auch Akteneinsichtsanspruch wird in beiden Regelungen zum einen mit Darlegungsanforderungen versehen, zum anderen zugunsten der den Kenntnisinteressen entgegenstehenden Belange eingeschränkt. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin ändert das nichts daran, dass die neuen gesetzlichen Regelungen eine für sie günstigere Rechtslage geschaffen haben.

10

a) Die in den Gesetzen enthaltenen Darlegungsanforderungen stellen die Auskunftserteilung nicht im Ergebnis wieder in ein Ermessen oder jedenfalls nicht in ein der vormaligen Rechtslage entsprechendes Ermessen der Behörde. Ein Auskunftsantrag ohne nähere Darlegungen darf auch keineswegs ohne weiteres abgelehnt werden.

11

aa) § 50 Abs.1 Satz 2 ASOG Bln, nach dem in dem Antrag die Art der Daten, über die Auskunft begehrt wird, näher bezeichnet werden soll, stellt eine Soll-Vorschrift dar, die dem Zweck dient, der Behörde die Auskunftserteilung zu erleichtern und diese zugleich im Interesse des Auskunftsbegehrenden zu beschleunigen (vgl die Begründung zu § 11 des Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz vor Missbrauch personenbezogener Daten bei der Datenverarbeitung , dem § 50 Abs.1 Satz 2 ASOG Bln nachgebildet ist, BTDrucks 7/1027, S.26, sowie den Bericht und Antrag des Innenausschusses zu § 11 des Gesetzentwurfes, BTDrucks 7/5277, S.7). Auch § 50 Abs.1 Satz 3 ASOG Bln, nach dem bei einem Antrag auf Auskunft aus Akten erforderlichenfalls verlangt werden kann, dass Angaben gemacht werden, die das Auffinden der Daten ohne einen Aufwand ermöglichen, der außer Verhältnis zu dem von der betroffenen Person geltend gemachten Informationsinteresse steht, dient dem Zweck, einen im Hinblick auf das Informationsinteresse unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand zu vermeiden (vgl. die Begründung zu der leitbildenden Fassung in § 3e VwVfG des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Datenverarbeitung und des Datenschutzes, BTDrucks 11/4306, S.58). Die Tatbestandsvoraussetzung, dass Angaben zum Auffinden der Daten nur erforderlichenfalls verlangt werden dürfen, bringt dies deutlich zum Ausdruck. Insbesondere erlaubt die Bestimmung es der Behörde nicht, über Daten, deren Vorhandensein ihr bekannt ist oder die sie ohne unverhältnismäßigen Aufwand finden kann, nur deshalb keine Auskunft zu erteilen, weil die betroffene Person keine näheren Angaben macht. Das in § 50 Abs.1 Satz 4 ASOG Bln eingeräumte Ermessen, den Antrag abzulehnen, sofern die Person dem Verlangen nach näheren Angaben nicht nachkommt, ist nach Maßgabe des Zwecks der Regelung auszufüllen und nicht etwa mit Rücksicht auf Geheimhaltungsinteressen oder -wünsche. Abgesehen davon, dass die Beschwerdeführerin im gerichtlichen Ausgangs- und im Verfassungsbeschwerdeverfahren zum Teil einen Sachverhalt dargelegt hat, auf Grund dessen jedenfalls insoweit über die von ihr erwünschte Auskunft Klarheit besteht, lassen die Bestimmungen somit auch die von ihr befürchtete pauschale Ablehnung der Auskunftserteilung bei einem auf Auskunft über sämtliche zur Person gespeicherten Daten gerichteten Antrag nicht zu.

12

bb) § 15 Abs.1 BVerfSchG macht die Auskunftspflicht von dem Hinweis auf einen konkreten Sachverhalt und von einem besonderen Auskunftsinteresse abhängig. Die Beschwerdeführerin kann diese Anforderungen im Hinblick auf den Sachverhalt erfüllen, den sie im Ausgangsverfahren und in der Verfassungsbeschwerde vorgetragen hat. Aber auch soweit sie keine näheren Angaben macht, ist § 15 Abs.1 BVerfSchG nicht zu entnehmen, dass das Bundesamt für Verfassungschutz ihren Antrag ohne weiteres ablehnen dürfte. Nach dem einfachgesetzlichen Regelungsgehalt, der unter Beachtung der Grundrechtsvorgaben auszulegen und anzuwenden ist, entfällt in einem solchen Fall lediglich die Auskunftspflicht (vgl auch die Beschlussempfehlung und den Bericht des Innenausschusses, BTDrucks 12/4094, S.3, 11 ff). Das verbleibende Ermessen, Auskunft zu erteilen, ist nach Maßgabe des Zwecks der Regelung auszuüben. Neben dem auch den allgemeinen einschlägigen Vorschriften zugrunde liegenden Ziel, einen im Hinblick auf das Informationsinteresse unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand zu vermeiden, soll die Regelung Ausforschungsgefahren begegnen. Dabei handelt es sich um einen legitimen Belang, sofern die gestellten Anforderungen mit Rücksicht auf die konkrete Erfüllung der jeweiligen Aufgabe erforderlich und im Hinblick auf das jeweilige Informationsinteresse verhältnismäßig sind. Die Möglichkeit, jeden Antrag, mit dem Auskunft über sämtliche zur Person gespeicherten Daten begehrt wird, pauschal abzulehnen, ergibt § 15 Abs.1 BVerfSchG nicht.

13

b) Die in den Bestimmungen jeweils enthaltenen Einschränkungen zugunsten der den Kenntnisinteressen entgegenstehenden Belange führen ebenfalls nicht dazu, dass die Auskunftserteilung wieder im Ermessen der Behörde stünde oder ohne weiteres verweigert werden könnte. Die Beschwerdeführerin hätte bei neuen Auskunftsanträgen auch keine gleich oder ähnlich lautenden Bescheide zu erwarten.

14

Die Gesetzgeber haben den Auskunftsanspruch in eingegrenzter Weise gewährleistet, nämlich nur soweit legitime Belange, die das Recht auf Kenntnisgewähr überwiegen, diesem entgegenstehen. Die gesetzlichen Vorgaben zielen dabei auf die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Zugleich sehen sie einen Anspruch des Betroffenen vor, die Gründe für eine Entscheidung zu erfahren, auf Grund derer die Verwaltung dem Betroffenen den ihm rechtlich prinzipiell zustehenden Anspruch verweigert. Dabei haben die Gesetzgeber die Pflicht zur Begründung ihrerseits im Hinblick auf die der Verweigerung der Kenntnisgewähr zugrunde liegenden Geheimhaltungsbelange eingeschränkt. Denn diese Pflicht reicht nicht so weit, dass die Gründe einer Ablehnung der Kenntnisgewähr in einer Weise dargelegt werden müssten, die eine Offenbarung der geheimzuhaltenden Tatsachen bedeutete (vgl dazu BVerwGE_74,115 <120>; OVG Berlin, NVwZ 1987, S.817 <820>). Im Falle einer nur eingeschränkten Begründung der Auskunftsablehnung muss aber wiederum dargelegt werden, dass deren Voraussetzungen vorliegen, damit die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung nicht vollständig verschlossen bleibt (vgl dazu BVerwGE_74,115 <120, 124>; OVG Bremen, NJW 1987, S.2393 <2396>; OVG Berlin, NVwZ 1987, S.817 <820>).

15

aa) Nach § 50 Abs.2 ASOG Bln besteht eine Verpflichtung zur Auskunftserteilung nicht, soweit eine Abwägung ergibt, dass die schutzwürdigen Belange der betroffenen Person hinter dem öffentlichen Interesse an der Geheimhaltung oder einem überwiegenden Geheimhaltungsinteresse Dritter zurückstehen müssen. Für diese am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierte Konkretisierung des Leistungsrechts auf Auskunft ist gesetzlich gesichert, dass - wie es den das Individuum schützenden Grundrechtsmaßgaben entspricht - die schutzwürdigen Belange gerade der betroffenen Person in der Abwägung zu beachten sind. Damit ist insbesondere die dem im Verfahren 1_BvR_586/90 angegriffenen Bescheid unter anderem in verallgemeinerter Form zugrunde liegende Erwägung ausgeschlossen, zur Vermeidung einer Ausforschung werde in einer schematischen Abfolge die Auskunft auch bei Fehlen jeglicher Daten verweigert, da bereits durch die Differenzierung zwischen Negativauskunft und Auskunftsverweigerung Rückschlüsse über die Datenspeicherung gewonnen werden könnten. Danach könnte es im vorliegenden Fall sein, dass über die Beschwerdeführerin keine Daten gespeichert sind, dass ihr aber als in der schematischen Abfolge zehnte Person keine Auskunft erteilt worden ist. Ein solches Vorgehen entsprach nur unter der streng zu begrenzenden Ausnahme besonders geheimhaltungsbedürftiger Bereiche, in denen bereits der Möglichkeit des Rückschlusses auf vorhandene Datenspeicherungen überwiegende staatliche Belange entgegenstehen, dem Gesetz. Im Übrigen wäre es mit dem den Betroffenen nach § 50 Abs.1 Satz 1 ASOG Bln jeweils individuell grundsätzlich zustehenden Auskunftsanspruch unvereinbar.

16

Im Einklang mit den grundrechtlichen Maßgaben ist § 50 Abs.2 ASOG Bln im Übrigen zu entnehmen, dass die Auskunft nur verweigert werden darf, soweit der polizeiliche Umgang mit den jeweiligen Informationen und Daten überhaupt auf Grund konkretisierter Belange geheimhaltungsbedürftig ist und eine im Einzelfall erfolgende Abwägung solcher Belange mit den geschützten Interessen des Auskunftsbegehrenden ergibt, dass diese Interessen zurückstehen müssen. Eine Kenntnisverweigerung ist grundsätzlich hinreichend zu begründen. Von einer Begründung darf nach § 50 Abs.3 ASOG Bln nur insoweit abgesehen werden, als durch die Mitteilung der Gründe, auf die die Entscheidung gestützt wird, der mit der Auskunftsverweigerung verfolgte Zweck gefährdet würde. Dabei hat die Behörde auch die Möglichkeit von Teilauskünften zu prüfen. Wird die Auskunft nicht gewährt, ist die betroffene Person darauf hinzuweisen, dass sie sich an den Datenschutzbeauftragten wenden kann. Soweit die Behörde die Auskunft verweigert und dies lediglich in begrenzter Weise begründet, muss sie triftig darlegen, dass die Voraussetzungen einer eingeschränkten Begründung der Auskunftsablehnung gegeben sind. Es reicht nicht aus, wenn die Begründung einer Auskunftsverweigerung pauschal auf eine Gefährdung der Effektivität der behördlichen Aufgabenerfüllung oder eine Geheimhaltungsbedürftigkeit wegen der Natur der Sache verweist, den Gesetzestext wiederholt oder pauschal auf eine Gefährdung des Zwecks des Auskunftsverweigerungsrechts hinweist (vgl BVerwGE_74,115 <120 f>; OVG Berlin, NVwZ 1987, S.817 <820>). Ausführungen, die sich - wie in dem im Verfahren 1_BvR_586/90 angegriffenen Bescheid - darauf beschränken, die maßgebliche Vorschrift wieder zu geben, das Abwägungsergebnis der Auskunftsablehnung mitzuteilen und jede nähere Begründung mit einem pauschalen Hinweis darauf vorzuenthalten, anderenfalls werde der Zweck der Auskunftsablehnung unterlaufen, würden den Anforderungen der neuen gesetzlichen Regelung nicht gerecht, es sei denn, durch jede nähere Mitteilung der Gründe werde der mit der Auskunftsverweigerung verfolgte Zweck gefährdet. In einem solchen Fall bliebe - außer der Einschaltung des Datenschutzbeauftragten - allerdings eine gerichtliche Überprüfung der Gründe nach den vom Bundesverfassungsgericht in dem Beschluss vom 27.Oktober 1999 dargelegten Grundsätzen möglich (BVerfGE_101,106 <124 ff>).

17

bb) Nach § 15 Abs.2 BVerfSchG unterbleibt die Auskunftserteilung, soweit eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung durch die Auskunftserteilung zu besorgen ist, durch die Auskunftserteilung Quellen gefährdet sein können oder die Ausforschung des Erkenntnisstandes oder der Arbeitsweise des Bundesamtes für Verfassungsschutz zu befürchten ist oder die Auskunft die öffentliche Sicherheit gefährden oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde oder die Daten oder die Tatsache der Speicherung nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen nach, insbesondere wegen der überwiegenden berechtigten Interessen eines Dritten, geheim gehalten werden müssen. Die Norm grenzt den nach § 15 Abs.1 BVerfSchG grundsätzlich gegebenen Auskunftsanspruch durch eine Reihe konkretisierter gegenläufiger Belange ein. Auch in diesem Rahmen darf die begehrte Auskunft nur abgelehnt werden, soweit der behördliche Umgang mit den jeweiligen Informationen und Daten überhaupt auf Grund bestimmter Belange geheimhaltungsbedürftig ist und eine im Einzelfall erfolgende Abwägung solcher konkret bestehenden Belange mit den geschützten Interessen der betroffenen Person ergibt, dass diese Interessen zurückstehen müssen. Die Gründe der Auskunftsverweigerung sind aktenkundig zu machen; dadurch werden sie der gerichtlichen Überprüfung zugänglich. In der Norm ist ebenfalls die Einschaltung des Datenschutzbeauftragten vorgesehen (§ 15 Abs.4 Sätze 3 bis 5 BVerfSchG).

18

Die Beurteilung der Geheimhaltungsbedürftigkeit erfordert auch im Bereich der Aufgaben des Verfassungsschutzes eine differenzierende Betrachtung und darf sich nicht in abstrakten Überlegungen erschöpfen (vgl BVerfGE_101,106 <125> ; BVerwGE_74,115 <120 ff>; OVG Bremen, NJW 1987, S.2393 <2395 ff>). Der in dem Verfahren 1 BvR 673/90 angegriffene Bescheid des Bundesamtes für Verfassungsschutz über die Auskunftsablehnung wird dagegen unter Hinweis auf die in § 13 Abs.2 in Verbindung mit § 12 Abs.2 Nr.1 BDSG aF vorgesehene Befreiung von der grundsätzlichen Auskunftspflicht damit begründet, dass die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben die generelle Geheimhaltung etwaiger Erkenntnisse erfordere und das öffentliche Interesse an einer Geheimhaltung der Ermittlungsarbeit Vorrang vor dem privaten Interesse auf Auskunftserteilung habe. Er beschränkt sich somit auf eine floskelhafte Wiedergabe von Gesichtspunkten, die abstrakt unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmtem Umfang eine Geheimhaltungsbedürftigkeit begründen könnten, konkret aber nicht vorliegen müssen, und lässt im Übrigen eine Abwägung nicht erkennen. Eine solche abstrakt-pauschale Abwägung zugunsten einer Regelablehnung wäre mit der neuen gesetzlichen Bestimmung des § 15 BVerfSchG nicht in Einklang zu bringen.

19

3. Nach allem könnte die Beschwerdeführerin im Falle neuer Auskunftsanträge mit ihrem Begehren bereits beim Polizeipräsidenten und beim Bundesamt für Verfassungsschutz Erfolg haben. Soweit sie vorbringt, an einer erneuten Antragstellung gehindert zu sein, übersieht sie, dass ihr Begehren jeweils rechtskräftig abgelehnt worden ist, neuen Anträgen angesichts der geänderten Rechtslage aber nichts entgegensteht.

20

Im Übrigen ist nicht zu erkennen, dass die Beschwerdeführerin ein rechtlich schutzwürdiges Interesse an der Klärung der Rechtmäßigkeit der Auskunftsverweigerung nach altem Recht hat. Das Rechtsschutzinteresse für eine Verfassungsbeschwerde muss nicht nur bei Antragseingang, sondern auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen (vgl BVerfGE_21,139 <143>; BVerfGE_81,138 <140>)."

 

Auszug aus BVerfG B, 10.10.00, - 1_BvR_586/90 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.8 ff

§§§

00.039 Deutschland muß sterben

  1. BVerfG,     B, 03.11.00,     – 1_BvR_581/00 –

  2. www.BVerfG.de = DVBl_01,278 -80

  3. GG_Art.2, GG_Art.5; BVerfGG_§_93a, BVerfGG_§_93c; StGB_§_90a

  4. Lied "Deutschland muß sterben" / Punkrock-Gruppe Slime / Kunst / Kunstfreiheit / Verbreitung des Liedes / Einschränkung der Kunstfreiheit.

 

LB 1) Das Lied "Deutschland muß sterben" der Hamburger Punkrock-Gruppe Slime ist Kunst im Sinne Art.5 Abs.3 GG.

 

LB 2) Die Kunstfreiheit schützt auch die Verbreitung des Liedes, also den Wirkbereich des Kunstwerks.

 

LB 3) Eine Gefährdung des Bestandes der rechtsstaatlichen verfassten Demokratie in der BRD kann zwar, da es sich um ein verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut handelt grundsätzlich eine Einschränkung der Kunstfreiheit rechtfertigen. Ob aber das einmalige Abspielen eines dreiminütigen Liedes vor 50 Versammlungsteilnehmern, die öffentlichtlich durchweg das Lied bereits kannten und mitsangen, die gebührende Achtung der Bürger vor dem Staat ausgehölt und untergraben werden kann, erscheint zumindest zweifelhaft.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Der Beschluss des Kammergerichts vom 17. Februar 2000 - (4) 1 Ss 418/99 (5/00) -, das Urteil des Landgerichts Berlin vom 24.September 1999 - (568) 81 Js 2304/97 Ns (1/99) - und das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 2. November 1998 - 243 Ds 38/98 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Tiergarten in Berlin zurückverwiesen.

Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 20.000 DM (in Worten: zwanzigtausend Deutsche Mark) festgesetzt.

§§§

00.040 Kundenkonten

  1. BVerfG,     B, 15.11.00,     – 1_BvR_1213/00 –

  2. www.BVerfG.de NJW_01,811 -12

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.12 Abs.1, GG_Art.19 Abs.3; (77) AO_§_93, AO_§_107

  4. Auskunftspflicht / Finanzämter / § 93 AO (77) / Bestimmtheit / Verhältnismäßigkeit / Gemeinwohl.

 

LB 1) Die Auskunftspflicht des § 93 AO 1977 beruht auf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage, ist durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls begründet und verletzt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht.

 

LB 2) Die Pflicht der Energieversorgungsunternehmen, den Finanzämtern im Rahmen der Vollstreckung von Steuerforderungen nach § 93 AO 1977 Auskunft über die Kontoverbindungen ihrer Kunden zu erteilen ist eine zumutbare Belastung, die das Grundgesetz nicht verletzt.

§§§

00.041 EALG

  1. BVerfG,     U, 22.11.00,     – 1_BvR_2307/94 –

  2. BVerfGE_102,254 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1; BVerfGG_§_93 Abs.3; BGB_§_187 Abs.2

  4. Vermögensschäden / Wiedergutmachung / Sozialstaatsgebot / Ausgestaltung / Rechtsstaatsprinzip / Gleichheitssatz / Willkürverbot.

 

1) Eine Pflicht der Bundesrepublik Deutschland zur Wiedergutmachung von Vermögensschäden, die eine nicht an das Grundgesetz gebundene Staatsgewalt zu verantworten hat, lässt sich nicht aus einzelnen Grundrechten herleiten. Sie kann sich jedoch aus dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes ergeben. Bei der Ausgestaltung der Wiedergutmachung im Einzelnen sind das Rechtsstaatsprinzip und der allgemeine Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot zu beachten.

 

2) Zur Anwendung dieser Grundsätze auf die Wiedergutmachung von Vermögensschäden nach dem Entschädigungsgesetz, dem Ausgleichsleistungsgesetz und dem NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz.

 

3) Die Jahresfrist des § 93 Abs.3 BVerfGG für die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein Gesetz ist nach den §§ 187 ff BGB zu berechnen. Demzufolge endet die Frist, wenn das angegriffene Gesetz am Beginn eines Tages in Kraft getreten ist, gemäß § 187 Abs.2 in Verbindung mit § 188 Abs.2 Alternative 2 BGB mit dem Ablauf des Tages des letzten Monats des Folgejahres, der dem Tag vorausgeht, der durch seine Benennung oder seine Zahl dem Anfangstag der Frist entspricht.

§§§

00.042 Bennetton-Werbung

  1. BVerfG,     U, 12.12.00,     – 1_BvR_1762/95 –

  2. BVerfGE_102,347 = www.BVerfG.de = = NJW_01,591 = JuS_01,601 -04

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.5 Abs.1 S.1, GG_Art.5 Abs.1 S.2, GG_Art.20a; UWG_§_1; BGB_§_1004

  4. Zeitschriftenverleger / Pressefreiheit / Untersagung / Werbung / gesellschaftskritische Imagewerbung.

T-00-24

1) Die Pressefreiheit eines Zeitschriftenverlegers kann verletzt werden, wenn ihm die Veröffentlichung von Werbeanzeigen untersagt wird, für die der Werbende den Schutz der Meinungsfreiheit genießt.

 

2) Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung von Imagewerbung mit gesellschaftskritischen Themen (Benetton-Werbung).

* * *

T-00-24Pressefreiheit

39

"1. Der Schutzbereich der Pressefreiheit umfasst den gesamten Inhalt eines Presseorgans, darunter auch Werbeanzeigen (vgl BVerfGE_21,271 <278 f>; BVerfGE_64,108 <114>). Soweit Meinungsäußerungen Dritter, die den Schutz des Art.5 Abs.1 Satz 1 GG genießen, in einem Presseorgan veröffentlicht werden, schließt die Pressefreiheit diesen Schutz mit ein: Einem Presseorgan darf die Veröffentlichung einer fremden Meinungsäußerung nicht verboten werden, wenn dem Meinungsträger selbst ihre Äußerung und Verbreitung zu gestatten ist. In diesem Umfang kann sich das Presseunternehmen auf eine Verletzung der Meinungsfreiheit Dritter in einer gerichtlichen Auseinandersetzung berufen. Das gilt auch in einem Zivilrechtsstreit über wettbewerbsrechtliche Unterlassungsansprüche.

40

Der - hier in den Schutz der Pressefreiheit eingebettete - Schutz des Art.5 Abs.1 Satz 1 GG erstreckt sich auch auf kommerzielle Meinungsäußerungen sowie reine Wirtschaftswerbung, die einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat (vgl BVerfGE_71,162 <175> ). Soweit eine Meinungsäußerung - eine Ansicht, ein Werturteil oder eine bestimmte Anschauung - in einem Bild zum Ausdruck kommt, fällt auch dieses in den Schutzbereich von Art.5 Abs.1 Satz 1 GG (vgl BVerfGE_30,336 <352>; BVerfGE_71,162 <175>).

41

Alle drei streitigen Werbefotos entsprechen diesen Voraussetzungen. Sie veranschaulichen allgemeine Missstände (Umweltverschmutzung, Kinderarbeit, Ausgrenzung von H.I.V.-Infizierten) und enthalten damit zugleich ein (Un-)Werturteil zu gesellschaftlich und politisch relevanten Fragen. Es sind sprechende Bilder mit meinungsbildendem Inhalt. Davon gehen auch die angegriffenen Urteile aus, wenn in ihnen ausgeführt wird, die Anzeigen prangerten das Elend der Welt an. Meinungsäußerungen, die dies bezwecken und damit die Aufmerksamkeit des Bürgers auf allgemeine Missstände lenken, genießen den Schutz des Art.5 Abs.1 Satz 1 GG in besonderem Maße (vgl BVerfGE_28,191 <202>).

42

Daran ändert es nichts, dass die Firma Benetton die genannten Themen im Rahmen einer reinen Imagewerbung aufgreift, auf jeden Kommentar verzichtet und sich nur durch das Firmenlogo zu erkennen gibt. Dadurch kann zwar der Eindruck entstehen, dass es dem werbenden Unternehmen nicht um einen Beitrag zur Meinungsbildung, sondern nur darum geht, sich ins Gespräch zu bringen. Eine solche Deutung, durch die eine subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt der Aussage in Frage gestellt wird, ist jedoch nicht die einzig mögliche, ja nicht einmal besonders nahe liegend. In der öffentlichen Wahrnehmung werden die von den Anzeigen ausgehenden Botschaften durchaus der Firma Benetton als eigene zugerechnet, und auch die Gerichte haben in dieser Hinsicht keine Zweifel geäußert. Auch nach Ansicht des Fotografen Oliviero Toscani, der die Anzeigen gestaltet hat, benutzt Benetton sie als "Vehikel, um eine antirassistische kosmopolitische und tabulose Geisteshaltung" zu verbreiten (Oliviero Toscani, Die Werbung ist ein lächelndes Aas, 3.Aufl 2000, S.44).

43

2. Das in den angegriffenen Urteilen bestätigte Verbot, die umstrittenen Anzeigen der Firma Benetton in der illustrierten Wochenzeitschrift "Stern" erneut abzudrucken, schränkt die Beschwerdeführerin in ihrer Pressefreiheit ein. Da das Verbot mit der Androhung eines Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 500.000 DM - ersatzweise Ordnungshaft - oder Ordnungshaft von sechs Monaten für den Fall eines Verstoßes verbunden ist, ist sie faktisch an einer künftigen Veröffentlichung dieser Anzeigen gehindert.

44

3. Dieses Verbot ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.

45

a) § 1 UWG, auf den der Bundesgerichtshof das Veröffentlichungsverbot stützt, ist ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art.5 Abs.2 GG (vgl BVerfGE_62,230 <245>; BVerfGE_85,248 <263> ). Es dient dem Schutz der Konkurrenten, der Verbraucher und sonstigen Marktbeteiligten sowie der Allgemeinheit (vgl. Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 21.Aufl 1999, UWG Einl, Rn.42, 51, 55; Emmerich, Das Recht des unlauteren Wettbewerbs, 5.Aufl 1998, S.13). Die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung darf nicht dazu führen, dass Einzelne sich durch unzulässige Praktiken Vorteile im Wettbewerb verschaffen. Diese Ziele stehen mit der Wertordnung des Grundgesetzes in Einklang (vgl BVerfGE_32,311 <316>).

46

b) Soweit die Beschwerdeführerin rügt, § 1 UWG sei nicht bestimmt genug oder einer Auslegung für Fälle der vorliegenden Art von vornherein nicht zugänglich, kann dem nicht gefolgt werden.

47

Bei dem in § 1 UWG enthaltenen Verbot, im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Handlungen vorzunehmen, die gegen die guten Sitten verstoßen, handelt es sich um eine Generalklausel, mit der der Gesetzgeber im Hinblick auf die unübersehbare Vielfalt möglicher Verhaltensweisen im geschäftlichen Wettbewerb die missbilligten Wettbewerbshandlungen in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise umschrieben hat (vgl BVerfGE_32,311 <317> ). Eine genauere Regelung erscheint nach der Eigenart des zu ordnenden Sachverhalts und mit Rücksicht auf den Normzweck kaum möglich. Unter diesen Voraussetzungen sind unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln grundsätzlich unbedenklich. Dass auch neuartige Fallgestaltungen darunter subsumiert werden können, liegt in ihrer Funktion und ihrem Wesen begründet. Wäre dies ausgeschlossen, könnten sie der Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte, die der Normzweck erfassen will, nicht gerecht werden. Die einer richterlichen Rechtsfortbildung durch Art.20 Abs.2 und 3 GG gesetzten Grenzen (vgl BVerfGE_96,375 <394 f>) hat der Bundesgerichtshof bei seiner erweiternden Auslegung des § 1 UWG gewahrt.

48

c) Ebenso wenig greifen die von der Beschwerdeführerin im Verfahren 1_BvR_1787/95 dagegen erhobenen Bedenken durch, dass sie zur Unterlassung einer künftigen Veröffentlichung der beiden Anzeigen verpflichtet wurde, weil sie deren wettbewerbsrechtliche Unbedenklichkeit bis zum Abschluss des Verfahrens geltend gemacht und sich insoweit des Rechts berühmt hat, sie auch künftig zu veröffentlichen. Die Beschwerdeführerin sieht darin eine Verletzung ihrer Pressefreiheit, weil ihr damit auch in Zweifelsfällen eine Unterwerfung unter die Rechtsansicht des Prozessgegners beziehungsweise der Vorinstanz auferlegt werde.

49

Durch die Herleitung einer "Erstbegehungsgefahr" aus dem prozessualen Verhalten des Presseunternehmens wird die Pressefreiheit nicht verletzt. Die Anwendung dieser zu § 1004 BGB entwickelten Lehre trägt in Fällen der vorliegenden Art dem Umstand Rechnung, dass Presseunternehmen Anzeigen nur auf grobe Wettbewerbsverstöße hin zu prüfen brauchen. Mit dieser Beschränkung der Prüfungspflicht nimmt die Rechtsprechung auf die pressespezifischen Bedingungen bei der Publikation von Anzeigen und damit auch auf das Grundrecht der Pressefreiheit in angemessener Weise Rücksicht. Beim Umfang des Anzeigengeschäfts kann sich ein Presseunternehmen schwerlich in allen Einzelheiten Klarheit über die Wettbewerbsmäßigkeit einer bei ihm aufgegebenen Annonce verschaffen. Wird darüber jedoch ein Rechtsstreit geführt, so ist ihm eine verantwortliche Prüfung ohne weiteres zuzumuten. Mit der dazu geforderten Erklärung wird ihm die Berufung auf seine zunächst geringere Sorgfaltspflicht ebenso wenig abgeschnitten wie die Behauptung des Rechtsstandpunktes, die Anzeige sei nicht wettbewerbswidrig. Von einem Zwang zur Unterwerfung unter den Rechtsstandpunkt des Prozessgegners oder der Vorinstanz kann daher keine Rede sein. Dass der Bundesgerichtshof eine Erstbegehungsgefahr, die einen Unterlassungsanspruch begründet, annimmt, wenn das Presseunternehmen uneingeschränkt daran festhält, die Anzeige sei wettbewerbsrechtlich unbedenklich, leuchtet ein und ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

50

d) Mit Erfolg macht die Beschwerdeführerin jedoch geltend, der Bundesgerichtshof habe bei seiner wettbewerbsrechtlichen Bewertung der Anzeigen Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit verkannt.

51

aa) Berührt eine zivilrechtliche Entscheidung die Meinungsfreiheit, so fordert Art.5 Abs.1 Satz 1 GG, dass die Gerichte der Bedeutung dieses Grundrechts bei der Auslegung und Anwendung des Privatrechts Rechnung tragen (vgl BVerfGE_7,198 <206 ff>; BVerfGE_86,122 <128 f>; stRspr). Die angegriffenen Urteile beruhen auf § 1 UWG, einer Vorschrift des bürgerlichen Rechts. Dessen Auslegung und Anwendung auf den einzelnen Fall ist Sache der Zivilgerichte. Das Bundesverfassungsgericht kann nur eingreifen, wenn Fehler erkennbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl.BVerfGE_18,85 <92 f>; stRspr). Das ist hier der Fall.

52

bb) Der Bundesgerichtshof hat zwar zutreffend erkannt, dass es sich bei den Anzeigen um Meinungsäußerungen handelt, die wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Probleme zum Gegenstand haben und daher den Schutz des Art.5 Abs.1 Satz 1 GG in besonderem Maße genießen. Der Bedeutung und Tragweite dieses Grundrechts werden die angegriffenen Urteile aber bei der Auslegung des § 1 UWG und - im Fall der dritten Anzeige (H.I.V.POSITIVE) - der Anwendung dieser Norm nicht gerecht.

53

Einschränkungen des für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierenden Rechts der freien Meinungsäußerung (vgl BVerfGE_20,56 <97>; stRspr) bedürfen grundsätzlich einer Rechtfertigung durch hinreichend gewichtige Gemeinwohlbelange oder schutzwürdige Rechte und Interessen Dritter. Das gilt für kritische Meinungsäußerungen zu gesellschaftlichen oder politischen Fragen in besonderem Maße. Dazu geben die angegriffenen Urteile jedoch keine Hinweise. Auch sonst ist dazu nichts ersichtlich.

54

aaa) Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs untersagt § 1 UWG ein Werbeverhalten, das mit der Darstellung schweren Leids von Menschen und Tieren Gefühle des Mitleids erweckt und diese Gefühle ohne sachliche Veranlassung zu Wettbewerbszwecken ausnutzt, indem der Werbende sich dabei als gleichermaßen betroffen darstellt und damit eine Solidarisierung der Verbraucher mit seinem Namen und seiner Geschäftstätigkeit herbeiführt.

55

Dieses vom Bundesgerichtshof in Auslegung des § 1 UWG formulierte Sittenwidrigkeitsurteil ist als Anstandsregel durchaus billigenswert und dürfte als solche von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert werden. Dahinter steckt der Wunsch, in einer Gesellschaft zu leben, in der auf Leid nicht mit gefühllosem Gewinnstreben, sondern mit Empathie und Abhilfemaßnahmen, also in einer primär auf das Leid bezogenen Weise reagiert wird. Ob damit zugleich hinreichend gewichtige öffentliche oder private Belange geschützt werden, ist jedoch nicht ohne weiteres erkennbar.

56

bbb) Dass von den Anzeigen eine nennenswerte Belästigung des Publikums ausgehen könnte, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens meint, nimmt der Bundesgerichtshof selbst wohl nicht an. Verletzungen des guten Geschmacks oder eine schockierende Gestaltung von Anzeigen hält er nicht für sittenwidrig im Sinne von § 1 UWG. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Eine belästigende Wirkung, die grundrechtsbeschränkende Regelungen rechtfertigen könnte, kann nicht schon darin liegen, dass das Publikum auch außerhalb des redaktionellen Teils der Medien durch Bilder mit unangenehmen oder mitleiderregenden Realitäten konfrontiert wird. Das gilt auch, wenn man mit der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht eine allgemeine Zunahme derartiger Werbung durch einen Nachahmungseffekt in Rechnung stellt. Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt des Bürgers ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf. Anders kann es zu beurteilen sein, wenn ekelerregende, furchteinflößende oder jugendgefährdende Bilder gezeigt werden.

57

Soweit der Kläger des Ausgangsverfahrens die Anzeigen als zudringlich und belästigend einstuft, weil sie mit suggestiver Kraft an Gefühle der Verbraucher appellieren, die mit den Produkten des werbenden Unternehmens oder seiner Geschäftstätigkeit in keinem Zusammenhang stehen, kann dem nicht gefolgt werden. Ein Großteil der heutigen Werbung ist durch das Bestreben gekennzeichnet, durch gefühlsbetonte Motive Aufmerksamkeit zu erregen und Sympathie zu gewinnen. Kommerzielle Werbung mit Bildern, die mit suggestiver Kraft libidinöse Wünsche wecken, den Drang nach Freiheit und Ungebundenheit beschwören oder den Glanz gesellschaftlicher Prominenz verheißen, ist allgegenwärtig. Es mag zutreffen, dass der Verbraucher diesen Motiven gegenüber "abgehärtet" ist, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens vorträgt. Ein solcher Gewöhnungseffekt rechtfertigt es jedoch nicht, einem Appell an das bisher weniger strapazierte Gefühl des Mitleids belästigende Wirkungen zuzuschreiben.

58

ccc) Belange der Wettbewerber oder Grundsätze des Leistungswettbewerbs sind ebenfalls nicht betroffen. Der Bundesgerichtshof hebt dies ausdrücklich hervor. Dazu ist auch nichts ersichtlich. Produktunabhängige Imagewerbung hat sich eingebürgert, ohne dass der Leistungswettbewerb darunter erkennbar gelitten hat. Wettbewerber, die eine vergleichbare Werbung für geschäftsfördernd erachten, können davon ebenso Gebrauch machen wie die Firma Benetton. 59

59

ddd) Um den Schutz der abgebildeten Personen könnte es allenfalls bei der Anzeige zur "Kinderarbeit" gehen. Eine Rechtsbetroffenheit ist aber hier nicht erkennbar. Deshalb geht auch der Bundesgerichtshof darauf nicht ein. Die abgebildeten Kinder sind nicht individualisierbar. Abgesehen davon werden sie in einer zwar mitleiderregenden, aber keineswegs abfälligen oder sonst wie negativen Sicht dargestellt. Der Werbekontext als solcher reicht für eine Verletzung menschlicher Achtungsansprüche nicht aus.

60

eee) Gemeinwohlbelange sind nicht betroffen. Der Umweltschutz, der durch Art.20a GG in den Rang eines Staatsziels erhoben worden ist, wird durch die dieses Thema betreffende Anzeige (ölverschmutzte Ente) offensichtlich nicht beeinträchtigt. Dass kommerzielle Werbung, die inhumane Zustände anprangert (Kinderarbeit, Abstempelung von H.I.V.-Infizierten), Verrohungs- oder Abstumpfungstendenzen in unserer Gesellschaft fördern und einer Kultur der Mitmenschlichkeit im Umgang mit Leid abträglich sein könnte, lässt sich jedenfalls mit Bezug auf die streitigen Anzeigen nicht feststellen.

61

cc) Insgesamt rechtfertigt allein das vom Bundesgerichtshof als Bestandteil der guten kaufmännischen Sitte bezeichnete Prinzip, dass Mitgefühl mit schwerem Leid nicht zu Werbezwecken erweckt und ausgenutzt werden dürfe, den Unterlassungsausspruch im Lichte des Grundrechts aus Art.5 Abs.1 Satz 1 GG nicht. Gemeinwohlbelange oder schutzwürdige Interessen Privater werden, wie gezeigt wurde, nicht berührt.

62

Auf der anderen Seite wird die Meinungsfreiheit hier in schwerwiegender Weise beeinträchtigt. Die Anzeigen weisen auf gesellschaftlich und politisch relevante Themen hin und sind auch geeignet, diesen öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Der besondere Schutz, unter den Art.5 Abs.1 Satz 1 GG gerade solche Äußerungen stellt, wird nicht dadurch gemindert, dass sie, wie der Bundesgerichtshof meint, zur Auseinandersetzung über das aufgezeigte Elend nichts Wesentliches beitragen. Auch das (bloße) Anprangern eines Missstandes kann ein wesentlicher Beitrag zur freien geistigen Auseinandersetzung sein. Ob eine Äußerung weiterführend ist oder ob sie sich eines Lösungsvorschlages enthält, beeinflusst den Grundrechtsschutz aus Art.5 Abs.1 Satz 1 GG grundsätzlich nicht. Dieser besteht unabhängig davon, ob eine Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird (vgl BVerfGE_30,336 <347>; BVerfGE_93,266 <289> mwN).

64

dd) Nach allem hat der Bundesgerichtshof mit der seiner Entscheidung zugrunde gelegten Lauterkeitsregel § 1 UWG in einer Weise ausgelegt, die einer Prüfung im Lichte der Meinungsfreiheit nicht standhält. Schon deshalb kommt die genannte Vorschrift in dieser Auslegung als Grundlage für einen Eingriff in die Pressefreiheit der Beschwerdeführerin nicht in Betracht. Das allein auf die Auslegung des § 1 UWG im Sinne der genannten Regel gestützte Urteil zu 1 BvR 1787/95 (ölverschmutzte Ente, Kinderarbeit) ist daher aufzuheben. Die Sache ist an den Bundesgerichtshof zurückzuverweisen.

65

ee) Das angegriffene Urteil in der Sache 1 BvR 1762/95 beruht nicht allein auf der bereits erörterten Auslegung des § 1 UWG. Der Bundesgerichtshof hält die diesem Verfahren zugrunde liegende Anzeige (H.I.V.POSITIVE) vielmehr auch deshalb für wettbewerbswidrig, weil sie in grober Weise gegen die Grundsätze der Wahrung der Menschenwürde verstoße, indem sie den AIDS-Kranken als "abgestempelt" und damit als aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzt darstelle.

66

aaa) Dieser Begründung ist im Ansatz beizupflichten. Eine Auslegung des § 1 UWG dahin, dass eine Bildwerbung sittenwidrig ist, die die Menschenwürde abgebildeter Personen verletzt, ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Sie trägt einem Schutzgut Rechnung, das Beschränkungen der Meinungsfreiheit auch in dem besonders sensiblen Bereich gesellschaftlicher und politischer Kritik rechtfertigt. Art.1 Abs.1 GG verpflichtet den Staat, alle Menschen gegen Angriffe auf die Menschenwürde wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. zu schützen (vgl BVerfGE_1,97 <104> ). Werbeanzeigen, die einzelne Personen oder Personengruppen in einer die Menschenwürde verletzenden Weise ausgrenzen, verächtlich machen, verspotten oder sonst wie herabwürdigen, können daher grundsätzlich auch dann wettbewerbsrechtlich untersagt werden, wenn sie den Schutz der Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 GG oder anderweitigen Grundrechtsschutz genießen.

67

bbb) Die Anwendung dieser Grundsätze auf die diesbezügliche Anzeige (H.I.V.POSITIVE) hält jedoch einer Prüfung am Maßstab des Art.5 Abs.1 Satz 1 GG nicht stand. Grundsätzlich unterliegt die Deutung von Äußerungen, die durch Art.5 Abs.1 Satz 1 GG geschützt sind, nur insofern der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht, als es die Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen zu gewährleisten hat. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, den Sinn einer umstrittenen Äußerung abschließend zu bestimmen oder eine unter Beachtung der grundrechtlichen Anforderungen erfolgte Deutung durch eine andere zu ersetzen, die es für treffender hält. Zu den grundrechtlichen Anforderungen gehört aber, dass die Äußerung unter Einbeziehung ihres Kontextes ausgelegt und ihr kein Sinn zugeschrieben wird, den sie objektiv nicht haben kann. Bei mehrdeutigen Äußerungen müssen die Gerichte sich im Bewusstsein der Mehrdeutigkeit mit den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten auseinander setzen und für die gefundene Lösung nachvollziehbare Gründe angeben (vgl BVerfGE_94,1 <10 f>).

68

Der Bundesgerichtshof deutet die "H.I.V.POSITIVE"-Anzeige dahin, dass sie den AIDS-Kranken als "abgestempelt" und damit als aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzt darstelle. An anderer Stelle heißt es, die Anzeige stigmatisiere den AIDS-Kranken in seinem Leid und grenze ihn gesellschaftlich aus. Einer aufkeimenden Mentalität des "Abstempelns" bestimmter Mitglieder der Gesellschaft sei entgegenzuwirken. Zumindest von H.I.V.-Infizierten selbst müsse die Anzeige als grob anstößig und ihre Menschenwürde verletzend angesehen werden. Dieser Wirkung könnten sich aber auch andere Betrachter nicht entziehen.

69

In diesem Sinne eindeutig ist die Anzeige jedoch nicht. Sie zeigt kommentarlos einen Menschen, der als "H.I.V.POSITIVE" abgestempelt erscheint. Dass damit der skandalöse, aber nicht realitätsferne Befund einer gesellschaftlichen Diskriminierung und Ausgrenzung H.I.V.-Infizierter bekräftigt, verstärkt oder auch nur verharmlost wird, drängt sich nicht auf. Mindestens ebenso nahe liegend ist die Deutung, dass auf einen kritikwürdigen Zustand - die Ausgrenzung H.I.V.-Infizierter - in anklagender Tendenz hingewiesen werden soll. Mit dem Foto könnte, wie die Beschwerdeführerin zutreffend anmerkt, auch für einen AIDS-Kongress geworben werden.

70

Die Bildsprache ist zwar reißerisch und in einem konventionellen Sinne ungehörig. Von dem abgebildeten Menschen sieht man nichts als die obere Hälfte des nackten Gesäßes, auf dem in schwarzen Großbuchstaben die Abkürzung "H.I.V." und darunter, schräg versetzt, das Wort "POSITIVE" wie aufgestempelt erscheinen. Allein daraus lässt sich aber weder Zynismus noch eine affirmative Tendenz ablesen. Die Darstellung ist, dem Medium einer Werbeanzeige entsprechend, darauf angelegt, die Aufmerksamkeit des Betrachters zu fesseln.

71

Eine Deutung der Anzeige im Sinne eines kritischen Aufrufs wird auch durch den Werbekontext nicht in Frage gestellt. Dass ein Unternehmen der Textilbranche Imagewerbung mit ernsthaften gesellschaftspolitischen Themen betreibt, ist ungewohnt und steht in auffallendem Kontrast zur branchenüblichen Selbstdarstellung der Wettbewerber. Dies mag Zweifel an der Ernsthaftigkeit der kritischen Absicht nähren und im Sinne des vom Bundesgerichtshof formulierten Lauterkeitsgebots als anstößig empfunden werden. Der Eindruck indes, dass die Anzeige ihrerseits die H.I.V.-Infizierten stigmatisiere oder ausgrenze, wird auch durch den Werbekontext nicht hervorgerufen. Ihre kritische Tendenz, ihre aufrüttelnde Wirkung bleiben unübersehbar. Anders wäre es vielleicht, wenn mit der Anzeige für ein konkretes Produkt geworben würde; in der Verknüpfung mit bestimmten Gebrauchsgegenständen und Dienstleistungen könnte eine lächerlichmachende oder verharmlosende Wirkung entstehen. Der Schriftzug "United Colors of Benetton" allein erzeugt eine solche Wirkung jedoch nicht. Die Deutung der Anzeige durch den Bundesgerichtshof, nach der diese die Menschenwürde AIDS-kranker Menschen verletzt, erscheint demgegenüber wesentlich weniger nahe liegend, jedenfalls ist sie nicht die einzig mögliche. Das zeigt auch die Aussage des Fotografen Oliviero Toscani über diese Werbung: "Mit diesem Plakat wollte ich signalisieren, daß Benetton weiter an seiner Bereitschaft zur Einmischung festhält, indem wir uns gegen die Ausgrenzung von Aidskranken mit der gleichen Kraft wie gegen den Rassismus einsetzen" (aaO, S.78).

72

ff) Das mit der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1762/95 angegriffene Urteil (H.I.V.POSITIVE) genügt damit nicht den Anforderungen, die zum Schutz der Meinungsfreiheit an die Deutung von Meinungsäußerungen zu stellen sind. Der Bundesgerichtshof hat die nahe liegende Möglichkeit verkannt, dass mit der Anzeige die öffentliche Aufmerksamkeit in kritischer Absicht auf eine tatsächlich anzutreffende Diskriminierung und Ausgrenzung AIDS-Kranker gerichtet werden sollte. In dieser Deutung liegt eine Verletzung der Menschenwürde von AIDS-Kranken nicht vor. Bei seiner erneuten Befassung mit der Sache wird der Bundesgerichtshof der aufgezeigten Deutungsalternative nachzugehen haben."

 

Auszug aus BVerfG U, 12.12.00, - 1_BvR_1762/95 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.39 ff

§§§

00.043 Singularzulassung

  1. BVerfG,     U, 13.12.00,     – 1_BvR_335/97 –

  2. BVerfGE_103,1 = www.BVerfG. = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.1; BRAO_§_25; ZPO_§_78 Abs.1 +2

  4. Oberlandesgerichte / Singularzulassung / Berufsfreiheit / Vereinbarkeit.

T-00-25

Die Regelung über die Singularzulassung von Rechtsanwälten bei den Oberlandesgerichten in § 25 der Bundesrechtsanwaltsordnung ist mit Art.12 Abs.1 GG unvereinbar.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

1) § 25 der Bundesrechtsanwaltsordnung ist mit Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.
Die Vorschrift gilt für bestehende Zulassungen bis zum 30.Juni 2002 fort. Ab 1.Januar 2002 können bisher singular bei den Oberlandesgerichten zugelassene Rechtsanwälte auf ihren Antrag zugleich bei den für den Sitz der Kanzlei zuständigen Amts- und Landgerichten zugelassen werden.

2) § 226 Absatz 2 der Bundesrechtsanwaltsordnung ist ab 1.Juli 2002 hinsichtlich der Beschränkung auf die dort genannten Länder gegenstandslos.

3) Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.

4) Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

* * *

T-00-25Unvereinbarkeit der Singularzulassung

17

"Die Verfassungsbeschwerde ist im Wesentlichen begründet.

18

Die in § 25 BRAO angeordnete Singularzulassung ist mit Art.12 Abs.1 GG unvereinbar. Einer Prüfung auch am Maßstab des Art.3 Abs.1 GG bedarf es daher nicht. Zurückzuweisen ist die Verfassungsbeschwerde, soweit sie sich gegen die angegriffenen Entscheidungen richtet, weil in einer Übergangszeit das bisher geltende Recht auf den Beschwerdeführer weiter anwendbar ist.

I.

19

Die angegriffenen Entscheidungen und die ihnen zugrunde liegende Regelung beeinträchtigen die Berufsausübung des Beschwerdeführers. Ihm wird ein Teil der beruflichen Betätigung verschlossen, die Rechtsanwälten in anderen Bundesländern generell eröffnet und die unter anderem in Nordrhein-Westfalen den beim Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsanwälten vorbehalten ist. § 25 BRAO verbietet die Zulassung eines bei einem Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsanwalts bei einem anderen Gericht. In Verbindung mit § 78 Abs.1 und 2 ZPO wird damit die Postulationsfähigkeit des bei einem Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsanwalts im Zivilprozess auf Prozesse beschränkt, die bei diesem Oberlandesgericht geführt werden. Gleichzeitig werden andere Rechtsanwälte, die - wie der Beschwerdeführer - nicht bei diesem Oberlandesgericht zugelassen sind, von der forensischen Tätigkeit bei diesem Oberlandesgericht in Verfahren mit Anwaltszwang ausgeschlossen.

20

Solche gesetzlichen Regelungen der Berufsausübung sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zulässig, wenn sie durch hinreichende Gründe des gemeinen Wohls gerechtfertigt sind, wenn das gewählte Mittel zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet und auch erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt ist (BVerfGE_93,362 <369>; BVerfGE_85,248 <259> mwN). Je empfindlicher die Berufsausübenden in ihrer Berufsfreiheit beeinträchtigt werden, desto stärker müssen die Interessen des Gemeinwohls sein, denen die Regelung zu dienen bestimmt ist (vgl BVerfGE_30,292 <316 f>; stRspr). Die angegriffene Regelung genügt diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.

21

1. Das Institut der Singularzulassung ist ursprünglich auf eine Vielzahl von Gemeinwohlbelangen gestützt worden. Dazu zählten die Rechtstradition und eine Entsprechung dieses Instituts auch im System der Zivilprozessordnung (vgl BRDrucks 258/52, S.23, 25 f; vgl auch Stenografisches Protokoll der 15.Sitzung des Rechtsausschusses des 3.Deutschen Bundestages vom 27.März 1958, S.4 ff) sowie die Vorteile für die Rechtspflege durch eine bessere Erreichbarkeit der postulationsberechtigten Anwälte und durch die Erleichterung einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Gericht und örtlich niedergelassener Anwaltschaft (vgl die Nachweise bei Berger, JW 1913, Zugabe zur JW Nr.13, S.7; Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages vom 18.Februar 1959, 3.WP, 61.Sitzung, S.3311 <3325>). Mit den letztgenannten Gründen hatte der Gesetzgeber auch § 78 ZPO aF während seiner Geltungsdauer gerechtfertigt: Die auf das Gericht der Zulassung erster Instanz beschränkte Postulationsfähigkeit sollte der zügigen Durchführung der Zivilprozesse, der Förderung der vertrauensvollen Zusammenarbeit von Gericht und Anwaltschaft und der Verbesserung der anwaltlichen Beratung durch Kenntnis örtlicher Gepflogenheiten dienen. Diese Belange hat der Gesetzgeber jedoch im Zuge der Reform des anwaltlichen Berufsrechts selbst nicht mehr für tragfähig erachtet, um eine Beschränkung der Postulationsfähigkeit vor den Landgerichten zu rechtfertigen (vgl hierzu BVerfGE_93,362 <370> unter Bezugnahme auf BTDrucks 12/7868).

22

a) Nachteile, die sich aus der Wahrnehmung auswärtiger Termine durch Anwälte für die Gerichtsbarkeit ergeben könnten, hat der Gesetzgeber angesichts des technischen Fortschritts als nicht mehr erheblich angesehen. Die gestiegene Mobilität als Folge einer verbesserten Verkehrsinfrastruktur sowie die Existenz von modernen Telekommunikationsmitteln (beispielsweise Handys, Faxgeräten, Laptops) und die Möglichkeit, per E-Mail auch umfangreiche Schriftsätze jederzeit an die Kanzlei und zunehmend auch an Gerichte befördern zu können, leisten Gewähr für eine Erreichbarkeit des Anwalts, solange ihm die Festlegung eines Kanzleisitzes am Ort der Zulassung vorgeschrieben bleibt. Die Abstimmung von Terminen wurde in allen anderen Gerichtsbarkeiten und in Strafsachen schon bisher und inzwischen auch bei den Amts- und Landgerichten in Zivilsachen ohne ortsgebundene Anwaltschaft bewältigt. Bei den Oberlandesgerichten gibt es keine Besonderheiten, die insoweit fortbestehende Gemeinwohlbelange belegen könnten. Die Häufigkeit von Reisen zu auswärtigen Terminen wird davon abhängen, wie wichtig für Mandant oder Rechtsanwalt die persönliche Wahrnehmung eines Termins ist, welche Verantwortung der Anwalt im konkreten Fall übernommen hat und inwieweit er unterschiedliche Aufgaben miteinander vereinbaren kann (vgl BTDrucks 12/4993, S.42 f). Auch mit simultan bei den Oberlandesgerichten zugelassenen Rechtsanwälten können Termine sachgerecht und zügig abgestimmt werden.

23

b) Auch von dem Ziel einer auf persönlichem Kontakt beruhenden vertrauensvollen Zusammenarbeit von Richtern und Anwaltschaft als einem Belang der Rechtspflege hat sich der Gesetzgeber in der Zivilgerichtsbarkeit für die Amts- und Landgerichte verabschiedet (BTDrucks 12/4993, S.43). Es ist nicht ersichtlich, dass dieser Gesichtspunkt als tragender Grund für die Singularzulassung bei den Oberlandesgerichten aufrechterhalten worden ist.

24

c) Als Gemeinwohlbelang zur Rechtfertigung der Singularzulassung bei den Oberlandesgerichten kann auch nicht die Spezialisierung der dort tätigen Anwaltschaft herangezogen werden. Das gilt sowohl für die Spezialisierung in einzelnen Fachbereichen (bb) als auch für die vertiefte Kenntnis der Rechtsprechung eines bestimmten Gerichts (aa). Das Gewicht der genannten Gemeinwohlbelange ist in diesem Zusammenhang so geschwunden, dass sie zur Rechtfertigung der Singularzulassung bei den Oberlandesgerichten nicht mehr ins Feld geführt werden können. Sie beruhten historisch auf Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, die entfallen sind. Zudem hat der Gesetzgeber mit der veränderten Ausgestaltung der Prozessordnungen und des Berufsrechts der Anwälte zu erkennen gegeben, dass diese Gesichtspunkte nicht mehr tragfähig sind.

25

aa) Zwar kann die Kenntnis der Rechtsprechung eines bestimmten Gerichts und eventueller örtlicher Besonderheiten dem Mandanten zugute kommen; in berufungsfähigen Rechtsstreitigkeiten sind solche Kenntnisse aber nicht erst vor dem Berufungsgericht, sondern schon in erster Instanz insofern von erheblichem Nutzen, als hierdurch die Durchführung eines Berufungsverfahrens vermieden werden kann. Solche Umstände wären überdies für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, in der die zweite Instanz regelmäßig abschließend über Landesrecht befindet, von größerer Bedeutung als für die Zivilgerichtsbarkeit. Dort aber wurde die Postulationsfähigkeit in Berufungsverfahren nie auf einen kleinen Kreis zugelassener Rechtsanwälte beschränkt.

26

bb) Die Spezialisierung der Anwaltschaft ist inzwischen außerhalb des Bereichs der Singularzulassungen mit Unterstützung des Gesetzgebers (vgl nur §§ 59a, 59b Abs.2 Nr.2 und § 59c BRAO) weit verbreitet.

27

Soweit sich zuvor schon bei einigen Oberlandesgerichten frühzeitig eine spezialisierte Anwaltschaft herausgebildet hatte, war dies nicht Folge der Singularzulassung. Eine Spezialisierung an den Oberlandesgerichten setzt zunächst eine entsprechend ausdifferenzierte Geschäftsverteilung im jeweiligen Oberlandesgericht voraus, die sich nur bei großen Oberlandesgerichten findet. Die vom Präsidenten des Oberlandesgerichts Hamm vorgetragenen Gesichtspunkte treffen insoweit beispielsweise für Braunschweig, Oldenburg, Rostock oder Zweibrücken nicht in gleicher Weise zu. Vor allem aber setzt die Spezialisierung regelmäßig voraus, dass Anwälte in größeren Kanzleien arbeitsteilig und daher spezialisiert arbeiten können. Solche Kanzleien haben sich infolge von Änderungen im anwaltlichen Berufsrecht inzwischen in weitaus größerem Umfang gebildet, als es bei In-Kraft-Treten der Bundesrechtsanwaltsordnung im Jahre 1959 vorstellbar gewesen ist. Anwälte schließen sich in unterschiedlichen Rechtsformen zusammen und werden orts- und länderübergreifend tätig unter Beteiligung von singular und simultan zugelassenen Rechtsanwälten sowie von Angehörigen sonstiger Berufsgruppen. Diese Entwicklung macht deutlich, dass die Spezialisierung zum Fachanwalt oder auf sonstige nachgefragte Teilgebiete des Rechts vielfach schon bei der Beratung und Vertretung der Mandanten in erster Instanz erwartet wird und nicht erst als Folge singularer Zulassung beim Oberlandesgericht in Erscheinung tritt.

28

2. Als einzige und auch vom Gesetzgeber noch als relevant eingeschätzte Gemeinwohlbelange verbleiben nach allem die qualitative Verbesserung der forensischen Rechtsberatung und die durch das Vier-Augen-Prinzip ermöglichte unabhängige Erfolgseinschätzung für die Berufung. Dieses Prinzip und die hiermit verbundenen Erwartungen vermögen jedoch den Eingriff in die Berufsfreiheit der Rechtsanwälte nicht zu rechtfertigen.

29

a) Es ist bereits nicht deutlich erkennbar, dass der Gesetzgeber die Singularzulassung noch als ein geeignetes und erforderliches Mittel zur Verbesserung der Rechtspflege ansieht.

30

aa) Zwar spricht viel dafür, dass der Gesetzgeber von 1959 auf der Grundlage der damals vorhandenen Erkenntnisquellen die Singularzulassung für besonders geeignet gehalten hat, um durch das Vier-Augen-Prinzip eine qualitativ hochstehende Rechtspflege zu gewährleisten.

31

Das Prinzip der Singularzulassung war vor dem 2.Weltkrieg in der überwiegenden Zahl der OLG-Bezirke praktiziertes Recht und konnte dem Gesetzgeber in Verbindung mit den starken lokalen Beschränkungen der Postulationsfähigkeit in erster Instanz durch § 78 ZPO als tatsächlich bewährtes Prinzip erscheinen. Entscheidungen der Oberlandesgerichte wurden seltener veröffentlicht, so dass sich die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte tendenziell stärker voneinander unterschieden haben dürfte. Überdies waren die Sozietäten klein; überörtliche Sozietäten waren nicht gestattet. Die Anwaltsdichte war geringer. Die Rechtsanwälte waren viel weniger spezialisiert; es gab so gut wie keine Fachanwälte und keine verlautbarte Schwerpunktbildung. Erfahrungen mit der Arbeits-, Finanz-, Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, bei denen von vornherein auf Beschränkungen der Postulationsfähigkeit verzichtet worden war, lagen erst in geringem Maße vor.

32

bb) Es ist allerdings zweifelhaft, ob der Gesetzgeber 1994 seine Einschätzung unter Berücksichtigung der Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse beibehalten hat.

33

Schon im Jahr 1972 zeigte die zügige und bereitwillige Erstreckung der Simultanzulassung auf Baden-Württemberg und Bayern, dass dem Gesetzgeber nach den gewonnenen Erfahrungen Belange der Rechtspflege nicht gefährdet schienen, wenn durch eine Rechtsänderung Wettbewerbsverzerrungen in der Anwaltschaft beseitigt werden konnten. Jedenfalls lassen sich aus der Gesetzgebungsgeschichte vor der Zulassung der Mischsozietäten im Jahr 1994 Zweifel daran ablesen, dass die Singularzulassung weiterhin zur Erreichung der beabsichtigten Zwecke für geeignet gehalten wurde.

34

Bei den Vorarbeiten zur Bundesrechtsanwaltsordnung 1959 hatte der Gesetzgeber noch ein Verbot solcher Sozietäten als flankierende Maßnahme zum Erhalt des Vier-Augen-Prinzips für unverzichtbar gehalten (vgl Stenografisches Protokoll der 15.Sitzung des Rechtsausschusses des 3.Deutschen Bundestages vom 27.März 1958, S.4 ff). Zwar konnte ein solches Verbot letztlich nicht durchgesetzt werden (vgl Stenografisches Protokoll der 33. Sitzung des Rechtsausschusses des 3.Deutschen Bundestages vom 6.November 1958, S.14 ff; Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages vom 19.Februar 1959, 3.WP, 62.Sitzung, S.3359; Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages vom 18.März 1959, 3.WP, 66.Sitzung, S.3532); die überörtliche Sozietät wurde jedoch bis Ende der achtziger Jahre als nicht zulässig angesehen (vgl BGHZ_108,290). Ein - auch rechtlich erheblicher - Zusammenhang zwischen den Sozietätsformen, der beschränkten Postulationsfähigkeit der Anwälte in erster Instanz und der Singularzulassung bei den Oberlandesgerichten wurde auch noch von der Deregulierungskommission in ihrem Bericht vom 15. März 1991 hervorgehoben (vgl den Bericht S.109).

35

Erst 1994 reagierte der Gesetzgeber mit § 59a BRAO auf die tatsächlichen Veränderungen und die ihnen folgende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Zugleich gab er die Verknüpfung von Postulationsfähigkeit und berufsrechtlicher Lokalisation für die Zivilprozesse vor den Land- und Familiengerichten bundesweit für die Zukunft auf (§ 78 ZPO idF des Art.3 Nr.1 BRNOG). Nicht zuletzt deshalb ist gelegentlich der Beratungen zu dieser Gesetzesnovelle bezweifelt worden, dass das Vier-Augen-Prinzip das System der Singularzulassung voraussetze (vgl BTDrucks 12/7656, S.48, und den Bericht in der 106.Sitzung des Rechtsausschusses des 12. Deutschen Bundestages vom 12.Januar 1994, S.28, über ein Gespräch beim Bundesministerium der Justiz).

36

cc) Überdies hatte der Gesetzgeber in Art.1 des Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 22.März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte vom 14. März 1990 (BGBl I S.479; im Folgenden: Rechtsanwaltsdienstleistungsgesetz - RADG) ein anderes Mittel gefunden, ohne Singularzulassung das Vier-Augen-Prinzip verpflichtend vorzuschreiben (vgl. BTDrucks 11/4793, S.7). Nach § 3 Abs.1 Satz 3 RADG sind Rechtsanwälte aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft vor den Zivilsenaten eines Oberlandesgerichts in Berufungssachen auch ohne eine Singularzulassung nach § 25 BRAO vertretungsberechtigt; es muss aber sichergestellt sein, dass sie nicht im ersten Rechtszug schon Prozessbevollmächtigte waren.

37

Damit hat der Gesetzgeber schon 1990 zu erkennen gegeben, dass das Vier-Augen-Prinzip auf andere Weise und für die freie Berufsausübung schonender verwirklicht werden kann, indem lediglich ein Bearbeiterwechsel vorgeschrieben wird. Diese Lösung, die Rechtsanwälte aus den Staaten der Europäischen Union begünstigt, fand indessen für die in Deutschland zugelassenen Rechtsanwälte bei den Beratungen zur Änderung der §§ 25, 226 BRAO keine Mehrheit (vgl Stenografisches Protokoll der 106. Sitzung des Rechtsausschusses des 12. Deutschen Bundestages vom 12.Januar 1994, S.28; später wurde die Frage nicht mehr aufgegriffen), obwohl die Singularzulassung weniger geeignet ist, das Vier-Augen-Prinzip durchzusetzen. Danach hat der Gesetzgeber den Bearbeiterwechsel - anders als in § 3 RADG (heute § 27 Abs.1 EuRAG) - nicht mehr für unabdingbar gehalten.

38

dd) Es ist demnach insgesamt festzustellen, dass sich der Gesetzgeber seit 1990 zunehmend und deutlicher von seiner ursprünglichen Einschätzung distanziert hat, die Singularzulassung sei für die Rechtspflege insgesamt förderlicher als die Simultanzulassung.

39

Grundlage dafür waren offenbar einmal die in einigen Bundesländern und in den anderen Gerichtszweigen gewonnenen Erkennisse zur Funktionsfähigkeit der Rechtspflege unter der Geltung der Simultanzulassung und zum anderen Vorteile für die Rechtspflege, die sich vornehmlich aus der Sicht der Mandanten ergeben. Dazu gehört zuvörderst das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant, das nicht nur auf der Aktenkenntnis im konkreten Fall beruhen muss, sondern sich auf langjährige Beratung und erfolgreiche begleitende Zusammenarbeit bei allen rechtlichen Angelegenheiten eines Mandanten gründen kann. Von dem, der in erster Instanz obsiegt hat, kann ein erzwungener Anwaltswechsel als störend empfunden werden. Sollen die Folgen des Wechsels abgemildert werden, indem der gut eingearbeitete erstinstanzliche Anwalt auch in der Berufungsinstanz hinzugezogen wird, entstehen zusätzliche Kosten.

40

Infolgedessen legte sich der Bundesgesetzgeber beim Rechtspflege-Anpassungsgesetz des Jahres 1992 erhebliche Zurückhaltung auf und entschied nicht selbst, ob der Rechtspflege durch die Simultan- oder durch die Singularzulassung besser gedient werde (vgl BTDrucks 12/2168, S.31). Hierdurch sollte zunächst den neuen Ländern die Möglichkeit gegeben werden, nach eigenen Präferenzen zu entscheiden. Eine entsprechende Freigabe für alle Länder enthielt sodann auch der ursprüngliche Entwurf zur Reform 1994 (vgl BTDrucks 12/4993, S.26). Damit sollte klargestellt werden, dass nach Bundesrecht weder der Simultan- noch der Singularzulassung bei dem Oberlandesgericht der Vorrang einzuräumen war. Dieselbe Rechtsüberzeugung gewann der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages in seiner Anhörung am 1.Dezember 1993 (vgl BTDrucks 12/7656, S.48).

41

b) Diese Zweifel des Gesetzgebers an der Eignung und Erforderlichkeit der Singularzulassung als Mittel zugunsten einer qualitativen Verbesserung der Rechtspflege werden durch die in der Bundesrepublik insgesamt gewonnenen Erfahrungen bestärkt. Die Singularzulassung nach § 25 BRAO ist zur Erreichung der gesetzgeberischen Ziele nicht mehr erforderlich und verstößt gegen Art.12 Abs.1 GG.

42

Defizite in der Rechtspflege sind auch dort nicht in Erscheinung getreten, wo infolge von Simultanzulassung der Mandant selbst darüber entscheidet, ob er für die Berufungsinstanz einen Anwaltswechsel vornehmen will und welche Gesichtspunkte insoweit für ihn maßgeblich sind, beispielsweise Ortsnähe, Spezialisierung und Größe der Kanzlei, Vertrautheit mit der Rechtsprechung des zuständigen Senats oder auch nur die Unzufriedenheit mit der bisherigen Rechtsvertretung.

43

Zur Herausbildung einer spezialisierten Anwaltschaft, die vom Verein der Singularanwälte und auch vom Präsidenten des Oberlandesgerichts Hamm als Gemeinwohlbelang genannt wird, ist das Prinzip ersichtlich nicht erforderlich. Fachanwälte gibt es für die Arbeits-, Finanz-, Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit; sie treten dort in allen Instanzen auf. Fachanwälte wirken auch in erheblichem Umfang in solchen Kanzleien mit, in denen einige Sozien vor den Oberlandesgerichten auftreten dürfen. Dabei spielt es keine Rolle, ob im jeweiligen Bereich die Simultan- oder die Singularzulassung gilt. An einem Teil der Oberlandesgerichte gehören die singular zugelassenen Anwälte ausnahmslos Mischsozietäten an, in denen auch Spezialisten auf einzelnen Rechtsgebieten tätig sind, die durch Fachanwaltsbezeichnungen oder Tätigkeitsschwerpunkte ausgewiesen sind. In den neuen Ländern mit Singularzulassung haben sich überdies reine oberlandesgerichtliche Sozietäten gar nicht erst ausgebildet. Für eine Fachanwaltschaft für Berufungsrecht allein hat kein nennenswerter Bedarf bestanden, was sich frühzeitig in den Stadtstaaten und auch sonst in den Ländern mit Simultanzulassung gezeigt hat.

44

Hinreichende Vorteile für die Rechtspflege, die sich auf die Singularzulassung zurückführen ließen, sind nicht erkennbar. Die vorgelegten Statistiken belegen zwar Abweichungen in der Häufigkeit und im Erfolg von Berufungen sowie nicht unerhebliche Schwankungen im Verlauf der Jahre und im Verhältnis einzelner Länder zueinander. Evidente Fehlentwicklungen lassen sich hieran jedoch ebenso wenig ablesen wie hervorstechende Vorteile des einen oder anderen Systems, zumal die Leistungen der Anwaltschaft in den Statistiken maßgeblich durch die Anzahl und das Ergebnis von Urteilen abgebildet worden sind. Die Urteile unabhängiger Gerichte lassen sich aber nicht gradlinig auf die Vorarbeit der Rechtsanwälte in der Berufungsinstanz oder gar auf das für sie geltende Zulassungsrecht zurückführen.

45

Richter haben zwar zu allen Zeiten die Singularzulassung favorisiert, weil sie die richterliche Arbeit erleichtert. Mandanten hingegen gewinnen durch die Simultanzulassung eine größere Wahlfreiheit. Dass sie in vielen Fällen keinen Anwaltswechsel wollen, belegen die häufigen, seit langem zu beobachtenden Umgehungen der Singularzulassung. Beschränkungen der Berufsausübung müssen dem Umstand Rechnung tragen, dass Rechtsanwälte vor allem ihren Mandanten als unabhängige Berater und Vertreter verpflichtet sind (vgl BVerfGE_63,266 <283 ff>). Beschränkungen der anwaltlichen Tätigkeit sind nicht allein deswegen erforderlich, weil sie dort, wo sie gelten, von den am Oberlandesgericht singular zugelassenen Rechtsanwälten oder auch von Richtern als sachdienlich empfunden werden.

46

Schränkt der Gesetzgeber über Jahre die berufliche Freiheit nur in einem Teilgebiet Deutschlands ein, ohne dass sich in Gebieten größerer Berufsausübungsfreiheit Fehlentwicklungen oder in Gebieten eingeschränkter Berufsausübungsfreiheit besondere Vorteile ergeben, so steht damit fest, dass die Einschränkung nicht erforderlich ist.

II.

47

Obwohl § 25 BRAO mit Art.12 Abs.1 GG nicht in Einklang steht, ist die Vorschrift mit den aus dem Tenor ersichtlichen Maßgaben noch bis zum 30.Juni 2002 weiter anzuwenden. Die betroffenen Rechtsanwälte in den Ländern, die § 226 Abs.2 BRAO nicht nennt, bedürfen einer gewissen Anpassungszeit.

48

Die Zeitspanne dient zunächst dazu, dass sich die singular zugelassenen Rechtsanwälte bei den Oberlandesgerichten um Zulassungen bei den für sie in Betracht kommenden Amts- und Landgerichten bemühen und berufliche Zusammenschlüsse anbahnen können. Manche werden auch die Verlegung des Kanzleisitzes - im Ganzen oder für einen Teil der Sozien - in Erwägung ziehen müssen; Planung und Ausführung wärden geraume Zeit erfordern. Für die seit mehr als fünf Jahren erstinstanzlich tätigen Anwälte (§ 20 Abs.1 Nr.4 BRAO) stellt sich die Frage der simultanen Zulassung beim Oberlandesgericht. Ortsgebundene Mandanten in den großen Flächenstaaten können die eingeräumte Frist zu der Entscheidung nutzen, welcher der Anwälte, die sie bisher in den Verfahren in erster und zweiter Instanz begleitet haben, in Zukunft für eine dauerhafte Vertretung in Betracht kommen wird.

49

Da im Verfahren vorgetragen worden ist, dass die an den Oberlandesgerichten singular zugelassenen Rechtsanwälte bisher durch ihre forensische Tätigkeit ausgelastet sind, erschiene es allerdings problematisch, ihnen zusätzlich die Zulassung in erster Instanz und daraus folgend eine Verlagerung ihres eigenen Arbeitsschwerpunkts für die Dauer der gesamten Übergangszeit zu ermöglichen, obwohl neue Singularzulassungen aufgrund der verfassungswidrigen Normen nicht mehr in Betracht kommen. Je erfolgreicher sich die bisher ausschließlich zweitinstanzlich tätigen Rechtsanwälte umorientierten, desto mehr würde ihre Arbeitskraft durch die forensische Tätigkeit in erster Instanz und durch die Beratung neu gewonnener Mandanten gebunden. Damit wäre die gleichbleibend sorgfältige Bearbeitung der ihnen weiterhin vorbehaltenen Mandate vor dem Oberlandesgericht nicht mehr gewährleistet. Da aber andererseits nicht zu verkennen ist, dass den zweitinstanzlichen Anwälten die Umstellung größere Schwierigkeiten bereiten wird als den bisher ausschließlich erstinstanzlich tätigen Rechtsanwälten, ist es sachgerecht, die Simultanzulassung zeitlich versetzt zu eröffnen. Die bisher nur bei den Oberlandesgerichten zugelassenen Rechtsanwälte können Simultanzulassungen für die erste Instanz bereits ab 1.Januar 2002 erhalten, wohingegen die bisher erstinstanzlich tätigen Rechtsanwälte frühestens zum 1.Juli 2002 beim Oberlandesgericht zugelassen werden können.

III.

50

Als Folge der Übergangsregelung kann auch der Beschwerdeführer mit seinem Begehren erst zur Jahresmitte 2002 Erfolg haben. Die Verfassungsbeschwerde ist daher zurückzuweisen, soweit sie sich gegen die Beschlüsse des Bundesgerichtshofs, des Anwaltsgerichtshofs und gegen den Bescheid des Präsidenten des Oberlandesgerichts Hamm richtet. Für die Vergangenheit bleibt es bei diesen Entscheidungen. Der Beschwerdeführer wird einen neuen Antrag stellen müssen.

IV.

51

Da die Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf die den Entscheidungen zugrunde liegende Norm erfolgreich war, erscheint es angemessen, dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten (§ 34a Abs.2 und 3 BVerfGG)."

 

Auszug aus BVerfG U, 13.12.00, - 1_BvR_335/97 -, www.BVerfG.de,  Abs.17 ff

§§§

00.044 Genetischer Fingerabdruck

  1. BVerfG,     B, 14.12.00,     – 2_BvR_1741/99 –

  2. BVerfGE_103,21 = www.dfr/BVerfGE = www.dfr/BVerfGE = NJW_01,679 -882

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.20 Abs.3, GG_Art.74 Abs.1 Nr.1; StPO_§_81g; DNA-IFG_§_2

  4. Normenklarheit / Justiabilität / Auslegung / Straftaten von erheblicher Bedeutung.

T-00-26

LB 1) Die gesetzliche Regelung nach § 2 DNA-IFG iVm § 81g StPO genügt auch den rechtsstaatlichen Erfordernissen der Normenklarheit und Justiabilität. Dazu reicht es aus, dass sie mit herkömmlichen juristischen Methoden ausgelegt werden kann. Dies ist insbesondere für die Anknüpfung der Maßnahmen an Straftaten von erheblicher Bedeutung anzunehmen.

 

LB 2) Nach überwiegender Auffassung muss eine Straftat von erheblicher Bedeutung mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen sein, den Rechtsfrieden ermpfindlich stören und dazu geeignet sein, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Dabei grenzen die in der Vorschrift genannten Regelbeispiele den unbestimmten Rechtsbegriff weiter ein. Dadurch wird dem Bestimmeheitsgebot hinreichend Rechnung getragen.

 

LB 3) Allein die Annahme, eine Rückfallgefahr eines vor langer Zeit verurteilten Betroffenen sei "nicht sicher auszuschließen", kann einen Eingriff in das Recht auf informationnelle Selbstbestimmung nicht rechtfertigen. Es bedarf vielmehr positiver, auf den Einzelfall bezogener Gründe für die Annahme einer Wiederholungsgefahr.

 

LB 4) Eine tragfähig begründete Entscheidung setzt im Fall des Eingriffs in das Recht auf informationnelle Selbstbestimmung voraus, dass ihr eine zureichende Sachaufklärung (vgl BVerfGE_70,297 <309>, insbesondere durch Beiziehung der verfügbaren Straf- und Vollstreckungsakten, des Bewährungshefts und zeitnaher Auskünfte aus dem Bundeszentralregister (vgl LG Würzburg, StV 2000,12), vorausgegangen ist und in den Entscheidungsgründen die bedeutsamen Umstände abgewogen wurden. Dabei ist stets eine auf den Einzelfall bezogene Entscheidung erforderlich; die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts reicht nicht aus (vgl LG Zweibrücken, StV 2000,304).

* * *

T-00-26Informationelle Selbstbestimmung

56

"Die Auslegung und Anwendung des § 2 Abs.1 DNA-IFG iVm § 81g StPO durch die Fachgerichte ist nur im Fall des Beschwerdeführers zu 1. verfassungsrechtlich zu beanstanden. In den Fällen der Beschwerdeführer zu 2. und zu 3. kann eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts nicht festgestellt werden.

57

1. Eine tragfähig begründete Entscheidung setzt im Fall des Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung voraus, dass ihr eine zureichende Sachaufklärung (vgl BVerfGE_70,297 <309> ), insbesondere durch Beiziehung der verfügbaren Straf- und Vollstreckungsakten, des Bewährungshefts und zeitnaher Auskünfte aus dem Bundeszentralregister (vgl LG Würzburg, StV 2000, S.12), vorausgegangen ist und in den Entscheidungsgründen die bedeutsamen Umstände abgewogen wurden. Dabei ist stets eine auf den Einzelfall bezogene Entscheidung erforderlich; die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts reicht nicht aus (vgl LG Zweibrücken, StV 2000, S.304).

58

a) Eine rechtliche Bindung an eine von einem anderen Gericht zur Frage der Strafaussetzung zur Bewährung getroffene Sozialprognose besteht nicht, zumal die Gründe der früheren Verurteilung einschließlich der Tatsachenfeststellungen nicht in Rechtskraft erwachsen (vgl BGHSt_43,106 ff). Das Gericht, das die Maßnahme nach § 2 DNA-IFG iVm § 81g StPO anordnet, entscheidet zudem aufgrund eines anderen Maßstabs und spricht eine andersartige Rechtsfolge aus als das Gericht, das über die Strafaussetzung zu befinden hat (vgl LG Göttingen, NJW 2000, S.751 f; LG Ingolstadt, NJW 2000, S.749 ff; Markwardt/Brodersen, NJW 2000, S.692, 693 f; Messer/Siebenbürger, aaO, Rn.130). Aus denselben Gründen fehlt eine rechtliche Bindung des für die Anordnung der Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters zuständigen Gerichts an die Gefährlichkeitsprognose in einer vorangegangenen Entscheidung über die Anordnung einer Maßregel, wie sie etwa gegen den Beschwerdeführer zu 2. verhängt wurde.

59

Jedoch sind im Rahmen der Gefahrenprognose im Sinne des § 81g Abs.1 StPO Umstände in den Abwägungsvorgang einzustellen, die gleichermaßen bei einer Sozialprognose für die Strafaussetzung zur Bewährung oder einer Gefahrenprognose bei der Verhängung einer Maßregel bestimmend sein können. Dies gilt etwa für die Rückfallgeschwindigkeit, den Zeitablauf seit der früheren Tatbegehung (vgl LG Hannover, Beschluss vom 3.September 1999 - 49 Qs 138/99 -, StV 1999, S.590 ; AG Stade, StV 2000, S.304 f), das Verhalten des Betroffenen in der Bewährungszeit oder einen Straferlass, seine Motivationslage bei der früheren Tatbegehung, seine Lebensumstände (vgl LG Berlin, StV 2000, S.303; LG Hannover, StV 2000, S.302 f) und seine Persönlichkeit. Dabei darf allerdings der nach dem Gesetzeszweck unterschiedliche Prognosemaßstab nicht aus den Augen verloren werden (vgl LG Berlin, StV 2000, S.303; LG Bremen, StV 2000, S.303 f; LG Hannover, StV 2000, S.302 f; LG Nürnberg-Fürth, StV 2000, S. 71 f; LG Tübingen, StV 2000, S.114; Schulz, aaO, S.199). Die Annahme einer Wiederholungsgefahr im Sinne von § 2 DNA-IFG iVm § 81g StPO kann deshalb im Einzelfall auch dann gerechtfertigt sein, wenn zuvor eine Strafaussetzung zur Bewährung erfolgt war (vgl. Markwardt/Brodersen, aaO, S.694). In Fällen gegenläufiger Prognosen durch verschiedene Gerichte entsteht regelmäßig ein erhöhter Begründungsbedarf für die nachfolgende gerichtliche Entscheidung (vgl. Graalmann-Scheerer, Kriminalistik 2000, S.328 <334>).

60

b) Notwendig und ausreichend für die Anordnung der Maßnahme nach § 2 DNA-IFG iVm § 81g StPO ist, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftat, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Zwar wird keine erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall gefordert (vgl LG Hannover, NStZ 2000, S.221 mit Anm Kauffmann). Jedoch setzt die Maßnahme voraus, dass sie im Hinblick auf die Prognose der Gefahr der Wiederholung auf schlüssigen, verwertbaren (vgl Rogall in: SK-StPO, § 81g Rn.15 und Anh zu § 81g Rn.11) und in der Entscheidung nachvollziehbar dokumentierten Tatsachen beruht und auf dieser Grundlage die richterliche Annahme der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten von erheblicher Bedeutung belegt, für die das DNA-Identifizierungsmuster einen Aufklärungsansatz durch einen (künftigen) Spurenvergleich bieten kann. Dafür ist das Freibeweisverfahren geeignet, in dem die Aufklärungspflicht gilt (vgl BVerfGE_70,297 <309> ). Die Anordnung der Maßnahme kann nur auf Umstände gestützt werden, denen Aussagekraft für die Wahrscheinlichkeit einer künftigen Tatbegehung zukommt (vgl LG Nürnberg-Fürth, StV 2000, S.71 f; LG Tübingen, StV 2000, S.114). Allein die Annahme, eine Rückfallgefahr eines vor langer Zeit verurteilten Betroffenen sei "nicht sicher auszuschließen" (LG Bremen, StV 2000, S.303 f), kann einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht rechtfertigen. Es bedarf vielmehr positiver, auf den Einzelfall bezogener Gründe für die Annahme einer Wiederholungsgefahr.

61

2. Diesem Maßstab genügen die vom Beschwerdeführer zu 1. mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen offensichtlich nicht.

62

a) Die Begründung des Amtsgerichts erschöpft sich, neben einer Wiedergabe des Gesetzeswortlauts, in der schlichten Bezeichnung der Vorverurteilungen des Beschwerdeführers.

63

Daraus ist bereits nicht ersichtlich, dass es sich bei den Anlasstaten um Straftaten von erheblicher Bedeutung handelt. Mag es sich zum Teil auch um Regelbeispielsfälle gehandelt haben, so entbindet diese Tatsache nicht von der einzelfallbezogenen Prüfung der Erheblichkeit. Die Regelbeispiele, denen der Begriff der Straftat von erheblicher Bedeutung übergeordnet ist, belegen nicht, dass bei Erfüllung des Regeltatbestands ausnahmslos eine Straftat von erheblicher Bedeutung vorliege (vgl Messer/Siebenbürger, aaO, Rn.122). Vielmehr ist bei Hinweisen darauf, dass eine Ausnahme von der Regel in Betracht kommt, wiederum eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung erforderlich. Erörterungsbedarf besteht beispielsweise dann, wenn milde Strafen verhängt wurden und die Vollstreckung von Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt wurde, weil auch die Verteidigung der Rechtsordnung die Strafvollstreckung nicht geboten hatte (vgl § 56 Abs.3 StGB). Die wiederholte Strafaussetzung zur Bewährung zugunsten des Beschwerdeführers zu 1. hätte deshalb Anlass zur Prüfung gegeben, ob die abgeurteilten Taten von erheblicher Bedeutung waren. Sodann wäre angesichts der Unterschiedlichkeit von Art und Gewicht der abgeurteilten Taten zu prüfen gewesen, auf welche Art von Straftaten sich die Negativprognose bezieht und ob diese wiederum die Kategorie der Straftaten von erheblicher Bedeutung betrifft. An einer solchen Prüfung fehlt es.

64

Vor allem das Amtsgericht hat die Negativprognose nicht tragfähig begründet. Die Aufzählung allein des Inhalts des Bundeszentralregisters lässt vermuten, dass eine weiter gehende Sachaufklärung, die schon wegen der günstigen Sozialprognosen in den Bewährungsentscheidungen angezeigt war, unterblieben ist. Der allgemeine Hinweis auf die trotz der verhängten Bewährungsstrafe nicht näher erläuterte "Schwere der begangenen Straftat" und das daraus angeblich herzuleitende "hohe Maß an krimineller Energie" konnten nicht die Aufklärung und Prüfung aller bedeutsamen Umstände einschließlich derjenigen, die gegen eine Negativprognose sprechen, ersetzen. Zumindest hätten die Gründe der gegenläufigen Prognoseentscheidungen berücksichtigt werden müssen. Dies gilt auch deshalb, weil die Anlassverurteilung zur Zeit der Anordnung der Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters bereits mehrere Jahre zurücklag und die Strafe erlassen worden war.

65

b) Mit dem Hinweis auf "die zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses" hat das Landgericht den offensichtlichen Mangel der Entscheidung des Ermittlungsrichters aufrecht erhalten. Auch allgemeine Hinweise auf die "Kriminalstatistik" oder nicht weiter belegte kriminologische Erkenntnisse ersetzen die gebotene Einzelfallprüfung nicht. 66

66

3. a) Die von den Beschwerdeführern zu 2. und zu 3. angegriffenen Entscheidungen tragen demgegenüber den verfassungsrechtlichen Erfordernissen einer zureichenden Sachaufklärung und tragfähigen Entscheidungsbegründung hinreichend Rechnung. Sie stützen sich auf aussagekräftige Indizien und würdigen den Einzelfall. Dabei kam den Feststellungen der früheren Urteile, auch wenn diese nicht in Rechtskraft erwachsen sind, jedenfalls indizielle Beweisbedeutung zu, die die Gerichte der beiden Ausgangsverfahren ihren Entscheidungen zugrunde legen konnten.

67

Die vom Beschwerdeführer zu 3. angegriffenen Entscheidungen konnten knapp begründet werden; denn sie enthielten schon im Hinblick auf die frühere Gefahrenprognose bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs.1 Nr.3 StGB) tragfähige Gründe für die Annahme der Wahrscheinlichkeit künftiger Strafverfahren. Insoweit ist auch die Begründung der Beschwerdeentscheidung des Landgerichts, die sich in einer Bezugnahme auf die tragfähige Entscheidung des Ermittlungsrichters erschöpft, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

68

b) Ein unauflöslicher Widerspruch der Maßnahme gemäß § 2 Abs.1 DNA-IFG iVm § 81g StPO zu dem aus Art.1 Abs.1 und Art.2 Abs.1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes abzuleitenden Resozialisierungsgebot besteht auch in Fällen eines längeren Straf- oder Maßregelvollzugs nicht; denn Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere Taten, die gegen Leib oder Leben anderer Personen gerichtet sind und dabei Spuren entstehen lassen, die dem Vergleich anhand des DNA-Identifizierungsmusters zugänglich sind, können auch während des Vollzugs von Strafen und Maßregeln oder bei einer zur Zeit der Anordnung der Maßnahme nicht vorhersehbaren Vollzugsunterbrechung begangen werden.

69

c) Der vom Beschwerdeführer zu 2.beantragten Hinzuziehung eines Sachverständigen, die nach dem Gesetz nicht zwingend vorgeschrieben ist, bedurfte es nicht (vgl LG Duisburg, StraFo 1999, S.202 <203>); denn es ging nicht darum, geistige oder seelische Anomalien aufzuklären (vgl BVerfGE_70,297 <309>)."

 

Auszug aus BVerfG B, 14.12.00, - 2_BvR_1741/99 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.56 ff

§§§

00.045 Zeugen Jehovas

  1. BVerfG,     U, 19.12.00,     – 2_BvR_1500/97 –

  2. BVerfGE_102,370 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. WRV_Art.137 Abs.5 S.2, GG_Art.140; GG_Art.79 Abs.3

  4. Religionsgemeinschaft / Körperschaft des öffentlichen Rechts / Voaussetzungen / Rechtstreue / fundamentale Verfassungsprinzipien / Grundrechte

T-00-27

1) Eine Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will (Art 140 GG iVm Art.137 Abs.5 Satz 2 WRV), muss rechtstreu sein.

a) Sie muss die Gewähr dafür bieten, dass sie das geltende Recht beachten, insbesondere die ihr übertragene Hoheitsgewalt nur in Einklang mit den verfassungsrechtlichen und sonstigen gesetzlichen Bindungen ausüben wird.

b) Sie muss außerdem die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art.79 Abs.3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter

sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes nicht gefährdet.

Abs.92

2) Eine darüber hinausgehende Loyalität zum Staat verlangt das Grundgesetz nicht.

Abs.83

LB 3) Zur Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes.

* * *

T-00-27Körperschaft des öffentlichen Rechts

68

"Für die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an eine Religionsgemeinschaft müssen - im Rahmen der Grundwerte der Verfassung - weitere, in Art.140 GG iVm Art.137 Abs.5 Satz 2 WRV nicht ausdrücklich genannte, Voraussetzungen erfüllt sein.

69

1. Art.140 GG erklärt die Weimarer Kirchenartikel zu Bestandteilen des Grundgesetzes. Ihre Auslegung hat sich nunmehr von den Wertungen des Grundgesetzes leiten zu lassen (BVerfGE_19,226 <236>; BVerfGE_53,366 <400>). Insbesondere sind die Weimarer Kirchenartikel Bestandteil des Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes, welches das Grundrecht der Religionsfreiheit ohne Gesetzesvorbehalt in den Katalog unmittelbar verbindlicher Grundrechte übernommen und es so gegenüber der Weimarer Reichsverfassung erheblich verstärkt hat (vgl BVerfGE_33,23 <30 f> ). Die Gewährleistungen der Weimarer Kirchenartikel sind funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt (Art.4 Abs.1 und 2 GG; vgl BVerfGE_42,312 <322>).

70

2. Im Kontext des Grundgesetzes ist der den Religionsgemeinschaften in Art.137 Abs.5 Satz 2 WRV angebotene Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ein Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit (vgl K Meyer-Teschendorf, Der Körperschaftsstatus der Kirchen, AöR 103 <1978>, S.329 ff; M Morlok/M.Heinig, Parität im Leistungsstaat - Körperschaftsstatus nur bei Staatsloyalität?, NVwZ 1999, S.697, 700 f). Der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts soll die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Religionsgemeinschaften unterstützen. Die Religionsgemeinschaften mit öffentlich-rechtlichem Status sind in gleichem Umfang grundrechtsfähig wie Religionsgemeinschaften privat-rechtlicher Rechtsform. Sie stehen dem Staat als Teile der Gesellschaft gegenüber (vgl BVerfGE_53,366 <387>; BVerfGE_70,138 <160 f>). Dass sie ihre Tätigkeit frei von staatlicher Bevormundung und Einflussnahme entfalten können, schafft die Voraussetzung und den Rahmen, in dem die Religionsgemeinschaften das Ihre zu den Grundlagen von Staat und Gesellschaft beitragen können (vgl. E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. Ernst Forsthoff zum 65.Geburtstag, Stuttgart et al 1967, S.75, 93; ders, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J.Isensee/P.Kirchhof , Handbuch des Staatsrechts, Bd.I, 2.Aufl 1995, § 22 Rn.61 f).

71

Damit unterscheiden sich die korporierten Religionsgemeinschaften im religiös-weltanschaulich neutralen Staat des Grundgesetzes, der keine Staatskirche oder Staatsreligion kennt (Art.140 GG iVm Art.137 Abs.1 WRV), grundlegend von den Körperschaften des öffentlichen Rechts im verwaltungs- und staatsorganisationsrechtlichen Verständnis. Sie nehmen keineS taatsaufgaben wahr, sind nicht in die Staatsorganisation eingebunden und unterliegen keiner staatlichen Aufsicht (vgl BVerfGE_18,385 <386>; BVerfGE_19,1 <5>; BVerfGE_30,415 <428>; BVerfGE_42,312 <332>; BVerfGE_66,1 <19 f>).

72

3. Verglichen mit dem Begriff der öffentlich-rechtlichen Körperschaft im allgemeinen Verständnis hat dieser Begriff im Regelungszusammenhang des Art.140 GG iVm Art.137 Abs.5 Satz 2 WRV nur die Funktion eines "Mantelbegriffs" (BVerfGE_83,341 <357>). Er ist aber mehr als eine leere Form, weil er den korporierten Religionsgemeinschaften auch eine besondere Rechtsstellung vermittelt, die über diejenige privatrechtlich verfasster Religionsgemeinschaften hinausgeht: Mit dem Körperschaftsstatus werden ihnen bestimmte hoheitliche Befugnisse übertragen, sowohl gegenüber ihren Mitgliedern - etwa beim Besteuerungsrecht und der Dienstherrenfähigkeit - als auch - bei der Widmungsbefugnis - gegenüber Anderen. Zudem verschafft ihnen das öffentlich-rechtliche Kleid in der Wahrnehmung der Gesellschaft eine besondere Stellung (vgl A.Frhr v Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3.Aufl 1996, S.139 ff; A.Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: J.Isensee/P.Kirchhof , Handbuch des Staatsrechts, Bd VI, 1989, § 138 Rn.130; P.Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: J.Listl/D.Pirson , Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd.I, 2.Aufl 1994, § 22, S.651 ff). Diese Vergünstigungen erleichtern es der Religionsgemeinschaft, ihre Organisation und ihr Wirken nach den Grundsätzen ihres religiösen Selbstverständnisses zu gestalten und die hierfür erforderlichen Ressourcen, etwa in Form finanzieller Mittel, zu erlangen.

73

Die Vergünstigungen bewirken mit erhöhten Einflussmöglichkeiten aber auch die erhöhte Gefahr eines Missbrauchs zum Nachteil der Religionsfreiheit der Mitglieder oder zum Nachteil anderer Verfassungsgüter. Bei der Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen eine Religionsgemeinschaft den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangen kann, muss deswegen auch die Verantwortung des Staates zur Geltung gebracht werden, welche das Grundgesetz ihm auferlegt. Es gibt ihm die Achtung und den Schutz der Menschenwürde als des tragenden Konstitutionsprinzips und obersten Grundwerts der freiheitlichen, demokratisch verfassten Grundordnung auf (Art.1 Abs.1 GG, vgl dazu BVerfGE_96,375 <398>) und verpflichtet ihn zur Wahrung und zum Schutz der Grundwerte der Verfassung (vgl BVerfGE_40,287 <291 f>).

74

4. Der Wortlaut des Art.140 GG iVm Art.137 Abs.5 Satz 2 WRV schließt nicht aus, dass der in dieser Gewährleistung eingeräumte Verleihensanspruch weiteren Einschränkungen aus dem Zusammenhang des Grundgesetzes unterliegt. Der Parlamentarische Rat hatte bei der Übernahme der Weimarer Kirchenartikel weder die Frage der Verleihensvoraussetzungen im Blick noch verwandte er seine Aufmerksamkeit darauf, Art.137 WRV materiell in die Ordnung des Grundgesetzes einzupassen. Er begnügte sich damit, durch redaktionelle Änderungen des späteren Art.4 GG doppelte Gewährleistungen zu vermeiden (ParlR, HA-Prot, 22.Sitzung vom 8.Dezember 1948, S.255 - 261; 39.Sitzung vom 14. Januar 1949, S. 483, 489 - 491; 46. Sitzung vom 20.Januar 1949, S.599 - 601; 51.Sitzung vom 10.Februar 1949, S.673, 682; 57.Sitzung vom 5.Mai 1949, S.743, 745 f und 765; Redaktionsausschuss, Kurzprot vom 28.April 1949, S.1; vgl auch BVerfGE_83,341 <354 f> zur religiösen Vereinigungsfreiheit).

75

Dass es mit den geschriebenen Verleihensvoraussetzungen nicht sein Bewenden haben kann, wird im Ergebnis auch in Rechtsprechung und Literatur nicht bezweifelt. Nach nahezu einhelliger Auffassung ist der Körperschaftsstatus jedenfalls dann zu versagen, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen eine private Vereinigung nach Art. 9 Abs. 2 GG zu verbieten wäre (vgl etwa BVerwGE_105,117 <121 f>; OVG Berlin, NVwZ 1996, S.478, 480; VG Berlin, NVwZ 1994, S.609; St. Korioth, Loyalität im Staatskirchenrecht?, in: Gedächtnisschrift für Bernd Jeand'Heur, 1999, S. 221, 236; M. Morlok/M. Heinig, Parität im Leistungsstaat - Körperschaftsstatus nur bei Staatsloyalität?, NVwZ 1999, S.697, 703 f; G. Robbers, Sinn und Zweck des Körperschaftsstatus im Staatskirchenrecht, in: Festschrift für Martin Heckel, 1999, S.411, 414; H Weber, Die Verleihung der Körperschaftsrechte an Religionsgemeinschaften, ZevKR 34 <1989>, S.337, 356). Es wäre auch nicht einsichtig, dass Vereinigungen, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, insoweit weniger festen Bindungen unterliegen sollten als private Vereinigungen.

76

5. Die Grenzen, innerhalb deren eine Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts frei handeln darf, zieht die Verfassung gerade auch durch ihre grundlegenden Wertentscheidungen. Zu diesen Wertentscheidungen gehören die Religionsfreiheit, aus der Art.140 GG iVm Art.137 Abs.5 WRV als Verstärkung der Entfaltung grundrechtlicher Freiheit letztlich seine Rechtfertigung bezieht, das Verbot jeglicher Staatskirche oder Staatsreligion (Art.140 GG iVm Art.137 Abs.1 WRV) sowie die Grundsätze der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates und der Parität der Religionen und Bekenntnisse.

77

Eine Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will, muss rechtstreu sein. Sie muss die Gewähr dafür bieten, dass sie das geltende Recht beachten, insbesondere die ihr übertragene Hoheitsgewalt nur in Einklang mit den verfassungsrechtlichen und den sonstigen gesetzlichen Bindungen ausüben wird.

78

1. Das ist auch in der Literatur allgemein anerkannt (vgl. A. Frhr. v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, GG, 3. Aufl. 1991, Art. 140 GG/Art. 137 WRV Rn. 150; Ch. Link, Zeugen Jehovas und Körperschaftsstatus, ZevKR 43 <1998>, S. 1, 20, m. w. N.). Schon aus der Bindung aller öffentlichen Gewalt an Gesetz, Recht und Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) folgt, dass eine Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Gewähr dafür bieten muss, die ihr übertragene Hoheitsgewalt in Einklang mit den verfassungsrechtlichen und den sonstigen gesetzlichen Vorgaben auszuüben.

79

Diese rechtsstaatliche Bindung scheitert nicht daran, dass korporierte Religionsgemeinschaften die ihnen übertragene Hoheitsgewalt nicht - wie Beliehene - zur Erfüllung staatlicher Aufgaben einsetzen, sondern zu eigenen Zwecken. Denn unter dem Grundgesetz ist jegliche Ausübung von Hoheitsgewalt an die Verfassung und an die gesetzliche Ordnung gebunden.

80

2. Freilich darf auch außerhalb des Bereichs hoheitlichen Handelns von den korporierten Religionsgemeinschaften Rechtstreue verlangt werden. Jede Vereinigung hat, wie jeder Bürger, die staatsbürgerliche Pflicht zur Beachtung der Gesetze. Zwar trifft sie bei Verletzung dieser Pflicht nur die im Gesetz jeweils vorgesehene Sanktion, und ein Verbot der Vereinigung ist erst unter den in Art. 9 Abs. 2 GG bestimmten besonderen Voraussetzungen angeordnet. Von einer Vereinigung aber, die in öffentlich-rechtlicher Gestalt auftritt, darf erwartet werden, dass sie nicht erst durch die Drohung mit staatlichen Sanktionen und Zwangsmechanismen zu rechtskonformem Handeln angehalten werden muss. Ansonsten stünde nicht nur zu befürchten, dass diese Vereinigung auch ihre hoheitlichen Befugnisse nicht rechtskonform ausüben werde. Der Staat muss vielmehr darauf bedacht sein und dafür Sorge tragen, dass durch das Handeln öffentlich-rechtlicher Gebilde Rechte Dritter nicht verletzt werden, selbst wenn diese Zuordnung zum öffentlichen Recht eine eher formelle ist.

81

3. Allerdings stellt nicht jeder einzelne Verstoß gegen Recht und Gesetz die Gewähr rechtstreuen Verhaltens in Frage. Auch den korporierten Religionsgemeinschaften ist es unbenommen, Meinungsverschiedenheiten mit staatlichen Behörden darüber, wo im Einzelfall die der Religionsfreiheit (Art.4 Abs.1 und 2 GG) und dem religiösen Selbstbestimmungsrecht (Art. 140 GG iVm Art.137 Abs.3 WRV) durch das Gesetz gezogene Grenze verläuft, durch die Gerichte klären zu lassen (vgl G Robbers, Sinn und Zweck des Körperschaftsstatus im Staatskirchenrecht, in: Festschrift für Martin Heckel, 1999, S.411, 413).

82

Außerdem erheben viele Religionen, die die Autorität staatlicher Gesetze für sich grundsätzlich anerkennen, gleichwohl einen Vorbehalt zu Gunsten ihres Gewissens und ihrer aus dem Glauben begründeten Entscheidungen und bestehen letztlich darauf, im unausweichlichen Konfliktfall den Glaubensgeboten mehr zu gehorchen als den Geboten des Rechts. Derartige Vorbehalte sind Ausdruck der für Religionen nicht untypischen Unbedingtheit ihrer Glaubenssätze. Sie sind auch von manchen alt- und neukorporierten Religionsgemeinschaften bekannt, und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie, je nach Lage des Einzelfalls, unter dem Schutz des Art.4 GG stehen. Aus Rücksicht auf die Religionsfreiheit, der der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts aus Art.140 GG iVm Art.137 Abs.5 WRV letztlich dient, stehen sie der Verleihung dieses Status jedenfalls so lange nicht im Wege, als die Religionsgemeinschaft im Grundsatz bereit ist, Recht und Gesetz zu achten und sich in die verfassungsmäßige Ordnung einzufügen.

83

Eine Religionsgemeinschaft, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erwerben will, muss insbesondere die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs.3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes nicht gefährdet.

84

1. a) Art.79 Abs.3 GG entzieht die in Art.1 Abs.1 und Art.20 GG niedergelegten Grundsätze jeglicher Änderung. Das Grundgesetz erklärt damit neben dem in Art.1 Abs.1 GG verankerten Grundsatz der Menschenwürde und den von ihm umfassten Kerngehalt der nachfolgenden Grundrechte (vgl BVerfGE_84,90 <120 f>; BVerfGE_94,12 <34> ) auch andere Garantien für unantastbar, die in Art.20 GG festgehalten sind. Dazu gehören die Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie (vgl BVerfGE_89,155 <182>; BVerfGE_94,49 <103>). Eine systematische Beeinträchtigung oder Gefährdung dieser vom Grundgesetz auf Dauer gestellten Grundsätze darf der Staat nicht hinnehmen, auch nicht von Seiten einer als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfassten Religionsgemeinschaft.

85

b) Die korporierten Religionsgemeinschaften sind - soweit sie außerhalb des ihnen übertragenen Bereichs hoheitlicher Befugnisse handeln - an die einzelnen Grundrechte nicht unmittelbar gebunden (P. Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: J. Listl/D. Pirson , Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1994, § 22, S. 651, 676 ff.). Die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts bindet sie aber an die Achtung der fundamentalen Rechte der Person, die Teil der verfassungsmäßigen Ordnung ist. Das Grundgesetz unterstellt die Menschenwürde und andere Grundrechte dem Schutz der Verfassung. So verpflichtet es den Staat, menschliches Leben und die körperliche Unversehrtheit zu schützen (BVerfGE_56,54 <73>; BVerfGE_79,174 <201 f>; BVerfGE_88,203 <251>). Kinder können staatlichen Schutz ihres Grundrechts aus Art.2 Abs.1 und Abs.2 Satz 1 GG beanspruchen; dabei bildet das Kindeswohl den Richtpunkt für den staatlichen Schutzauftrag aus Art.6 Abs.2 Satz 2 GG (BVerfGE_99,145 <156>). Und Art.4 Abs.1 und 2 GG fordert vom Staat, den Einzelnen und religiöse Gemeinschaften vor Angriffen und Behinderungen von Anhängern anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen zu schützen (BVerfGE_93,1 <16>).

86

Korporierte Religionsgemeinschaften haben einen öffentlich-rechtlichen Status und sind mit bestimmten hoheitlichen Befugnissen ausgestattet. Sie verfügen damit über besondere Machtmittel und einen erhöhten Einfluss in Staat und Gesellschaft. Ihnen liegen deshalb die besonderen Pflichten des Grundgesetzes zum Schutz der Rechte Dritter näher als anderen Religionsgemeinschaften. Diese Pflichten verbieten die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an eine Religionsgemeinschaft, gegen die einzuschreiten der Staat zum Schutz grundrechtlicher Rechtsgüter berechtigt oder gar verpflichtet wäre.

87

c) Der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ist ein Mittel zur Erleichterung und Entfaltung der Religionsfreiheit. Für die korporierten Religionsgemeinschaften begründet er eine bevorzugte Rechtsstellung. Er ist in das freiheitliche Staatskirchenrecht des Grundgesetzes eingebettet. Dieses Staatskirchenrecht hat die Religionsfreiheit zum leitenden Bezugspunkt. Es hat Staatskirche und Staatsreligion abgeschafft. Es achtet die Grundsätze der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates und der Parität der Religionen und Bekenntnisse, und es gewährleistet, dass der Körperschaftsstatus die Freiheitlichkeit des Religionsverfassungsrechts insgesamt nicht schmälert. Diese Verfassung setzt dem Körperschaftsstatus Grenzen, und diese Grenzen müssen auch die mit dem bevorzugten Status ausgestatteten Religionsgemeinschaften achten. Ihr Verhalten darf diese Grundsätze des freiheitlichen Staatskirchenrechts nicht beeinträchtigen oder gefährden. Das Grundgesetz verbietet die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an eine Religionsgemeinschaft, die nicht die Gewähr dafür bietet, dass das Verbot einer Staatskirche sowie die Prinzipien von Neutralität und Parität unangetastet bleiben.

88

2. Rechtliche Anforderungen an eine Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will, müssen in ihren Inhalten so gefasst werden, dass sie nicht ihrerseits in Widerspruch zu den prinzipiellen Wertungen des verfassungsrechtlichen Religions- und Staatskirchenrechts geraten.

89

a) Ob einer antragstellenden Religionsgemeinschaft der Körperschaftsstatus zu versagen ist, richtet sich nicht nach ihrem Glauben, sondern nach ihrem Verhalten. Der Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität (vgl.BVerfGE 19, 206 <216>; 93, 1 <17> ) verwehrt es dem Staat, Glaube und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten. Mangels Einsicht und geeigneter Kriterien darf der neutrale Staat im Bereich genuin religiöser Fragen nichts regeln und bestimmen (BVerfGE 12, 1 <4>; 41, 65 <84>; 72, 278 <294>; 74, 244 <255>). Das hindert ihn freilich nicht daran, das tatsächliche Verhalten einer Religionsgemeinschaft oder ihrer Mitglieder nach weltlichen Kriterien zu beurteilen, auch wenn dieses Verhalten letztlich religiös motiviert ist. Ob dabei Glaube und Lehre der Gemeinschaft, soweit sie sich nach außen manifestieren, Rückschlüsse auf ihr zu erwartendes Verhalten zulassen, ist eine Frage des Einzelfalls.

90

b) Die in Art.20 GG niedergelegten Grundprinzipien und die Grundsätze des Religions- und Staatskirchenrechts sind schon ihrer Herkunft und ihrem Inhalt nach Strukturvorgaben staatlicher Ordnung. Nur als solche verdienen sie Schutz. Sie enthalten keine Vorgaben für die Binnenstruktur einer Religionsgemeinschaft.

91

Überdies widerspräche es der Religionsfreiheit und dem in Art.140 GG iVm Art.137 Abs.3 WRV gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, von einer korporierten Religionsgemeinschaft etwa eine demokratische Binnenstruktur zu verlangen oder ihre Äußerungen über andere Religionen und Religionsgemeinschaften dem Gebot der Neutralität zu unterstellen. Auch den als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfassten Religionsgemeinschaften bleibt es unbenommen, ihr Verhältnis zu anderen Religionen und Religionsgemeinschaften nach ihrem eigenen religiösen Selbstverständnis zu gestalten, solange sie den verfassungsrechtlichen Ordnungsrahmen, der auch die Grundlage ihrer eigenen religiösen Freiheit bildet, nicht beeinträchtigen. Dies wäre etwa der Fall, wenn sie auf die Verwirklichung einer theokratischen Herrschaftsordnung

92

c) Von den korporierten Religionsgemeinschaften eine über die genannten Anforderungen hinausgehende Loyalität zum Staat zu verlangen, ist zum Schutz der verfassungsrechtlichen Grundwerte nicht notwendig und mit ihnen im Übrigen auch nicht vereinbar.

93

Das Wirken und der Status einer korporierten Religionsgemeinschaft bleiben, soweit nicht verfassungsrechtliche Einschränkungen geboten sind, von der grundrechtlichen Freiheit des Art.4 Abs.1 und 2 GG geprägt. Dem Träger dieser Freiheit ist es überlassen, ob und wie er seinen Freiheitsraum ausfüllt. Grundrechtliche Freiheit ist, vom Staat aus betrachtet, formale Freiheit. Der Grundrechtsträger muss sein Handeln nicht an den Interessen des Staates orientieren. Dies aber würde man von einer Religionsgemeinschaft verlangen, die ihr Wirken auf die Ziele des Staates, seine Verfassungsordnung und die dort niedergelegten Werte "loyal" auszurichten hätte (vgl St Korioth, Loyalität im Staatskirchenrecht?, in: Gedächtnisschrift für Bernd Jeand'Heur, 1999, S.221, 243).

94

Überdies ist die Forderung, eine korporierte Religionsgemeinschaft müsse loyal zum Staat stehen, rechtlich nicht leicht zu handhaben. "Loyalität" ist ein vager Begriff, der außerordentlich viele Deutungsmöglichkeiten eröffnet bis hin zu der Erwartung, die Religionsgemeinschaft müsse sich bestimmte Staatsziele zu Eigen machen oder sich als Sachwalter des Staates verstehen. Der Begriff zielt nämlich auch auf eine innere Disposition, auf eine Gesinnung, und nicht nur auf ein äußeres Verhalten. Damit gefährdet er nicht nur die Rechtssicherheit, sondern führt auch in eine Annäherung von Religionsgemeinschaft und Staat, die das Staatskirchenrecht des Grundgesetzes weder verlangt noch billigt.

95

Aus den gleichen Gründen kann es unter dem Grundgesetz nicht Ziel einer Verleihung des Körperschaftsstatus sein, eine Religionsgemeinschaft durch Privilegien zur Kooperation mit dem Staat anzuhalten. Das Grundgesetz sieht eine Zusammenarbeit des Staates mit den Religionsgemeinschaften zum Teil ausdrücklich vor - etwa bei der Erhebung von Kirchensteuern (Art.140 GG iVm Art.137 Abs.6 WRV) oder beim Religionsunterricht (Art.7 Abs.3 GG) - und lässt sie in weiteren Bereichen zu. Es macht sie den Religionsgemeinschaften aber nicht zur Bedingung. Ob sie derartige Angebote annehmen oder Distanz zum Staat wahren möchten, bleibt ihrem religiösen Selbstverständnis überlassen. Andererseits hängt es von den Charakteristika der jeweiligen Kooperationsangebote und den konkreten Vorgaben der auf Neutralität und Parität bedachten Verfassung ab, welchen Religionsgemeinschaften sie offen stehen. Dass das Grundgesetz Religionsunterricht und Anstaltsseelsorge im Grundsatz allen Religionsgemeinschaften zugänglich macht, zeigt aber, dass es Vergünstigungen und Mitwirkungschancen nicht schematisch danach zuweist, in welcher Rechtsform eine Religionsgemeinschaft organisiert ist. Einen Automatismus zwischen dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und staatlichen Vergünstigungen, die nicht bereits mit diesem Status selbst gewährleistet sind ("Privilegien"), gibt es nicht.

96

3. Die Prüfung, ob eine Religionsgemeinschaft nach ihrem gegenwärtigen und zu erwartenden Verhalten die Gewähr dafür bietet, die in Art.79 Abs.3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die staatlichem Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes nicht zu beeinträchtigen oder zu gefährden, setzt eine komplexe Prognose voraus. Dabei muss eine Vielzahl von Elementen zusammengestellt und gewürdigt werden. Mathematische Genauigkeit ist nicht zu erreichen. Für eine solche Prognose nicht untypisch wäre die Annahme, dass sich eine Gefährdung der genannten Schutzgüter erst aus dem Zusammenwirken vieler einzelner Umstände ergibt. Andererseits stellen bloß punktuelle Defizite die geforderte Gewähr nicht in Frage. Hier ist den Fachgerichten eine typisierende Gesamtbetrachtung und Gesamtwürdigung aller derjenigen Umstände aufgegeben, die für die Entscheidung über den Körperschaftsstatus von Bedeutung sind."

 

Auszug aus BVerfG U, 19.12.00, - 2_BvR_1500/97 -, www.BVerfG.de,  Abs.68 ff

§§§

00.046 Formularmäßige Begründung

  1. BVerfG,     B, 20.12.00,     – 2_BvR_2232/00 –

  2. www.BVerfG.de NJW_01,882 -83

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1; StPO_§_81g; DNA-IFG_§_2

  4. Verfassungsbeschwerde / Entscheidung - formularartige / Schrifstücke - Bezugnahme außerhalb der Entscheidungsbegründung.

T-00-28

LB: Zur formularartigen Abfassung und der Bezugnahme auf Schriftstücke in Entscheidungen.

* * *

T-00-28Zur formularartigen Abfassung

4

"a) Die formularartige Abfassung einer Entscheidung und eine Bezugnahme auf Schriftstücke außerhalb der Entscheidungsbegründung sind nicht stets von Verfassungs wegen zu beanstanden (vgl BVerfG , NJW_82,29 <30>). Entscheidend ist, ob die Gründe unter Berücksichtigung der in Bezug genommenen Schriftstücke erkennen lassen, dass der Richter eine auf den Einzelfall bezogene Entscheidung getroffen hat, die sich auf tragfähige Gründe stützt und dadurch der Bedeutung des eingeschränkten Grundrechts Rechnung trägt. Dem vom Amtsgericht in Bezug genommenen Urteil ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer in einer Reihe von Fällen Gewalt gegenüber Personen angewendet und sich wegen seiner Straftaten wiederholt und mit insgesamt mehrjähriger Verbüßungsdauer in Strafhaft befunden hat. Früheren Drogenkonsum hatte er nach mehrjähriger Unterbrechung wieder aufgenommen; dieser Drogenkonsum wurde dann für die Begehung weiterer Straftaten ursächlich. Bei dieser Sachlage bedurfte die Negativprognose im Sinne des § 81g Abs.1 StPO von Verfassungs wegen keiner weiteren Erläuterung. Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer seit dem Jahre 1994 nicht durch weitere Straftaten aufgefallen ist, stand der Prognose nicht entgegen, zumal er sich bis zum 4. Juni 1997 in Strafhaft befunden hatte.

5

b) Auch die Begründung der Beschwerdeentscheidung des Landgerichts ist im Ergebnis von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Sie erschöpft sich zwar in einer Bezugnahme auf die Gründe der Entscheidung des Amtsgerichts. Dies reichte im Ausgangsverfahren aber ausnahmsweise aus, zumal dem Landgericht eine Begründung der Beschwerde nicht vorlag; zumindest ist eine Beschwerdebegründung nicht im Sinne der §§ 23 Abs.1 Satz 2, 92 BVerfGG mitgeteilt worden.

 

Auszug aus BVerfG B, 20.12.00, - 2_BvR_2232/00 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.4 f

§§§

[ 2000 ]     [ « ] RS-BVerfG - 2000 (2) [ › ]     [ ]     [ 2001 ]

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