1998   (1)  
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98.001 Caroline von Monaco
 
  1. BVerfG,     B, 14.01.98,     – 1_BvR_1861/93 –

  2. BVerfGE_97,125 = www.BVerfG.de NJW_98,1381 -85 = JA_99,276

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.5 Abs.1 S.2, GG_Art.5 Abs.2; BGB_§_823, BGB_§_1004; (Hb) PresseG_§_11

 

1) Das Grundrecht der Pressefreiheit (Art.5 Abs.1 S.2 GG) verlangt nicht, daß die Titelseite von Presseerzeugnissen von Gegendarstellungen oder Richtigstellungen freigehalten wird.

 

2) Es verstößt nicht gegen das Grundrecht der Pressefreiheit, daß der Anspruch auf Gegendarstellung weder das Vorliegen einer Ehrverletzung nach den Nachweis der Unwahrheit der Erstmitteilung oder der Wahrheit der Gegendarstellung voraussetzt.

 

3) Der Presse ist es nicht verwehrt, nach sorgfältiger Recherche auch über Vorgänge oder Umstände zu berichten, deren Wahrheit im Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht mit Sicherheit feststeht. Die Pflicht, Tatsachenbehauptungen zu berichtigen, die sich als unwahr erwiesen haben und das Persönlichkeitsrecht (Art.2 Abs.1 iVm Art.1 Abs.1 GG) des Betroffenen fortwirkend beeinträchtigen, schränkt die Pressefreiheit nicht unangemessen ein.

§§§

98.002 Saarländisches PresseG
 
  1. BVerfG,     B, 14.01.98,     – 1_BvR_1995/94 –

  2. BVerfGE_97,157 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE = NJW_98,1385 -86 = JuS_99,77 -78

  3. GG_Art.5, GG_Art.103 Abs.2; (SL) PresseG_§_11 Abs.3 S.3, PresseG_§_22 Abs.1 Nr.3

T-98-01

Zur Zulässigkeit einer unmittelbar gegen presserechtliche Vorschriften gerichteten Verfassungsbeschwerde.

Abs.29

LB 2) Der Grundsatz der Subsidiarität verlangt allerdings nicht, daß ein Betroffener vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gegen eine straf- oder bußgeldbewehrte Rechtsnorm verstößt und dann im Straf- oder Bußgeldverfahren die Verfassungswidrigkeit der Norm geltend macht (vgl BVerfGE_81,70 <82 f>).

Abs.31

LB 3) Von § 11 Abs.4 Satz 6 SPresseG, der den Antragsteller zur Änderung des Gegendarstellungstextes im Prozeß berechtigt, keine Wirkung aus, die zu einer gegenwärtigen und unmittelbaren Betroffenheit der Beschwerdeführer führt.

Abs.32

LB 4) Soweit die Beschwerdeführer von der angegriffenen Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sind, steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden jedoch der Grundsatz der Subsidiarität entgegen.

Abs.33

LB 5) Die Gerichte werden vielmehr zu klären haben, was die Pflicht, die Gegendarstellung an gleichwertiger, der Seite der Erstmitteilung entsprechender Stelle, mit gleicher Schrift und gleicher Aufmachung zu veröffentlichen (§ 11 Abs.3 Satz 1 SPresseG), bedeutet und wie bei ihrer Auslegung und Anwendung die Anforderungen der Pressefreiheit mit dem Persönlichkeitsschutz des von der Presseberichterstattung Betroffenen in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden können.

Abs.34

LB 6) Das gilt ebenfalls für die Verpflichtung, bei grafischer oder fotografischer Anreicherung der Meldung auch die Gegendarstellung mit gleichwertigen grafischen oder fotografischen Bestandteilen auszustatten (§ 11 Abs.3 Satz 2 SPresseG).

Abs.35

LB 7) Der Verweis auf die fachgerichtliche Klärung ist den Beschwerdeführern auch zumutbar.

Abs.36

LB 8) Ein Bußgeldrisiko, das ihnen nicht zuzumuten wäre, besteht nicht. Zwar enthält § 22 Abs.1 Nr.3 SPresseG eine Bußgeldandrohung bei Verstoß gegen die Verpflichtung aus § 11 Abs.3 Satz 3 SPresseG. Diese Bußgeldregelung läuft aber leer. § 11 Abs.3 Satz 3 SPresseG besagt, daß der Abdruck der Gegendarstellung kostenfrei ist. Die Unstimmigkeit beruht auf einem gesetzgeberischen Versehen. Bei der Novellierung des Pressegesetzes ist § 22 Abs.1 Nr.3 SPresseG nicht angepaßt worden. Eine im Wege der Auslegung vorgenommene Anwendung dieser Bestimmung auf diejenige Vorschrift, die an die Stelle des bisherigen Absatzes 3 Satz 3 getreten ist, wäre wegen Art.103 Abs.2 GG verfassungswidrig und braucht deshalb nicht in die Zumutbarkeitserwägungen einbezogen zu werden."

Abs.37

LB 9) Zwar werfen die Verfassungsbeschwerden Fragen auf, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht beantwortet sind. Insbesondere hat das Glossierungsverbot noch keine verfassungsrechtliche Prüfung erfahren. Das allein verleiht den Verfassungsbeschwerden aber keine allgemeine Bedeutung."

* * *

T-98-01Verfassungsbeschwerde: Zulässigkeit

27

"Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig.

I.

28

1. Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz setzt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voraus, daß der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch die angegriffene Rechtsnorm in seinen Grundrechten betroffen ist (vgl BVerfGE_1,97 <101 ff>). Eine Selbstbetroffenheit liegt jedenfalls dann vor, wenn der Beschwerdeführer Adressat der angegriffenen Norm ist (vgl BVerfGE_74,297 <318>). Gegenwärtig ist der Beschwerdeführer von einer Norm betroffen, wenn diese ihre Wirkung auf ihn aktuell und nicht nur virtuell entfaltet (vgl BVerfGE_1,97 <102>). Von einer gegenwärtigen Betroffenheit geht das Bundesverfassungsgericht aber auch dann aus, wenn das Gesetz die Normadressaten mit Blick auf seine künftig eintretende Wirkung zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt (vgl BVerfGE_43,291 <387>) oder wenn klar abzusehen ist, daß und wie der Beschwerdeführer in der Zukunft von der Regelung betroffen sein wird (vgl BVerfGE_74,297 <320>). Eine unmittelbare Betroffenheit liegt vor, wenn die angegriffene Vorschrift, ohne eines weiteren Vollzugsaktes zu bedürfen, die Rechtsstellung des Beschwerdeführers verändert. Der Beschwerdeführer muß also geltend machen können, daß er gerade durch die Norm und nicht erst durch ihren Vollzug in seinen Grundrechten betroffen ist (vgl BVerfGE_1,97 <102 f>). Eine unmittelbare Betroffenheit wird aber auch dann bejaht, wenn die Norm ihren Adressaten bereits vor konkreten Vollzugsakten zu später nicht mehr korrigierbaren Dispositionen veranlaßt (vgl BVerfGE_43,291 <386>). Bei Rechtsbeziehungen, die nicht das Verhältnis des Einzelnen zum Staat, sondern die Beziehungen von Privatrechtssubjekten untereinander regeln und also nicht auf Vollzug im engeren Sinn angelegt sind, folgt die unmittelbare Betroffenheit aus einer sich im Verhältnis der Beteiligten unmittelbar auswirkenden Änderung der Rechtslage oder aus der Notwendigkeit von Dispositionen zur Einstellung auf die neue Rechtslage (vgl BVerfGE_88,384 <399 f>; BVerfGE_91,294 <305>).

29

2. Auch für Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze gilt aber der Grundsatz der Subsidiarität. Danach ist die Verfassungsbeschwerde eines von der angegriffenen Rechtsnorm selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffenen Grundrechtsträgers dann unzulässig, wenn er in zumutbarer Weise Rechtsschutz durch die Anrufung der Gerichte erlangen kann (vgl BVerfGE_68,319 <325 f>; BVerfGE_74,69 <74>). Damit soll erreicht werden, daß das Bundesverfassungsgericht nicht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage weitreichende Entscheidungen trifft (vgl BVerfGE_79,1 <20>). Ein Verweis auf den Rechtsweg ist danach besonders dann geboten, wenn das angegriffene Gesetz den Gerichten Entscheidungsspielräume beläßt, die für die Frage seiner Verfassungsmäßigkeit Gewicht erlangen können (vgl BVerfGE_71,25 <34 f> ). Der Grundsatz der Subsidiarität verlangt allerdings nicht, daß ein Betroffener vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gegen eine straf- oder bußgeldbewehrte Rechtsnorm verstößt und dann im Straf- oder Bußgeldverfahren die Verfassungswidrigkeit der Norm geltend macht (vgl BVerfGE_81,70 <82 f>).

II.

30

1. Die Beschwerdeführer sind durch § 11 Abs.3 SPresseG selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Die Selbstbetroffenheit ergibt sich daraus, daß sie als Verleger und verantwortliche Redakteure Adressaten des Gesetzes sind. Sie sind auch gegenwärtig betroffen. Zwar treten die Rechtsfolgen des Gesetzes nicht ohne weiteres ein, sondern treffen die Beschwerdeführer erst dann, wenn ein Gegendarstellungsverlangen aus Anlaß einer bestimmten Meldung erhoben wird. Der Eintritt eines solchen Falles kann aber als sicher gelten. Überdies erschöpfen sich die Wirkungen der Norm nicht in der Regelung konkreter Streitfälle. Vielmehr handelt es sich um eine Vorschrift, die das Verhalten der im Pressewesen Tätigen schon im Vorfeld eines bestimmten Gegendarstellungsverlangens zu beeinflussen geeignet ist. Gerade angesichts der - verglichen mit anderen Landespressegesetzen einschneidenderen - Beschränkung der Pressefreiheit durch das novellierte Gegendarstellungsrecht können sie sich veranlaßt sehen, ihre Berichterstattung so einzurichten, daß Gegendarstellungsverlangen möglichst vermieden werden. Die Unmittelbarkeit der Betroffenheit in dem Grundrecht aus Art.5 Abs.1 Satz 2 GG ist angesichts der veränderten Rechtsstellung der Presse ebenfalls nicht zu verneinen.

31

Dagegen geht von § 11 Abs.4 Satz 6 SPresseG, der den Antragsteller zur Änderung des Gegendarstellungstextes im Prozeß berechtigt, keine Wirkung aus, die zu einer gegenwärtigen und unmittelbaren Betroffenheit der Beschwerdeführer führt. Weder kann die Norm sich in einer § 11 Abs.3 SPresseG vergleichbaren Weise nachteilig auf die redaktionelle Arbeit auswirken noch ist der Eintritt eines Anwendungsfalls annähernd so gewiß wie bei § 11 Abs.3 SPresseG. Auch die von den Beschwerdeführern befürchtete Kostenfolge vermag keine gegenwärtige und unmittelbare Betroffenheit zu begründen.

32

2. Soweit die Beschwerdeführer von der angegriffenen Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sind, steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden jedoch der Grundsatz der Subsidiarität entgegen. Sie können Abhilfe auf dem Rechtsweg erlangen. Kommen sie einem Gegendarstellungsverlangen nicht nach, so entscheiden über dessen Berechtigung auf Antrag des von der Mitteilung Betroffenen die Zivilgerichte. Diese haben die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Grundlage zu prüfen und gegebenenfalls die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Halten sie sie für vereinbar mit dem Grundgesetz, so müssen sie bei der Auslegung und Anwendung von § 11 Abs.3 SPresseG das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art.5 Abs.1 Satz 2 GG beachten (vgl Beschluß vom heutigen Tag in den Verfahren 1 BvR 1861/93 ua).

33

Die Norm läßt für eine Berücksichtigung dieses Grundrechts auch ausreichenden Spielraum. Sie ist nicht so zwingend abgefaßt, daß das Ergebnis ihrer Anwendung auf den konkreten Streitfall restlos vorherbestimmt wäre. Die Gerichte werden vielmehr zu klären haben, was die Pflicht, die Gegendarstellung an gleichwertiger, der Seite der Erstmitteilung entsprechender Stelle, mit gleicher Schrift und gleicher Aufmachung zu veröffentlichen (§ 11 Abs.3 Satz 1 SPresseG), bedeutet und wie bei ihrer Auslegung und Anwendung die Anforderungen der Pressefreiheit mit dem Persönlichkeitsschutz des von der Presseberichterstattung Betroffenen in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden können.

34

Das gilt ebenfalls für die Verpflichtung, bei grafischer oder fotografischer Anreicherung der Meldung auch die Gegendarstellung mit gleichwertigen grafischen oder fotografischen Bestandteilen auszustatten (§ 11 Abs.3 Satz 2 SPresseG). Bei dieser Verpflichtung handelt es sich nicht nur um eine Sollvorschrift, die der Berücksichtigung widerstreitender Interessen und den Umständen des konkreten Falles in besonderem Maß offensteht. Sie ist auch von einem berechtigten Interesse des Betroffenen abhängig, ohne daß in der Vorschrift näher bestimmt würde, wann ein solches Interesse anzunehmen ist. Ebenso lassen das Verbot von Zusätzen und die Beschränkung von Erwiderungen nach ihrem Sinn und Zweck noch Auslegungsspielräume.

35

Der Verweis auf die fachgerichtliche Klärung ist den Beschwerdeführern auch zumutbar. Die verhaltenssteuernde Wirkung, die von den novellierten Teilen des Pressegesetzes ausgeht, erscheint jedenfalls nicht derart gewichtig, daß sie eine Vorabentscheidung des Bundesverfassungsgerichts rechtfertigen würde. Daß die Beschwerdeführer Meldungen, die ihnen aus publizistischen Gründen mitteilenswert erscheinen, allein aus Furcht vor dem verschärften Gegendarstellungsrecht unterlassen, ist nicht anzunehmen. Daß sie die neue Rechtslage möglicherweise bei Aufmachung und Plazierung von Meldungen berücksichtigen, bei denen sie mit einem Gegendarstellungsverlangen rechnen, schränkt die Redaktionsarbeit jedenfalls nicht in einem solchen Maß ein, daß ein Verweis auf den Zivilrechtsweg unzumutbar wäre. Das Risiko einer zivilgerichtlichen Verurteilung haben die Beschwerdeführer zu tragen.

36

Ein Bußgeldrisiko, das ihnen nicht zuzumuten wäre, besteht nicht. Zwar enthält § 22 Abs.1 Nr.3 SPresseG eine Bußgeldandrohung bei Verstoß gegen die Verpflichtung aus § 11 Abs.3 Satz 3 SPresseG. Diese Bußgeldregelung läuft aber leer. § 11 Abs.3 Satz 3 SPresseG besagt, daß der Abdruck der Gegendarstellung kostenfrei ist. Die Unstimmigkeit beruht auf einem gesetzgeberischen Versehen. Bei der Novellierung des Pressegesetzes ist § 22 Abs.1 Nr.3 SPresseG nicht angepaßt worden. Eine im Wege der Auslegung vorgenommene Anwendung dieser Bestimmung auf diejenige Vorschrift, die an die Stelle des bisherigen Absatzes 3 Satz 3 getreten ist, wäre wegen Art.103 Abs.2 GG verfassungswidrig und braucht deshalb nicht in die Zumutbarkeitserwägungen einbezogen zu werden.

37

Die Verfassungsbeschwerden bedürfen auch unter dem Gesichtspunkt allgemeiner Bedeutung im Sinn von § 90 Abs.2 Satz 2 BVerfGG keiner sofortigen Entscheidung. Zwar werfen die Verfassungsbeschwerden Fragen auf, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht beantwortet sind. Insbesondere hat das Glossierungsverbot noch keine verfassungsrechtliche Prüfung erfahren. Das allein verleiht den Verfassungsbeschwerden aber keine allgemeine Bedeutung. Das Glossierungsverbot hat bislang nicht in einer größeren Zahl von Fällen zu Streit oder Zweifeln bei der Anwendung der presserechtlichen Bestimmungen geführt. Eine Ausnahme vom Grundsatz der Subsidiarität ist daher auch unter diesem Gesichtspunkt nicht geboten."

 

Auszug aus BVerfG B, 14.01.98, - 1_BvR_1995/94 -, www.BVerfG.de,  Abs.27 ff

§§§

98.003 Kleinbetriebsklausel I
 
  1. BVerfG,     B, 27.01.98,     – 1_BvL_15/87 –

  2. BVerfGE_97,169 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.1; (85) KSchG_§_23 Abs.1 S.2

T-98-02

1) § 23 Abs.1 Satz 2 des Kündigungsschutzgesetzes in der Fassung des Gesetzes vom 26.April 1985 war bei verfassungskonformer Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar.

 

2) Soweit die Bestimmungen des Kündigungsschutzgesetzes nicht greifen, gewährleisten die zivilrechtlichen Generalklauseln den durch Art.12 Abs.1 GG gebotenen Mindestschutz der Arbeitnehmer.

Abs.25

LB 3) Mit der Berufswahlfreiheit ist weder ein Anspruch auf Bereitstellung eines Arbeitsplatzes eigener Wahl noch eine Bestandsgarantie für den einmal gewählten Arbeitsplatz verbunden.

 

LB 4) Ebensowenig gewährt Art.12 Abs.1 GG einen unmittelbaren Schutz gegen den Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund privater Disposition.

 

LB 5) Insofern obliegt dem Staat aber eine aus dem Grundrecht folgende Schutzpflicht, der die geltenden Kündigungsvorschriften Rechnung tragen (vgl BVerfGE_84,133 <146 f>; BVerfGE_85,360 <372 f>; BVerfGE_92,140 <150>).

Abs.26

LB 6) Die Kleinbetriebsklausel greift in bestehende Arbeitsverhältnisse und damit in eine grundrechtlich geschützte Position von Arbeitnehmern nicht ein. Es handelt sich um eine das private Vertragsrecht ausgestaltende Norm, die allein am objektiven Gehalt der Grundrechte zu messen ist.

 

LB 7) Art.12 Abs.1 GG kann durch die Kleinbetriebsklausel nur verletzt sein, wenn der Gesetzgeber damit seiner aus diesem Grundrecht abzuleitenden Pflicht zum Schutz der Arbeitnehmer vor Arbeitgeberkündigungen nicht hinreichend nachgekommen ist.

Abs.28

LB 8) Bei privatrechtlichen Regelungen, die der Vertragsfreiheit Grenzen setzen, geht es um den Ausgleich widerstreitender Interessen, die regelmäßig grundrechtlich verankert sind.

 

LB 9) Dem durch Art.12 Abs.1 GG geschützten Interesse des Arbeitnehmers an einer Erhaltung seines Arbeitsplatzes steht das Interesse des Arbeitgebers gegenüber, in seinem Unternehmen nur Mitarbeiter zu beschäftigen, die seinen Vorstellungen entsprechen, und ihre Zahl auf das von ihm bestimmte Maß zu beschränken. Er übt damit regelmäßig seine Berufsfreiheit im Sinne von Art.12 Abs.1 GG, jedenfalls aber seine wirtschaftliche Betätigungsfreiheit, aus, die durch Art.2 Abs.1 GG geschützt ist.

 

LB 10) Für den Gesetzgeber stellt sich damit ein Problem praktischer Konkordanz. Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (vgl BVerfGE_89,214 <232>).

Abs.29

LB 11) Eine Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten kann daher in einer solchen Lage nur festgestellt werden, wenn eine Grundrechtsposition den Interessen des anderen Vertragspartners in einer Weise untergeordnet wird, daß in Anbetracht der Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechts von einem angemessenen Ausgleich nicht mehr gesprochen werden kann (so etwa in BVerfGE_81,242 <255>; BVerfGE_89,214 <232 ff>).

Abs.30

LB 12) Daran gemessen verletzt die Kleinbetriebsklausel Art.12 Abs.1 GG nicht.

Abs.32

LB 13) Das Kündigungsrecht des Kleinunternehmers ist in hohem Maße schutzwürdig. I

 

LB 14) Typischerweise arbeitet bei kleinen Betrieben der Unternehmer selbst als Chef vor Ort mit. Damit bekommt das Vertrauensverhältnis zu jedem seiner Mitarbeiter einen besonderen Stellenwert.

 

LB 15) Auch die regelmäßig geringere Finanzausstattung fällt ins Gewicht. Ein Kleinbetrieb ist häufig nicht in der Lage, Abfindungen bei Auflösung eines Arbeitsverhältnisses zu zahlen oder weniger leistungsfähiges, weniger benötigtes oder auch nur weniger genehmes Personal mitzutragen.

 

LB 16) Schließlich belastet auch der Verwaltungsaufwand, den ein Kündigungsschutzprozeß mit sich bringt, den Kleinbetrieb stärker als ein größeres Unternehmen.

Abs.34

LB 17) Wo die Bestimmungen des Kündigungsschutzgesetzes nicht greifen, sind die Arbeitnehmer durch die zivilrechtlichen Generalklauseln vor einer sitten- oder treuwidrigen Ausübung des Kündigungsrechts des Arbeitgebers geschützt. Im Rahmen dieser Generalklauseln ist auch der objektive Gehalt der Grundrechte zu beachten (vgl BVerfGE_7,198 <204 ff>). Hier ergeben sich die maßgebenden Grundsätze vor allem aus Art.12 Abs.1 GG. Der verfassungsrechtlich gebotene Mindestschutz des Arbeitsplatzes vor Verlust durch private Disposition ist damit in jedem Fall gewährleistet.

Abs.35

LB 18) Der durch die Generalklauseln vermittelte Schutz darf nicht dazu führen, daß dem Kleinunternehmer praktisch die im Kündigungsschutzgesetz vorgegebenen Maßstäbe der Sozialwidrigkeit auferlegt werden. Das hat das Bundesarbeitsgericht zutreffend in ständiger Rechtsprechung betont (BAGE_28,176 <184>; BAGE_77,128 <133> jeweils mwN).

Abs.36

LB 19) In sachlicher Hinsicht geht es vor allem darum, Arbeitnehmer vor willkürlichen oder auf sachfremden Motiven beruhenden Kündigungen zu schützen (vgl dazu etwa BAGE_77,128 <133 f>).

 

LB 20) Zutreffend werden in der Literatur als Beispiele dafür Diskriminierungen im Sinne von Art.3 Abs.3 GG genannt

 

LB 21) Soweit unter mehreren Arbeitnehmern eine Auswahl zu treffen ist, gebietet der verfassungsrechtliche Schutz des Arbeitsplatzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein gewisses Maß an sozialer Rücksichtnahme (vgl BVerfGE_84,133 <154 ff>; BAGE_79,128 <138>).

 

LB 22) Schließlich darf auch ein durch langjährige Mitarbeit erdientes Vertrauen in den Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses nicht unberücksichtigt bleiben.

Abs.37

LB 23 Der objektive Gehalt der Grundrechte kann auch im Verfahrensrecht Bedeutung erlangen.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 23 Absatz 1 Satz 2 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) in der Fassung des Gesetzes vom 26.April 1985 (Bundesgesetzblatt I Seite 710) war nach Maßgabe der Entscheidungsgründe mit dem Grundgesetz vereinbar.

* * *

T-98-02Kündigungsschutzgesetz

23

"Die zur Prüfung gestellte Norm war nach Maßgabe der Entscheidungsgründe mit dem Grundgesetz vereinbar.

I.

24

Vorrangig ist sie am Maßstab des Art.12 Abs.1 GG zu messen.

25

1. Dieses Grundrecht garantiert die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Der Einzelne wird in seinem Entschluß, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in dem gewählten Beruf zu ergreifen oder ein bestehendes Arbeitsverhältnis beizubehalten oder aufzugeben, vor staatlichen Maßnahmen geschützt, die ihn am Erwerb eines zur Verfügung stehenden Arbeitsplatzes hindern oder zur Annahme, Beibehaltung oder Aufgabe eines bestimmten Arbeitsplatzes zwingen. Dagegen ist mit der Berufswahlfreiheit weder ein Anspruch auf Bereitstellung eines Arbeitsplatzes eigener Wahl noch eine Bestandsgarantie für den einmal gewählten Arbeitsplatz verbunden. Ebensowenig gewährt Art.12 Abs.1 GG einen unmittelbaren Schutz gegen den Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund privater Disposition. Insofern obliegt dem Staat aber eine aus dem Grundrecht folgende Schutzpflicht, der die geltenden Kündigungsvorschriften Rechnung tragen (vgl BVerfGE_84,133 <146 f>; BVerfGE_85,360 <372 f>; BVerfGE_92,140 <150>).

26

2. Die Kleinbetriebsklausel greift in bestehende Arbeitsverhältnisse und damit in eine grundrechtlich geschützte Position von Arbeitnehmern nicht ein. Es handelt sich um eine das private Vertragsrecht ausgestaltende Norm, die allein am objektiven Gehalt der Grundrechte zu messen ist. Art.12 Abs.1 GG kann durch sie nur verletzt sein, wenn der Gesetzgeber damit seiner aus diesem Grundrecht abzuleitenden Pflicht zum Schutz der Arbeitnehmer vor Arbeitgeberkündigungen nicht hinreichend nachgekommen ist.

27

3. Die Norm ist mit Art.12 Abs.1 GG vereinbar.

28

a) Bei privatrechtlichen Regelungen, die der Vertragsfreiheit Grenzen setzen, geht es um den Ausgleich widerstreitender Interessen, die regelmäßig grundrechtlich verankert sind. So liegt es auch hier. Dem durch Art.12 Abs.1 GG geschützten Interesse des Arbeitnehmers an einer Erhaltung seines Arbeitsplatzes steht das Interesse des Arbeitgebers gegenüber, in seinem Unternehmen nur Mitarbeiter zu beschäftigen, die seinen Vorstellungen entsprechen, und ihre Zahl auf das von ihm bestimmte Maß zu beschränken. Er übt damit regelmäßig seine Berufsfreiheit im Sinne von Art.12 Abs.1 GG, jedenfalls aber seine wirtschaftliche Betätigungsfreiheit, aus, die durch Art.2 Abs.1 GG geschützt ist. Für den Gesetzgeber stellt sich damit ein Problem praktischer Konkordanz. Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (vgl BVerfGE_89,214 <232>).

29

Dem Gesetzgeber, der diese Interessen zu einem gerechten Ausgleich bringen will, ist ein weiter Gestaltungsfreiraum eingeräumt. Die Einschätzung der für die Konfliktlage maßgeblichen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen liegt in seiner politischen Verantwortung, ebenso die Vorausschau auf die künftige Entwicklung und die Wirkungen seiner Regelung. Dasselbe gilt für die Bewertung der Interessenlage, das heißt die Gewichtung der einander entgegenstehenden Belange und die Bestimmung ihrer Schutzbedürftigkeit. Eine Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten kann daher in einer solchen Lage nur festgestellt werden, wenn eine Grundrechtsposition den Interessen des anderen Vertragspartners in einer Weise untergeordnet wird, daß in Anbetracht der Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechts von einem angemessenen Ausgleich nicht mehr gesprochen werden kann (so etwa in BVerfGE_81,242 <255>; BVerfGE_89,214 <232 ff>).

30

b) Daran gemessen verletzt die Kleinbetriebsklausel Art.12 Abs.1 GG nicht. Der Gesetzgeber hat mit ihr einen Ausgleich zwischen den Belangen der Arbeitsvertragsparteien getroffen, der der aus dieser Grundrechtsnorm abzuleitenden Schutzpflicht genügt. Die einander gegenüberstehenden Belange sind angemessen berücksichtigt worden. Die betroffenen Arbeitnehmer sind Kündigungen durch den Arbeitgeber nicht schutzlos ausgeliefert.

31

aa) Bei einer Regelung des Kündigungsschutzes sind auf seiten des Arbeitnehmers gewichtige Belange in die Waagschale zu werfen. Berufliche Tätigkeit, für die Art.12 Abs.1 GG den erforderlichen Freiraum gewährleistet, kann er ausschließlich durch den Abschluß und den Fortbestand von Arbeitsverträgen realisieren (vgl BVerfGE_81,242 <254>). Der Arbeitsplatz ist die wirtschaftliche Existenzgrundlage für ihn und seine Familie. Lebenszuschnitt und Wohnumfeld werden davon bestimmt, ebenso gesellschaftliche Stellung und Selbstwertgefühl. Mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird dieses ökonomische und soziale Beziehungsgeflecht in Frage gestellt. Die Aussichten, eine ähnliche Position ohne Einbußen an Lebensstandard und Verlust von Nachbarschaftsbeziehungen zu finden, hängen vom Arbeitsmarkt ab. In Zeiten struktureller Arbeitslosigkeit sind sie vor allem für den älteren Arbeitnehmer schlecht. Gelingt es ihm nicht, alsbald einen neuen Arbeitsplatz zu finden, gerät er häufig in eine Krise, in der ihm durch die Leistungen der Arbeitslosenversicherung nur teilweise und auch nur für einen begrenzten Zeitraum geholfen wird.

32

bb) Auf der anderen Seite ist auch das Kündigungsrecht des Kleinunternehmers in hohem Maße schutzwürdig. In einem Betrieb mit wenigen Arbeitskräften hängt der Geschäftserfolg mehr als bei Großbetrieben von jedem einzelnen Arbeitnehmer ab. Auf seine Leistungsfähigkeit kommt es ebenso an wie auf Persönlichkeitsmerkmale, die für die Zusammenarbeit, die Außenwirkung und das Betriebsklima von Bedeutung sind. Kleine Teams sind anfällig für Mißstimmungen und Querelen. Störungen des Betriebsklimas können zu Leistungsminderungen führen, die bei geringem Geschäftsvolumen spürbar auf das Ergebnis durchschlagen. Ausfälle lassen sich bei niedrigem Personalbestand nur schwer ausgleichen. Typischerweise arbeitet bei kleinen Betrieben der Unternehmer selbst als Chef vor Ort mit. Damit bekommt das Vertrauensverhältnis zu jedem seiner Mitarbeiter einen besonderen Stellenwert. Auch die regelmäßig geringere Finanzausstattung fällt ins Gewicht. Ein Kleinbetrieb ist häufig nicht in der Lage, Abfindungen bei Auflösung eines Arbeitsverhältnisses zu zahlen oder weniger leistungsfähiges, weniger benötigtes oder auch nur weniger genehmes Personal mitzutragen. Schließlich belastet auch der Verwaltungsaufwand, den ein Kündigungsschutzprozeß mit sich bringt, den Kleinbetrieb stärker als ein größeres Unternehmen.

33

cc) Mit der zur Prüfung gestellten Norm hat dieser Interessengegensatz einen Ausgleich gefunden, der verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist.

34

Den Arbeitnehmern in Kleinbetrieben ist das größere rechtliche Risiko eines Arbeitsplatzverlustes angesichts der schwerwiegenden und grundrechtlich geschützten Belange der Arbeitgeber zuzumuten. Dabei fällt ins Gewicht, daß die Arbeitnehmer durch ihre Herausnahme aus dem gesetzlichen Kündigungsschutz nicht völlig schutzlos gestellt sind. Wo die Bestimmungen des Kündigungsschutzgesetzes nicht greifen, sind die Arbeitnehmer durch die zivilrechtlichen Generalklauseln vor einer sitten- oder treuwidrigen Ausübung des Kündigungsrechts des Arbeitgebers geschützt. Im Rahmen dieser Generalklauseln ist auch der objektive Gehalt der Grundrechte zu beachten (vgl BVerfGE_7,198 <204 ff>). Hier ergeben sich die maßgebenden Grundsätze vor allem aus Art.12 Abs.1 GG. Der verfassungsrechtlich gebotene Mindestschutz des Arbeitsplatzes vor Verlust durch private Disposition ist damit in jedem Fall gewährleistet. Wie weit dieser Schutz im einzelnen reicht, ist von den Arbeitsgerichten zu entscheiden.

35

Ausgangspunkt einer solchen Würdigung ist der Respekt vor der gesetzgeberischen Eingrenzung des gesetzlichen Kündigungsschutzes durch § 23 Abs.1 KSchG. Der durch die Generalklauseln vermittelte Schutz darf nicht dazu führen, daß dem Kleinunternehmer praktisch die im Kündigungsschutzgesetz vorgegebenen Maßstäbe der Sozialwidrigkeit auferlegt werden. Das hat das Bundesarbeitsgericht zutreffend in ständiger Rechtsprechung betont (BAGE_28,176 <184>; BAGE_77,128 <133> jeweils mwN). Darüber hinaus wirkt der durch die Generalklauseln vermittelte Grundrechtsschutz um so schwächer, je stärker die mit der Kleinbetriebsklausel geschützten Grundrechtspositionen des Arbeitgebers im Einzelfall betroffen sind.

36

In sachlicher Hinsicht geht es vor allem darum, Arbeitnehmer vor willkürlichen oder auf sachfremden Motiven beruhenden Kündigungen zu schützen (vgl dazu etwa BAGE_77,128 <133 f>). Zutreffend werden in der Literatur als Beispiele dafür Diskriminierungen im Sinne von Art.3 Abs.3 GG genannt (Oetker, ArbuR 1997, S.41 <48>; Preis, NZA 1997, S.1256 <1266>). Soweit unter mehreren Arbeitnehmern eine Auswahl zu treffen ist, gebietet der verfassungsrechtliche Schutz des Arbeitsplatzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein gewisses Maß an sozialer Rücksichtnahme (vgl BVerfGE_84,133 <154 ff>; BAGE_79,128 <138>). Schließlich darf auch ein durch langjährige Mitarbeit erdientes Vertrauen in den Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses nicht unberücksichtigt bleiben.

37

Der objektive Gehalt der Grundrechte kann auch im Verfahrensrecht Bedeutung erlangen (vgl BVerfGE_89,276 <289 f>). Für die Wirksamkeit des gerichtlichen Kündigungsschutzes ist die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast von besonderer Bedeutung (vgl Preis, NZA 1997, S.1256 <1268>). Nach § 1 Abs.2 Satz 4 KSchG hat der Arbeitgeber die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung bedingen. Außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes gilt diese Regel nicht. Wie die Darlegungs- und Beweislast unter Beachtung verfassungsrechtlicher Positionen bei der Anwendung der Generalklauseln in §§ 138 oder 242 BGB zu beurteilen ist, läßt sich nicht allgemein festlegen (vgl. dazu Oetker, ArbuR 1997, S.41 <53>; Preis, NZA 1997, S.1256 <1269>; Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S.248 f.). Für eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast bietet das Prozeßrecht aber geeignete Handhaben (vgl Preis, aaO).

38

c) Der Umstand, daß in Verfahren nach dem Kündigungsschutzgesetz zumeist weniger um die Fortführung des Arbeitsverhältnisses gestritten als über eine Abfindung verhandelt wird, ändert nichts an dieser Beurteilung. Durch diese Entwicklung wird weder die Zielsetzung des Kündigungsschutzgesetzes verfehlt noch verliert die Herausnahme der Kleinbetriebe aus dem gesetzlichen Kündigungsschutz ihre innere Rechtfertigung.

39

Die Erwartung des Arbeitgebers, ein Arbeitsverhältnis nur gegen Abfindung beenden zu können, wirkt sich im Vorfeld einer Kündigung arbeitsplatzschützend aus. Er wird diese Aufwendung nur in Fällen in Kauf nehmen, die ihm besonders dringlich erscheinen. Im Abfindungsvergleich wird der vom Gesetz in erster Linie erstrebte Bestandsschutz von den Parteien in einen Geldausgleich umgemünzt, dessen Höhe der übereinstimmenden Bewertung der Prozeßaussichten entspricht. Auch darin schlägt sich mithin der durch das Gesetz vermittelte Schutz nieder. Die spezifischen und vom Gesetzgeber als besonders schutzwürdig angesehenen Interessen des Kleinunternehmers an der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses würden seine Verhandlungsposition bei Abfindungsverhandlungen schwächen, wenn er den Regelungen des Kündigungsschutzgesetzes unterworfen wäre. Außerdem würde der wirtschaftlich schwache Kleinbetriebsinhaber durch eine Abfindung härter getroffen als ein größerer Betrieb, der Abfindungen eher aufbringen kann (vgl dazu Wank, Anm zu BAG, EzA § 23 KSchG Nr.8).

40

d) Ob der Gesetzgeber in § 23 Abs.1 Satz 2 und 3 KSchG die Grenze zum Kleinbetrieb in verfassungskonformer Weise gezogen hat, ist im Zusammenhang mit Art.3 Abs.1 GG als dem insoweit sachnäheren Grundrecht zu erörtern.

II.

41

Die zur Prüfung gestellte Norm ist nach Maßgabe der Entscheidungsgründe auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art.3 Abs.1 GG) vereinbar.

42

1. Für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen gibt der allgemeine Gleichheitssatz keinen einheitlichen Prüfungsmaßstab vor. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen ergeben sich unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Die Anforderungen sind um so strenger, je mehr sich die personenbezogenen Merkmale den in Art.3 Abs.3 GG genannten nähern. Bei einer an Sachverhalten orientierten Ungleichbehandlung kommt es entscheidend darauf an, inwieweit die Betroffenen in der Lage sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Differenzierungsmerkmale zu beeinflussen. Die unterschiedliche Bindung des Gesetzgebers wirkt sich entsprechend auf die ihm zustehende Einschätzungsprärogative und auch auf die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte aus (vgl im einzelnen BVerfGE_88,87 <96 f>).

43

2. § 23 Abs.1 Satz 2 KSchG benachteiligt die Arbeitnehmer in Kleinbetrieben im Vergleich zu Arbeitnehmern in größeren Betrieben. Die Regelung hat, wie dargelegt, Auswirkungen auf die durch Art.12 GG geschützte Freiheit der beruflichen Tätigkeit; der Gesetzgeber unterliegt somit grundsätzlich einer strengeren Bindung (vgl BVerfGE_82,126 <146>).

44

3. Das Fehlen des allgemeinen Kündigungsschutzes trifft die Arbeitnehmer im Kleinbetrieb nicht leicht. Die rechtlichen Unterschiede zwischen dem Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz und dem nur durch die zivilrechtlichen Generalklauseln gewährten Mindestschutz sind bereits dargelegt worden. § 23 Abs.1 Satz 2 KSchG hat zur Folge, daß ein sehr erheblicher Teil des Handwerks, des Einzelhandels, der bäuerlichen Betriebe und der Betriebe von Angehörigen freier Berufe aus dem Kündigungsschutz herausgenommen ist. Nach einer rechtstatsächlichen Untersuchung waren davon Ende der 70er Jahre rund 1,8 Millionen Arbeitnehmer betroffen (vgl dazu die vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung vergebene empirische Untersuchung von Falke/Höland/Rhode/Zimmermann, Forschungsbericht, S.74; Hueck/von Hoyningen-Huene, Kündigungsschutzgesetz, 12.Aufl 1997, § 23 Rn.19). Die vorhandenen Statistiken enthalten nach wie vor keine Daten über Betriebe, die höchstens fünf Arbeitnehmer beschäftigen, deren regelmäßige Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunden oder monatlich 45 Stunden übersteigt, und die deshalb nicht unter das Kündigungsschutzgesetz fallen. Nach der Arbeitsstättenzählung 1987 waren in den 1.688.000 Arbeitsstätten mit einem bis zu vier Beschäftigten 2.608.000 Männer und 854.000 Frauen, in den 495.000 Arbeitsstätten mit fünf bis neun Beschäftigten 1.579.000 Männer und 1.612.000 Frauen tätig (vgl. dazu die Angaben der Bundesregierung gegenüber dem Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache C 189/91, S. 19 ff. des Sitzungsberichts).

45

4. Gleichwohl liegt ein Gleichheitsverstoß nicht vor.

46

a) Daß die schon genannten Sachgesichtspunkte, die es rechtfertigen, die Arbeitnehmer aus Kleinbetrieben in ihrem Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes zu beschränken, zugleich auch eine Ungleichbehandlung dieser Arbeitnehmer im Vergleich zu denen rechtfertigen, die in größeren Betrieben tätig sind, bedarf nach den Ausführungen zu Art.12 Abs.1 GG keiner weiteren Darlegung.

47

b) Die Norm ist aber auch im Hinblick auf die vom Gesetzgeber vorgenommene Definition des Kleinbetriebes nicht zu beanstanden, durch die die Gruppe der benachteiligten Arbeitnehmer gebildet wird. Das gilt sowohl hinsichtlich der Größe des Kleinbetriebes (aa) als auch - bei verfassungskonformer Auslegung - hinsichtlich der Anknüpfung an den Begriff "Betrieb" (bb).

48

aa) Mit der Festlegung der maßgeblichen Betriebsgröße durch die Zahl der dort vollbeschäftigten Arbeitnehmer hat der Gesetzgeber eine typisierende Regelung getroffen, die den dafür geltenden verfassungsrechtlichen Maßstäben genügt. Jede gesetzliche Regelung muß generalisieren. Der Gesetzgeber ist daher insbesondere bei Massenerscheinungen gezwungen, aber auch berechtigt, bei seinen Entscheidungen von dem Gesamtbild auszugehen, das sich aus den vorliegenden Erfahrungen ergibt (vgl BVerfGE_11,245 <254>; stRspr; zuletzt BVerfGE_89,15 <24>). Die arbeitgeberseitige Kündigung ist eine typische Massenerscheinung. Klare Regelungen sind für das Funktionieren einer arbeitsteiligen Wirtschaft und einer komplexen öffentlichen Verwaltung unentbehrlich. Sie liegen auch im Interesse beider Arbeitsvertragsparteien. Dies rechtfertigt es, den betrieblichen Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes anhand einfacher, leicht feststellbarer Tatsachen abzugrenzen.

49

In der Sache geht es dabei um eine Abgrenzung typischer Interessenlagen. Der Gesetzgeber ging davon aus, daß die im ersten und zweiten Abschnitt des Kündigungsschutzgesetzes getroffenen Regelungen erst ab einer bestimmten Betriebsgröße einen angemessenen Ausgleich der widerstreitenden Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer darstellen. Das ist im Ansatz sachgerecht. Es ist schon dargelegt worden, daß bei enger persönlicher Zusammenarbeit, insbesondere persönlicher Mitarbeit des Arbeitgebers im Betrieb, sowie bei geringerer Finanzausstattung und Verwaltungskapazität des Unternehmens gute Gründe dafür sprechen, dem Arbeitgeber freiere Hand bei der Ausübung seines Kündigungsrechts einzuräumen, als ihm die allgemeinen Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes erlauben.

50

Die im Gesetz festgelegte Grenze ist insofern keine absolute, als Teilzeitkräfte, die weniger als zehn Wochenstunden oder 45 Stunden im Monat arbeiten, unberücksichtigt bleiben. Die damit aufgeworfenen Fragen sind Gegenstand eines anderen Normenkontrollverfahrens, über das heute entschieden worden ist. Danach steht die Norm nur insoweit mit Art. 3 Abs. 1 GG im Einklang, als unter Zugrundelegung der Anrechnungsmodalität des Satzes 3 in der seit dem 1.Oktober 1996 geltenden Neufassung von § 23 Abs.1 KSchG ein Kleinbetrieb vorliegt. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluß in der Sache 1 BvL 22/93 verwiesen.

51

Mit dieser Grenzziehung trifft das Gesetz die Gruppe der schutzwürdigen Kleinunternehmer mit hinreichender Genauigkeit. Bei Betrieben in dieser Größenordnung können die Verhältnisse durchaus noch so liegen, wie der Gesetzgeber annimmt. Jedenfalls liegen keine hinreichenden Gründe dafür vor, daß dies mit beachtlicher Häufigkeit nicht der Fall ist. Sicherlich gibt es zahlreiche hochautomatisierte Betriebe mit kleiner Belegschaft, die so finanzstark sind, daß ihnen der gesetzliche Kündigungsschutz ohne weiteres zugemutet werden könnte, und die bei der Auflösung eines Arbeitsverhältnisses auch angemessene Abfindungen zahlen können. Andererseits gibt es aber auch personalintensive Betriebe mit größerer Belegschaft, für die das nicht in gleichem Umfang zutrifft. Vergleichendes Zahlenmaterial, aus dem sich ergäbe, daß der Gesetzgeber die Verhältnisse mit der von ihm vorgenommenen Grenzziehung gröblich verkannt hätte, liegt nicht vor. Sollte der gemäß der Entschließung des Bundestages vom 28.Juni 1996 (Sitzungsprotokoll 13/117, S.10616) angeforderte Bericht über Kündigungspraxis und Kündigungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland (BTDrucks 13/5107) etwas anderes ergeben, wäre der Gesetzgeber gehalten, seine Regelung zu überprüfen.

52

bb) Im Ergebnis ist auch nicht zu beanstanden, daß der Gesetzgeber an dem Begriff "Betrieb" als Unterscheidungsmerkmal festgehalten hat, obwohl im Schrifttum vielfach darauf hingewiesen worden ist, daß die für die Kleinbetriebsklausel bestimmende Interessenlage sich genauer durch den Begriff "Unternehmen" kennzeichnen lasse (vgl Verhandlungen des 59.Deutschen Juristentages, Hannover 1992, Bd.1 Teil D, S.129; auch Hanau, ZRP 1978, S.215 <221>). Unter "Betrieb" wird allgemein die organisatorische Einheit verstanden, innerhalb derer der Arbeitgeber bestimmte arbeitstechnische Zwecke verfolgt (vgl etwa Etzel, in: Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften - KR -, 4.Aufl 1996, § 1 KSchG Rn.138 ff; Kittner/Trittin, Kündigungsschutzrecht, 3.Aufl 1997, § 1 KSchG Rn.17 beide mwN). Darunter können im Einzelfall auch Teile größerer Unternehmen fallen, für die die Gesichtspunkte nicht zutreffen, die eine Benachteiligung der Arbeitnehmer von Kleinbetrieben bei der Ausgestaltung des Kündigungsrechts rechtfertigen (kritisch dazu: Weigand, in: KR, § 23 KSchG Rn.17). Das ist in der Tat mit Art.3 Abs.1 GG nicht zu vereinbaren.

53

Der Betriebsbegriff läßt sich jedoch im Wege verfassungskonformer Auslegung auf die Einheiten beschränken, für deren Schutz die Kleinbetriebsklausel allein bestimmt ist. Die Verwendung dieses Begriffes in § 23 KSchG hat historische Gründe; ursprünglich war der Kündigungsschutz im Betriebsverfassungsgesetz verankert und auf die Betriebe beschränkt, bei denen eine Vertretung bestand (vgl Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S.335 ff). Der Begriff ist aber dadurch nicht so eindeutig vorgeprägt, daß er im Zusammenhang des Kündigungsschutzgesetzes keiner einschränkenden Auslegung zugänglich wäre. Durch eine am Sinn und Zweck der Kleinbetriebsklausel orientierte Interpretation des Betriebsbegriffs läßt sich vermeiden, daß Einheiten darunter fallen, für die der Schutzgedanke des § 23 Abs.1 Satz 2 KSchG nicht zutrifft. Der Anwendungsbereich der Norm wird damit auf Fälle beschränkt, für die die Benachteiligung der betroffenen Arbeitnehmer sachlich begründet ist. Eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes wird dadurch vermieden (so im Ergebnis bereits BAG, AP Nr.1 zu § 23 KSchG 1969; dazu Joost, aaO, S.339 f mwN).

III.

54

Die zur Prüfung gestellte Norm steht mit dieser Maßgabe auch mit dem Sozialstaatsprinzip (Art.20 Abs.1 GG) im Einklang. Es begründet die Pflicht des Staates, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen; bei der Erfüllung dieser Pflicht kommt dem Gesetzgeber indessen ein weiter Gestaltungsspielraum zu (vgl BVerfGE_5,85 <198>; BVerfGE_59,231 <263>). Zu der Frage, inwieweit der betriebliche Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes eingeschränkt und damit den dort beschäftigten Arbeitnehmern der allgemeine Kündigungsschutz genommen werden kann, läßt sich diesem Prinzip nichts Näheres entnehmen. Insofern setzt Art.12 Abs.1 GG den konkreteren Maßstab.

IV.

55

Prozeßgrundrechte werden durch die vorgelegte Norm nicht verletzt.

56

Auch in bürgerlichrechtlichen Streitigkeiten ist das Recht auf Zugang zu den Gerichten und eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes sowie eine verbindliche Entscheidung durch den Richter gewährleistet (vgl BVerfGE_85,337 <345> mwN). Dieser Justizgewährleistungsanspruch wird auch den Arbeitnehmern in Kleinbetrieben durch § 23 Abs.1 Satz 2 KSchG nicht vorenthalten. Sie können vor den Arbeitsgerichten um Rechtsschutz gegen eine Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber nachsuchen. Die Frage nach den Erfolgsaussichten einer solchen Klage und der darin begründeten Aussichten auf einen Abfindungsvergleich betrifft das materielle Kündigungsschutzrecht, das hier, wie dargelegt, allein an Art.12 Abs.1 GG und Art.3 Abs.1 GG zu messen ist und dieser Prüfung nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen standhält."

 

Auszug aus BVerfG B, 27.01.98, - 1_BvL_15/87 -, www.BVerfG.de,  Abs.23 ff

§§§

98.004 Kleinbetriebsklausel II
 
  1. BVerfG,     E, 27.01.98,     – 1_BvL_22/93 –

  2. BVerfGE_97,186 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.3 Abs.3; (aF) KSchG_§_23 Abs.1 S.3

T-98-03

Zur Ermittlung der für die Anwendung der Kleinbetriebsklausel maßgeblichen Arbeitnehmerzahl nach § 23 Abs.1 Satz 3 KSchG aF

Abs.34

LB 2) Der Wortlaut des § 23 Abs.1 Satz 3 KSchG läßt allerdings eine einschränkende Auslegung nicht zu. Darauf weist das vorlegende Gericht zutreffend hin. Eine Auslegung gegen den Wortlaut einer Norm ist aber nicht von vornherein ausgeschlossen, wenn andere Indizien deutlich belegen, daß ihr Sinn im Text unzureichend Ausdruck gefunden hat.

 

LB 3) Ausschlaggebend ist schließlich, daß der Gesetzgeber selbst inzwischen eine Grenzziehung vorgenommen hat, die seinen von Anfang an gehegten Vorstellungen entsprechen dürfte. Damit ist zugleich ein Anhaltspunkt dafür gegeben, wie die maßgebliche Beschäftigtenzahl zu ermitteln ist. Die Anwendung der Norm kann danach im Wege teleologischer Reduktion auf Fälle beschränkt werden, in denen unter Zugrundelegung der Anrechnungsmodalität des Satzes 3 in der seit dem 1.Oktober 1996 geltenden Neufassung von § 23 Abs.1 KSchG ein Kleinbetrieb vorliegt. In dieser Auslegung ist sie mit Art.3 Abs.1 GG vereinbar.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 23 Absatz 1 Satz 3 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) in der Fassung des Gesetzes vom 26.April 1985 (Bundesgesetzblatt I Seite 710) war nach Maßgabe der Entscheidungsgründe mit dem Grundgesetz vereinbar.

* * *

T-98-03Ermittlung Arbeitnehmerzahl

27

"1. Vorrangiger Maßstab für die verfassungsrechtliche Beurteilung von § 23 Abs.1 Satz 3 KSchG ist Art.3 Abs.1 GG. Durch die Kleinbetriebsklausel werden die davon betroffenen Arbeitnehmer gegenüber anderen, die in größeren Betrieben arbeiten, benachteiligt. Die Benachteiligung ist durch die besondere Interessenlage der Arbeitgeber in kleineren Betrieben gerechtfertigt. Das wird in dem heute im Verfahren 1 BvL 15/87 ergangenen Normenkontrollbeschluß im einzelnen dargelegt. Darauf kann verwiesen werden.

28

2. Die Regelung des Satzes 3 hat zur Folge, daß Betriebe mit einer beliebig großen Zahl von Arbeitnehmern vom gesetzlichen Kündigungsschutz freigestellt sind, solange sie nicht mehr als fünf Vollzeitarbeitskräfte und darüber hinaus ausschließlich Teilzeitkräfte beschäftigen, die weniger als zehn Wochenstunden oder 45 Stunden im Monat arbeiten (im folgenden: Viertelteilzeitkräfte). Der Ausgangsfall zeigt, daß in bestimmten Dienstleistungsbranchen eine Personalstruktur möglich und wirtschaftlich sinnvoll ist, die eine Beschäftigung von rund 50 Personen erlaubt, ohne die Grenze des § 23 Abs.1 Satz 2 und 3 KSchG zu überschreiten.

29

3. Bei einer solchen Betriebsgröße liegen die Gründe, die die Benachteiligung der Arbeitnehmer rechtfertigen, nicht mehr vor. Ein besonderes, auf enge persönliche Zusammenarbeit gestütztes Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer besteht bei so großen Betrieben nicht. Sie haben insbesondere im Hinblick auf Organisationsstruktur und Verwaltungskraft mit dem typischen Kleinbetrieb wenig gemein. Allgemeine arbeitsmarktpolitische Erwägungen können eine ungleiche Behandlung von Arbeitnehmern in Kleinbetrieben nicht rechtfertigen, weil es sich dabei nicht um Erwägungen handelt, die sich spezifisch auf solche Betriebe beziehen. Vor Art.3 Abs.1 GG könnte die Regelung deshalb nur standhalten, wenn der Gesetzgeber Betriebe in der Größenordnung der Beklagten des Ausgangsverfahrens als atypisch vernachlässigen könnte. Das ist nicht der Fall.

30

4. a) Jede gesetzliche Regelung muß generalisieren. Der Gesetzgeber kann die Vielfalt der Fälle, die er mit seiner Regelung erfaßt, nicht im vorhinein erkennen und muß sich deswegen mit Einschätzungen zufriedengeben. Er darf Rechtsfolgen an ein typisches Erscheinungsbild des Regelungsgegenstands knüpfen und dabei in Kauf nehmen, daß er nicht jeder Besonderheit gerecht wird. Außerdem hat er die Verständlichkeit und Praktikabilität seiner Normen zu bedenken und darf deswegen von Differenzierungen absehen, die diesem Ziel entgegenstehen. Dies betrifft vor allem die Regelung von Massenerscheinungen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Sachgesetzlichkeiten und die damit begründeten Randunschärfen normativer Regelungen in ständiger Rechtsprechung anerkannt (vgl BVerfGE_11,245 <254>; stRspr; zuletzt BVerfGE_89,15 <24>).

31

b) Die Öffnung der Kleinbetriebsklausel durch § 23 Abs.1 Satz 3 KSchG in der hier maßgeblichen Fassung läßt sich durch diese Gesichtspunkte jedoch nicht rechtfertigen. Zwar steht dem Gesetzgeber bei der Abgrenzung des betrieblichen Geltungsbereichs des Kündigungsschutzgesetzes ein weiter Typisierungsspielraum zu. Angesichts der Fülle der Erscheinungsformen kleinerer Betriebe und Verwaltungen ist es unmöglich, den betrieblichen Geltungsbereich des Gesetzes anders als durch pauschale Begriffsbildung zu umschreiben. Arbeitgeberseitige Kündigungen sind zudem Massenerscheinungen, für deren Abwicklung den Betrieben und Arbeitsgerichten handhabbare Regelungen zur Verfügung gestellt werden müssen.

32

Mit der zur Prüfung gestellten Regelung hat der Gesetzgeber seine Typisierungsbefugnis jedoch überschritten. Ein Sachgesichtspunkt, der es zu rechtfertigen vermöchte, bei Betrieben, die überwiegend Teilzeitkräfte beschäftigen, auf eine am Arbeitsvolumen orientierte Größenbestimmung gänzlich zu verzichten, ist nicht erkennbar. Eine Berücksichtigung der Teilzeitkräfte bei der Festlegung der maßgeblichen Betriebsgröße war vielmehr ohne weiteres möglich, ohne daß auf eine zahlenmäßige Beschränkung verzichtet werden müßte. Ebensowenig lassen sich Gründe der Vereinfachung oder Praktikabilität für die Regelung ins Feld führen. Die Bestimmung des betrieblichen Geltungsbereichs des Kündigungsschutzgesetzes anhand einer bestimmten Beschäftigtenzahl und des Umfangs ihrer Tätigkeit bereitet weder den Betrieben noch den Gerichten besondere Schwierigkeiten.

33

5. Die Regelung erlaubt jedoch eine einschränkende Auslegung, in der sie vor Art.3 Abs.1 GG standhält. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Gesetzgeber bei komplexen Sachverhalten häufig eine gewisse Zeit benötigt, um Erfahrungswerte für eine völlig sachangemessene Regelung zu finden, und daß er inzwischen auf der Grundlage neuerer Einsichten eine Neuregelung getroffen hat (vgl BVerfGE_33,171 <189 f>).

34

Der Wortlaut des § 23 Abs.1 Satz 3 KSchG läßt allerdings eine einschränkende Auslegung nicht zu. Darauf weist das vorlegende Gericht zutreffend hin. Eine Auslegung gegen den Wortlaut einer Norm ist aber nicht von vornherein ausgeschlossen, wenn andere Indizien deutlich belegen, daß ihr Sinn im Text unzureichend Ausdruck gefunden hat. So liegt es hier. Der Gesetzgeber war erkennbar davon ausgegangen, daß der Einstellung von Viertelteilzeitkräften in einem Kleinbetrieb durch arbeitstechnische Gegebenheiten enge Grenzen gezogen seien. Jedenfalls hatte er nicht bedacht, daß unter die von ihm geschaffene Regelung auch Betriebe fallen könnten, deren Geschäftstätigkeit es ermöglicht, bei wenigen Vollzeitkräften eine große Zahl von Viertelteilzeitkräften oder geringfügig Beschäftigten einzustellen. Eine einschränkende Auslegung des Gesetzeswortlauts wird auch durch Sinn und Zweck der Regelung nahegelegt. Sie soll eine spezifische Gruppe von Arbeitgebern vor den Folgen des gesetzlichen Kündigungsschutzes bewahren, weil ihre Unternehmen dadurch in mehreren Hinsichten überfordert wären. Bei Unternehmen von der Größenordnung der Beklagten des Ausgangsverfahrens wird dieser Schutzzweck, wie bereits dargelegt wurde, verfehlt. Ausschlaggebend ist schließlich, daß der Gesetzgeber selbst inzwischen eine Grenzziehung vorgenommen hat, die seinen von Anfang an gehegten Vorstellungen entsprechen dürfte. Damit ist zugleich ein Anhaltspunkt dafür gegeben, wie die maßgebliche Beschäftigtenzahl zu ermitteln ist. Die Anwendung der Norm kann danach im Wege teleologischer Reduktion auf Fälle beschränkt werden, in denen unter Zugrundelegung der Anrechnungsmodalität des Satzes 3 in der seit dem 1.Oktober 1996 geltenden Neufassung von § 23 Abs. 1 KSchG ein Kleinbetrieb vorliegt (vgl oben unter A I 2). In dieser Auslegung ist sie mit Art.3 Abs.1 GG vereinbar (vgl. dazu den heute ergangenen Beschluß in der Sache 1 BvL 15/87, Umdruck S.21 f).

II.

35

Eine Verletzung von Art.3 Abs.3 GG durch die zur Prüfung gestellte Norm kann nicht festgestellt werden.

36

1. Diese Grundrechtsnorm verstärkt den allgemeinen Gleichheitssatz durch konkrete Diskriminierungsverbote. Die darin genannten Merkmale dürfen nicht als Anknüpfungspunkt für differenzierende Regelungen herangezogen werden. Das gilt auch dann, wenn die Regelung nicht auf eine Ungleichbehandlung abzielt, sondern andere Zwecke verfolgt (vgl BVerfGE_85,191 <206>).

37

2. Eine Verletzung von Art.3 Abs.3 GG kommt in Betracht, weil die zur Prüfung gestellte Norm an das Merkmal einer Teilzeitbeschäftigung anknüpft und damit eine Gruppe von Arbeitnehmern erfaßt, in der Frauen bekanntermaßen überrepräsentiert sind. Die Regelung differenziert jedoch nicht zwischen (bestimmten) Teilzeitbeschäftigten einerseits und Vollzeitkräften andererseits, sondern zwischen größeren und kleineren Betrieben. Daß in Kleinbetrieben insgesamt deutlich mehr Teilzeitkräfte als Vollzeitkräfte und damit vergleichsweise mehr Frauen beschäftigt wurden, ist nicht erkennbar."

 

Auszug aus BVerfG E, 27.01.98, - 1_BvL_22/93 -, www.BVerfG.de,  Abs.27 ff

§§§

98.005 Bundesgrenzschutz
 
  1. BVerfG,     B, 28.01.98,     – 2_BvF_3/92 –

  2. BVerfGE_97,198 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.35 Abs.2, GG_Art.35 Abs.3, GG_Art.87 Abs.1 S.2, GG_Art.91 Abs.1, GG_Art.91 Abs.2, GG_Art.73 Nr.6 GG_Art.73 Nr.6a, GG_Art.87e Abs.1 S.1, GG_Art.87d Abs.1 S.1, GG_Art.87d Abs.2

 

1) Der Bundesgesetzgeber darf dem Bundesgrenzschutz über die in Art.87 Abs.1 Satz 2, 35 Abs.2 und 3, 91 Abs.1 und 2 und 115f Abs.1 Nr.1 GG genannten polizeilichen Aufgaben hinaus eine weitere Verwaltungsaufgabe zuweisen, wenn er sich für deren Wahrnehmung auf eine Kompetenz des Grundgesetzes stützen kann, die Aufgabe von Verfassungs wegen nicht einem bestimmten Verwaltungsträger vorbehalten ist und die Zuweisung der neuen Aufgabe das Gepräge des Bundesgrenzschutzes als einer Sonderpolizei zur Sicherung der Grenzen des Bundes und zur Abwehr bestimmter, das Gebiet oder die Kräfte eines Landes überschreitender Gefahrenlagen wahrt.

 

2) Der Bundesgrenzschutz darf nicht zu einer allgemeinen, mit den Landespolizeien konkurrierenden Bundespolizei ausgebaut werden und damit sein Gepräge als Polizei mit begrenzten Aufgaben verlieren.

 

3) Die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz des Bundes für die Bundeseisenbahnen gemäß Art.73 Nr.6, 87 Abs.1 Satz 1 GG aF und für die Eisenbahnverkehrsverwaltung der Eisenbahnen des Bundes gemäß Art.73 Nr.6a, 87e Abs 1 Satz 1 GG schließt die Wahrnehmung der Aufgaben mit ein, die herkömmlich der ehemaligen Bahnpolizei und dem Fahndungsdienst der Deutschen Bundesbahn zukommen.

 

4) Die Kompetenz des Bundes nach Art.87d Abs.2 GG, bundeseigene Aufgaben der Luftverkehrsverwaltung gemäß Art.87d Abs.1 Satz 1 GG den Ländern als Auftragsangelegenheiten zu übertragen, umfaßt auch die Befugnis, die übertragenen Aufgaben ganz oder teilweise zurückzunehmen.

§§§

98.006 Kurzberichterstattung
 
  1. BVerfG,     U, 17.02.98,     – 1_BvF_1/91 –

  2. BVerfGE_97,228 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.1; (NW) WDRG_§_3a

 

Das Recht auf nachrichtenmäßige Kurzberichterstattung im Fernsehen nach § 3a WDR-G/LRG NW ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Es verstößt aber gegen Art.12 Abs.1 GG, dieses Recht bei berufsmäßig durchgeführten Veranstaltungen unentgeltlich auszugestalten. Bei der Regelung des Entgelts muß der Gesetzgeber sicherstellen, daß die Kurzberichterstattung grundsätzlich allen Fernsehveranstaltern zugänglich bleibt.

§§§

98.007 Rundfunklinzenz
 
  1. BVerfG,     B, 20.02.98,     – 1_BvR_661/94 –

  2. BVerfGE_97,298 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE = JuS_00,179 - 81 = NJW_98,2659 = DVBl_98,469 -72 = DÖV_98,469 -71

  3. GG_Art.3, GG_Art.5, GG_Art.12, GG_Art.14, GG_Art.19, GG_Art.20; (By) LV_Art.111a; MEG_§_22 ff; BayMG_§_23 ff

 

1) Die Rundfunkfreiheit aus Art.5 Abs.1 Satz 2 GG steht als Gewährleistung der Programmfreiheit allen Veranstaltern von Rundfunkprogrammen zu.

 

2) Die privaten Rundfunkanbieter sind auch im Geltungsbereichs des bayrischen Medienrechts Träger des Grundrechts der Rundfunkfreiheit.

 

3) Auf das Grundrecht der Rundfunkfreiheit können sich auch Bewerber um eine Rundfunklizenz im Zulassungsverfahren vor der Landesmedienanstalt berufen.

§§§

98.008 Überhangmandate
 
  1. BVerfG,     B, 26.02.98,     – 2_BvC_28/96 –

  2. BVerfGE_97,317 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3, GG_Art.5, GG_Art.12,

T-98-04

LB 1) Zur Ausgestaltung des bundesdeutschen Systems der personalisierten Verhältniswahl.

Abs.41

LB 2) Seitdem das Bundeswahlgesetz beim Wegfall von in Wahlkreisen gewählten Abgeordneten nicht mehr eine Ersatzwahl vorsieht und statt dessen anordnet, daß die Sitze dieser Abgeordneten, wenn sie aus dem Bundestag ausscheiden oder ihr Mandat nicht antreten, aus der Landesliste ihrer Partei zu besetzen sind, haben weder die Wahlrechtspraxis noch die Literatur berücksichtigt, daß diese Regelung nicht auch für die Nachfolge auf Direktmandate von Parteien gilt, die in dem jeweiligen Land über Überhangmandate verfügen.

* * *

T-98-04Personalisierte Verhältniswahl

17

"§ 48 BWG regelt die Nachfolge auf Bundestagssitze, deren gewählte Bewerber das Mandat von vornherein nicht antreten oder deren Inhaber im Verlaufe der Legislaturperiode sterben oder aus dem Bundestag ausscheiden. Absatz 1 des § 48 BWG betrifft die Nachfolge für gewählte Kandidaten einer Partei, die im betreffenden Land auch mit einer Landesliste zur Wahl angetreten war. In diesem Fall wird keine erneute Wahl (Ersatzwahl) vorgenommen; vielmehr sollen Bewerber aus der jeweiligen Landesliste der Partei als Ersatzleute eintreten.

18

Eine solche Nachfolgeregelung setzt voraus, daß die nachrückenden Listenbewerber schon bei der Wahl als Ersatzleute mitgewählt werden (1). Nach dem Wahlsystem und seiner Ausgestaltung durch das Bundeswahlgesetz (2) erfolgt diese Mitwahl ausschließlich über die Zweitstimme (3). Ein Rückgriff auf Listenplätze ist folglich nicht möglich, wenn der Sitz eines Wahlkreisabgeordneten einer solchen Partei frei wird, die in dem entsprechenden Land über Überhangmandate verfügt (4). Insoweit trifft § 48 BWG keine Nachfolgeregelung. Solange der Gesetzgeber die Wahl von Ersatzleuten nicht anderweitig regelt, können solche Sitze nicht wieder besetzt werden (5).

19

1. a) Im demokratisch verfaßten Staat des Grundgesetzes können die Abgeordneten ihre Legitimation zur Repräsentation nur aus der Wahl durch das Volk beziehen (vgl BVerfGE_44,125 <138, 142>; BVerfGE_47,253 <271 f>; BVerfGE_89,155 <171 f>). Durch Wahl kann ein Abgeordnetensitz nur aufgrund einer - wie auch immer ermittelten - demokratischen Mehrheit erworben werden. Art.38 GG läßt dem Wahlgesetzgeber Raum, diese Mehrheit nach den Grundsätzen der Mehrheits- oder Verhältniswahl oder aufgrund deren Verbindung zu ermitteln (vgl BVerfGE_95,335 <352>). Dabei verschaffen Verhältnis- und Mehrheitswahl den Abgeordneten und damit dem Parlament demokratische Legitimation in je eigener, voneinander ganz verschiedener Weise (BVerfGE, aaO, S.352). Art.38 Abs.1 Satz 1 GG verlangt aber stets, daß die Abgeordneten gewählt werden; eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus (vgl BVerfGE, aaO, S.349).

20

b) Wie bei der Bestimmung der gewählten Bewerber unmittelbar nach der Wahl, so müssen auch bei einer späteren - ohne Nachwahl angeordneten - Nachfolge die Voraussetzungen einer Wahl gewahrt bleiben (vgl BVerfGE_3,45 <51>). Das ist nur der Fall, wenn am Wahltag nicht nur die Abgeordneten, sondern auch deren Ersatzleute "gewählt" werden (vgl BVerfGE_7,63 <72>); dementsprechend sieht § 48 Abs.1 Satz 5 BWG in Verbindung mit § 45 BWG auch vor, daß der Landeswahlleiter die Feststellung, wer als Listennachfolger eintritt, für "gewählte Bewerber" der Landesliste zu treffen hat.

21

2. Der Wahlgesetzgeber hat sich in Ausführung des Regelungsauftrags des Art.38 Abs.3 GG für ein Wahlsystem entschieden, durch das die Abgeordneten nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt werden (§ 1 Abs.1 BWG). Dabei wird das personale Element des Wahlsystems mit der Verhältniswahl so verbunden, daß von der regulären Zahl von 656 Abgeordneten 328 Mandatsträger nach Kreiswahlvorschlägen direkt in den Wahlkreisen, die übrigen über die Landeslisten gewählt werden (§ 1 Abs.2 BWG). Im Regelfall entscheidet allerdings nur die Zweitstimme über die Zahl der einer Partei zustehenden Parlamentssitze; mit ihrer Erststimme bestimmen die Wähler die Inhaber von 328 Sitzen als Personen (a). Hiervon gibt es zwei Ausnahmen, in denen allein die Erststimme die Zuteilung eines Sitzes trägt (b, c).

22

a) Die Gesamtsitzzahl von 656 Abgeordneten wird im Verhältnis der Summe der Zweitstimmen auf die Listen oder Listenverbindungen der Parteien verteilt, welche die Sperrklausel (§ 6 Abs.6 BWG) überwunden haben (§§ 7, 6 Abs.2 Satz 2 bis 5 BWG). In Fällen der Listenverbindung wird die für sie ermittelte Sitzzahl auf die beteiligten Landeslisten nach dem Verhältnis der Zweitstimmen der Partei in den einzelnen Ländern unterverteilt (§ 7 Abs.3 Satz 1 BWG). Auf diese Weise wird für jede Landesliste die Zahl der Sitze ermittelt, die sie aufgrund des Zweitstimmenergebnisses nach den Regeln der Verhältniswahl erworben hat.

23

Von dieser Sitzzahl, die auf jede Landesliste aufgrund der Wahl entfällt, wird die Zahl der von der Partei in den Wahlkreisen des betreffenden Landes errungenen Sitze abgerechnet (§ 6 Abs.4 Satz 1 BWG). Die restlichen Sitze werden aus der Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt; Bewerber, die in einem Wahlkreis gewählt sind, bleiben auf der Landesliste unberücksichtigt (§ 6 Abs.4 Satz 2 und 3 BWG).

24

Die Anrechnung der mit den Erststimmen erworbenen Wahlkreismandate auf das nach dem Verhältnis der Zweitstimmen - auf der Grundlage von 656 Sitzen - berechnete Kontingent einer Landesliste führt dazu, daß die Zweitstimmen für eine Partei grundsätzlich die Anzahl der von ihr erworbenen Parlamentssitze bestimmen. In diesem Regelfall wirkt die Mehrheitswahl eines für eine Partei kandidierenden Wahlkreisabgeordneten nur als personelle Vorentscheidung bei der Gesamtverteilung der Mandate auf die Landeslisten. Der Sitz eines Wahlkreisabgeordneten wird dann von den für die Landesliste seiner Partei abgegebenen Zweitstimmen getragen.

25

b) Von diesem Regelfall wird abgewichen, wenn eine Partei in einem Land mehr Wahlkreismandate errungen hat als ihr Landeslistensitze zustehen, so daß nicht alle Wahlkreismandate von dem Listenkontingent der Partei abgerechnet werden können und in Höhe der Unterschiedszahl gemäß § 6 Abs.5 Satz 2 BWG Überhangmandate entstehen. Solche Sitze bleiben als Ergebnis der vorgeschalteten Mehrheitswahl erhalten (vgl BVerfGE_95,335 <356>); sie werden nur von der Mehrheit der Erststimmen und nicht auch von dem Erfolg der Zweitstimmen getragen.

26

c) Auch in einem weiteren Fall kommt ausschließlich der Erststimme Bedeutung für den Erwerb eines Parlamentssitzes zu: Wird ein Wahlkreis von einem Einzelbewerber oder von einem Parteikandidaten ohne Parteiliste oder ohne zu berücksichtigende Liste (§ 6 Abs.6 BWG) gewonnen, so wird der so gemäß § 5 BWG erworbene Sitz von der Zahl der regulären 656 Sitze abgezogen (§ 6 Abs.1 Satz 3 BWG), bevor die verbleibende Sitzzahl nach dem von den Parteien erzielten Zweitstimmenergebnis auf ihre Landeslisten verteilt wird; dabei werden die Zweitstimmen der Wähler solcher Wahlkreisgewinner nicht berücksichtigt (§ 6 Abs.1 Satz 2 BWG).

27

3. Nach dieser Ausgestaltung des Systems der personalisierten Verhältniswahl und der Nachfolgeregelung des § 48 Abs.1 BWG werden Ersatzleute nur mit der Zweitstimme aus der Landesliste mitgewählt. Sie sollen nach § 48 Abs.1 BWG nicht nur Nachfolger für Abgeordnete sein, die ihr Mandat gemäß § 6 Abs.4 Satz 2 BWG über die Landesliste erhalten haben (a), sondern auch an die Stelle von Wahlkreisabgeordneten treten (b).

28

a) Scheidet ein Abgeordneter aus dem Bundestag aus, der sein Mandat über die Liste erhalten hatte, so sind für diesen Fall die bei der Wahl zunächst nicht zum Zuge gekommenen Listenbewerber in der Reihenfolge ihrer Listenplätze als Ersatzleute gewählt (vgl BVerfGE_7,63 <72> ). Die Stimmabgabe zugunsten einer Liste bedeutet zugleich die Zustimmung zu sämtlichen auf der Liste enthaltenen Kandidatenvorschlägen (vgl BVerfGE_3,45 <50 f>; BVerfGE_7,63 <70>). Damit sind Listenkandidaten, deren nachrangiger Listenplatz zunächst nicht innerhalb des Sitzkontingents lag, das die Partei aufgrund des Zweitstimmenergebnisses erworben hatte, für den Fall des Wegfalls zum Zuge gekommener Bewerber als Ersatzleute gewählt.

29

b) Fällt ein Wahlkreisabgeordneter weg, so kommt eine Mitwahl der Nachfolger mit der Erststimme (aa, bb) oder mit der Zweitstimme in Betracht. § 48 Abs.1 BWG geht von letzterem aus (cc).

30

aa) Das Bundeswahlgesetz sieht nicht vor, daß für den jeweiligen Wahlkreisbewerber Ersatzleute aufgestellt werden, die am Wahltag mit Abgabe der Erststimme mitgewählt werden, um im Falle späteren Wegfalls des erfolgreichen Wahlkreisbewerbers an seine Stelle treten zu können. Eine solche Nachfolgeregelung hatte der Entwurf der Bundesregierung für das Bundeswahlgesetz 1953 zwar beabsichtigt (Entwurf vom 22.Januar 1953/19.Februar 1953, BRDrucks 32/53, S.21; BTDrucks 1/4090, S.12), sie wurde aber nicht Gesetz.

31

bb) Der Gesetzgeber hat mit der Regelung des § 48 Abs.1 BWG auch nicht die mehrheitswahlrechtliche Mitwahl der Landeslistenbewerber als Ersatzleute für den Wahlkreisvorschlag vorgesehen. Das Wahlverfahren ist nicht so ausgestaltet, daß der Wähler mit seiner für den Wahlkreisbewerber einer Partei abgegebenen Erststimme zugleich alle Bewerber der Landesliste dieser Partei als Ersatzleute mitwählt. Die Landesliste wird gemäß § 4 BWG vielmehr nur mit den Zweitstimmen gewählt, während die Erststimmen den Wählern zur Wahl von Wahlkreisabgeordneten zustehen (vgl auch § 41 BWG). Folgerichtig ist auch der Stimmzettel so gestaltet, daß mit der Erststimme nur ein ganz bestimmter und namentlich benannter Kandidat, nicht aber zugleich Listenkandidaten der Partei des Wahlkreisbewerbers als Ersatzleute zu wählen sind.

32

Diese eindeutige Ausgestaltung des Wahlverfahrens läßt schon aus verfassungsrechtlichen Gründen keinen Raum für eine andere Auslegung des § 48 Abs.1 BWG. Die Listenkandidaten wären nämlich als Ersatzleute mit der Erststimme jedenfalls nicht unmittelbar gewählt; darauf, ob den Wahlrechtsgrundsätzen im übrigen genügt wäre, kommt es nicht an. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verlangt, daß für den Wähler die Wirkungen seiner Stimmabgabe erkennbar sind (vgl BVerfGE_95,335 <350>). Wenn nach dem Wahlrecht eine Koppelung stattfindet, indem mit der Wahl einer einzelnen Person die Mitwahl weiterer Persönlichkeiten zwangsläufig verbunden wird, muß der Wähler dies wenigstens bei seiner Stimmabgabe kennen können (BVerfGE_3,45 <50>). Jede Stimme muß bestimmten oder bestimmbaren Wahlbewerbern zugerechnet werden; dies muß dem Wähler vor der Wahl hinreichend erkennbar sein (vgl BVerfGE_7,63 <68, 71>). Daran fehlte es, wenn die Regelung des § 48 Abs.1 BWG dahin verstanden würde, daß der Wähler mit der Abgabe seiner Erststimme für einen Wahlkreisbewerber zugleich die Bewerber der Landesliste der Partei dieses Bewerbers als Ersatzleute wählt.

33

Davon abgesehen liefe die Mitwahl von Listenkandidaten mit der Erststimme dem Ziel entgegen, das der Gesetzgeber mit der Mehrheitswahl in den Wahlkreisen verfolgt. Es geht ihm darum, eine engere persönliche Bindung des Abgeordneten an seinen Wahlkreis zu sichern und dem Vertrauen der Wähler zu ihrem Repräsentanten eine persönlichkeitsbestimmte Grundlage zu geben (vgl dazu BVerfGE_95,335 <352 f> mwN). Mit der Mehrheitswahl wird der Abgeordnete als Person und nicht als Exponent einer Partei gewählt (vgl BVerfGE_95,335 <352>).

34

cc) Werden die Ersatzleute für ausgeschiedene Wahlkreisabgeordnete nicht über die Erststimmen aus der Landesliste mitgewählt, so müssen sie wenigstens durch Wahl mit den Zweitstimmen legitimiert sein. Dabei kann das Wahlsystem des Bundeswahlgesetzes darauf zurückgreifen, daß der einem Wahlkreisabgeordneten zugefallene Sitz im Regelfall von dem Ergebnis der Zweitstimmen getragen wird (vgl oben 2. a) - Umdruck S.12). Das Zweitstimmenergebnis kann den Sitz auch weiterhin tragen, wenn beim Wegfall des in der Wahl persönlich gewählten Wahlkreisabgeordneten die Anrechnung seines Direktmandats auf die Sitzzahl, die der Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis zusteht, rückgängig gemacht wird. Dabei lebt ein Listensitz, den ein Wahlkreisabgeordneter durch die Anrechnung gemäß § 6 Abs.4 BWG verdrängt hatte, gleichsam wieder auf, so daß dieser Sitz nun in der Reihenfolge der Plätze der Listenbewerber einem Nachfolger zufallen kann.

35

Bei einer solchen Nachfolgeregelung hat die Personenwahl - und damit auch das mehrheitswahlrechtliche Element des Wahlsystems - nur solange Geltungskraft wie der persönlich gewählte Wahlkreisabgeordnete seinen Sitz innehat. Mit dessen Ausscheiden verliert der Wähler den mit der Erststimme erzielten Erfolg einer Einflußnahme auf die personelle Besetzung des Bundestages.

36

Der Gesetzgeber könnte diesen Einfluß der Erststimme über den Wegfall des im Wahlkreis erfolgreichen Kandidaten hinaus erhalten, wenn er in den Wahlkreisen zugleich mit den Kreiswahlvorschlägen jeweils Ersatzkandidaten mitwählen ließe. Er hat sich aber entschieden, die Verhältniswahl nicht so weitgehend mit Elementen der Personenwahl zu verknüpfen. Dies liegt im Rahmen des dem Gesetzgeber gemäß Art.38 Abs.3 GG zukommenden Gestaltungsraums. Er allein entscheidet über die zweckmäßigste oder rechtspolitisch erwünschte Lösung (vgl BVerfGE_6,84 <94>; BVerfGE_51,222 <237 f>; BVerfGE_95,335 <349 f, 356 f, 361 f>; BVerfGE_95,408 <420> ). Für die dem Bundesverfassungsgericht obliegende wahl- und verfassungsrechtliche Überprüfung der Mandatszuteilung ist es daher unerheblich, daß das Ziel der personalisierten Verhältniswahl, jedenfalls bei der Hälfte der Abgeordneten eine möglichst enge Bindung zu den Bürgern in den jeweiligen Wahlkreisen zu ermöglichen, nachhaltiger verwirklicht werden könnte, wenn für die Wahlkreisbewerber Ersatzleute in den Wahlkreisen gewählt würden.

37

4. Verfügt eine Partei in einem Land über mehr Direktmandate als ihr Listensitze zustehen, so wird diese Unterschiedszahl von Sitzen nicht auch von dem Zweitstimmenergebnis getragen (vgl oben 2.b) - Umdruck S.13). Solche Überhangmandate haben nicht im Wege der Anrechnung auf das Sitzkontingent der Liste einen Listensitz verdrängt. In diesen Fällen gibt es daher auf der Liste keine Reservesitze, die durch Rückabwicklung der Anrechnung der Direktmandate wieder aufleben könnten, um einen Listenbewerber nachrücken zu lassen. Für solche Fälle hält die Landesliste daher mitgewählte Ersatzleute nicht vor.

38

5. a) Die Auslegung des § 48 Abs.1 BWG ergibt danach, daß bei Wegfall eines Wahlkreisabgeordneten Ersatzleute aus der Landesliste nur zur Verfügung stehen, soweit Sitze wieder zu besetzen sind, die die Landesliste in der Wahl zwar erworben hatte, die aber infolge der Anrechnung von Wahlkreismandaten zunächst nicht mit Listenkandidaten besetzt werden konnten. Gegenüber dieser von der Systematik des demokratischen Wahlrechts bestimmten Auslegung kann sich eine nur am Wortlaut ausgerichtete Auslegung des § 48 Abs.1 BWG nicht durchsetzen; es ist daher unerheblich, daß der Wortlaut dieser Norm auch einen weiteren Anwendungsbereich eröffnen könnte.

39

b) Entgegen der Auffassung von Bundestag und Bundesministerium des Innern steht diese Auslegung des § 48 Abs.1 BWG nicht in Widerspruch zu dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 3.Juli 1957 (BVerfGE_7,63 ff). In dieser Entscheidung hat der Senat keineswegs die Anwendung von § 48 Abs.1 BWG auf Fälle der vorliegenden Art gebilligt. In dem damaligen Verfahren stand das Prinzip der Listennachfolge, das dem § 48 Abs. 1 BWG zugrunde liegt, als solches auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand (vgl BVerfGE_7,63 <71 ff>). Die hier zur Entscheidung anstehende Sonderkonstellation der Mandatsnachfolge in "Überhangländern" in den Blick zu nehmen, bestand damals keine Veranlassung. Die Problematik der Überhangmandate wurde in einem ganz anderen Zusammenhang erörtert (vgl BVerfGE, aaO, S.73 ff).

40

c) Will der Gesetzgeber eine Mandatsnachfolge auch auf freigewordene Sitze von Wahlkreisabgeordneten zulassen, deren Partei in dem betreffenden Land gemäß § 6 Abs.5 Satz 2 BWG erworbene Überhangmandate zustehen, so hat er dies gesetzlich zu regeln. Er kann etwa Ersatzleute für Wahlkreisbewerber mit der Erststimme mitwählen lassen (vgl oben 3.b) aa) - Umdruck S. 15). Der Gesetzgeber kann damit dem Anliegen Rechnung tragen, auf das der Bundestag im Ausgangsverfahren die Auslegung von § 48 Abs.1 BWG gestützt hat. Der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Parlaments mag es dienlich sein, durch eine Nachfolgeregelung die Zahl der Abgeordneten des Parlaments während der Legislaturperiode möglichst konstant zu halten. Für solche Erwägungen ist jedoch in einem Wahlprüfungsverfahren kein Raum, solange es an mitgewählten Ersatzleuten fehlt. II.

41

Der eingeschränkte Regelungsgehalt des § 48 Abs.1 BWG ist bisher nicht erkannt worden. Hierzu mag beigetragen haben, daß eine nur am Wortlaut ausgerichtete Auslegung dieser Norm auch deren weitergehende, der angegriffenen Wahlprüfungsentscheidung zugrundeliegende Anwendung miterfassen kann. Seitdem das Bundeswahlgesetz beim Wegfall von in Wahlkreisen gewählten Abgeordneten nicht mehr eine Ersatzwahl vorsieht (vgl oben A.V.1 - Umdruck S.7) und statt dessen anordnet, daß die Sitze dieser Abgeordneten, wenn sie aus dem Bundestag ausscheiden oder ihr Mandat nicht antreten, aus der Landesliste ihrer Partei zu besetzen sind, haben weder die Wahlrechtspraxis noch die Literatur berücksichtigt, daß diese Regelung nicht auch für die Nachfolge auf Direktmandate von Parteien gilt, die in dem jeweiligen Land über Überhangmandate verfügen.

42

Mit Ausnahme der dritten Wahlperiode waren seither in allen Legislaturperioden, in denen Überhangmandate angefallen waren, Wahlkreisabgeordnete aus dem Bundestag ausgeschieden, die in Ländern gewählt waren, in denen ihre Partei ein oder mehrere Überhangmandate erzielt hatte. In all diesen Fällen wurden die Nachfolger - wie im Ausgangsverfahren - aus der Liste berufen. Bis zu dem von dem Beschwerdeführer eingeleiteten Wahlprüfungsverfahren war die Gültigkeit der auf diese Weise erworbenen Mitgliedschaft in keinem Fall angefochten worden. Auch die Literatur hat die Anwendbarkeit des § 48 Abs.1 BWG nicht in Frage gestellt; sie hat das Problem des Ausscheidens von direkt gewählten Abgeordneten in "Überhangländern" noch nicht einmal behandelt. Soweit ersichtlich bejaht lediglich Schreiber - ohne Begründung - ausdrücklich die Anwendbarkeit des § 48 Abs.1 BWG auch für diesen Fall (vgl Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 5.Auflage, § 6 BWG Rn.12 aE; ders in: Schneider/Zeh , Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 12 Rn.92).

43

Hieraus wird deutlich, daß die jahrzehntelange, rechtlich unumstrittene Auslegung des § 48 Abs.1 BWG (und zuvor des § 54 BWG 1953) der im Wahlrecht in besonderem Maße gebotenen Rechtsklarheit (vgl BVerfGE_79,161 <168>) scheinbar genügte. Der bis dahin der Norm des § 48 Abs.1 BWG beigemessene Regelungsgehalt erschien als gültiger Bestandteil des Wahlrechts, auf dessen Wirksamkeit Wähler und Wahlbewerber ihre Entscheidungen ebenso gründeten wie der Deutsche Bundestag, Abgeordnete und Fraktionen.

44

Eine entsprechende Erwartung, daß § 48 Abs.1 BWG uneingeschränkt die Möglichkeit der Listennachfolge für im Wahlkreis gewählte Abgeordnete eröffne, konnte auch das Wahlverhalten bei der Wahl zum 13.Deutschen Bundestag bestimmen und in der derzeitigen Legislaturperiode Grundlage für personelle und organisatorische Entscheidungen von Abgeordneten, Fraktionen und Bundestag sein.

45

Die Folgen, die einträten, wenn der bisherigen Handhabung des § 48 Abs.1 BWG nunmehr kurz vor dem Ablauf der 13.Legislaturperiode der Boden entzogen würde, sind im einzelnen nicht einzuschätzen. Bleibt es bis zum Ende der 13.Legislaturperiode übergangsweise bei der bisherigen Anwendung, so sind die nur noch für wenige Monate eintretenden Folgen demgegenüber absehbar und hinnehmbar. Rückwirkung könnte der Feststellung der Ungültigkeit des Erwerbs der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag gemäß § 47 Abs.2 BWG ohnehin nicht zukommen. Die Sitze der beiden ausgeschiedenen Abgeordneten wären daher ohnehin - unabänderlich - über einen Zeitraum von dreizehn und vier Monaten mit Abgeordneten besetzt gewesen, deren Mitgliedschaft ungültig erworben worden ist. Wird dieser Zustand noch bis zum Ende der Legislaturperiode aufrechterhalten, so fällt dies nicht mehr entscheidend ins Gewicht."

 

Auszug aus BVerfG B, 26.02.98, - 2_BvC_28/96 -, www.BVerfG.de,  Abs.17 ff

§§§

98.009 Rückenteignung
 
  1. BVerfG,     B, 26.02.98,     – 1_BvR_1114/86 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.14 Abs.1; (By) BayEG_§_16, BayEG_§_17

 

LB 1) Ein aus Art.14 Abs.1 Satz 1 GG hergeleitete verfassungsrechtliche Rückübereignungsanspruch (vgl BVerfGE_38,175 <179 ff>) setzt voraus, daß bereits die Enteignung unter der Geltung des Art.14 GG erfolgt ist; das gilt auch dann, wenn das Vorhaben, für das enteignet wurde, erst nach Inkrafttreten des Grundgesetzes aufgegeben worden ist.

 

LB 2) Dem Schutz der Eigentumsgarantie unterfiel lediglich der einfachrechtliche, nach Art.XII Abs.4 ZAG entstandene, aber erst nach Inkrafttreten von Art.16 BayEG geltend gemachte Rückübereignungsanspruch als vermögenswertes Recht, das dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet war, daß er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben durfte.

§§§

98.010 Kindergartengebühren
 
  1. BVerfG,     B, 10.03.98,     – 1_BvR_178/97 –

  2. BVerfGE_97,332 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.3 Abbs.1, GG_Art.80 Abs.1 S.2; (He) KiGaG_§_10; SGB-VIII_§_90 Abs.1 Nr.3

 

Kindergartengebühren können grundsätzlich nach dem Familieneinkommen gestaffelt werden.

 

LB 2) Die Maßstäbe, die Art.80 Abs.1 Satz 2 GG für gesetzliche Ermächtigungen zum Erlaß von Rechtsverordnungen aufstellt, können auf Ermächtigungen zum Erlaß von kommunalen Satzungen nicht übertragen werden. Anders als bei abgeleiteter Rechtsetzung im Verordnungswege gebieten allgemeine rechtsstaatliche und demokratische Grundsätze es nicht, daß öffentlichrechtlichen Körperschaften Inhalt, Zweck und Ausmaß der von ihnen im Rahmen ihrer Autonomie zu erlassenden Normen in ebenso bestimmter Weise vorgegeben werden (vgl BVerfGE_21,54 <62 f>).

§§§

98.011 Krankengeld
 
  1. BVerfG,     B, 24.03.98,     – 1_BvL_6/92 –

  2. BVerfGE_97,378 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.14 Abs.1; SGB_V_§_48 Abs.2

 

Der Gesetzgeber war verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, solche Versicherte von der Einschränkung des Anspruchs auf Krankengeld in § 48 Abs.2 SGB V auszunehmen, bei denen der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten dieser Vorschrift eingetreten ist und die auf Dauer arbeitsunfähig sind.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 48 Absatz 2 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB V) vom 20.Dezember 1988 (Bundesgesetzblatt I Seite 2477, 2482) ist auch insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar, als sich die erneute Gewährung von Krankengeld in einem nach dem 31. Dezember 1988 beginnenden weiteren Dreijahreszeitraum auch für solche Versicherte nach dieser Vorschrift bestimmt, bei denen der Versicherungsfall vor ihrem Inkrafttreten eingetreten ist und die auf Dauer arbeitsunfähig sind.

§§§

98.012 Mißbrauchsbezichtigung
 
  1. BVerfG,     B, 24.03.98,     – 1_BvR_131/96 –

  2. BVerfGE_97,391 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE = NJW_98,2889 -92 = JuS_99,289 -91

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.5 Abs.1 S.1; BGB_§_823, BGB_§_1004

 

Die Nennung des eigenen Namens im Zusammenhang mit einer von Art.5 Abs.1 Satz 1 GG geschützten Äußerung nimmt am Schutz der Meinungsfreiheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts teil.

§§§

98.013 Euro
 
  1. BVerfG,     B, 31.03.98,     – 2_BvR_1877/97 –

  2. BVerfGE_97,350 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.14 Abs.1, GG_Art.14 Abs.1 S.2, GG_Art.23, GG_Art.39 Abs.1 + 2, GG_Art.88 S.2

 

Die Mitwirkung Deutschlands an der Währungsunion ist im Maastricht-Vertrag vorgesehen sowie mit Art.23 und Art.88 Satz 2 GG grundsätzlich gestattet (vgl BVerfGE_89,155 <199 ff>). Für den Vollzug dieser rechtlichen Vorgaben, insbesondere die Entscheidung über die Teilnehmerstaaten an der Währungsunion, zeichnet der Maastricht-Vertrag den Maßstab und das Verfahren zum Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion vor. Er eröffnet dabei wirtschaftliche und politische Einschätzungs- und Prognoseräume. Dies nimmt die Bundesregierung und das Parlament für die Sicherung des Geldeigentums in Verantwortung. Der Geldeigentümer gewinnt jedoch nicht das Recht, diese parlamentarisch mitzuverantwortende Entscheidung in dem Verfahren der Verfassungsbeschwerde inhaltlich überprüfen zu lassen.

§§§

98.014 Fall Gysi I
 
  1. BVerfG,     B, 01.04.98,     – 2_BvE_1/98 –

  2. BVerfGE_97,408 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE = NJW_98,3042 -46

  3. GG_Art.38 Abs.1; AbgG_§_44b;

T-98-05

Zum Verfahren gemäß § 44b Abgeordnetengesetz.

Abs.28

LB 2) Im Organstreit kann der einzelne Abgeordnete die Verletzung oder Gefährdung jedes Rechts, das mit seinem Status verfassungsrechtlich verbunden ist, geltend machen. Sein Antrag ist zulässig, wenn er darlegt, daß er durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet sein kann (§ 64 Abs.1 BVerfGG).

 

LB 3) Handlungen, die nur vorbereitenden oder bloß vollziehenden Charakter haben, scheiden als Angriffsgegenstand im Organstreit aus (vgl BVerfGE_68,1 <74 f>).

Abs.30

LB 4) Die vorläufigen Feststellungen des Ausschusses stellen keine rechtserhebliche Maßnahme im Sinne des § 64 Abs.1 BVerfGG dar. Sie können vielmehr von diesem unter dem Eindruck der Schlußerörterung mit dem Antragsteller in jeder Hinsicht geändert oder ergänzt werden.

* * *

T-98-05Vorläufige Feststellungen

27

"Die Anträge in der Hauptsache sind zu einem Teil unzulässig, zum anderen Teil jedenfalls offensichtlich unbegründet, so daß nach § 24 BVerfGG verfahren werden kann (vgl BVerfGE_53,100 <106>; BVerfGE_79,223 <231>; BVerfGE_96,1 <5>). Damit erledigen sich zugleich die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung. I.

28

1. Im Organstreit kann der einzelne Abgeordnete die Verletzung oder Gefährdung jedes Rechts, das mit seinem Status verfassungsrechtlich verbunden ist, geltend machen. Sein Antrag ist zulässig, wenn er darlegt, daß er durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet sein kann (§ 64 Abs.1 BVerfGG). Dabei muß die beanstandete Maßnahme rechtserheblich sein oder sich zumindest zu einem die Rechtsstellung des Abgeordneten beeinträchtigenden, rechtserheblichen Verhalten verdichten können (BVerfGE_57,1 <5>; BVerfGE_60,374 <381>). Handlungen, die nur vorbereitenden oder bloß vollziehenden Charakter haben, scheiden als Angriffsgegenstand im Organstreit aus (vgl BVerfGE_68,1 <74 f>).

29

2. Soweit sich die Anträge gegen den Beschlußentwurf des Antragsgegners zu 2. vom 24.März 1998 ("vorläufige Feststellungen") richten, sind sie demnach unzulässig.

30

Die vorläufigen Feststellungen des Ausschusses stellen keine rechtserhebliche Maßnahme im Sinne des § 64 Abs.1 BVerfGG dar. Bei ihnen handelt es sich um einen den abschließenden Bericht im Sinne von Nr.3 der Richtlinien zu § 44b AbgG lediglich vorbereitenden Berichtsentwurf. Diese Feststellungen geben den Erkenntnisstand und die Bewertungen der Ausschußmehrheit vor der Schlußerörterung mit dem Antragsteller wieder und sollen deren Grundlage bilden. Die derzeitigen Feststellungen sind damit vorläufiger Natur, denn ihre Erörterung mit dem betroffenen Abgeordneten soll dem Ausschuß Gelegenheit geben, die zusammengetragenen Tatsachen und ihre Bewertung einer nochmaligen kritischen Prüfung zu unterziehen, bevor er einen endgültigen Beschluß über das Ergebnis des Überprüfungsverfahrens faßt. Die vorläufigen Feststellungen führen damit zu keiner Bindung des Ausschusses. Vielmehr können sie von diesem unter dem Eindruck der Schlußerörterung mit dem Antragsteller in jeder Hinsicht geändert oder ergänzt werden.

31

Steht aber noch nicht fest, wie die endgültigen Feststellungen des Antragsgegners zu 2. lauten werden, so kann der Antragsteller derzeit keine zulässige Organklage erheben. Die bloße Möglichkeit, daß der Antragsgegner zu 2. den Beschlußentwurf zu seinen endgültigen Feststellungen erheben könnte, begründet keine Antragsbefugnis des Antragstellers. II.

32

Ob ein zulässiger Antrag vorliegt, soweit sich der Antragsteller gegen "die Terminierungen" des Antragsgegners zu 2. wendet, kann dahinstehen. Denn ein solcher Antrag wäre offensichtlich unbegründet.

33

Jedenfalls nachdem der Antragsgegner zu 2. dem Antragsteller angeboten hat, die Schlußerörterung auch in der Woche vom 20. April 1998 durchzuführen, steht dem Antragsteller und allen Ausschußmitgliedern genügend Zeit zur Verfügung, um sich auf die Erörterung vorzubereiten.

34

Mit dem neuen Terminvorschlag erhält der Antragsteller zudem ausreichend Zeit, seine Erklärung im Sinne der Nr.5 der Richtlinien vorzubereiten. Diese Gegenäußerung, die dem betroffenen Abgeordneten die Möglichkeit geben soll, der Öffentlichkeit eine zusammenhängende Darstellung seiner Sicht der Sachlage zu geben, läßt sich auf der Grundlage der vorläufigen Feststellungen vorbereiten. Sofern diese infolge der Erörterung mit dem Antragsteller geändert oder ergänzt werden, hat der Vorsitzende des Antragsgegners zu 2. zugesagt, dem Antragsteller Gelegenheit zu geben, seine Erklärung entsprechend zu modifizieren."

 

Auszug aus BVerfG B, 01.04.98, - 2_BvE_1/98 -, www.BVerfG.de,  Abs.27 ff

§§§

98.015 Lügendetektor
 
  1. BVerfG,     B, 07.04.98,     – 2_BvR_1827/97 –

  2. www.BVerfG.de = NJW_98,1938 -39

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.103 Abs.1; StPO_§_136a, StPO_§_244 Abs.1 S.3

 

LB 1) Das Gericht darf einen Antrag auf Anhörung eines Sachverständigen zu den Ergekenntnissen einer auf eigenen Wunsch vorgenommenen polygraphischen Untersuchung wegen Unzulässigkeit der Beweiserhebung (§ 244 Abs.3 S.1 StPO) ablehnen.

 

LB 2) Auch in bezug auf Art.103 Abs.1 GG oder das Recht auf ein rechtsstaatlich faires Verfahren ist nicht dargetan, daß sich daraus ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Zulassung des Polygraphen-Tests ergeben könne.

 

LB 3) Art.103 Abs.1 GG gewährt keinen Anspruch auf ein bestimmtes Beweismittel (im Anschluss an BVerfGE_57,250 <274>; BVerfGE_63,45 <60>).

§§§

98.016 Rentenversicherung
 
  1. BVerfG,     B, 08.04.98,     – 1_BvL_16/90 –

  2. BVerfGE_98,1 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1; SGB-VI_§_283 Abs.1 S.1; AnVNG_Art.2_§_27 Abs.1 S.1

 

1) Es verstößt gegen Art.3 Abs.1 GG, wenn der Gesetzgeber früheren Beamtinnen, die wegen ihrer Eheschließung aus dem Beamtenverhältnis unter Gewährung einer Abfindung ausgeschieden sind und danach eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben, die Möglichkeit einer Reaktivierung ihrer Anwartschaft auf beamtenrechtliche Altersversorgung oder der Begründung einer Anwartschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung vorenthält.

 

2) Frühere Beamtinnen, die wegen ihrer Eheschließung aus dem Beamtenverhältnis unter Gewährung einer Abfindung ausgeschieden sind, danach eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben und wegen Vollendung des 65.Lebensjahres nicht zur Beitragsnachzahlung nach § 283 Abs.1 Satz 1 SGB VI berechtigt waren, können in entsprechender Anwendung des Art.2 § 27 Abs.1 Satz 1 AnVNG für den Zeitraum, für den ihre Versorgungsbezüge abgefunden wurden, Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung nachentrichten.

§§§

98.017 Sachenrechtsänderungsgesetz
 
  1. BVerfG,     B, 08.04.98,     – 1_BvR_1680/93 –

  2. BVerfGE_98,17 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.12 Abs.1; BNotO_§_9 Abs.1

 

Art.233 § 2a Abs.8 Satz 1 EGBGB in der Fassung des Sachenrechtsänderungsgesetzes vom 21.September 1994 ist mit Art.14 Abs.1 Satz 1 GG unvereinbar, soweit er für die Zeit vom 22.Juli 1992 bis zum Ablauf des 31.Dezember 1994 einen gesetzlichen Anspruch des Grundstückseigentümers auf Nutzungsentgelt gegen den zum Besitz berechtigten Grundstücksnutzer nicht vorsieht.

§§§

98.018 Sozietätsverbot
 
  1. BVerfG,     B, 08.04.98,     – 1_BvR_1773/96 –

  2. BVerfGE_98,49 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.12 Abs.1; BNotO_§_9 Abs.1

 

Das Verbot einer Sozietät zwischen Anwaltsnotaren und Wirtschaftsprüfern verstößt gegen Art.3 Abs.1 GG, solange der Anwaltsnotar selbst Steuerberater sein darf und auch nicht gehindert ist, sich mit Nur-Steuerberatern zur gemeinsamen Berufsausübung zusammenzuschließen.

§§§

98.019 Polizeigesetz BW
 
  1. BVerfG,     B, 21.04.98,     – 1_BvR_1086/92 –

  2. www.BVerfG.de = NVwZ_98,1287 -88

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.1, (BW) PolG_§_22, PolG_§_24; BVerfGG_§_23 Abs.1 S.2 BVerfGG_§_92

T-98-06

LB 1) Kann ein Grundrechtsträger nach der gesetzlichen Ausgestaltung und nach dem tatsächlichen Geschehensablauf nicht wissen, ob er tatsächlich von gesetzlich zugelassen en Eingriffsmaßnahmen betroffen ist, reicht es aus, wenn er darlegt, daß er mit einiger Wahrscheinlichkeit in seinen Grundrechten verletzt sei (BVerfGE_67,157 <169 f>).

Abs.3

LB 2) Werden Gesetzesvorschriften mit einer Verfassungsbeschwerde angegriffen, reicht es aber nicht aus, das gesamte Gesetz undifferenziert zu deren Gegenstand zu machen. Vielmehr müssen die einzelnen Bestimmungen, durch die ein Beschwerdeführer seine Grundrechte verletzt sieht, exakt bezeichnet werden.

Abs.6

LB 3) Es ist jedoch nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, sich aus einer pauschalen Rüge einer Vielzahl von Normen diejenigen herauszusuchen, die der Beschwerdeführer bei hinreichendem Vortrag unter Umständen zulässigerweise rügen könnte.

* * *

T-98-06Darlegungsanforderungen

1

"Annahmegründe sind nicht gegeben. Bestimmten Fragen, die im Zusammenhang mit den Datenerhebungs- und -verarbeitungsbestimmungen des Polizeigesetzes Baden-Württemberg (PolG BW) aufgeworfen werden, kommt zwar grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch unzulässig, weil sie nicht den Begründungsanforderungen der §§ 23 Abs.1 Satz 2, 92 BVerfGG genügt.

2

Die für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde erforderliche Beschwerdebefugnis setzt voraus, daß sich aus dem Sachvortrag mit hinreichender Deutlichkeit die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergibt. Wird eine Verfassungsbeschwerde gegen gesetzliche Bestimmungen eingelegt, ist die gesonderte Darlegung einer eigenen, unmittelbaren und gegenwärtigen Betroffenheit erforderlich (vgl BVerfGE_1,97 <101 ff>; BVerfGE_18,1 <11 ff>; BVerfGE_60,360 <369 ff>; BVerfGE_74,297 <318 ff>; BVerfGE_91,294 <305>; stRspr). Diese Voraussetzungen sollen sicherstellen, daß eine Verfassungsbeschwerde zulässigerweise erst erhoben werden kann, wenn eine konkrete Beschwer vorliegt (vgl BVerfGE_90,128 <136>). Kann ein Grundrechtsträger nach der gesetzlichen Ausgestaltung und nach dem tatsächlichen Geschehensablauf nicht wissen, ob er tatsächlich von gesetzlich zugelassenen Eingriffsmaßnahmen betroffen ist, reicht es aus, wenn er darlegt, daß er mit einiger Wahrscheinlichkeit in seinen Grundrechten verletzt sei (BVerfGE_67,157 <169 f>). Dadurch werden die Anforderungen an die Begründung mit Rücksicht auf den erreichbaren Kenntnisstand modifiziert. Ein substantiiertes Vorbringen wird aber keineswegs in jeder Hinsicht entbehrlich.

3

Die Anforderungen an eine substantiierte Begründung erfüllt das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht. Das gilt bereits deshalb, weil der Beschwerdeführer ohne jegliche Differenzierung sämtliche Bestimmungen der §§ 19 bis 25, 37 bis 46 PolG BW rügt. Werden Gesetzesvorschriften mit einer Verfassungsbeschwerde angegriffen, reicht es aber nicht aus, das gesamte Gesetz undifferenziert zu deren Gegenstand zu machen. Vielmehr müssen die einzelnen Bestimmungen, durch die ein Beschwerdeführer seine Grundrechte verletzt sieht, exakt bezeichnet werden (vgl Kley, in: Umbach/Clemens , Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, zu § 92 Rn.12).

4

Seine umfassende Rüge begründet der Beschwerdeführer damit, die angegriffenen Regelungen ließen die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten nicht hinreichend bestimmt erkennen, deshalb könne er nicht mehr wissen, welche Daten polizeiliche Stellen über ihn sammelten und womöglich noch übermittelten. Es ist aber zum einen unzutreffend, daß Personen, die von den mit den angegriffenen Vorschriften zugelassenen polizeilichen Maßnahmen betroffen sind, von diesen grundsätzlich nichts erfahren. Im Grundsatz sind vielmehr Kenntnischancen vorgesehen (vgl etwa §§ 19 Abs.1 Satz 1 und Abs.2 Satz 1, 22 Abs.8 Satz 1, 23 Abs.4, 25 Abs.4, 45 PolG BW), selbst wenn sich daran zahlreiche Einschränkungen anschließen. Die gerügten Eingriffsermächtigungen sind darüber hinaus jeweils an mehr oder weniger weitreichende tatbestandliche Voraussetzungen geknüpft. Auch wenn der Beschwerdeführer Kenntnisregelungen und Eingriffsbefugnisse für unzureichend und für zu unbestimmt hält, entbindet ihn dies nicht von einem Vortrag, mit dem er darlegt, daß gerade er unter die entsprechende Vorschrift fällt, ohne von den entsprechenden polizeilichen Maßnahmen zu erfahren.

5

Mit seiner Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer auch Bestimmungen an, die für den Fall, daß er überhaupt von den in einer Norm geregelten Maßnahmen betroffen ist, ausschließlich günstige Folgen hätten. Das gilt insbesondere für die - gegebenenfalls an Voraussetzungen geknüpften und mit Einschränkungen verbundenen - Löschungsvorschriften (vgl. §§ 21 Abs.3, 22 Abs.7, 23 Abs.3 Satz 2, 25 Abs.3 PolG BW) sowie die allgemeine - ebenfalls angegriffene - Vorschrift des § 46 PolG BW über die Löschung, Sperrung und Berichtigung von Daten.

6

Der Beschwerdeführer setzt sich mit den gesetzlichen Regelungen so gut wie nicht auseinander. Damit legt er seine Betroffenheit aber nicht in einer den Begründungsanforderungen entsprechenden Weise dar. Selbst die Landesbeauftragte für den Datenschutz Baden-Württemberg geht davon aus, daß die Voraussetzungen einer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein Gesetz allenfalls insoweit erfüllt seien, als diese sich gegen die §§ 22 und 23 PolG BW wende. Es ist jedoch nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, sich aus einer pauschalen Rüge einer Vielzahl von Normen diejenigen herauszusuchen, die der Beschwerdeführer bei hinreichendem Vortrag unter Umständen zulässigerweise rügen könnte."

 

Auszug aus BVerfG B, 21.04.98, - 1_BvR_1086/92 -, www.BVerfG.de,  Abs.1 ff

§§§

98.020 Erziehungsgeld
 
  1. BVerfG,     B, 29.04.98,     – 1_BvL_25/93 –

  2. BVerfGE_98,70 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1; EStG_§_10e; BErzGG:§_6 Abs.2 Nr.4

T-98-07

LB 1) Zum Erziehungsgeld und Steuervergünstigungen nach § 10e EStG.

* * *

T-98-07Steuervergünstigung nach § 10e EStG

26

"Die Vorlage ist unzulässig, denn die Vorlagefrage ist nicht entscheidungserheblich. Das vorlegende Gericht hat zwar mit guten Gründen dargelegt, daß § 6 Abs.2 Nr.4 BErzGG gegen Art.3 Abs.1 GG verstößt. Die Vorlagefrage ist jedoch trotz der verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die zur Prüfung vorgelegte Norm unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls nicht entscheidungserheblich. I.

27

1. Aufgrund der zur Prüfung gestellten Rechtsvorschrift wurde der Erziehungsgeldberechtigte, der selbst oder dessen nicht dauernd von ihm getrennt lebender Ehegatte über Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in dem für die Bemessung des Erziehungsgeldes maßgeblichen Besteuerungszeitraum nicht verfügte, jedoch in den Genuß der Steuervergünstigung nach § 10e EStG kam (Personengruppe I), anders behandelt als der Erziehungsgeldberechtigte, der selbst oder dessen Ehegatte ebenfalls die Steuervergünstigung nach § 10e EStG in Anspruch nehmen konnte, jedoch zusätzlich positive Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung hatte (Personengruppe II). Bei der Personengruppe I, die keine Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zu versteuern hatte, bewirkte die ihr zuerkannte Steuervergünstigung nach § 10e EStG nicht, daß ihr Einkommen im Sinne des § 6 Abs.1 BErzGG gemindert wurde. Dagegen war die Personengruppe II, die über Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung verfügte, durch die Steuervergünstigung des § 10 e EStG bei der Gewährung von Erziehungsgeld insofern bessergestellt, als positive Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung bis zur Höhe der im Steuerbescheid zuerkannten Steuervergünstigung nach § 10e EStG keine Berücksichtigung bei der Feststellung des Einkommens im Sinne des Bundeserziehungsgeldgesetzes fanden. Soweit die Einkommen der Personengruppen I und II - vor Anwendung von § 6 Abs.2 Nr.4 BErzGG - gleich hoch waren, wurde die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Personengruppe II entgegen den tatsächlichen Verhältnissen - nach Anwendung des § 6 Abs.2 Nr.4 BErzGG - geringer eingestuft als die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Personengruppe I. Aber nicht nur bei gleicher Einkommenshöhe ergab sich eine Benachteiligung des zuletzt genannten Personenkreises. Denn immer dann, wenn § 6 Abs.2 Nr.4 BErzGG Anwendung fand - also wenn die Personengruppe II in der Einkunftsart "Vermietung und Verpachtung" erfolgreich wirtschaftete - wurde das Einkommen dieser Personengruppe um den nach der genannten Vorschrift zu errechnenden Betrag mit Wirkung für die Bemessung der Höhe des Erziehungsgeldes nach unten korrigiert.

28

2. Es erscheint auch zweifelhaft, ob die dargestellte Benachteiligung der Personengruppe I im Verhältnis zur Personengruppe II durch einen hinreichenden Grund gerechtfertigt ist. Gründe der Verwaltungsvereinfachung können jedenfalls eine Regelung wie die des § 6 Abs.2 Nr.4 BErzGG nicht tragen, die der Gesetzgeber gezielt geschaffen hat, um die Berücksichtigung solcher Steuervergünstigungen, die nach dem Zweck der erziehungsgeldrechtlichen Einkommensermittlung unerheblich sind, weiterhin zu ermöglichen. Hätte er nach Schaffung des § 10e EStG von der Einfügung der Nr.4 in § 6 Abs.2 BErzGG Abstand genommen, so wäre das mit der Einkommensbestimmung nach § 6 Abs.1 in Verbindung mit § 5 Abs.3 BErzGG verfolgte Regelungsziel einer bedarfsorientierten Gewährung von Erziehungsgeld ab dem siebten Lebensmonat deutlich eher erreicht worden, ohne daß hierdurch die Verwaltungspraktikabilität der Einkommensbestimmung nach § 6 Abs.1 BErzGG beeinträchtigt worden wäre. II.

29

Die verfassungsrechtliche Beanstandung der Norm könnte der Klägerin nicht zu einem Erfolg im Ausgangsverfahren verhelfen oder sie diesem Ziel näherbringen.

30

1. Würde § 6 Abs.2 Nr.4 BErzGG wegen Verstoßes gegen Art.3 Abs.1 GG für nichtig erklärt, so brächte dieser Ausspruch der Klägerin des Ausgangsverfahrens keinen rechtlichen Vorteil; sie könnte damit allein ihr mit der Klage verfolgtes Ziel einer Berücksichtigung der Abzüge nach § 10e EStG bei der Gewährung von Erziehungsgeld nicht erreichen. Auch bliebe im Falle einer Nichtigerklärung der zur Prüfung vorgelegten Vorschrift der rechtliche Vorteil, der der Personengruppe II aus der Anwendung des § 6 Abs.2 Nr.4 BErzGG erwachsen ist, dieser Gruppe erhalten; denn die Bestandskraft der unter Anwendung des § 6 Abs.2 Nr.4 BErzGG ergangenen Erziehungsgeldbescheide würde von der Nichtigerklärung des § 6 Abs.2 Nr.4 BErzGG nicht berührt werden (vgl § 79 Abs.2 Satz 1 BVerfGG). Insoweit handelt es sich um inzwischen rechtlich abgeschlossene Vorgänge.

31

2. Auch eine Unvereinbarerklärung der zur Prüfung vorgelegten Vorschrift des § 6 Abs.2 Nr.4 BErzGG brächte die Klägerin des Ausgangsverfahrens dem mit der Klage angestrebten Ziel nicht näher. Sie würde ihr aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falles die Chance einer für sie günstigen Neuregelung (vgl BVerfGE_93,386 <395>; stRspr) nicht eröffnen.

32

Würde der Gesetzgeber die der Personengruppe II gewährte Begünstigung auf die Personengruppe I ausdehnen, wäre die Ungleichbehandlung vor Art.3 Abs.1 GG verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftig, die sich daraus ergäbe, daß das Gesetz dann die Personengruppen I und II besser stellen würde als diejenigen dem Grunde nach Erziehungsgeldberechtigten, die im fraglichen Zeitraum bei gleich hohem Einkommen Wohneigentum nicht erworben haben. Dieses Problem hat der Gesetzgeber auch erkannt. Bereits bei der Entstehung des Bundeskindergeldgesetzes hat es die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung (BTDrucks 10/4039, S.2) zur Stellungnahme des Bundesrates (BTDrucks 10/3926, S.3) abgelehnt, die volle Abzugsfähigkeit der Beträge nach § 7b EStG vom Einkommen im Sinne des § 6 Abs.1 BErzGG anzuerkennen. Das Bundeserziehungsgeldgesetz sollte kein Mittel sein, junge Familien zu fördern, die kurz vor oder kurz nach der Geburt des Kindes eigengenutztes Wohneigentum erworben haben. Auch mit § 6 Abs.2 Nr.4 BErzGG war eine förderungsrechtliche Neuorientierung nicht beabsichtigt. Es sollten der Personengruppe II unter dem Gesichtspunkt des Bestandsschutzes nur solche Vorteile im Erziehungsgeldrecht erhalten bleiben, die sie bei Anwendung des § 7b EStG gehabt hatte. Auch aus der derzeit geltenden Fassung des § 6 Abs.1 BErzGG ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, daß der Gesetzgeber gerade solche junge Familien, die Wohneigentum erworben haben, erziehungsgeldrechtlich bevorzugen will. Angesichts dessen ist letztlich auszuschließen, daß der sich sozialpolitisch konsequent verhaltende Gesetzgeber den von der Klägerin des Ausgangsverfahrens geltend gemachten Gleichheitsverstoß durch Einbeziehung der Personengruppe I in die durch § 6 Abs.2 Nr.4 BErzGG gewährte Begünstigung beseitigen würde. Er wäre auch zu einer solchen Regelung von Verfassungs wegen nicht verpflichtet.

33

Ob zur Klärung der Rechtslage für die noch nicht abgeschlossenen Verfahren nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz eine Aufhebung des § 6 Abs.2 Nr.4 BErzGG angezeigt ist, muß der Entscheidung des Gesetzgebers überlassen bleiben."

 

Auszug aus BVerfG B, 29.04.98, - 1_BvL_25/93 -, www.BVerfG.de,  Abs.26 ff

§§§

98.021 Landesabfallgesetze
 
  1. BVerfG,     B, 07.05.98,     – 2_BvR_1876/91 –

  2. BVerfGE_98,83 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1; EStG_§_10e; BErzGG:§_6 Abs.2 Nr.4

T-98-08

Zur Vereinbarkeit von Landesabfallabgabengesetzen mit dem Kooperationskonzept des Bundes-Immissionsschutzrechts.

* * *

T-98-08Kooperationskonzept

130

"Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 5. gegen die Erhebung der Deponieabgabe ist unzulässig. Die Beschwerdeführerin wendet sich als Steuerträgerin, nicht als Steuerschuldnerin gegen die Deponieabgabe in Schleswig-Holstein. Die Deponieabgabe wird in dem für die Entsorgung ihres Abfalls erhobenen Entgelt auf die Beschwerdeführerin überwälzt. Deshalb wird sie nicht unmittelbar durch das Gesetz, sondern durch den die Deponieabgabe abwälzenden Gebührenbescheid beschwert. Gegen diesen kann sie zunächst den Rechtsweg beschreiten.

131

Die Beschwerdeführerin ist nach § 13 Abs.1 KrW-/AbfG verpflichtet, die zur Beseitigung anfallenden und nach ihren Angaben gemeinsam mit Abfällen aus Haushaltungen entsorgbaren Abfälle den entsorgungspflichtigen Körperschaften (Kreis Dithmarschen und Kreis Steinfurt) zu überlassen. Nach der Landesverordnung über den Abfallentsorgungsplan für Abfälle aus Haushaltungen vom 11.Januar 1988 (GVBl S-H, S.16) ist die Deponie Ecklak zu benutzen. Für die Nutzung wird auf der Grundlage der Gebührensatzung des Kreises Dithmarschen (Gebührensatzung zur Satzung über die Abfallwirtschaft im Kreis Dithmarschen vom 15.November 1993, Kreisblatt für Dithmarschen vom 19.November 1993) eine öffentlich-rechtliche Entsorgungsgebühr erhoben, mit der seit der Änderung vom 20.September 1994 (Kreisblatt für Dithmarschen vom 24.September 1994) auch die Deponieabgabe in Form eines Zuschlags (Zusatzgebühr) auf den Nutzer überwälzt wird. Die Beschwerdeführerin kann damit den Gebührenbescheid des Kreises Dithmarschen im verwaltungsgerichtlichen Rechtsweg angreifen und geltend machen, die gesetzliche Grundlage für die Deponieabgabe sei verfassungswidrig. Die Voraussetzungen einer Verfassungsbeschwerde nach § 90 Abs.2 BVerfGG sind nicht erfüllt.

132

II.

133

Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig, soweit sie sich gegen die Erzeugerabgaben richten. Die Landesabfallabgabengesetze belasten mit den Erzeugerabgaben die Betreiber gewerblicher oder sonstiger wirtschaftlicher Unternehmen oder öffentlicher Einrichtungen, in denen der abgabepflichtige Abfall zum ersten Mal anfällt. Die Beschwerdeführerinnen werden insoweit auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch die angegriffenen Landesabfallabgabengesetze betroffen. Nach den landesrechtlichen Vorschriften hatten sie als Abgabeschuldnerinnen Vorauszahlungen für den laufenden Veranlagungszeitraum zu leisten (§ 9 LAbfAG B-W; § 7 HSondAbfAbgG; § 8 NAbfAbgG; § 10 LAbfAG Schl-H). Die Höhe der Vorauszahlungen richtete sich, solange noch kein Abgabenbescheid ergangen war, nach dem zu erwartenden Jahresbetrag.

134

Das Rechtsschutzinteresse der Beschwerdeführerinnen zu 1., 3. und 4. besteht trotz der zwischenzeitlichen Aufhebung der Abfallabgabengesetze in Baden-Württemberg und Niedersachsen fort. Die angegriffenen Gesetze bilden die Rechtsgrundlage der von den Beschwerdeführerinnen geleisteten Vorauszahlungen.

C.

135

Die Verfassungsbeschwerden sind, soweit sie zulässig sind, begründet.

136

Die angegriffenen Landesabfallabgabengesetze verletzen die Beschwerdeführerinnen in ihrem Grundrecht aus Art.12 Abs.1 GG, weil sie mit der bundesstaatlichen Ordnung der Gesetzgebungskompetenzen (Art.74 Abs.1 Nr.24, 105 Abs.2 GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar sind.

I.

137

1. Die Erhebung von Steuern und sonstigen Abgaben greift in den Schutzbereich von Art.12 Abs.1 GG ein, wenn sie in engem Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufs steht und - objektiv - eine berufsregelnde Tendenz deutlich erkennen läßt (vgl BVerfGE_37,1 <17> ). Die Abfallabgaben belasten die erwerbswirtschaftliche Tätigkeit der Güterproduktion in der Nebenwirkung der Abfallerzeugung, nehmen Einfluß auf die Art und Weise dieser unternehmerischen Tätigkeit und sind deshalb an Art.12 Abs.1 GG zu messen.

138

Die Berufsfreiheit kann nach Art.12 Abs.1 GG durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden. Ein zulässiger Eingriff setzt eine hierzu ermächtigende Norm voraus, die auch den übrigen an sie zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt.

139

2. Das Rechtsstaatsprinzip und die bundesstaatliche Kompetenzordnung verpflichten alle rechtsetzenden Organe, ihre Regelungen jeweils so aufeinander abzustimmen, daß den Normadressaten nicht gegenläufige Vorschriften erreichen, die Rechtsordnung also nicht aufgrund unterschiedlicher Anordnungen wider sprüchlich wird (vgl Urteil des Zweiten Senats - 2 BvR 1991/95 und 2004/95 - vom heutigen Tage - Verpackungsteuer -).

140

a) Konkurrierende Gesetzgebungskompetenzen werden vom Grundgesetz bereits in der Weise aufeinander abgestimmt, daß der Landesgesetzgeber grun dsätzlich nur insoweit zur Gesetzgebung befugt ist, als nicht der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht hat. Stehen landesgesetzliche Regelungen mit einer bundesgesetzlichen Regelung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit in Widerspruch, überschreiten sie den dem Landesgesetzgeb er belassenen Zuständigkeitsbereich.

141

b) Besteht eine Kompetenz sowohl für ein Bundes- als auch für ein Landesgesetz, so kann sich ein Widerspruch dennoch ergeben, wenn einerseits der Bundesgesetzgeber eine Sachregelung trifft, andererseits der Landesgesetzgeber eine Abgabe erhebt. Eine solche Kollision kann vor allem auftreten, wenn mit dem Abgabengesetz Lenkungswirkungen erzielt werden sollen, die den Regelungen des zuständigen Sachgesetzgebers zuwiderlaufen. In einem solchen Fall trifft der Abgabengesetzgeber in den vom Sachgesetzgeber erlassenen Regelungen auf eine Gre nze der Kompetenzausübung. Nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes und dem Rechtsstaatsprinzip darf der Abgabengesetzgeber aufgrund einer Abgabenkompetenz nur insoweit lenkend in den Kompetenzbereich eines Sachgesetzgebers übergreifen, als die Lenkung weder der Gesamtkonzeption der sachlichen Regelung noch konkreten Einzelregelungen zuwiderläuft (vgl Urteil des Zweiten Senats vom heutigen Tage - 2 BvR 1991/95 und 2004/95 -, C.I.2.c).

142

II.

143

Der Bundesgesetzgeber ist zur Regelung der Abfallwirtschaft zuständig (vgl Urteil des Zweiten Senats vom heutigen Tage - 2 BvR 1991/95 und 2 004/95 -, C.II.1.). Er hat von dieser Kompetenz in der Weise Gebrauch gemacht, daß im Rahmen der gemeinsamen Umweltverantwortung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft der Ausgleich zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Bedürfnissen jeweils unter Mitwirkung der Betroffenen gefunden wird (vgl Urteil des Zweiten Senats vom heutigen Tage - 2 BvR 1991/95 und 2004/95 -, C.II.2.a).

144

Das Bundes-Immissionsschutzgesetz verwirklicht dieses Konzept eines kooperativen Verwaltens im Rahmen eines durch das Verbot mit Genehmigungsvorbehalt bestimmten Verwaltungsrechtsverhältnisses. Die genehmigungsbedürftigen Anlagen sind nach § 5 Abs.1 Nr.3 BImSchG so zu errichten und zu betreiben, daß Abfälle im Rahmen des technisch Möglichen und Zumutbaren vermieden oder verwertet werden. Dieser individualisierende, von Beschaffenheit und Funktion der einzelnen Anlage abhängige Maßstab des technisch Möglichen und betrieblich Zumutbaren ist offen für die konkreten Vorgaben, die von der Planung und Finanzkraft des Anlagenträgers sowie der Ausstattung und Entwicklungsfähigkeit der Anlage bestimmt werden. Der Gesetzgeber erwartet vom Zusammenwirken zwischen Umweltbehörde und Anlagenträger, das die umweltrechtlichen Anforderungen auf die einzelne Anlage abstimmt, eine wirkungsvolle Abfallvermeidung und -verwertung.

145

Deshalb ist es gemäß § 2 Abs.2 der Neunten Durchführungsverordnung (Neunte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes vom 18.Februar 1977 in der Fassung vom 29.Mai 1992 ) Aufgabe der Genehmigungsbehörde , den Träger des Vorhabens bei der Antragstellung zu beraten und mit ihm die für die Durchführung dieses Verfahrens erheblichen Fragen zu erörtern. Der Anlagenträger hat zunächst mit der Antragsgestaltung die Möglichkeit, eine bestimmte Art und Weise der Erfüllung seiner Pflichten vorzugeben. Sodann treffen ihn umfassende Darlegungspflichten (vgl §§ 4 ff 9.BImSchV), denen die Verantwortlichkeit der Behörde zur bloßen "nachvollziehenden Amtsermittlung" gegenübersteht. Die staatliche Sachverhaltsermittlung wirkt also nur als Auffangnetz bei unzulänglich er Darlegung des Antragstellers (vgl Hoffmann-Riem, Von der Antragsbindung zum konsentierten Optionenermessen, DVBl 1994, S.605 <606>). Insgesamt stellen sich die Regelungen des Bundes-Immissionsschutzrechts zur Konkretisierung der abfall rechtlichen Pflichten als "billigende Programmierung von kooperativem Verwaltung shandeln" dar (vgl.Dose/Voigt, Kooperatives Recht: Norm und Praxis, in: Dose/Voigt , Kooperatives Recht, 1995, S.11 <17>; vgl auch Hoppe, Die Diskussion um die wirtschaftliche Vertretbarkeit nachträglicher Anordnungen im Immissions schutzrecht <§ 17 Abs.2 S.1 BImSchG>, Energiepolitische Tagesfragen, 1984, S.49 ff).

146

Dieses Kooperationskonzept bestimmt den Maßstab, dem eine in den Anwendungsbereich des Bundes-Immissionsschutzrechts einwirkende Lenkungsabgabe nicht zuwiderlaufen darf.

147

III.

148

Die hier angegriffenen Landesabfallabgabengesetze finden weder in der konkurrierenden Sachgesetzgebungskompetenz für das Abfallwirtschaftsrecht noch in der Steuergesetzgebungskompetenz des Art.105 Abs.2 GG eine verfassungsrechtlich tragfähige Grundlage. Die Landesabfallabgaben widersprechen in ihrer Gestaltungswirkung (1) - ungeachtet ihrer näheren finanzverfassungsrechtlichen Qualifikation (2) - dem Kooperationsprinzip, wie es im Bundes-Immissionsschutzrecht für die Vermeidung und Verwertung von Abfällen vorgesehen ist (3), unvereinbar (4).

149

1. Die Landesabfallabgaben suchen die Abfallvermeidung und die Abfallverwertung zu lenken. Die Landesabfallabgabengesetze sind vorrangig darauf ausgerichtet, das Erzeugen von abgabepflichtigen Abfällen zu vermeiden. Daneben schaffen sie durch Befreiungstatbestände Anreize, bestimmte Entsorgungsformen zu wählen. In Hessen entsteht keine Abgabepflicht, wenn die Sonderabfälle nicht an den Träger der Sonderabfallentsorgung nach § 4 Abs.5 des Hessischen Abfallwirtschafts- und Altlastengesetzes übergeben, sondern in eigenen oder Anlagen Dritter verwertet werden. Die Gesetze in Baden-Württemberg und Niedersachsen begründeten keine Abgabepflicht, wenn die Abfälle in eigenen Anlagen verwertet wurden. In Niedersachsen waren zudem Abfälle von der Abgabepflicht befreit, die stofflich verwertet wurden, ohne daß dabei das Wohl der Allgemeinheit beeinträchtigt wurde. In Schleswig-Holstein unterliegen Abfälle, die stofflich verwertet oder als Ersatz primärer Energieträger außerhalb von Abfallentsorgungsanlagen verwandt werden, nicht der Abgabepflicht. Mit diesen Regelungen erzielen die Landesabfallabgabengesetze Lenkungen zur Vermeidung und Verwertung produktionsbedingter Abfälle.

150

2. Ist die Abfallabgabe eine Sonderabgabe, so ist sie - als "seltene Ausnahme" - nur unter engen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen zulässig (vgl BVerfGE_91,186 <202 f>). Die Sonderabgaben, die einen über die bloße Mittelbeschaffung hinausgehenden Sachzweck verfolgen (vgl BVerfGE_82,159 <179>), müssen ihre Kompetenzgrundlage in der Sachgesetzgebungszuständigkeit nach Art.74 Abs.1 Nr.24 GG finden. Soweit der Bund von dieser Zuständigkeit durch Erlaß des Abfallgesetzes 1986 (vgl dazu BVerwG, Urteil vom 23.April 1997, DöV 1997, S.915 ) sowie des Bundes-Immissionsschutzgesetzes abschließend Gebrauch gemacht hat, ist der Landesgesetzgeber zur Regelung einer die Abfallwirtschaft gestaltenden Sonderabgabe nicht zuständig.

151

Ist die Abfallabgabe eine Steuer, so stellen sich die Fragen, ob diese eine Entsorgungslast zum Gegenstand haben kann, ob sie einer der - mit der Landesgesetzgebungszuständigkeit des Art.105 Abs.2 GG korrespondierenden - Landesertragsteuern des Art.106 Abs.2 GG zugeordnet werden darf oder ob die Länder außerhalb dieser Zuständigkeit ein Steuererfindungsrecht haben und dieses auch die Kompetenz zur gesetzlichen Zuteilung der Ertragshoheit umfaßt und inwieweit eine Zweckbindung des Aufkommens verfassungsrechtlich zulässig ist.

152

Diese und weitere von den Beschwerdeführerinnen gestellte Fragen können hier offenbleiben, weil die Lenkungsabgaben den Vorgaben des Bundes-Immissionsschutzrechts widersprechen und schon deshalb insgesamt verfassungswidrig sind.

153

3. Umweltschutz ist nach der Konzeption des Bundesgesetzgebers eine gemeinsame Aufgabe von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft und erfordert die Zusammenarbeit aller Beteiligten in gestaltender Mitverantwortung und Mitwirkung (vgl Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, aaO, - Verpackungsteuer -). Das Bundes-Immissionsschutzgesetz verlangt dementsprechend iV mit der Neunten Durchführungsverordnung ein Kooperationsverfahren, in dem die abfallrechtlichen Pflichten näher ausgestaltet werden.

154

Der Bundesgesetzgeber hat aufgrund seiner Kompetenz zur Regelung der Abfallwirtschaft (vgl Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsge richts, aaO - Verpackungsteuer -) in einer Gesamtkonzeption von Abfallgesetz und Bundes-Immissionsschutzgesetz (vgl § 1a AbfG 1986, § 9 KrW-/AbfG) die Vermeidung und die Verwertung produktionsbedingter Abfälle so geregelt, daß mitwirkungsoffene Tatbestände auf eine individualisierende Verhältnismäßigkeit ausgerichtet sind (a) und dem Kooperationspartner ausdrücklich Wahlrechte einräumen (b).

155

a) Maßstab der umweltrechtlichen Verantwortlichkeit des Anlagenbetreibers sind die technische Möglichkeit und die Zumutbarkeit der ihm auferlegten Vermeidungs- und Verwertungspflichten. Das Bundes-Immissionsschutzgesetz verpflichtet in § 5 Abs.1 Nr.3 die Betreiber genehmigungsbedürftiger Anlagen, produktionsbedingte Abfälle zu vermeiden oder ordnungsgemäß und schadlos zu verwerten, soweit die Vermeidung und Verwertung technisch möglich und zumutbar sind. Diese Grundpflicht des § 5 ist mit einer Ermächtigung an die Bundesregierung (§ 7) verbunden, nach Anhörung der beteiligten Kreise (§ 51) durch Rechtsverordnung die in § 5 festgesetzten Pflichten näher zu bestimmen (vgl Bericht des Innenausschusses des Bundestages zu dem Entwurf eines Bundes-Immissionsschutzgesetzes,B TDrucks 7/1513, S.3 und 5).

156

Das Bundes-Immissionsschutzrecht bemißt somit die konkreten Umweltpflichten nach dem individualisierenden Maßstab der Verhältnismäßigkeit, der das Ziel der Abfallvermeidung und -verwertung jeweils nach den Möglichkeiten der einzelnen Anlage, ihres Trägers und Betreibers verwirklicht. Diese Zumutbarkeit bestimmt sich allein nach dem Umweltrecht: Sie fordert die Würdigung und Abwägung von wirtschaftlichen und ökologischen, also betriebsnützigen und gemeinwohldienlichen Anliegen, einen Kostenvergleich unter verschiedenen Entsorgungsarten sowie zwischen dem Betriebs- und Produktionsaufwand einerseits und dem Nutzen der Verwertung für die Umwelt andererseits, schließlich auch eine Würdigung der Auswirkungen auf die Preise und damit die Marktfähigkeit der aus dem Betrieb der Anlage gewonnenen Erzeugnisse. Dieser Maßstab baut auf unternehmerische Einschätzungen, Planungen und Bewertungen und gewinnt ein hohes Maß an rechtlicher Wirksamkeit insbesondere dann, wenn der Unternehmer durch Kosten- und Marktdispositionen mitwirkt. Der Begriff der Schadlosigkeit der Verwertung in § 5 Abs.1 Nr.3 BImSchG stellt im Hinblick auf das Ziel der abfallrechtlichen Pflichten klar, daß nicht eine Verwertung "um jeden Preis", sondern die umweltverträgliche Verwertung gefordert wird. Dieses Zusammenwirken zwischen Behörde und Bürger ist allein auf die Verständigung zwischen Umweltbehörde und Anlagenbetreiber ausgerichtet und findet im Abfallrecht Maß und Ziel.

157

b) Das bundesrechtliche Konzept ist auch insoweit auf Kooperation angelegt, als es für die Handlungsmittel jedem Betreiber kraft Bundesrechts Wahlfreiheiten sichert.

158

Die Anlagenbetreiber haben die freie Entscheidung über die Art und Weise der Erfüllung der abfallrechtlichen Pflichten (zur Wahlfreiheit vgl Jarass, Bundes-Immissionsschutzgesetz, Kommentar, 3.Aufl, 1995, § 5 Rn.77 mwN). Die Behörde ist an die Vorgabe der Wahlfreiheit gebunden, insbesondere im Rahmen des Genehmigungsverfahrens (§ 4 BImSchG) und bei nachträglichen Anordnungen (§ 17 BImSchG); sie darf nicht unter mehreren Alternativen einseitig verpflichtend die umweltverträglichste festschreiben (Meidrodt, Das immissionsschutzrechtliche Reststoffvermeidungs- und -verwertungsgebot, 1993, S.74 ff).

159

Auch soweit § 5 Abs.1 Nr.3 BImSchG nicht eingreift und die Entsorgungspflicht nicht landesrechtlich in eine Benutzungs-, Andienungs- oder Überlassungspflicht umgewandelt wird (vgl §§ 29 Abs.1 Satz 4, Abs.4, 13 Abs.4 KrW-/AbfG, für das Abfallgesetz 1986 vgl insbesondere § 6 Abs.1 Sätze 5 und 6 ), bleibt es grundsätzlich den Entsorgungspflichtigen überlassen, wie sie dem Verwertungsvorrang (§ 5 Abs.2 Satz 2 KrW-/AbfG, früher: § 3 Abs.2 Satz 3 AbfG) i m Rahmen der bundesrechtlichen Vorgaben nachkommen. Für das Verhältnis von stoff licher und energetischer Verwertung gilt dabei - neben dem Vorrang der umweltverträglicheren Verwertungsart - wiederum der Vorbehalt der wirtschaftlichen Zumutbarkeit (§ 6 Abs.1 Satz 2 und 3 KrW-/AbfG). Die nähere Bestimmung trifft die Bundesregierung nach Anhörung der beteiligten Kreise durch Rechtsverordnung (§ 6 Abs.1 Satz 4 KrW-/AbfG) auch für die stoffbezogenen Anforderungen der anlageninternen Verwertung (§ 9 Satz 3 KrW-/AbfG). Solange der Verordnunggeber eine solche Regelung nicht trifft, bleibt dem Entsorgungspflichtigen ein Wahlrecht gemäß § 6 Abs.2 KrW-/AbfG; er hat zudem die Möglichkeit der kollektiven Pflichtenwahrnehmung (§§ 17 f KrW-/AbfG).

160

Damit ist die Wahl unter den Handlungsmitteln jedem Anlagenbetreiber bundesweit in gleicher Weise eröffnet und darf um der Wettbewerbsgleichheit willen nicht landesrechtlich verengt werden. Die Bundesregierung hat deshalb bereits im Gesetzgebungsverfahren zum Abfallgesetz 1986 die Forderung des Bundesrates, in § 1a weitergehende landesrechtliche Regelungen zuzulassen, zurückgewiesen, um die Wettbewerbsgleichheit in einer für jeden Wettbewerber gleichen Wahl möglichkeit zu wahren: "Wenn etwa in einem Bundesland vorgesehen würde, daß die stoffliche Verwertung Vorrang haben solle, würde genau das unterlaufen, was in § 3 Abs.2 vorgesehen sei, dh die Wahlfreiheit zwischen zwei verschiedenen Wahlmöglichkeiten der Verwertung. Würden weitergehende landesrechtliche Vorschriften zugelassen, dann wäre es möglich, daß in einem Land geregelt werden könnte, daß anfallende Stoffe auch ohne Rücksicht auf die in § 3 Abs.2 enthaltene wirtschaftliche Komponente auf jeden Fall einer stofflichen Verwertung zugeführt werden könnten, auch wenn dafür kein Markt vorhanden sei oder dieser infolge eines Überangebots zusammenbreche. Von daher könne den Ländern dieser Spielraum nicht eingeräumt werden." (Wiedergabe der Äußerung der Bundesregierung im Bericht des Innenausschusses,BTDrucks 10/5656, S.57).

161

4. Die Lenkungswirkungen der Abfallabgabengesetze von Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein widersprechen diesem Konzept der Kooperation bei der Konkretisierung der abfallrechtlichen Pflichten der Anlagenbetreiber.

162

Die abgabenrechtliche Lenkung wirkt auf den Adressaten ein und nimmt den Instrumenten einer bloßen Beratung, einer Verfahrensbeschleunigung oder zukünftiger Anordnungen ihre Offenheit und einen Teil ihrer Wirkungskraft. Die generelle Lenkung des Abgabenrechts kann nicht nach individualisierender Verhältnismäßigkeit zugemessen und auf die Besonderheiten der einzelnen Anlage abgestimmt werden. Auch erlaubt eine Abgabepflicht nicht ein Zurückstellen möglicher Sanktionen, um dem Betroffenen einen Anpassungszeitraum zu deren Vermeidung zu geben.

163

Ist dem Anlagenbetreiber weder die Vermeidung noch die schadlose Verwertung zumutbar, führt die Abgabepflicht zu einer unausweichlichen finanziellen Belastung, die den Investitionsspielraum auch im Hinblick auf abfallärmere Produktionsverfahren verengt. Folgt der Anlagenbetreiber hingegen freiwillig der Verhaltensempfehlung nicht und nimmt die Abgabenlast in Kauf, so verändert die Abgabe die Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen Verhältnismäßigkeit.

164

Die generelle abgabenrechtliche Lenkung vernachlässigt die Ermittlung der im Einzelfall gegebenen Handlungsalternativen und ihrer unterschiedlichen Umweltverträglichkeit und greift damit in die Kooperationsoffenheit des Umweltverfahrens ein. Der Anlagenbetreiber wird einen umweltschädlichen Umgang mit Abfällen vorziehen, wenn er dadurch der Abgabenlast entgehen kann. Er wird zB durch eine Abgabelast gedrängt, die in der Anlage anfallenden Stoffe entgegen den Erkenntnissen des Umweltschutzes in seine Erzeugnisse einzuarbeiten, wenn die ökologisch und ökonomisch geforderte Entsorgungsform (zB energetische Verwertung, Verwertung durch Dritte, thermisch Behandlung, Deponierung) mit einer Abgabepflicht verteuert wird."

 

Auszug aus BVerfG B, 07.05.98, - 2_BvR_1876/91 -, www.BVerfG.de,  Abs.130 ff

§§§

98.022 Fall Gysi II
 
  1. BVerfG,     B, 27.05.98,     – 2_BvE_2/98 –

  2. BVerfGE_98,139 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE = NJW_98,3041 -42

  3. GG_Art.38 Abs.1 S.2; AbgG_§_44b; BVerfGG_§_32 Abs.1

T-98-09

LF: Zu den Voraussetzungen einer einstweiligen Anordnung durch die die Veröffentlichung eines Ausschußberichts iSd § 44b AbgG bis zur Entscheidung über die Hauptsache im sachgleichen Organstreit aufgeschoben werden soll.

* * *

T-98-09Veröffentlichung Ausschußbericht

11

"Der Antrag, im Wege einer einstweiligen Anordnung die Veröffentlichung des Beschlusses des Antragsgegners zu 2. vom 8.Mai 1998 als Bundestagsdrucksache bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache aufzuschieben, ist unbegründet, da dies nicht zur Abwehr schwerer Nachteile zu Lasten des Antragstellers dringend geboten ist, § 32 Abs.1 BVerfGG.

I.

12

Unter den Voraussetzungen des § 32 Abs.1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln. Dabei bleiben die Gründe, welche für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht, es sei denn, der Antrag in der Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Voraussetzung für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist, daß diese zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Das Bundesverfassungsgericht wägt die Nachteile, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Maßnahme aber später für verfassungswidrig erklärt würde, gegen diejenigen ab, die entstünden, wenn die Maßnahme nicht in Kraft träte, sie sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erwiese (vgl BVerfGE_86,390 <395>; st Rspr). Im Organstreitverfahren ist dabei zu beachten, daß der Erlaß einer einstweiligen Anordnung einen Eingriff des Gerichts in die Autonomie eines Staatsorgans bedeutet. Er kommt deshalb allein in Betracht, um das strittige organschaftliche Recht des Antragstellers vorläufig zu sichern, damit es nicht im Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache durch Schaffung vollendeter Tatsachen überspielt werde (vgl BVerfGE_89,38 <44>; BVerfGE_96,223 <229>).

II.

13

Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.

14

Die Frage, ob die einstweilige Anordnung schon nicht ergehen kann, weil die Hauptsache offensichtlich unbegründet ist, kann dahinstehen. Jedenfalls bedarf es der einstweiligen Anordnung nicht, um zu verhindern, daß das vom Antragsteller geltend gemachte Recht bis zur Entscheidung in der Hauptsache durch Schaffung vollendeter Tatsachen überspielt werden kann.

15

Der Senat hat sich darauf verständigt, die Organklage bis Ende Juli 1998 in der Hauptsache zu entscheiden. Ergeht bis dahin keine einstweilige Anordnung, erweist sich dann aber die Hauptsache als begründet, können die Antragsgegner den Bericht des Ausschusses zwar vorher - wie vorgesehen - in der Form einer Bundestagsdrucksache veröffentlichen. Hierdurch wird jedoch der Öffentlichkeit das Ergebnis des Berichts nicht erstmals bekannt, denn es ist schon jetzt Gegenstand der Berichterstattung in den Medien. Allerdings kann die Veröffentlichung in einer offiziellen Drucksache dem für den Antragsteller nachteiligen Ergebnis zusätzliches Gewicht verleihen. Auch werden die Sachverhaltskomplexe, aus denen der Bericht sein Ergebnis ableitet, im einzelnen bekannt. Dies wird in seinen Auswirkungen allerdings dadurch abgemildert, daß der Antragsteller von seinem Recht Gebrauch machen kann, in einer dem Bericht beizufügenden Erklärung die Beweisführung des Ausschusses zu entkräften.

16

Die danach für den Antragsteller verbleibenden Nachteile können ausgeglichen werden, falls sich Ende Juli d J herausstellt, daß die Hauptsache Erfolg hat. Eine zeitnahe verfassungsgerichtliche Beanstandung des Ausschußberichts würde in der Öffentlichkeit besonders aufmerksam wahrgenommen und gewürdigt und wäre daher geeignet, den Antragsteller von dem Vorwurf zu entlasten, seine inoffizielle Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik sei erwiesen."

 

Auszug aus BVerfG B, 27.05.98, - 2_BvE_2/98 -, www.BVerfG.de,  Abs.11 ff

§§§

98.023 Inkompatibilität
 
  1. BVerfG,     B, 05.06.98,     – 2_BvL_2/97 –

  2. BVerfGE_98,145 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.38 Abs.1 S.2; AbgG_§_44b; BVerfGG_§_32 Abs.1

T-98-10

1) Die Kompetenz des Landesgesetzgebers für das Landeswahl- und Landesabgeordnetenrecht umfaßt die Befugnis zu regeln, ob und unter welchen Voraussetzungen er von der Ermächtigung des Art.137 Abs.1 GG Gebrauch macht. Auch soweit er bei der Ausgestaltung der Rechtsfolgen der Inkompatibilität in einem Randbereich das Privatrecht berührt, verbleibt er im Rahmen seiner Kompetenz.

 

2) Die Anordnung einer Inkompatibilität ist von der Ermächtigung des Art.137 Abs.1 GG nur gedeckt, soweit sie gewählte Bewerber betrifft, deren berufliche Stellung die Möglichkeit von Interessen- und Entscheidungskonflikten nahelegt. Der Gesetzgeber kann im Rahmen des ihm zustehenden Einschätzungsraums die Ermächtigung durch generalisierende Tatbestände ausschöpfen, die an die Wahrscheinlichkeit einer Konfliktlage anknüpfen.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 26 Absatz 1 Nummer 6 des Berliner Gesetzes über die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen (Landeswahlgesetz - LWahlG) vom 25.September 1987 (GVBl BE S.2370) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 3.September 1990 (GVBl BE S.1881) ist mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit danach Mitglieder des zur Geschäftsführung berufenen Organs eines privatrechtlichen Unternehmens, an dem das Land Berlin mit mehr als 50 vom Hundert beteiligt ist, mit dem Erwerb der Mitgliedschaft im Abgeordnetenhaus aus ihrer beruflichen Funktion ausscheiden.

* * *

T-98-10Vorstandsmitglied

33

"Die zur Prüfung gestellte Vorschrift hat einen Regelungsgehalt (I.), den der Landesgesetzgeber im Rahmen seiner Kompetenz bestimmen konnte (II.). Sie widerspricht nicht dem Bundesrecht (III.) und ist materiell verfassungsgemäß (IV.). I.

34

1. Das Landgericht legt die in ihrem Wortlaut insoweit nicht eindeutige Bestimmung des § 26 Abs.1 Nr.6 LWahlG dahin aus, daß das Bestellungs- und Anstellungsverhältnis des von der Inkompatibilität Betroffenen mit der Annahme seines Mandats endgültig beendet werde und daher ein Wiederverwendungsanspruch nicht bestehe. An diese Auslegung ist das Bundesverfassungsgericht nicht gebunden. Es hat vielmehr den Regelungsgehalt der zur verfassungsrechtlichen Überprüfung gestellten Bestimmung selbständig zu ermitteln (vgl BVerfGE_7,45 <50>; BVerfGE_31,113 <117>; BVerfGE_51,304 <313>; BVerfGE_80,244 <250>).

35

2. Aus dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte, dem Regelungszusammenhang mit den Vorschriften des Landesabgeordnetengesetzes sowie aus dem Sinn und Zweck von Inkompatibilitätsregelungen ergibt sich, daß § 26 LWahlG mit dem Erwerb der Abgeordnetenstellung die Rechtsfolge der Unvereinbarkeit unmittelbar eintreten läßt. Er sieht nicht vor, daß der Gewählte die Beendigung seiner beruflichen Tätigkeit erst herbeiführen muß. Die Bestimmung des § 26 LWahlG, daß der Betroffene aus seiner "beruflichen Funktion ausscheidet", bedeutet nicht, daß sein Bestellungs- und Anstellungsverhältnis endgültig beendet wird. Die Rechte und Pflichten aus diesem Rechtsverhältnis ruhen nur. Nach dem Ende seines Mandats hat er gegen seinen Arbeitgeber im Rahmen seines Dienstverhältnisses einen Anspruch auf Wiederverwendung.

35

In diesem Sinne wird die vorgelegte Norm auch vom Berliner Senat und vom Abgeordnetenhaus verstanden; in anderen Ländern - ausgenommen das Saarland - werden vergleichbare Regelungen ebenso ausgelegt.

36

a) § 26 LWahlG behandelt schon nach seinem Wortlaut die Rechtsfolgen der Unvereinbarkeit ohne Unterschied, ob sie Beamte oder Angestellte des Landes Berlin oder Vorstandsmitglieder privatrechtlicher Unternehmen treffen. Der Aufzählung aller Betroffenen ist der Satz vorangestellt, daß sie aus ihrer beruflichen Funktion "ausscheiden". Was dieses im einzelnen rechtlich bedeutet, regelt der Berliner Gesetzgeber für die Beamtenverhältnisse ausdrücklich in §§ 28, 29 LAbgG. Dort ist bestimmt, daß die Rechte und Pflichten aus dem Dienstverhältnis für die Dauer des Mandats ruhen und danach ein Anspruch auf Wiederverwendung in einem Amt derselben oder einer gleichwertigen Laufbahn besteht. Wenn dann noch § 34 Abs.2 Satz 1 LAbgG anordnet, daß die §§ 28 ff LAbgG für Angestellte des öffentlichen Dienstes sinngemäß gelten, so liegt es nahe, daß das Gesetz in diese Regelung auch die Personen einbezieht, die zwar in einem Rechtsverhältnis zu einem privatrechtlichen Unternehmen stehen, die aber wegen dessen Verflochtenheit mit dem Staat öffentlich-rechtlichen Bediensteten gleichstehen, soweit es darum geht, Interessenkollisionen zu vermeiden (vgl BVerfGE_38,326 <339>).

37

b) Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber die von der Inkompatibilität betroffenen leitenden privatrechtlich Angestellten anders behandeln wollte als die staatlichen Bediensteten, finden sich auch nicht in dem Gesetzgebungsverfahren. Es wurde vielmehr ausdrücklich hervorgehoben, daß die Rechtsfolgen auch insoweit "automatisch" mit dem Mandatserwerb eintreten sollen (vgl. Inhalts-Protokoll der 24. Sitzung des Rechtsausschusses des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 27.August 1990 und Drucks 11/1039 des Abgeordnetenhauses von Berlin, S.2 f).

38

c) Auch aus dem Sinn und Zweck einer Inkompatibilitätsregelung erschließt sich, daß § 26 Abs.1 Nr.6 LWahlG für die betroffenen Vorstandsmitglieder privatrechtlicher Unternehmen eine endgültige Beendigung ihres Bestellungs- und Anstellungsverhältnisses nicht vorschreibt. Die Anordnung einer Inkompatibilität ist im Blick auf die Wahlrechtsgleichheit und den verfassungsrechtlichen Schutz der Mandatsausübung nur begrenzt zulässig.

39

aa) Art.137 GG läßt es zwar zu, das gleiche passive Wahlrecht insoweit einzuschränken, als es zu verhindern gilt, daß Mandatsträger einem Parlament angehören, die in ihrer beruflichen Funktion der Kontrolle des Parlaments unterliegen. Nicht mehr gerechtfertigt ist es aber, diese Personen von der Wählbarkeit auszuschließen. Dem Betroffenen muß jedenfalls die Wahl zwischen Mandat und Beibehaltung seiner beruflichen Tätigkeit verbleiben (BVerfGE_18,172 <181>; BVerfGE_58,177 <192 f>; stRspr). Faktisch liegt ein Ausschluß der Wählbarkeit auch vor, wenn der Gewählte sich wegen der Folgen der Inkompatibilitätsregelung außerstande sieht, sich für das Mandat zu entscheiden. Der Gesetzgeber muß daher - jedenfalls außerhalb des kommunalen Bereichs - Folgeregelungen treffen, die die Nachteile der Unvereinbarkeitsregelung für den Betroffenen auffangen und ihm eine Wahlmöglichkeit belassen (vgl BVerfGE_48,64 <88>). Teil einer solchen Folgeregelung ist die Anordnung, daß das inkompatible Beschäftigungsverhältnis nicht endgültig beendet, sondern dem Gewählten ein Wiederverwendungsanspruch gewährt wird, der ihm die Entscheidung für das Mandat erleichtert.

40

bb) Eine solche Regelung verbleibt auch im Rahmen der Rechtsstellung, die Parlamentsabgeordneten entsprechend Art.48 Abs.2 GG allgemein gewährt wird (vgl dazu §§ 2 bis 4 AbgG des Bundes und die entsprechenden Vorschriften in den Abgeordnetengesetzen der Länder), um ihnen die Ausübung ihres Amtes zu gewährleisten, und die insbesondere auch der Berliner Gesetzgeber mit § 2 LAbgG jedem Mandatsträger eingeräumt hat. Danach hat jeder Abgeordnete gegen seinen Arbeitgeber für die Dauer des Mandats grundsätzlich einen Anspruch auf Sonderurlaub und auf einen gleichwertigen Arbeitsplatz nach Mandatsende. Es ist nicht ersichtlich, daß der Berliner Gesetzgeber mit § 26 Abs.1 Nr.6 LWahlG die von der Inkompatibilität Betroffenen hinsichtlich der Möglichkeit zur Fortsetzung ihrer beruflichen Tätigkeit nach Mandatsende hätte schlechter stellen wollen als Abgeordnete, die ihre berufliche Betätigung während der Mandatsausübung freiwillig unterbrechen, ohne durch Wählbarkeitsbeschränkungen hierzu genötigt zu sein. II.

41

Die Regelung des § 26 Abs.1 Nr.6 LWahlG ist Teil des Landeswahl- und Landesabgeordnetenrechts. Sie berührt zwar in einem Randbereich das Aktien- und das Gesellschaftsrecht sowie das bürgerliche Recht. Darin liegt indes kein Übergriff in eine fremde Kompetenzmaterie, der nur unter den - engen - Voraussetzungen einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs zulässig sein könnte.

42

1. Von seiner konkurrierenden Zuständigkeit für das Aktien- und das Gesellschaftsrecht sowie das bürgerliche Recht (Art.74 Abs.1 Nrn.1 und 11 GG) hat der Bund umfassend Gebrauch gemacht, so daß gemäß Art.72 Abs.1 GG insoweit eine Gesetzgebungszuständigkeit des Berliner Gesetzgebers nicht in Betracht käme.

43

2. Mit § 26 Abs.1 Nr.6 LWahlG wird allerdings ein solcher Kompetenztitel auch nicht in Anspruch genommen. Die vorgelegte Norm hat zwar unmittelbare Auswirkungen auf die Organstellung des Vorstandsmitglieds einer Aktiengesellschaft und auf dessen privatrechtliches Dienstverhältnis. Gleichwohl gehört sie auch insoweit der Materie des Landeswahl- und Landesabgeordnetenrechts an, das die Länder jeweils für ihren eigenen Verfassungsraum normieren.

44

a) In dem föderativ gestalteten Bundesstaat des Grundgesetzes stehen die Verfassungsbereiche des Bundes und der Länder grundsätzlich selbständig nebeneinander. Im Rahmen der Bestimmungen, die das Grundgesetz den Verfassungen der Länder vorgibt, können die Länder ihr Verfassungs- und Staatsorganisationsrecht selbst ordnen (vgl BVerfGE_96,345 <368 f>). Das gilt insbesondere für das Landeswahlrecht sowie für das Landesparlaments- und das Statusrecht der Landtagsabgeordneten (vgl auch BVerfGE_24,300 <353 f>; BVerfGE_38,326 <337>).

45

b) aa) Die umfassende Regelung eines Zuständigkeitsbereichs kann Teilregelungen enthalten, die zwar einen anderen Kompetenzbereich berühren, die aber gleichwohl Teil der im übrigen geregelten Materie bleiben. Bei der Frage der Zuordnung solcher Teilregelungen zu einem Kompetenzbereich dürfen sie nicht aus ihrem Regelungszusammenhang gelöst und isoliert für sich betrachtet werden. Dabei fällt insbesondere ins Gewicht, wie eng die fragliche Teilregelung mit dem Gegenstand der Gesamtregelung verbunden ist. Eine enge Verzahnung und dementsprechend ein geringer eigenständiger Regelungsgehalt der Teilregelung sprechen regelmäßig für ihre Zugehörigkeit zum Kompetenzbereich der Gesamtregelung (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17.Februar 1998 - 1 BvF 1/91 - NJW 1998, S.1627 <1627>; stRspr, vgl auch BVerfGE_28,119 <145>; BVerfGE_42,20 <35>).

46

bb) Zu der Normierung des Landeswahl- und Landesabgeordnetenrechts gehören auch Regelungen zur Ausgestaltung des passiven Wahlrechts. Hiervon sind auch Vorschriften erfaßt, die regeln, ob und unter welchen Voraussetzungen das Land von der Ermächtigung des Art.137 GG Gebrauch macht (vgl auch BVerfGE_38,326 <336 f>; BVerfGE_58,177 <191 f>). Dabei sind die Rechtsfolgen festzulegen, die bei einem von der Inkompatibilität Betroffenen eintreten. Nur durch deren schonende Gestaltung kann der Gesetzgeber verhindern, daß eine - zulässige - Beschränkung des passiven Wahlrechts in dessen unzulässige faktische Entziehung umschlägt. Des weiteren haben die Länder bei der Ausgestaltung des Abgeordnetenrechts dafür Sorge zu tragen, daß eine berufliche Tätigkeit der Abgeordneten ihrer Parlamente sie nicht an der Wahrnehmung ihres Mandats hindert. Insoweit ist die für Bundestagsabgeordnete geltende Regelung des Art.48 GG über Art.28 Abs.1 GG auch für die Länder maßgebend (vgl dazu BVerfGE_42,313 <326>; von Arnim, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art.48 Rn.12).

47

c) Hiernach ist § 26 Abs.1 Nr.6 LWahlG, auch soweit er konkurrierende Gesetzgebungsmaterien des Bundes berührt, eine unselbständige Teilregelung des Landeswahl- und Landesabgeordnetenrechts und daher als - kompetenzgemäße - Regelung dieser Materien zu bewerten. Die Norm enthält eine Ausgestaltung des passiven Wahlrechts und hat keinen darüber hinausgehenden eigenständigen Regelungsgehalt. Sie läßt bei Annahme des Mandats gesellschaftsrechtliche und privatrechtliche Rechtswirkungen unmittelbar eintreten, um so die Frage der Rechtmäßigkeit der Zusammensetzung des Parlaments möglichst schnell außer Streit zu stellen. Die Regelung zum Wiederverwendungsanspruch stellt sich als eine Folgeregelung zur Vermeidung faktischer Unwählbarkeit dar. III.

48

Auch Art.31 GG steht der Geltung des § 26 Abs.1 Nr.6 LWahlG nicht entgegen.

49

Art.31 GG ist eine Kollisionsnorm, die bestimmt, welches Recht gilt, wenn kompetenzgemäßes und auch sonst verfassungsgemäßes Bundes- und Landesrecht je denselben Sachverhalt regeln (vgl BVerfGE_26,116 <135>; BVerfGE_36,342 <363>; BVerfGE_96,345 <364>).

50

Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Bundesrecht macht keine Aussagen zu dem rechtlichen Schicksal der Organstellung und des Anstellungsverhältnisses eines in ein Landesparlament gewählten Vorstandsmitglieds eines privatrechtlichen Unternehmens. Mögen das Aktien- und das Gesellschaftsrecht sowie das bürgerliche Recht auch bundesrechtlich umfassend geregelt sein, so enthalten diese Rechtsgebiete gleichwohl weder positive noch negative Regelungen des von § 26 Abs.1 Nr.6 LWahlG erfaßten Sachverhalts. Eine positive bundesrechtliche Norm fehlt. Bei der Regelung des Aktien- und des Gesellschaftsrechts sowie des bürgerlichen Rechts hat der Bundesgesetzgeber aber auch nicht erkennen lassen, daß andere als von ihm positiv zugelassene Fälle des Ruhens einer Organstellung oder eines Beschäftigungsverhältnisses ausgeschlossen sein sollen und daher auch insoweit keine wahlrechtliche Sonderregelung durch die Länder zulässig sein kann. Im Gegenteil erwartet das Grundgesetz mit der Bindung der Länder an die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit (Art.28 Abs.1 Satz 2 GG) und mit Art.137 GG, daß die Länder Sonderregelungen für Beschäftigungsverhältnisse von Mandatsträgern treffen, um diese vor faktischer Inkompatibilität zu schützen. IV.

51

Art.26 Abs.1 Nr.6 LWahlG verletzt weder das gleiche passive Wahlrecht (1.) noch greift er in die Freiheit des Berufs ein (2.).

52

1. a) Der Grundsatz der gleichen Wahl ist in den Ländern durch Art. 28 Abs.1 Satz 2 GG gewährleistet. Er gilt gleichermaßen für das aktive und das passive Wahlrecht. Er schließt es aus, einem gewählten Bewerber die Annahme und Ausübung des errungenen Mandats zu verwehren, soweit nicht aus der Verfassungsordnung hierfür eine ausreichende Ermächtigung entnommen werden kann (vgl BVerfGE_48,64 <82>; BVerfGE_57,43 <56>; stRspr; zuletzt BVerfGE_93,373 <376>). Zugleich sichert Art.48 GG, dessen Anforderungen auch die Länder im Rahmen des Art. 28 Abs. 1 GG zu beachten haben (vgl dazu BVerfGE_42,312 <326>), das passive Wahlrecht.

53

In diese Rechte eines gewählten Mandatsbewerbers greifen gesetzliche Vorschriften ein, die es ihm untersagen, sein Mandat neben der Wahrnehmung seiner beruflichen Funktion anzutreten.

54

aa) Als Ermächtigung für derartige Beschränkungen der Wählbarkeit kommt allein Art.137 Abs.1 GG in Betracht (vgl BVerfGE_48,64 <82>). Die Vorschrift dient allgemein der Sicherung der organisatorischen Gewaltenteilung gegen Gefahren, die durch das Zusammentreffen von beruflicher Stellung und Mandatswahrnehmung entstehen können. Es geht darum zu verhindern, daß durch "Personalunion" die Parlamentarier als Kontrolleure sich selbst kontrollieren. So soll der Gefahr von Entscheidungskonflikten und Verfilzungen entgegengewirkt werden (vgl BVerfGE_38,326 <338 f>).

55

bb) In ständiger Rechtsprechung nimmt das Bundesverfassungsgericht solche Gefahren nicht nur dann an, wenn Bedienstete eines öffentlich-rechtlichen Dienstherrn gleichzeitig Abgeordnete des Parlaments sind. Die Integrität von Parlament und vollziehender Gewalt erscheint nicht weniger gefährdet, wenn die öffentliche Hand ein - regelmäßig nicht unbedeutendes - Wirtschaftsunternehmen beherrscht und dessen zur Geschäftsführung berufene Angestellte zugleich ein Parlamentsmandat innehaben. Das wirtschaftliche Engagement der öffentlichen Hand unterliegt der Kontrolle des Parlaments. Ihm gegenüber ist die Regierung auch hinsichtlich der Betätigung in privatrechtlichen Unternehmen zur Rechnungslegung verpflichtet und hat sich der Überprüfung der Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung zu unterziehen (vgl Art.114 GG, Art.94, 95 Verfassung von Berlin - im folgenden: VvB -).

56

cc) Die Anordnung einer Inkompatibilität ist - als eine sachgerechte Ausgestaltung des passiven Wahlrechts - von der Ermächtigung des Art.137 Abs.1 GG nur gedeckt, wenn sie nur gewählte Bewerber betrifft, deren berufliche Stellung die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit von Interessen- und Entscheidungskonflikten nahelegt. Da es jedoch schwierig ist, eine genaue Grenze festzulegen zwischen solchen Funktionsträgern, deren Tätigkeit sie in den bezeichneten Interessenkonflikt bringen kann, und solchen, deren Tätigkeit sie nicht diesem Konflikt aussetzt, ist dem Gesetzgeber ein Einschätzungsraum bei der Bestimmung der von der Inkompatibilität betroffenen beruflichen Stellungen zuzugestehen. Insbesondere kann der Gesetzgeber die Ermächtigung des Art.137 Abs. 1 GG durch generalisierende Tatbestände ausschöpfen, die an die Wahrscheinlichkeit einer Konfliktlage anknüpfen (vgl BVerfGE_18,172 <183 f>; BVerfGE_40,296 <320 f>; BVerfGE_48,64 <84 f>; BVerfGE_58,177 <198>).

57

b) § 26 Abs.1 Nr.1 LWahlG hält sich hiernach im Rahmen der Ermächtigung des Art.137 Abs.1 GG und verletzt nicht das gleiche passive Wahlrecht.

58

aa) Die Norm überschreitet im Zusammenhang mit den sie ergänzenden Regelungen des Landesabgeordnetengesetzes nicht die Schwelle zur Ineligibilität. Sie beläßt dem Gewählten rechtlich und tatsächlich die Möglichkeit, sich zwischen der Fortführung seiner beruflichen Tätigkeit und der Annahme des Mandats zu entscheiden. Im Falle der Annahme des Mandats sichern die Folgeregelungen der §§ 34 Abs.2, 28 ff LAbgG dem Betroffenen eine Rückkehr in seine berufliche Betätigung. Unabhängig hiervon hat er gemäß § 10 LAbgG Anspruch auf Zahlung eines Übergangsgeldes. Für die Zeit des Mandats erhält er gemäß § 6 Abs.1 LAbgG eine Entschädigung von monatlich etwa 5.100 DM. Eine Erwerbstätigkeit - etwa als Rechtsanwalt - ist neben dem Mandat nicht ausgeschlossen. Unter den Voraussetzungen des § 11 LAbgG wird dem Abgeordneten auch eine Altersentschädigung gewährt. Diese Folgeregelungen begründen jedenfalls keinen faktischen Ausschluß von dem Zugang zum Mandat.

59

bb) Entgegen der Auffassung des vorlegenden Gerichts beschränkt Art.137 Abs.1 GG eine Inkompatibilität zwischen dem Abgeordnetenmandat und der Wahrnehmung einer leitenden Funktion in einem von der öffentlichen Hand beherrschten Unternehmen nicht auf die Unternehmen, in denen der Staat als Mehrheitsaktionär auch über die Mehrheit im Aufsichtsrat verfügt. § 26 Abs.1 Nr.6 LWahlG hält sich im Rahmen des Art.137 Abs.1 GG, indem er für die Möglichkeit einer Pflichtenkollision allein an die Tatsache der Mehrheitsbeteiligung anknüpft.

60

(1) Dies steht in Übereinstimmung mit § 17 Abs.2 AktG, wonach von einem in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmen vermutet wird, daß es von dem Mehrheitsaktionär abhängig ist. Diese Vermutung wird nicht ohne weiteres schon dann als widerlegt angesehen, wenn der Mehrheitsaktionär im Aufsichtsrat keine Mehrheit hat (vgl. Hüffer, Aktiengesetz, 2.Aufl 1995, § 17 Rn.19). Bestätigt wird dies auch durch die Regelungen der §§ 179, 103 Abs.1 Satz 2, 84 Abs.3 Satz 2 AktG, die einem Mehrheitsaktionär - auch ohne Mehrheit im Aufsichtsrat - maßgeblichen Einfluß auf Satzungsänderungen, Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern und Vorstandsmitgliedern sichern.

61

(2) Im übrigen bestehen die nach Art.137 Abs.1 GG erheblichen Interessenkollisionen bei einer maßgeblichen Beteiligung der öffentlichen Hand an einem privatrechtlichen Unternehmen auch unabhängig von der rechtlichen Möglichkeit des Landes, über eine Mehrheit im Aufsichtsrat auf das Unternehmen Einfluß zu nehmen. Die Mitglieder des Vertretungsorgans eines privatrechtlichen Unternehmens, an dem der Staat mehrheitlich beteiligt ist, unterliegen hinsichtlich ihrer Unternehmensführung besonderer Beobachtung der öffentlichen Hand, denn diese hat dem Volk gegenüber auch eine Mehrheitsbeteiligung an einem privatrechtlichen Unternehmen zu verantworten. Es ist Aufgabe des Parlaments, die Haushalts- und Wirtschaftsführung der Regierung auch hinsichtlich der Betätigung der öffentlichen Hand im Rahmen ihrer Beteiligung an privatwirtschaftlichen Unternehmen zu kontrollieren (vgl. Art.114 GG, Art.94, 95 VvB).

62

2. Die von Art.137 Abs.1 GG zugelassene Inkompatibilitätsregelung führt nicht nur zur Beschränkung des passiven Wahlrechts, sondern hat notwendig Auswirkungen auch auf die in Art.12 GG gewährleistete Berufsfreiheit der Gewählten. Art.137 Abs.1 GG stellt sich damit als eine Spezialregelung gegenüber der von Art.12 Abs.1 GG geschützten Freiheit dar, eine Tätigkeit im gewählten Beruf aufzugeben oder weiter auszuüben (vgl dazu BVerfGE_84,133 <146>). Wahrt eine Inkompatibilitätsregelung die Voraussetzungen des Art.137 Abs.1 GG, so ist daneben der Gewährleistungsbereich des Art.12 Abs.1 GG nicht berührt."

 

Auszug aus BVerfG B, 05.06.98, - 2_BvL_2/97 -, www.BVerfG.de,  Abs.33 ff

§§§

98.024 Mehrere Anwälte
 
  1. BVerfG,     B, 22.06.98,     – 2_BvR_1516/93 –

  2. BVerfGE_98,163 = www.BVerfG.de

  3. BVerfGG_§_34a Abs.2; ZPO_§_91; RPflG_§_11 Abs.2 S.2

T-98-11

LB 1) Für die Frage der Notwendigkeit einer Vertretung durch zwei Rechtsanwälte ist nicht darauf abzustellen, in welchem Umfang ein bestimmter Bevollmächtigter später im einzelnen tätig geworden ist, sondern ob nach einer Gesamtbetrachtung des Verfahrensgegenstandes die Mandatierung von mehr als einem Bevollmächtigten als notwendig anzusehen ist.

Abs.21

LB 2) Allerdings ist nicht ersichtlich, daß eine Vertretung durch mehr als zwei Rechtsanwälte erforderlich gewesen wäre. Eine rein quantitative Betrachtung - etwa unter Hinweis darauf, daß auf Seiten der dem Verfahren beigetretenen Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung mit dem Bevollmächtigten Professor Dr. Hailbronner jeweils mehr als 40 Beamte in leitender Funktion vertreten gewesen seien, deren präsentes Wissen habe abgefragt werden können und auch abgefragt worden sei - ist nicht angebracht.

* * *

T-98-Dritter Anwalt

15

" Die Erinnerungen, über die entsprechend § 11 Abs.2 Satz 2 RPflG der Senat zu entscheiden hat, sind statthaft, haben in der Sache jedoch keinen Erfolg.

16

1. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht definiert nicht, was unter "notwendigen Auslagen" im Sinne von § 34a Abs.2 BVerfGG zu verstehen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fallen darunter im allgemeinen diejenigen Auslagen, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht entstanden sind; die Erstattungsfähigkeit einer geltend gemachten Auslage hängt maßgeblich davon ab, ob sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung "notwendig" war. Diese Frage kann nicht im Wege eines schematischen Rückgriffs auf § 91 ZPO entschieden werden; vielmehr sind auch die Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens zu berücksichtigen (vgl BVerfGE_46,321 <323>; BVerfGE_87,270 <272>).

17

2. a) Danach sind dem Beschwerdeführer vom Land Hessen keine weitergehenden, aber auch keine geringeren Kosten als die in den Beschlüssen der Rechtspflegerin bereits festgesetzten zu erstatten. Die Kosten des Rechtsanwalts Helmut Bäcker, der sich als dritter anwaltlicher Bevollmächtigter bestellt hat, sind daher nicht erstattungsfähig.

18

aa) Die Mandatierung von zwei Rechtsanwälten war erforderlich, aber auch ausreichend.

19

(1) Das Verfahren der Verfassungsbeschwerde erschöpft sich nicht im individuellen Rechtsschutz - zu dessen Verwirklichung erscheint die Mandatierung eines Rechtsanwalts regelmäßig ausreichend -, sondern hat daneben die Aufgabe, das objektive Verfassungsrecht zu wahren sowie seiner Auslegung und Fortbildung zu dienen (vgl BVerfGE_79,365 <367> ). Wenn in einem Verfassungsbeschwerde-Verfahren mit einem umfangreichen und besonders schwierigen Verfahrensgegenstand eine mündliche Verhandlung stattfindet, zu der die dem Beschwerdeführer gegenüberstehenden Verfahrensbeteiligten für spezielle Rechtsgebiete besondere Kenner aufbieten, kann es unter dem Gesichtspunkt der "Waffengleichheit" erforderlich sein, die Mandatierung mehrerer Rechtsanwälte für notwendig zu halten (vgl BVerfGE_46,321 <324>). So liegt es hier.

20

(2) Gegenstand des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens war insbesondere das sog. "Flughafenverfahren" des § 18a AsylVfG als Teil des politisch heftig umstrittenen und in der Öffentlichkeit besonders lebhaft und kontrovers diskutierten "Asylkompromisses" vom 6.Dezember 1992. Dabei handelte es sich um ein objektiv derart bedeutsames Verfahren, daß die Vertretung durch nur einen Rechtsanwalt nicht als ausreichend angesehen werden kann. Bestätigung findet dies ua darin, daß die Bundesregierung dem Verfahren beigetreten (§ 94 Abs.5 Satz 1 BVerfGG) und daß zur mündlichen Verhandlung von vornherein auf erforderlichenfalls zwei Verhandlungstage geladen worden ist. Für die Frage der Notwendigkeit einer Vertretung durch zwei Rechtsanwälte ist nicht darauf abzustellen, in welchem Umfang ein bestimmter Bevollmächtigter später im einzelnen tätig geworden ist (eine derartige, auf den bloßen Umfang anwaltlicher Tätigkeit gerichtete Betrachtungsweise widerspräche übrigens auch dem anwaltlichen Gebührenrecht), sondern ob nach einer Gesamtbetrachtung des Verfahrensgegenstandes die Mandatierung von mehr als einem Bevollmächtigten als notwendig anzusehen ist. Dies ist aus den bereits genannten Gründen zu bejahen.

21

(3) Allerdings ist nicht ersichtlich, daß eine Vertretung durch mehr als zwei Rechtsanwälte erforderlich gewesen wäre. Eine rein quantitative Betrachtung - etwa unter Hinweis darauf, daß auf Seiten der dem Verfahren beigetretenen Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung mit dem Bevollmächtigten Professor Dr Hailbronner jeweils mehr als 40 Beamte in leitender Funktion vertreten gewesen seien, deren präsentes Wissen habe abgefragt werden können und auch abgefragt worden sei - ist nicht angebracht. Den Bevollmächtigten des Beschwerdeführers wäre es ebenfalls möglich gewesen, ihrerseits weitere fachkundige Personen zuzuziehen. Dafür, warum neben zwei Rechtsanwälten, die die Vertretung der Interessen des Beschwerdeführers arbeitsteilig wahrnehmen konnten, noch ein dritter Rechtsanwalt erforderlich gewesen sei, ist bei Anlegung des gebotenen objektivierten Maßstabs weder den Erinnerungen noch sonstigen Umständen etwas zu entnehmen.

22

bb) Auch soweit Rechtsanwalt Roman Fränkel für bestimmte Einzeltätigkeiten die Kosten weiterer Rechtsanwälte angesetzt hat, ist deren Notwendigkeit zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht ersichtlich. Insoweit besteht kein Anlaß, vom Grundsatz des § 91 Abs.2 Satz 3 ZPO - wonach die Kosten mehrerer Rechtsanwälte nur insoweit zu erstatten sind, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen oder als in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten mußte - abzuweichen.

23

Welche Tätigkeiten Rechtsanwalt Marco Bruns im Verfahren betreffend den Erlaß einer einstweiligen Anordnung sowie im Verfassungsbeschwerde-Verfahren "gutachterlich" entfaltet hat, wird im übrigen weder näher aufgezeigt noch ist dies sonst erkennbar. In bezug auf die Kosten der Rechtsanwältin Antje Becker für die "gutachterliche Begleitung" am 5.Dezember 1995 ist jedenfalls nicht ersichtlich, warum eine Vertretung des Rechtsanwalts Roman Fränkel nicht sozietätsintern oder durch den zweiten Bevollmächtigten, Rechtsanwalt Rainer M. Hofmann, möglich gewesen wäre.

24

b) Soweit Rechtsanwalt Roman Fränkel als beigeordneter Rechtsanwalt gegen die Festsetzung der ihm zu vergütenden Prozeßkostenhilfe Erinnerung eingelegt hat, hat sie aus den oben unter II. 2. a) genannten Gründen keinen Erfolg."

 

Auszug aus BVerfG B, 22.06.98, - 2_BvR_1516/93 -, www.BVerfG.de,  Abs.15 ff

§§§

98.025 Pflichtarbeit
 
  1. BVerfG,     U, 01.07.98,     – 2_BvR_441/90 –

  2. BVerfGE_98,169 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.3

 

1) Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber, ein wirksames Konzept der Resozialisierung zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen. Dabei ist ihm ein weiter Gestaltungsraum eröffnet.

 

2) a) Arbeit im Strafvollzug, die dem Gefangenen als Pflichtarbeit zugewiesen wird, ist nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet. Diese Anerkennung muß nicht notwendig finanzieller Art sein. Sie muß aber geeignet sein, dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen.

 

b) Ein gesetzliches Konzept der Resozialisierung durch Pflichtarbeit, die nur oder hauptsächlich finanziell entgolten wird, kann zur verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung nur beitragen, wenn dem Gefangenen durch die Höhe des ihm zukommenden Entgelts in einem Mindestmaß bewußt gemacht werden kann, daß Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist.

 

3) Art.12 Abs.3 GG beschränkt die zulässige Zwangsarbeit auf Einrichtungen oder Verrichtungen, bei denen die Vollzugsbehörden die öffentlich-rechtliche Verantwortung für die ihnen anvertrauten Gefangenen behalten.

 

LB 4) Zur abweichenden Meinung des Richters Kruis siehe BVerfGE_98,217 = www.BVerfG.de, Abs.189 ff.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

I. § 41 Absatz 1 Satz 1 und § 130 jeweils in Verbindung mit § 37 Absätze 2 und 4, § 43 Absätze 1 und 2 und § 198 Absatz 3 des Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung - Strafvollzugsgesetz (StVollzG) - vom 16.März 1976 (Bundesgesetzbl.I Seite 581, berichtigt Seite 2088 und 1997 I Seite 436), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.Januar 1998 (Bundesgesetzbl.I Seite 160), sind nach Maßgabe der Gründe mit dem Grundgesetz vereinbar.

II. § 198 Absatz 3 des Strafvollzugsgesetzes ist, soweit sich die Vorschrift auf die gesetzliche Altersrentenversicherung bezieht, mit dem Grundgesetz vereinbar.

III. 1. § 200 Absatz 1 des Strafvollzugsgesetzes ist mit dem Resozialisierungsgebot aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.

2. § 200 Absatz 1 des Strafvollzugsgesetzes bleibt bis zu einer gesetzlichen Regelung, längstens bis zum 31.Dezember 2000, anwendbar. Sofern bis dahin keine Neuregelung in Kraft getreten ist, entscheiden ab dem 1.Januar 2001 die zuständigen Gerichte über die Bemessung des in § 43 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes vorgesehenen Arbeitsentgelts.

IV. Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.

V. Den Beschwerdeführern sind die notwendigen Auslagen ihres Verfassungsbeschwerde-Verfahrens zu erstatten.

§§§

98.026 Rechtschreibreform
 
  1. BVerfG,     U, 14.07.98,     – 1_BvR_1640/97 –

  2. BVerfGE_98,218 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. AT GG_Art.6 Abs.1, GG_Art.20 Abs.3; Art.32 Abs.3

T-98-12

1) Der Staat ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, Regelungen über die richtige Schreibung der deutschen Sprache für den Unterricht in den Schulen zu treffen. Das Grundgesetz enthält auch kein generelles Verbot gestaltender Eingriffe in die Schreibung.

 

2) Regelungen über die richtige Schreibung für den Unterricht in den Schulen fallen in die Zuständigkeit der Länder.

 

3) Für die Einführung der von der Kultusministerkonferenz am 30.November/1.Dezember 1995 beschlossenen Neuregelung der deutschen Rechtschreibung an den Schulen des Landes Schleswig-Holstein bedurfte es keiner besonderen, über die allgemeinen Lernzielbestimmungen des Landesschulgesetzes hinausgehenden gesetzlichen Grundlage.

 

4) Grundrechte von Eltern und Schülern werden durch diese Neuregelung nicht verletzt.

Abs.111

LB 5) Zur Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde trotz Rücknahme der Beschwerde.

* * *

T-98-12Entscheidung trotz Rücknahme

111

"Über die Verfassungsbeschwerde ist trotz der Rücknahme zu entscheiden. Denn die Rücknahme ist unwirksam.

112

Zwar ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, daß ein Beschwerdeführer die Verfassungsbeschwerde nachträglich zurücknehmen kann. Auch hat dies grundsätzlich zur Folge, daß das Beschwerdebegehren nicht mehr zur Entscheidung steht (vgl BVerfGE_85,109 <113>). Dieser Grundsatz gilt aber nicht ausnahmslos. Er kommt jedenfalls dann nicht zum Tragen, wenn das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde vor Abschluß des fachgerichtlichen Hauptsacheverfahrens nach § 93a BVerfGG im Hinblick darauf zur Entscheidung angenommen hat, daß die Beschwerde im Sinne des § 90 Abs.2 Satz 2 BVerfGG von allgemeiner Bedeutung ist, wenn deswegen über sie mündlich verhandelt worden ist und wenn die allgemeine Bedeutung auch in der Zeit bis zur Urteilsverkündung nicht entfallen ist. In einem solchen Fall liegt die Entscheidung über den Fortgang des Verfahrens nicht mehr in der alleinigen Dispositionsbefugnis des Beschwerdeführers (vgl zur Einschränkung der Rücknahmebefugnis im fortgeschrittenen Verfahrensstadium auch § 269 Abs.1 ZPO, § 92 Abs.1 Satz 2 VwGO, § 102 Satz 1 SGG und § 72 Abs.1 Satz 2 FGO). Vielmehr steht unter diesen Umständen die Funktion der Verfassungsbeschwerde, das objektive Verfassungsrecht zu wahren sowie seiner Auslegung und Fortbildung zu dienen (vgl BVerfGE_79,365 <367>; 85, 109 <113>), gegenüber dem Interesse des Beschwerdeführers an verfassungsgerichtlichem Individualrechtsschutz derart im Vordergrund, daß es geboten ist, im öffentlichen Interesse trotz der Rücknahme der Verfassungsbeschwerde zur Sache zu entscheiden und den Ausgang des Verfahrens nicht von Verfahrenshandlungen des Beschwerdeführers abhängig zu machen (vgl auch zur Antragsrücknahme im Normenkontroll- und im Organstreitverfahren BVerfGE_1,396 <414 f>; 8, 183 < 184>; 24, 299 <300>; 25, 308 <309>).

113

Die genannten Voraussetzungen sind hier gegeben. Der Senat hat, als er Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt hat, in Übereinstimmung mit dem Vortrag der Beschwerdeführer die allgemeine Bedeutung der Verfassungsbeschwerde mit Rücksicht darauf bejaht, daß diese grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen aufwirft und die erstrebte Entscheidung Klarheit über die Rechtslage nicht nur für eine Vielzahl gleichliegender Fälle (vgl BVerfGE_19,268 <273>; BVerfGE_84,133 <144>), sondern auch für den gesamten Schulunterricht schaffen wird. An dieser Einschätzung hat sich seitdem ersichtlich nichts geändert. II.

114

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

115

Insbesondere steht ihrer Zulässigkeit nicht der Grundsatz der Subsidiarität entgegen. Die Beschwerdeführer haben den Rechtsweg im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erschöpft (vgl § 152 Abs.1 VwGO). Die Erschöpfung des Rechtswegs auch in der Hauptsache ist hier nicht geboten. Mit der Rüge einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör wird ein Verfassungsverstoß durch die Eilentscheidung des Oberverwaltungsgerichts selbst geltend gemacht (vgl BVerfGE_79,275 <279>; BVerfGE_93,1 <12>). Die Entscheidung im übrigen hängt nicht von weiterer tatsächlicher oder einfachrechtlicher Vorklärung ab. Auch sind die Voraussetzungen gegeben, unter denen gemäß § 90 Abs.2 Satz 2 BVerfGG vom Erfordernis einer Rechtswegerschöpfung abgesehen werden kann (vgl BVerfGE_69,315 <340>; BVerfGE_86,15 <22 f>). Wie bereits unter B I ausgeführt, hat die Verfassungsbeschwerde allgemeine Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift.

116

Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch nicht begründet.

I.

117

Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen nicht gegen das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art.6 Abs.2 Satz 1 GG.

118

1. Die Eltern haben danach das Recht und die Pflicht, die Pflege und Erziehung ihrer Kinder nach ihren eigenen Vorstellungen frei und, vorbehaltlich des Bildungs- und Erziehungsauftrags nach Art.7 Abs.1 GG, mit Vorrang vor anderen Erziehungsträgern zu gestalten (vgl BVerfGE_31,194 <204>; BVerfGE_47,46 <69 f>). Sie sind deswegen für die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich und grundsätzlich befugt, darauf auch insoweit Einfluß zu nehmen, als es um Gegenstände des Schulunterrichts geht. Art.6 Abs.2 Satz 1 GG gibt den Eltern allerdings keinen ausschließlichen Erziehungsanspruch. Im Bereich der Schule treffen Erziehungsrecht und Erziehungsverantwortung der Eltern vielmehr auf den Erziehungsauftrag des Staates. Dieser Auftrag ist dem elterlichen Erziehungsrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet (vgl BVerfGE_34,165 <183>; BVerfGE_52,223 <236>). Die Erziehung von Kindern ist danach, soweit sie Schulen besuchen, die gemeinsame Aufgabe von Eltern und Schule. Sie ist in einem sinnvoll aufeinander bezogenen Zusammenwirken zu erfüllen. Der Staat muß deshalb in der Schule die Verantwortung der Eltern für den Gesamtplan der Erziehung ihrer Kinder achten und für die Vielfalt der Anschauungen in Erziehungsfragen so weit offen sein, wie es sich mit einem geordneten staatlichen Schulsystem verträgt (vgl BVerfGE_34,165 <183>). Die dafür notwendige Abgrenzung von elterlichem Erziehungsrecht und staatlichem Erziehungsauftrag ist Aufgabe des Gesetzgebers (vgl BVerfGE_47,46 <80>).

119

2. Gemessen daran wird das elterliche Erziehungsrecht der Beschwerdeführer nicht verletzt. Das Oberverwaltungsgericht hat in seinem das Ausgangsverfahren beendenden Beschluß im Ergebnis zu Recht angenommen, daß der Runderlaß des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein vom 5.November 1996, durch den die von der Kultusministerkonferenz beschlossene und in der Wiener Absichtserklärung gebilligte Neuregelung der deutschen Rechtschreibung für die Schulen dieses Landes nach Maßgabe von Übergangsvorschriften auch schon für die Zeit vor dem 1.August 1998 umgesetzt worden ist, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist.

120

a) Notwendigkeit und Inhalt, Güte und Nutzen der Rechtschreibreform, die Gegenstand der Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit und der Fachwelt sind, können nicht nach verfassungsrechtlichen Maßstäben beurteilt werden. Das Grundgesetz enthält keine Vorschriften über die sprachwissenschaftlich richtige Schreibung der deutschen Sprache und die korrekte Gliederung geschriebener Texte durch Satzzeichen. Ebensowenig läßt sich dem Grundgesetz etwas dafür entnehmen, wie bestimmte im Schulunterricht verwendete Schreibweisen aus pädagogischer Sicht zu bewerten sind (vgl auch BVerfGE_34,165 <185>). Eine Verletzung des elterlichen Erziehungsrechts durch die Umsetzung der Rechtschreibreform in den Schulen wäre deshalb nur dann möglich, wenn der Staat die Rechtschreibung überhaupt nicht oder jedenfalls nicht in gestaltender Absicht regeln dürfte, wenn eine solche Regelung im Fall ihrer grundsätzlichen Zulässigkeit einer spezialgesetzlichen Grundlage bedürfte oder wenn die Reform die Betroffenen unverhältnismäßig in Grundrechten beeinträchtigte. Die von den Beschwerdeführern insoweit erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken greifen indessen nicht durch.

121

b) Die Rechtschreibung ist einer staatlichen Regelung nicht von vornherein unzugänglich.

122

Das Grundgesetz enthält kein Verbot, die Rechtschreibung zum Gegenstand staatlicher Regelung zu machen. Ein solches Verbot folgt auch nicht daraus, daß der Staat zur Regelung der Rechtschreibung nicht ausdrücklich ermächtigt worden ist. Dem Grundgesetz liegt nicht die Vorstellung zugrunde, daß sich jede vom Staat ergriffene Maßnahme auf eine verfassungsrechtliche Ermächtigung zurückführen lassen müsse. Es geht vielmehr von der generellen Befugnis des Staates zum Handeln im Gemeinwohlinteresse aus, erlegt ihm dabei aber sowohl formell als auch materiell bestimmte Beschränkungen auf. Ein Regelungsverbot kann sich unter diesen Umständen nicht schon aus einer fehlenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung, sondern nur aus den verfassungsrechtlichen Schranken staatlicher Entscheidungen ergeben.

123

Auch aus der Eigenart der Sprache folgt kein absolutes Regelungsverbot. Die Annahme, die Sprache "gehöre" dem Volk, kann ein solches Verbot nicht begründen; denn weder bringt das "Gehören" eine Zuordnung im Rechtssinn zum Ausdruck noch könnte die der Annahme zugrunde liegende These, falls ihr rechtlicher Gehalt zukäme, eine staatliche Befassung verhindern. Daß ein Gegenstand dem Staat nicht "gehört", hindert diesen nicht daran, seinen Gebrauch bestimmten Regeln zu unterwerfen. Auch der Umstand, daß die Sprache nicht aus einer staatlichen Quelle fließt und sich im gesellschaftlichen Gebrauch von selbst entwickelt, steht einer staatlichen Regelung nicht entgegen. Diese Eigenschaften teilt die Sprache mit zahlreichen Regelungsgegenständen. Die Sprache unterscheidet sich von anderen Regelungsgegenständen auch nicht dadurch, daß bei ihr korrekturbedürftige Fehlentwicklungen - etwa im Sinn erschwerter Lehr- und Lernbarkeit - von vornherein ausgeschlossen wären. Der Staat kann die Sprache deswegen aber nicht beliebig regeln. Begrenzende Wirkungen ergeben sich aus der Eigenart der Sprache jedoch nur für Art und Ausmaß einer Regelung, nicht dagegen für eine Regelung überhaupt.

124

Auch ein generelles Verbot gestaltender Eingriffe in die Schreibung läßt sich dem Grundgesetz nicht entnehmen. Der Staat ist nicht darauf beschränkt, nur nachzuzeichnen, was in der Schreibgemeinschaft ohne seinen Einfluß im Lauf der Zeit an allgemein anerkannter Schreibung entstanden ist. Regulierende Eingriffe, die Widersprüche im Schreibusus und Zweifel an der richtigen Schreibung beseitigen oder - etwa aus Vereinfachungsgründen - bestimmte Schreibweisen erstmals festlegen, sind ihm ebenfalls grundsätzlich erlaubt. Für den Bereich der Schulen kann er sich zudem auf Art.7 Abs.1 GG berufen, der dem Staat mit der Aufsicht über das Schulwesen auch die Befugnis zuweist, Bestimmungen über Art und Inhalt des Schulunterrichts zu treffen (vgl BVerfGE_34,165 <182>; BVerfGE_47,46 <71 f, BVerfGE_80 f>; BVerfGE_52, 223 <236>). Die Festlegung der Regeln und Schreibweisen der deutschen Rechtschreibung ist davon nicht ausgenommen. Lehrer wie Schüler benötigen möglichst sichere, verbindliche, aber auch verständliche Grundlagen für richtiges Lehren und Lernen der deutschen Schreibung sowie zuverlässige Maßstäbe für die Benotung der insbesondere im Rechtschreibunterricht geforderten schulischen Leistungen.

125

Mit Rücksicht darauf waren Regelungen über die richtige Schreibung in der deutschen Orthographiegeschichte zumindest seit der Mitte des 19.Jahrhunderts immer auch, wenn nicht zuvörderst, eine Sache von Staat und Schule. Dabei bestanden die für die Schule aufgestellten Rechtschreibregeln nicht nur aus einer Wiedergabe dessen, was sich im außerstaatlichen Bereich auf gewissermaßen natürlichem Wege an Schreibkonventionen herausgebildet hatte. Die im Schulunterricht vermittelten Regeln und Schreibweisen waren vielmehr - zumindest teilweise - auch das Ergebnis normierender staatlicher Entscheidung. Schon die Schulorthographien des 19.Jahrhunderts stellten, soweit sie in dem Bestreben um eine einheitliche Schreibung in dem jeweiligen Land bestimmte Schreibweisen von der Anerkennung durch die amtlichen Regeln ausschlossen, eine bewußte und gezielte staatliche Einflußnahme auf Art und Inhalt der Rechtschreibung dar. Gleiches galt für die Ergebnisse der staatlichen Orthographiekonferenz von 1901. Daß und in welchem Umfang der Staat die Befugnis für sich in Anspruch nahm, auch verändernd in den Schreibusus einzugreifen, zeigen im übrigen Reformvorschläge wie die Wiesbadener Empfehlungen von 1958, auch wenn sich diese nicht durchsetzen konnten.

126

Selbst der Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 18./19.November 1955, der für Zweifelsfälle die im Duden jeweils gebrauchten Schreibweisen und Regeln für verbindlich erklärte, führte schwerlich nur zum Nachvollzug außerstaatlicher Schreibentwicklung. Nach den Worten des früheren Leiters der Dudenredaktion tradieren deren Mitarbeiter bei der von ihnen betriebenen "Sprachpflege" "nicht blind überkommene sprachliche Normen, sondern überprüfen sie und bestimmen sie gegebenenfalls neu" (vgl Drosdowski, aaO, S.30 f.). Auch wenn man diese Bewertung der Tätigkeit der Dudenredaktion für zu weitgehend hält, wie dies in der mündlichen Verhandlung eingewandt worden ist, läßt sich eine normative Einflußnahme des Dudens auf die deutsche Schriftsprache jedenfalls im Grundsatz nicht ausschließen, zumal eine scharfe Grenzziehung zwischen reiner Deskription und regulierender Präskription schon angesichts der Uneinheitlichkeit und Wandelbarkeit des Schreibgebrauchs kaum möglich sein dürfte. Nahm der Duden eine Änderung auf, wechselte mit diesem Vorgang die betroffene Schreibung aus dem Status des Fehlers in den der Norm.

127

c) Der Runderlaß des schleswig-holsteinischen Kultusministeriums ist auch nicht deshalb von Verfassungs wegen zu beanstanden, weil Regelungen dieser Art nicht von den Ländern getroffen werden könnten.

128

Der Erlaß dient der Umsetzung der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung "an den Schulen in Schleswig-Holstein". Er berücksichtigt damit, daß das neue Regelwerk nach Nr.2 des Beschlusses der Kultusministerkonferenz vom 30.November/1.Dezember 1995 die "verbindliche Grundlage für den Unterricht in allen Schulen" sein soll. In dieser Funktion beziehen sich Regelwerk und Erlaß auf einen Gegenstand des Schulwesens, das vom Grundgesetz - vorbehaltlich eines Zusammenwirkens von Bund und Ländern gemäß Art.91b GG - der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder zugewiesen ist (vgl BVerfGE_53,185 <195 f>; BVerfGE_59,360 <377>).

129

An dieser Zuordnung ändert es nichts, daß die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung nach Nr.1 ihres Vorworts "zur Sicherung einer einheitlichen Rechtschreibung Vorbildcharakter für alle" haben soll, "die sich an einer allgemein gültigen Rechtschreibung orientieren möchten". Zum Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule gehört es nach der Formulierung in § 4 Abs.1 und 3 SchulG, Schülerinnen und Schüler durch Vermittlung der dafür benötigten Kenntnisse und Fertigkeiten zu befähigen, in einer sich ständig wandelnden Welt ein erfülltes und erfolgreiches Leben in Staat, Gesellschaft und Beruf zu führen. Die Schule wirkt von daher notwendig nach außen, beeinflußt Verhaltensweisen des Einzelnen und schafft Werte auch für das soziale Miteinander der Menschen. Das gilt nicht erst dann, wenn Schülerinnen und Schüler die Schule verlassen und das Erlernte in der Gesellschaft verwenden, sondern unabhängig davon, weil Zielsetzungen und Werte, die in der Schule vermittelt werden, stets in den außerschulischen Bereich ausstrahlen. Die Vermittlung der Kenntnis richtiger Schreibung der eigenen Sprache durch die Schule ist dafür, wie die Geschichte der deutschen Rechtschreibung zeigt, ein anschauliches Beispiel.

130

Einer Regelungsbefugnis der Länder steht auch nicht entgegen, daß Schreibung als Kommunikationsmittel im gesamten Sprachraum ein hohes Maß an Einheitlichkeit voraussetzt, wenn die grundrechtlich verbürgte Kommunikationsmöglichkeit erhalten bleiben soll. Den Ländern ist die Herstellung von Einheitlichkeit verfassungsrechtlich im Wege der Selbstkoordinierung, durch Abstimmung mit dem Bund und durch Absprachen mit auswärtigen Staaten, in denen deutsch in einem ins Gewicht fallenden Umfang gesprochen und geschrieben wird, auf der Grundlage des Art.32 Abs.3 GG möglich. Im Fall der Rechtschreibreform sind sie diesen Weg auch tatsächlich gegangen. Im Dezember 1995 und März 1996 haben die Ministerpräsidenten der Länder dem Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 30.November/1.Dezember 1995 zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung zugestimmt, im April 1996 hat die Bundesregierung diesen Beschluß zustimmend zur Kenntnis genommen, und am 1.Juli 1996 haben der Präsident der Kultusministerkonferenz für die Länder, der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern für den Bund sowie Vertreter Österreichs, der Schweiz, Belgiens, Italiens, Liechtensteins, Rumäniens und Ungarns für die dortigen deutschsprachigen Gemeinschaften die Wiener Absichtserklärung unterzeichnet.

131

Daß der Bund, wie die Vertreter der Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung erklärt haben, die Übernahme der Rechtschreibreform in die Amts- und Justizsprache des Bundes zum 1.August 1998 vorerst ausgesetzt hat und Niedersachsen die neuen Rechtschreibregeln an seinen Schulen derzeit nicht anwendet, stellt das damit erzielte Einvernehmen nicht grundsätzlich in Frage. Das Erfordernis eines hohen Maßes an einheitlicher Schreibung, ohne welches Lesbarkeit und Verständlichkeit von Texten und damit Kommunikation zwischen den Schreibenden nicht möglich sind, bedeutet nicht notwendig Übereinstimmung in allen Einzelheiten. Deshalb hat das Ausscheren eines Beteiligten aus dem Kreis derer, die sich zuvor auf gemeinsame Regeln und Schreibweisen verständigt haben, verfassungsrechtlich nicht notwendig die Unzulässigkeit der Neuregelung zur Folge, wenn Kommunikation im gemeinsamen Sprachraum trotzdem weiterhin stattfinden kann. Die Entscheidung Niedersachsens, in den Schulen wieder nach den alten Rechtschreibregeln zu unterrichten, betrifft im übrigen, wie die Vertreter des Landes in der mündlichen Verhandlung erklärt haben, nur die bis zum 31.Juli 1998 geltende Übergangsregelung; die Einführung der Neuschreibung zum 1.August 1998 wird davon nicht berührt.

132

d) Der Erlaß des schleswig-holsteinischen Kultusministeriums ist verfassungsrechtlich auch nicht deshalb bedenklich, weil es für die Einführung der neuen Rechtschreibregeln in den Schulunterricht einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedurft hätte.

133

aa) Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, daß das Oberverwaltungsgericht im angegriffenen Beschluß das geltende Schulrecht des Landes Schleswig-Holstein, insbesondere die §§ 4 und 11 SchulG, als ausreichende Grundlage für die Umsetzung der Rechtschreibreform an den Schulen des Landes angesehen hat. In § 4 SchulG werden die Bildungs- und Erziehungsziele der Schule bestimmt, die im Hinblick auf das Recht des jungen Menschen auf eine seiner Begabung, seinen Fähigkeiten und seiner Neigung entsprechende Erziehung und Ausbildung wie auf das Recht der Eltern auf eine Schulbildung ihres Kindes (vgl Absatz 1) unter anderem darauf gerichtet sind, diesem zu der Fähigkeit zu verhelfen, Verantwortung im privaten, familiären und öffentlichen Leben zu übernehmen und für sich und andere Leistungen zu erbringen (Absatz 3 Satz 2). Die Grundkenntnisse und Grundfertigkeiten, die zur Erlangung dieser Fähigkeit notwendig sind, vermittelt gemäß § 11 Abs.1 Satz 1 SchulG die Grundschule, die derzeit die Kinder der Beschwerdeführer besuchen. Daß dazu auch Grundkenntnisse und Grundfertigkeiten im Lesen und Schreiben der deutschen Sprache gehören, hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt. Verfassungsrechtlich sind dagegen Bedenken nicht zu erheben.

134

bb) Die Vorschriften des Schleswig-Holsteinischen Schulgesetzes scheiden als Grundlagen für die Umsetzung der Rechtschreibreform nicht deswegen aus, weil es im Hinblick auf deren Inhalt, Reichweite und Konsequenzen einer besonderen gesetzlichen Regelung bedürfte.

135

(1) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer zwingt der Vorbehalt des Gesetzes nicht zu einer solchen Regelung.

136

(a) Dieser Grundsatz verlangt, daß staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen durch förmliches Gesetz legitimiert wird. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, und darf sie nicht anderen Normgebern überlassen. Wann es danach einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf, läßt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den darin verbürgten Grundrechten, zu entnehmen (vgl BVerfGE_40,237 <248 ff>; BVerfGE_49,89 <126 f>; BVerfGE_95,267 <307 f>). Danach bedeutet wesentlich im grundrechtsrelevanten Bereich in der Regel "wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" (vgl BVerfGE_47,46 <79> mwN; BVerfGE_83,130 <140>). Die Tatsache, daß eine Frage politisch umstritten ist, führt dagegen für sich genommen nicht dazu, daß diese als wesentlich verstanden werden müßte (vgl BVerfGE_49,89 <126>). Zu berücksichtigen ist im übrigen auch, daß die in Art.20 Abs.2 GG als Grundsatz normierte organisatorische und funktionelle Unterscheidung und Trennung der Gewalten auch darauf zielt, daß staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen. Dieses Ziel darf nicht durch einen Gewaltenmonismus in Form eines umfassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen werden (vgl BVerfGE_68,1 <86 f>).

137

(b) Der Vorbehalt des Gesetzes ist - mit diesen Maßgaben - auch auf dem Gebiet des Schulwesens zu beachten (vgl BVerfGE_34,165 <192 f>; BVerfGE_41,251 <259 f>; BVerfGE_45,400 <417 ff>; BVerfGE_47,46 <78 ff>; BVerfGE_58,257 <268 ff>). Ob und inwieweit dies Regelungen des parlamentarischen Gesetzgebers erfordert, richtet sich allgemein nach der Intensität, mit der die Grundrechte des Regelungsadressaten durch die jeweilige Maßnahme betroffen sind (vgl BVerfGE_58,257 <274>). Speziell in bezug auf Art.6 Abs.2 Satz 1 GG ist von Bedeutung, ob die Grenzen im Spannungsfeld zwischen dem in Art.7 Abs.1 GG vorausgesetzten Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates und dem elterlichen Erziehungsrecht in substantieller Hinsicht zu Lasten des Elternrechts verschoben werden.

138

(2) Nach diesen Maßstäben ist für die Einführung der neuen Rechtschreibregeln im Schulunterricht der Länder eine besondere gesetzliche Grundlage nicht erforderlich.

139

(a) Die Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern nach der reformierten Rechtschreibung ist für die Ausübung des Elternrechts nicht von wesentlicher Bedeutung.

140

(aa) Zwar gehört zum Erziehungsrecht der Eltern aus Art.6 Abs.2 Satz 1 GG auch das Recht, die Sprachkompetenz ihrer Kinder zu fördern, ihnen die Kenntnis der Rechtschreibregeln zu vermitteln und sie zu schriftlicher Kommunikation mit Eltern und Dritten zu befähigen. Rechtschreibunterweisung ist indessen nicht in erster Linie eine Sache der Eltern. Sie hat vielmehr im Spannungsverhältnis zwischen Elternrecht und staatlichem Erziehungsauftrag traditionell eine größere Affinität zum schulischen Bereich als zum Einwirkungsbereich der Eltern (vgl zu diesem Aspekt BVerfGE_47,46 <75>). Zumindest seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht sind der Rechtschreibunterricht und die Bestimmung seiner Grundlagen vornehmlich eine Aufgabe von Staat und Schule; die Eltern werden bei der Vermittlung richtigen Schreibens, wenn überhaupt, nur begleitend und unterstützend tätig. Auch wenn die Rechtschreibung staatlichen Normen unterliegt, ist die darauf beruhende Rechtschreibunterweisung wertfreie Wissensvermittlung, für die die Schule als darauf vorbereitete und mit entsprechend befähigtem Personal ausgestattete staatliche Einrichtung am ehesten geeignet ist und die deshalb zum typischen Aufgabenbereich dieser Einrichtung gehört (vgl BVerfGE_47,46 <75>). Daß Rechtschreibunterricht den Erziehungsplan der Eltern ernsthaft beeinträchtigen könnte, ist nicht ersichtlich.

141

(bb) An dieser Einschätzung ändert es nichts, daß durch die vorliegende Rechtschreibreform im Schulunterricht Rechtschreibregeln und Schreibweisen eingeführt werden, die nicht nur das Ergebnis einer historisch gewachsenen, vom Staat unbeeinflußten Schreibentwicklung sind und auch nicht lediglich eine sich im gesellschaftlichen Bereich immerhin anbahnende Schreibentwicklung vorwegnehmen, sondern jedenfalls teilweise auf reformerische Entscheidungen staatlicher Entscheidungsträger zurückgehen. Zwar wird dies dazu führen, daß Eltern, die wie die Beschwerdeführer an der traditionellen Rechtschreibung festhalten wollen, (auch) im Umgang mit ihren Kindern mit Schreibweisen konfrontiert werden, die sie für sich und für ihre Kinder ablehnen. Doch sind die Auswirkungen der konkreten Regelungen über die neue Schreibung auf das Elternrecht nicht so gewichtig, daß die Inhalte und Regeln dieser Schreibung durch eine Leitentscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers legitimiert werden müßten.

131

Wie auch die Beschwerdeführer nicht in Abrede stellen, sind die Änderungen, die die Rechtschreibreform bewirkt, im Umfang verhältnismäßig gering; nach der Darstellung in der Stellungnahme der Kultusministerkonferenz, die in diesem Punkt in der mündlichen Verhandlung nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen worden ist, betrifft die Reform quantitativ, abgesehen von der Änderung der bisherigen ß-Schreibung, nur 0,5 vom Hundert des Wortschatzes. Aber auch qualitativ halten sich die Neuregelung und ihre Folgen für die schriftliche Kommunikation in engen Grenzen. Nach den Eindrücken, die der Senat in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, besteht kein Anlaß, die von der Einschätzungsprärogative des schleswig-holsteinischen Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur getragene Prognose in Frage zu stellen, auf der Grundlage der neuen Rechtschreibregeln lasse sich das richtige Schreiben der deutschen Sprache leichter erlernen. Dies gilt auch dann, wenn mit den Beschwerdeführern und einem Teil der in der mündlichen Verhandlung gehörten Sprachwissenschaftler davon ausgegangen wird, daß den Vorteilen der Reform auch Nachteile, etwa Erschwernisse im Teilbereich der Getrennt- und Zusammenschreibung, gegenüberstehen. Unabhängig davon werden Schriftbild und Lesbarkeit von Texten durch die neuen Regeln und Schreibweisen kaum, zumindest nicht in dem Maße beeinträchtigt, daß darunter ernstlich Verständlichkeit und Verständigung litten. Schriftliche Kommunikation ist deshalb weiterhin möglich, und zwar auch zwischen "Altschreibern", die in ihren Texten unverändert die traditionelle Schreibung verwenden, und "Neuschreibern", die den reformierten Schreibweisen folgen. In der mündlichen Verhandlung haben das im Grunde auch die Kritiker der Rechtschreibreform nicht bestritten.

143

Vor diesem Hintergrund ist nicht zu erkennen, daß die Beschwerdeführer gehindert wären, ihre Kinder, nachdem diese sich die neue Schreibung angeeignet haben, auch mit den traditionellen Schreibweisen vertraut zu machen, ihnen eigene Bücher zum Lesen zu geben und sie an die klassische Literatur in deren ursprünglicher Schreibweise heranzuführen. Da die Unterschiede zwischen herkömmlicher und neuer Rechtschreibung die Lesbarkeit alter wie neuer Texte praktisch nicht beeinträchtigen, kann auch nicht angenommen werden, daß eine auf diesen Unterschieden beruhende Hemmschwelle für Kinder, die Bücher ihrer Eltern zu lesen, nennenswert ins Gewicht fällt. Die Gefahr einer Verunsicherung der Kinder durch die verschiedenen Schreibweisen erscheint ebenfalls als eher gering. Verwechslungen, die im Einzelfall infolge der Konfrontation mit älteren Texten trotzdem unterlaufen, bleiben auch in der Schule auf lange Zeit folgenlos, weil dort bis mindestens Ende Juli 2005 bei schriftlichen Leistungsnachweisen bisherige Schreibweisen nicht als Fehler, sondern lediglich als überholt gekennzeichnet werden. Es ist deshalb auch nicht ersichtlich, daß das Interesse der Eltern an möglichst guten Leistungsnachweisen ihrer Kinder durch die neue Schreibung beeinträchtigt wird.

144

Daß die Beschwerdeführer bei der Hausaufgabenbetreuung ihrer Kinder nicht mehr wie bisher allein auf ihr in der Schule erlerntes Schreibwissen zurückgreifen können, sondern sich dabei auf die neue Rechtschreibung einlassen müssen, berührt ihr Erziehungsrecht angesichts des geringen Umfangs der Reform und ihrer Auswirkungen ebenfalls nicht derart schwer, daß sich daraus die Notwendigkeit einer spezialgesetzlichen Fundierung der Rechtschreibreform herleiten ließe. Es ist in diesem Zusammenhang auch nicht erkennbar, inwieweit die elterliche Autorität darunter leiden könnte, daß in der Schule Rechtschreibregeln gelehrt werden, von denen das elterliche Schreibverhalten abweicht. Zum einen ist auch hier zu berücksichtigen, daß die Verwendung der traditionellen Schreibweisen im Schulunterricht bis mindestens Ende Juli 2005 nicht als Fehler gewertet werden wird. Zum anderen bleibt abzuwarten, inwieweit sich in den kommenden Jahren die neue Schreibweise auch bei den Eltern durchsetzen wird. Außerdem entspricht es allgemeiner Erfahrung, daß Wissen und Können von Eltern im Prozeß der Fortentwicklung und Erneuerung von Unterrichtsgegenständen und -inhalten häufig nicht mit dem Schritt halten können, was ihren Kindern in der Schule aktuell gelehrt wird. Eine Autoritätseinbuße der Eltern in der Folge der Rechtschreibreform ist daher bei lebensnaher Betrachtung nicht zu besorgen. 145

145

(cc) Einführung und Anwendung der neuen Rechtschreibregeln im Bereich der Schulen sind für das Elternrecht schließlich nicht deshalb wesentlich, weil mit der Umsetzung der Rechtschreibreform im Gefolge einer schul- und bildungspolitischen Grundsatzentscheidung neue Groblernziele (vgl BVerfGE_47,46 <83>) festgelegt worden wären.

146

Wie unter C I 2 d aa schon ausgeführt, ist nach der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Auslegung des Oberverwaltungsgerichts in den §§ 4, 11 Abs.1 Satz 1 SchulG festgelegt, daß zu den Zielen des Unterrichts an den Grundschulen die Unterweisung im richtigen Schreiben der deutschen Sprache gehört. Daran ändert sich durch die Rechtschreibreform nichts. Allerdings erhält der Unterrichtsgegenstand, erhalten Rechtschreibregeln und die Schriftsprache selbst infolge der Neuregelung einen teilweise anderen Inhalt. Diese ist jedoch, wie dargelegt, quantitativ wie qualitativ nicht so gewichtig, daß sie einer Änderung bisheriger oder der Festlegung neuer Groblernziele gleichkäme. Jedenfalls für eine Reform dieses Zuschnitts reichen die §§ 4, 11 Abs.1 Satz 1 SchulG als Grundlagen zur Umsetzung im Bereich der Grundschulen aus. Es ist nicht erkennbar und auch nicht geltend gemacht worden, daß für die anderen Schularten, soweit dort richtiges Schreiben ebenfalls zum Lehr- und Lernstoff gehört, nach den für sie geltenden schulartspezifischen Vorschriften (vgl §§ 12 ff SchulG) anderes gelten könnte.

147

Diese Beurteilung berücksichtigt auch, daß Sachkompetenz und Nähe zur schulischen Praxis die Kultusverwaltungen für die Entscheidung über Notwendigkeit, Inhalt, Ausmaß und Zeitpunkt einer Rechtschreibreform besonders qualifizieren. Wie Rechtschreibregeln und davon gegebenenfalls abweichender Schreibgebrauch unter dem Gesichtspunkt der Erlernbarkeit der Schriftsprache durch Schülerinnen und Schüler zu beurteilen sind, ob und auf welche Weise Vereinfachungen für das Schreibenlernen in den Schulen herbeigeführt werden können, ohne daß die Lesbarkeit von Texten wesentlich beeinträchtigt wird, und wie gegebenenfalls neue Rechtschreibregeln und Schreibweisen in den Schulunterricht eingeführt werden sollten, sind pädagogische, sprachwissenschaftliche und schulpraktische Fragen, für deren Beantwortung die zuständigen Fachverwaltungen grundsätzlich besser ausgerüstet erscheinen als die Landesparlamente und deren Behandlung deshalb auch in der Vergangenheit nahezu ausschließlich der Exekutive anvertraut war.

148

(b) Die Erteilung von Rechtschreibunterricht nach den neuen Regeln ist auch für die Grundrechtsausübung der betroffenen Schülerinnen und Schüler nicht in dem Sinne wesentlich, daß dafür eine parlamentarische Leitentscheidung herbeigeführt werden müßte.

149

(aa) Zwar werden durch die Erlaßregelung des schleswig-holsteinischen Kultusministeriums vom 5.November 1996 auch Grundrechte der die Schule besuchenden Kinder berührt. Diese haben nach Art.2 Abs.1 GG ein Recht auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung ihrer Persönlichkeit auch im Bereich der Schule und damit Anspruch auf eine Entfaltung ihrer Anlagen und Befähigungen im Rahmen schulischer Ausbildung und Erziehung (vgl BVerfGE_45,400 <417>; Senatsbeschluß vom 8.Oktober 1997 - 1 BvR 9/97 - NJW 1998, S.131 <132>). Außerdem können sie nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verlangen, daß der Staat bei der Festlegung der Unterrichtsinhalte auf ihr Persönlichkeitsrecht Rücksicht nimmt (vgl BVerfGE_47,46 <69, 73 f, 75> ). Auch diese Rechte stehen in einer Spannungslage zu dem Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates nach Art.7 Abs.1 GG (vgl BVerfGE_47,46 <74>), indem sie einerseits Beschränkungen hinnehmen müssen, die durch diesen Auftrag gerechtfertigt sind, andererseits aber ihrerseits die auf Art. 7 Abs. 1 GG beruhenden staatlichen Befugnisse begrenzen (vgl Senatsbeschluß vom 8.Oktober 1997 ). Hier in den Grundzügen den notwendigen Ausgleich herzustellen, ist ebenfalls Sache des Gesetzgebers (vgl BVerfGE_47,46 <80>).

150

(bb) Der Gesetzgeber des Landes Schleswig-Holstein hat sich dieser Aufgabe im Schulgesetz auch mit Blick auf die Schülergrundrechte bereits in ausreichendem Maße unterzogen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob und inwieweit durch die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung die Freiheit der Schülerinnen und Schüler zur Entfaltung ihrer individuellen Anlagen und Fähigkeiten sowie ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht eingeschränkt werden. Auch wenn man eine Grundrechtsbeschränkung annimmt, war eine über die Vorschriften des Landesschulrechts hinausgehende gesetzliche Regelung für die Umsetzung der Rechtschreibreform nicht erforderlich.

151

Dazu kann im wesentlichen auf die Ausführungen unter C I 2 d bb zur Bedeutung und zu den Konsequenzen der Reform für das elterliche Erziehungsrecht Bezug genommen werden. Diese Ausführungen gelten in weitem Umfang sinngemäß auch für die Grundrechtsausübung der durch die neuen Rechtschreibregeln und Schreibweisen betroffenen Schülerinnen und Schüler. Entscheidend ist auch hier, daß nach den verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Annahmen der Kultusverwaltung die Neuregelung auf seiten der Schüler zum erleichterten Erlernen der Schriftsprache führen wird, Lesbarkeit und Verständlichkeit nach den neuen Regeln geschriebener Texte nicht ernsthaft beeinträchtigt werden und die Kommunikation der nach diesen Regeln ausgebildeten Schüler auch mit solchen Personen möglich bleibt, die weiter die traditionellen Schreibweisen bevorzugen. Schulanfänger werden darüber hinaus durch die Reform nicht einmal zu einem Umlernen gezwungen.

152

(c) Wesentlichkeit im Sinne der Rechtsprechung zum Vorbehalt des Gesetzes erlangt die Umsetzung der Rechtschreibreform im Bereich der Schulen schließlich auch nicht im Hinblick auf die Grundrechtsausübung Dritter. Insbesondere erfordern die wirtschaftlichen Folgen der Reform für Verlage und sonstige Wirtschaftsunternehmen keine spezialgesetzliche Grundlage für Einführung und Anwendung der neuen Regeln und Schreibweisen. Durch die Neuregelung wird weder die Berufsfreiheit aus Art.12 Abs.1 GG noch die durch Art.2 Abs.1 GG gewährleistete wirtschaftliche Betätigungsfreiheit berührt.

153

(aa) Art.12 Abs.1 GG schützt nur vor solchen Beeinträchtigungen, die gerade auf die berufliche Betätigung bezogen sind. Es genügt also nicht, daß eine Regelung oder ihre Anwendung unter bestimmten Umständen Rückwirkungen auf die Berufstätigkeit entfaltet. Ein Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit liegt vielmehr erst vor, wenn die Regelung, gegen deren Erlaß oder Anwendung sich der Einzelne wendet, berufsregelnde Tendenz hat (vgl BVerfGE_95,267 <302> mwN).

154

Daran fehlt es hier. Zwar wirkt sich, wie die schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und des Verbands der Schulbuchverlage gezeigt haben, die Rechtschreibreform in vielfältiger Weise auch auf die berufliche Tätigkeit aus. Insbesondere Buch-, Zeitungs- und Zeitschriftenverlage müssen darüber befinden, ob, in welchem Umfang und ab wann sie ihre Publikationen in alter oder neuer Schreibung drucken und auf dem Markt zum Erwerb anbieten wollen. Entsprechendes gilt für Presseagenturen, Hersteller von Rechtschreibprogrammen und alle Unternehmen und Betriebe, die intern wie extern ihren Geschäftsverkehr auf EDV-Basis abwickeln. Entschließen sie sich zur Umstellung ihrer Produkte und Programme auf die reformierten Schreibweisen, hat das nicht nur erhebliche Investitionskosten zur Folge, sondern auch Auswirkungen auf interne Betriebsabläufe sowie Absatzplanung, Kundenwerbung oder Personalschulung. Das gibt der Rechtschreibreform jedoch keinen berufsregelnden Charakter. Diese bleibt vielmehr auf den Unterricht in den Schulen ausgerichtet und löst kraft der ihr zugedachten Vorbildfunktion lediglich mittelbar Folgewirkungen in allen mit der Schriftsprache befaßten oder konfrontierten Bereichen aus. Bei Unternehmen wie den genannten Verlagen verändern sich dadurch Marktdaten und Rahmenbedingungen, was neue unternehmerische Entscheidungen erfordert. Gegen solche Veränderungen des Marktgeschehens schützt das Grundrecht der Berufsfreiheit nicht, selbst wenn sie vom Staat ausgehen (vgl BVerfGE_37,1 <17 f>).

155

(bb) Auch Art.2 Abs.1 GG ist insoweit nicht berührt. Zwar genießt danach als Ausfluß der allgemeinen Handlungsfreiheit auch die wirtschaftliche Betätigung grundrechtlichen Schutz (vgl BVerfGE_91,207 <221> mwN). Doch wird die wirtschaftliche Handlungsfreiheit nur durch Maßnahmen betroffen, die auf Beschränkung wirtschaftlicher Entfaltung sowie Gestaltung, Ordnung oder auch Lenkung des Wirtschaftslebens angelegt sind oder sich in diesem Sinne auswirken (vgl BVerfGE_50,290 <366>; BVerfGE_91,207 <221>). Davon kann hier nicht die Rede sein. Die Einführung der Rechtschreibreform im Schulunterricht läßt die wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit der Unternehmen, auf deren wirtschaftliche Betätigung sie zurückwirkt, unberührt. Diese sind nicht gehindert, sich unter Abwägung der damit jeweils verbundenen wirtschaftlichen Chancen und Risiken für oder gegen eine Umstellung ihrer Produkte und Unternehmensabläufe auf die neue Rechtschreibung zu entscheiden. Soweit sich dies bei Schulbuchverlagen aufgrund deren besonderer Marktstellung anders verhält, ist zu berücksichtigen, daß Art.2 Abs.1 GG dem Grundrechtsträger keinen Anspruch darauf verleiht, für das Ergebnis wirtschaftlicher Betätigung einen Abnehmer zu finden.

156

e) Die Einführung der neuen Rechtschreibung an den Schulen des Landes Schleswig-Holstein verletzt auch in sachlicher Hinsicht das Erziehungsrecht der Beschwerdeführer nicht.

157

Das Elternrecht des Art.6 Abs.2 Satz 1 GG wird durch die Reform jedenfalls nicht unverhältnismäßig eingeschränkt. Das Ziel, das Erlernen richtigen Schreibens durch Vereinfachung der Rechtschreibregeln und Schreibweisen zu erleichtern, ist ein Gemeinwohlbelang, durch den die Neuregelung verfassungsrechtlich hinreichend gerechtfertigt ist. Nach vertretbarer Einschätzung des Landes ist die Rechtschreibreform geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Durch die Anwendung der neuen Rechtschreibung im Schulunterricht werden die Eltern bei der Ausübung ihres Erziehungsrechts auch nicht unangemessen beeinträchtigt. Das ist bereits oben zum Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes ausgeführt worden (vgl C I 2 d bb).

158

Ob und inwieweit die Beschwerdeführer nach Art.6 Abs.2 Satz 1 GG auch geltend machen können, daß die Unterrichtung ihrer Kinder nach den neuen Rechtschreibregeln die Kinder selbst unverhältnismäßig belaste, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Denn jedenfalls sind Anhaltspunkte dafür, daß die Umsetzung der Neuregelung für Schülerinnen und Schüler unzumutbare Konsequenzen haben könnte, im Verfahren nicht hervorgetreten. Die Rechtschreibänderungen fallen quantitativ und qualitativ nicht besonders ins Gewicht (vgl C I 2 d bb), und der Erlaß vom 5.November 1996 enthält Übergangsregelungen, die den Belangen der Schüler angemessen Rechnung tragen.

159

Danach wird in der Zeit bis zum 31.Juli 1998 die neue Schreibung neben der alten als korrekt akzeptiert und vorrangig verwendet. Die Verwendung bisheriger - im Erlaß als überholt bezeichneter - Schreibweisen wird also nicht untersagt, wenn auch nicht mehr geübt und - so gesehen - nur noch geduldet. Dem entspricht es, daß bei der Beurteilung schriftlicher Leistungsnachweise nur solche Schreibungen als Fehler gewertet werden, die auch nach der Neuregelung nicht zulässig sind. Auch schriftliche Arbeiten in traditioneller Schreibung führen demnach nicht zu Nachteilen für Schülerinnen und Schüler. Im Ergebnis wird daran auch für die Zeit vom 1.August 1998 bis zum 31.Juli 2005 festgehalten, weil der Erlaß für diese zweite Übergangsphase vorsieht, daß bisherige Schreibweisen weiterhin nicht als falsch, sondern lediglich als überholt gekennzeichnet, allerdings nunmehr bei Korrekturen durch die neuen Schreibweisen ergänzt werden. Erst vom 1.August 2005 an sollen danach die neuen Rechtschreibregeln und Schreibweisen in den Schulen in dem Sinne verbindlich werden, daß Abweichungen davon in schriftlichen Leistungsnachweisen sich auf die Benotung negativ auswirken. Doch soll auch dies nur der Fall sein, wenn die Kultusministerkonferenz von der in dem Beschluß vom 30.November/1.Dezember 1995 vorbehaltenen Möglichkeit, die Übergangsfrist zu verlängern, keinen Gebrauch macht. Auch diese Regelung zeigt, daß Schülerinnen und Schüler in Schleswig-Holstein behutsam und schonend in einer langen Phase des durch das Nebeneinander von alter und neuer Schreibung gekennzeichneten Übergangs an die letztere herangeführt werden sollen.

160

Überdies sieht Art.3 der Wiener Absichtserklärung eine ständige Beobachtung der Sprachentwicklung durch die Zwischenstaatliche Kommission für die deutsche Rechtschreibung vor, die erforderlichenfalls Vorschläge zur Anpassung des Regelwerks zu erarbeiten hat.

II.

161

Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen auch nicht gegen die Grundrechte der Beschwerdeführer aus Art.2 Abs.1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und Art.1 Abs.1 GG.

162

Das folgt, soweit die Beschwerdeführer mit der Rüge einer Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit und des Rechtsstaatsprinzips wiederum die Außerachtlassung des Gesetzesvorbehalts geltend machen wollen, aus den vorstehenden Ausführungen unter C I. Im übrigen kann offenbleiben, ob das allgemeine Freiheitsrecht des Art. 2 Abs.1 GG oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG dem Einzelnen einen Anspruch darauf gewährt, weiterhin so schreiben zu dürfen, wie dies bisheriger Übung der Schreibgemeinschaft entspricht. Denn jedenfalls würde in ein derartiges Recht durch die dem Runderlaß des schleswig-holsteinischen Kultusministeriums zugrunde liegende Neuregelung der deutschen Rechtschreibung nicht eingegriffen.

163

Soweit dieser Regelung rechtliche Verbindlichkeit zukommt, ist diese auf den Bereich der Schulen beschränkt. Personen außerhalb dieses Bereichs sind rechtlich nicht gehalten, die neuen Rechtschreibregeln zu beachten und die reformierte Schreibung zu verwenden. Sie sind vielmehr frei, wie bisher zu schreiben. Auch durch die faktische Breitenwirkung, die die Reform voraussichtlich entfaltet, werden sie daran nicht gehindert. Dies liegt für die Zeit bis zum 31.Juli 2005, dem Ende der für die Umsetzung der Rechtschreibreform an den Schulen geltenden regulären Übergangsfrist, auf der Hand. Solange bisherige Schreibweisen selbst im Schulunterricht nicht als falsch gelten, sondern nur als überholt gekennzeichnet werden, kann deren Verwendung auch in der allgemeinen Schreibgemeinschaft nicht zu negativen Beurteilungen führen.

164

Aber auch für die Zeit nach dem 31.Juli 2005 ist nicht erkennbar, daß ein Festhalten an den überkommenen Schreibweisen für den Schreibenden mit gesellschaftlichem Ansehensverlust oder sonstigen Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsentfaltung verbunden sein könnte. Die Schriftsprache wird sich wie bisher trotz bestehender amtlicher Regeln weiterentwickeln. Traditionelle Schreibweisen werden sich noch längere Zeit erhalten und, wie dies schon im ersten Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung vom Januar 1998 für eine Reihe von Fällen vorgeschlagen worden ist, als Schreibvarianten neben den reformierten Schreibweisen verwendet werden. Allenfalls auf lange Sicht läßt sich vorstellen, daß einzelne Schreibweisen von neuen - im hier behandelten Regelwerk enthaltenen oder später hinzugetretenen - abgelöst werden, sofern sich diese im Schreibusus der Schreibgemeinschaft durchsetzen. Es ist unter diesen Umständen nicht erkennbar, inwieweit durch die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung Grundrechte derjenigen, die ihrer Schreibung die alten Regeln und Schreibweisen zugrunde legen wollen, beeinträchtigt werden könnten.

III.

165

Schließlich ist auch der Anspruch der Beschwerdeführer auf rechtliches Gehör nicht verletzt. Das Oberverwaltungsgericht hat gegen Art.103 Abs.1 GG nicht verstoßen.

166

1. Art.103 Abs.1 GG gibt den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem für die jeweilige gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern, und verpflichtet das Gericht, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei kann es in besonderen Fällen geboten sein, die Verfahrensbeteiligten auf eine Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gericht seiner Entscheidung zugrunde legen will. Es kann im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte. Allerdings ist zu beachten, daß das Gericht grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet ist. Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, müssen daher die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einstellen (vgl BVerfGE_83,24 <35>; BVerfGE_86,133 <144 f> mwN).

167

2. Nach diesen Maßstäben ist der angegriffene Beschluß des Oberverwaltungsgerichts verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

168

a) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer hat das Oberverwaltungsgericht in den Gründen seiner Entscheidung die Bedeutung der Rechtschreibreform für die Spracherziehung in der Schule gewürdigt. Es hat die künftige Rechtschreibung in Beziehung gesetzt zum Schulauftrag nach den §§ 4 und 11 SchulG und für die Unbedenklichkeit der schulischen Einführung "einer künftig geltenden Schreibweise der deutschen Sprache" im Erlaßwege darauf abgestellt, daß sich die Schule lediglich allgemein zu erwartenden Rechtschreibänderungen anpasse. Dazu hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, daß es der Rechtschreibreform nicht nur um eine Änderung der Schreibweise im Unterricht und in der Amtssprache, sondern um eine Reform der Schreibweise der deutschen Sprache im deutschen Sprachraum überhaupt gehe und daß nach der nicht zu beanstandenden Prognose der Kultusverwaltung die Rechtschreibreform die für eine Sprachgeltung notwendige allgemeine Akzeptanz finden werde. Das Oberverwaltungsgericht hat die Bedeutung dieser Reform für den Schulunterricht also darin gesehen, daß sich an dessen Ziel, Schülern die allgemein üblichen Rechtschreibkenntnisse zu vermitteln, nichts ändern werde. Diese Auffassung liegt nicht so fern, daß es die Beteiligten vor dem Erlaß der angegriffenen Entscheidung darauf hätte hinweisen müssen.

169

b) Es bedurfte auch keines Hinweises auf die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts, für die Einführung der Rechtschreibreform an den Schulen sei ein Parlamentsgesetz nicht erforderlich, weil Rechtschreibung im deutschen Sprachraum nicht auf Rechtsnormen, sondern auf sprachlichen und damit außerrechtlichen Regeln beruhe. Daß Sprache und Schrift dem Einzelnen vorgegeben seien, nicht auf staatlichem Hoheitsakt beruhten und vorgesetzlichen Charakter hätten, ist in die rechtliche Auseinandersetzung mit der Rechtschreibreform nicht erst durch den Beschluß des Oberverwaltungsgerichts eingebracht worden. Es war dies vielmehr ein im Laufe dieser Auseinandersetzung schon vorher vorgebrachtes Argument (vgl etwa Kissel, NJW 1997, S.1097 <1100 f>). Die Beschwerdeführer konnten und mußten deshalb damit rechnen, daß dieser Gesichtspunkt auch für die Beschwerdeentscheidung des Oberverwaltungsgerichts Bedeutung erlangen könnte."

 

Auszug aus BVerfG U, 14.07.98, - 1_BvR_1640/97 -, www.BVerfG.de,  Abs.111

§§§

98.027 Versorgungszusagen
 
  1. BVerfG,     B, 15.07.98,     – 1_BvR_1554/89 –

  2. BVerfGE_98,365 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. AT GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.12 Abs.1; Art.32 Abs.3

T-98-13

1) Die Gleichbehandlung unterschiedlich hoher Versorgungszusagen desselben öffentlichen Arbeitgebers durch § 18 Betriebsrentengesetz bei vorzeitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist mit Art.3 Abs.1 GG unvereinbar.

Abs.73

2) Die Ungleichbehandlung der Verfallbarkeit von betrieblichen Altersrenten in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst durch das Betriebsrentengesetz verletzt den allgemeinen Gleichheitssatz.

Abs.88

3) Art.12 Abs.1 GG schützt Arbeitnehmer vor einem Verfall von betrieblichen Versorgungsanwartschaften, soweit dadurch die freie Wahl eines anderen Arbeitsplatzes in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt wird.

Abs.63

LB 4) Bei der Ordnung von Massenerscheinungen können typisierende und generalisierende Regelungen notwendig sein. Dabei entstehende Härten und Ungerechtigkeiten müssen hingenommen werden, wenn die Benachteiligung nur eine kleine Zahl von Personen betrifft und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist (vgl BVerfGE_79,87 <100>; BVerfGE_91,93 <115>).

 

LB 5) Stehen die wirtschaftlichen Folgen einer solchen Regelung jedoch in einem Mißverhältnis zu den mit der Typisierung verbundenen Vorteilen, so genügt diese dem Maßstab des Art.3 Abs.1 GG nicht (vgl BVerfGE_21,12 <27 f>; BVerfGE_48,22 <229>).

Abs.64

LB 6) Auch bei einer Typisierung unterliegt der Gesetzgeber einer strengeren Bindung, wenn sich die Regelung auf die Ausübung eines Grundrechts auswirken kann. LB 7) Der partielle Verfall einer Versorgungsanwartschaft wirkt sich auf die durch Art.12 Abs.1 GG garantierte Freiheit der Arbeitsplatzwahl aus. Der Umfang der Sicherung erdienter Versorgungsanwartschaften beeinflußt die Entscheidung eines Arbeitnehmers, einen anderen Arbeitsplatz zu wählen. Ihr Verfall behindert diese Freiheit.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. § 18 des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung vom 19.Dezember 1974 (Bundesgesetzblatt I Seite 3610), auch in der Fassung von Artikel 3 des Gesetzes über weitere Maßnahmen auf dem Gebiet des Versorgungsausgleichs vom 8.Dezember 1986 (Bundesgesetzblatt I Seite 2317) sowie in der Fassung der durch Artikel 33 Nummer 3 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992) vom 18.Dezember 1989 (Bundesgesetzblatt I Seite 2261) sowie in der Fassung durch Artikel 8 Nummer 19 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1999) vom 16.Dezember 1997 (Bundesgesetzblatt I Seite 2998), ist mit Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.

2. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 29.August 1989 - 3 AZR 737/87 -, das Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 10.September 1987 - 4 (3) Sa 244/87 - und das Urteil des Arbeitsgerichts Kiel vom 25.Februar 1987 - 4b Ca 2123/86 - verletzen den Beschwerdeführer zu 1) in seinen Grundrechten aus Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

3. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 11. März 1994 - 12 Sa 979/93 - und das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 5.Mai 1993 - 15 Ca 10694/92 - verletzen den Beschwerdeführer zu 2) in seinen Grundrechten aus Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

4. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 11.März 1994 - 12 (9) Sa 1351/93 - und das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 16.September 1993 - 14 Ca 10693/92 - verletzen die Beschwerdeführerin zu 3) in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

5. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer zu 1), das Land Nordrhein-Westfalen den Beschwerdeführern zu 2) und zu 3) die notwendigen Auslagen zu erstatten.

* * *

T-98-13Partieller Verfall

61

"In der Sache sind die Verfassungsbeschwerden erfolgreich. Sie führen zur Aufhebung der angegriffenen Urteile und zur Feststellung der Unvereinbarkeit der mittelbar angegriffenen Regelungen des § 18 BetrAVG mit dem Grundgesetz. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf einer Anwendung der genannten Vorschrift (in der Fassung von 1974). Diese hält einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Sie verletzt sowohl Art.3 Abs.1 GG (I und II) als auch Art.12 Abs.1 GG (III). Da die im Ausgangsverfahren ergangenen Urteile schon deswegen keinen Bestand haben können, erübrigt es sich, auf die von den Beschwerdeführern erhobenen Verfahrensrügen näher einzugehen. I.

62

Nach § 18 Abs.2 BetrAVG wird die Zusatzrente auf der Grundlage eines festen Vomhundertsatzes des maßgeblichen Arbeitsentgelts berechnet. Sie ist damit unabhängig von der Höhe der Versorgungszusage. Dies führt zu einer Gleichbehandlung von Arbeitnehmern innerhalb des öffentlichen Dienstes, die höchst unterschiedliche Versorgungszusagen haben: Ausscheidende Arbeitnehmer mit hohen Versorgungszusagen werden gegenüber anderen Arbeitnehmern benachteiligt. Diese Gleichbehandlung ist mit Art.3 Abs.1 GG nicht vereinbar.

63

1. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG gebietet dem Gesetzgeber, unter steter Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl BVerfGE_1,14 <52>; BVerfGE_13,46 <53>; stRspr). Zu einer Differenzierung bei ungleichen Sachverhalten ist der Gesetzgeber allerdings nur verpflichtet, wenn die tatsächliche Ungleichheit so groß ist, daß sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise nicht unberücksichtigt bleiben darf (vgl BVerfGE_1,264 <275 f>; BVerfGE_67,70 <85 f>). Bei der Ordnung von Massenerscheinungen können typisierende und generalisierende Regelungen notwendig sein. Dabei entstehende Härten und Ungerechtigkeiten müssen hingenommen werden, wenn die Benachteiligung nur eine kleine Zahl von Personen betrifft und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist (vgl BVerfGE_79,87 <100>; BVerfGE_91,93 <115>). Stehen die wirtschaftlichen Folgen einer solchen Regelung jedoch in einem Mißverhältnis zu den mit der Typisierung verbundenen Vorteilen, so genügt diese dem Maßstab des Art.3 Abs.1 GG nicht (vgl BVerfGE_21,12 <27 f>; BVerfGE_48,22 <229>).

64

Auch bei einer Typisierung unterliegt der Gesetzgeber einer strengeren Bindung, wenn sich die Regelung auf die Ausübung eines Grundrechts auswirken kann. Das ist hier der Fall. Der partielle Verfall einer Versorgungsanwartschaft wirkt sich auf die durch Art.12 Abs.1 GG garantierte Freiheit der Arbeitsplatzwahl aus. Der Umfang der Sicherung erdienter Versorgungsanwartschaften beeinflußt die Entscheidung eines Arbeitnehmers, einen anderen Arbeitsplatz zu wählen (so auch die Amtliche Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BTDrucks 7/1281, S.20). Ihr Verfall behindert diese Freiheit.

65

2. Bei der Berechnung der Zusatzrente nach § 18 Abs.2 BetrAVG bleibt die Höhe der jeweiligen Versorgungszusage unberücksichtigt. Maßgebliche Faktoren sind allein die Höhe des letzten Arbeitsentgelts und die Dauer der Betriebszugehörigkeit. Dieser Ansatz führt dazu, daß Zusatzrente und individuelle Versorgungszusage zumeist auseinanderfallen. Bei vielen Arbeitnehmern bleibt die Zusatzrente hinter der zeitanteilig reduzierten Versorgungszusage zurück. Das gilt in besonderem Maße für Arbeitnehmer mit Entgelten oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze. Bei ihnen wird die Differenz um so größer, je länger ihre Betriebszugehörigkeit andauert. So ergibt sich bei einem 55jährigen Arbeitnehmer mit Steuerklasse III/0 und einem Monatsgehalt von rund 16.000 DM nach 30jähriger Betriebszugehörigkeit ein Unterschied von rund 2.500 DM monatlicher Rentenanwartschaft. Individuelle Versorgungszusagen, die eine nur partielle Anrechnung der Sozialversicherungsrente vorsehen oder denen eine reine Bruttogesamtversorgung zugrunde liegt, führen zu noch drastischeren Unterschieden. Die den Beschwerdeführern und der Beschwerdeführerin erwachsenen Nachteile sind dafür ein Beispiel. Aber auch in unteren Gehaltsgruppen erleiden Arbeitnehmer vielfach fühlbare Einbußen. Andererseits gibt es auch Konstellationen, in denen die Zusatzrente die der Dauer der Betriebszugehörigkeit entsprechende Versorgungszusage übersteigt. In nicht wenigen Fällen wird dabei sogar die erst bei Erreichen der Altersgrenze fällige Versorgungsrente deutlich überschritten.

66

In dieser Einebnung unterschiedlicher Versorgungszusagen durch die Berechnungsformel des § 18 Abs.2 BetrAVG liegt eine Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte. Sie betrifft eine nicht geringe Zahl von Beschäftigten. Allein bei der VBL bezogen rund 15.000 aus dem öffentlichen Dienst ausgeschiedene Arbeitnehmer im Jahre 1997 eine Zusatzrente nach § 18 Abs.2 BetrAVG. Von diesen lag bei mehr als 500 Arbeitnehmern das letzte Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze. Betroffen sind aber nicht allein diejenigen, die aus dem öffentlichen Dienst ausscheiden. Die Regelung trifft vielmehr auch die nicht erfaßbare Zahl derer, die sich durch die Aussicht auf eine weitgehende Entwertung ihrer Versorgungsansprüche von einem Wechsel in einen freien Beruf oder in die Privatwirtschaft abhalten lassen.

67

3. Bei einer am Gerechtigkeitsdenken orientierten Betrachtung durften diese Unterschiede ohne hinreichend gewichtige Rechtfertigungsgründe nicht außer Betracht bleiben. Solche Gründe liegen nicht vor.

68

a) Der vom Bundesminister des Innern hervorgehobene Gesichtspunkt der Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes rechtfertigt für sich genommen die Vernachlässigung einer im Hinblick auf Art.3 Abs.1 GG wesentlichen Ungleichheit nicht. Besondere Typisierungsvorteile sind nicht erkennbar. Mit § 2 BetrAVG hat der Gesetzgeber selbst eine praktikable Lösung für die Berechnung unverfallbarer Rentenanwartschaften geschaffen, die die Höhe der jeweils erdienten Zusatzversorgung angemessen berücksichtigt und für alle Versorgungssysteme einschließlich der Gesamtversorgungszusagen gleichermaßen geeignet ist.

69

b) Ebensowenig kann die dargelegte Benachteiligung mit der Absicht des Gesetzgebers gerechtfertigt werden, für den Fall eines Arbeitsplatzwechsels bei Arbeitgebern innerhalb des öffentlichen Dienstes einen einheitlichen Versorgungsanspruch zu gewährleisten (vgl Amtliche Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BTDrucks 7/1281, S.20 f; dem folgt BAG, AP Nr.12 zu § 18 BetrAVG, B III 2a der Gründe). Dieses Ziel wird im Umfang der angegriffenen Regelung bereits durch die sogenannte versicherungsförmige Ausgestaltung der Unverfallbarkeitsregelung in § 18 BetrAVG erreicht. Die Aufrechterhaltung von Versorgungsanwartschaften im Wege der Nachversicherung bei denjenigen Arbeitnehmern, die nicht in einer Zusatzversorgungseinrichtung versichert waren, und die vom Gesetzgeber vorausgesetzten Überleitungsabkommen der Zusatzversorgungseinrichtungen (vgl Amtliche Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BTDrucks 7/1281, S.21 und 31) erfüllen den genannten Zweck. Auch im Rahmen einer versicherungsförmigen Lösung kann eine den Umfang der Versorgungsanwartschaft angemessen berücksichtigende Berechnungsweise der Zusatzrente der nachzuversichernden Arbeitnehmer sichergestellt werden.

70

c) Nicht tragfähig ist schließlich auch der vom Landesarbeitsgericht Köln in den angegriffenen Urteilen geäußerte Gedanke, daß typischerweise Arbeitnehmer mit einem höheren Gehalt von der Regelung benachteiligt werden und daß diesen ein partieller Verlust ihrer Versorgungsanwartschaften zugemutet werden kann.

71

Zwar trifft es zu, daß Gesamtversorgungszusagen im allgemeinen nur bei Entgelten oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze oder etwa bei großzügigen Ruhelohnordnungen, wie sie beim Arbeitgeber der Beschwerdeführer zu 2) und 3) für alle Arbeitnehmer bestanden, zu hohen Versorgungsanwartschaften führen. Die größere wirtschaftliche Belastbarkeit der dadurch begünstigten Arbeitnehmer ist aber kein sachlicher Grund für einen partiellen Verfall der Anwartschaften. Die Altersversorgung dient dazu, den Lebensstandard des Arbeitnehmers im Ruhestand in angemessenem Umfang zu erhalten. Die individuelle Belastbarkeit durch Rentenkürzungen ist allein daran zu messen. Der Lebensstandard von Arbeitnehmern wird wesentlich durch ihr Arbeitsentgelt bestimmt. Bei Gehältern oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze kann er nur durch entsprechende Zusatzversorgungen aufrechterhalten werden. Wird eine darauf bestehende Anwartschaft gekürzt, so führt das zu Einschnitten in den im Erwerbsleben erreichten Lebensstandard. Es ist zudem widersprüchlich, wenn die öffentlichen Arbeitgeber einerseits höher verdienenden Arbeitnehmern eine besonders hohe Versorgungszusage erteilen, andererseits aber beim Ausscheiden dieser Arbeitnehmer ihre lebensstandardsichernde Funktion negiert wird.

72

Es kann auch nicht verallgemeinernd davon ausgegangen werden, daß die von der angegriffenen Regelung benachteiligten Arbeitnehmer sich durchweg in einer Lage befinden, in der sie den partiellen Verlust ihrer Versorgungsanwartschaft beim Wechsel zu einem privaten Arbeitgeber von diesem ausgleichen lassen könnten. Es ist nicht erkennbar, daß die Mehrzahl der Arbeitnehmer mit hohen Versorgungszusagen eine Marktstellung inne hat, die es ihnen erlaubt, Einbußen von Anwartschaften auf Leistungen, die den Umfang eines Jahresgehalts übersteigen können, auszugleichen. Darüber hinaus werden vielfach selbst diejenigen Arbeitnehmer, denen dies, wie beispielsweise dem Beschwerdeführer zu 2) und dem Ehemann der Beschwerdeführerin zu 3), gelingt, nach allgemeinen Marktgesetzen die geldwerte Versorgungsanwartschaft beim neuen Arbeitgeber durch Nachteile in bezug auf andere Arbeits- oder Entgeltbedingungen erkaufen müssen. II.

73

Mit § 18 BetrAVG hat der Gesetzgeber die Unverfallbarkeit von Betriebsrenten für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes abweichend von der allgemeinen Bestimmung des § 2 BetrAVG geregelt, die für alle in der Privatwirtschaft beschäftigten Arbeitnehmer gilt. In dieser Ungleichbehandlung liegt ein weiterer Verstoß gegen Art.3 Abs.1 GG.

74

1. Der Grundsatz, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, soll in erster Linie eine ungerechtfertigte Bevorzugung oder Benachteiligung von Personen verhindern. Deshalb unterliegt der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung. Bei lediglich verhaltensbezogenen Unterscheidungen hängt dagegen das Maß der Bindung davon ab, inwieweit die Betroffenen in der Lage sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Merkmale zu beeinflussen, nach denen unterschieden wird. Überdies sind dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers um so engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl BVerfGE_60,123 <134>; BVerfGE_82,126 <146>). In diesen Fällen prüft das Bundesverfassungsgericht im einzelnen nach, ob für die vorgesehene Differenzierung Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können (vgl BVerfGE_88,87 <96 f>).

75

2. Die Sonderregelung führt, wie bereits dargelegt wurde, für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes mit höherem Einkommen zu erheblichen Einschnitten in Anwartschaften, die ihnen vom Arbeitgeber für den Fall des Verbleibs im öffentlichen Dienst bis zum Eintritt des Versorgungsfalls zugesagt sind. In geringerem Umfang werden aber auch Arbeitnehmer mit Einkünften unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze je nach Rentenbiographie und Steuerklasse schlechter gestellt als bei einer Berechnung nach § 2 Abs.2 BetrAVG. Nach den von der VBL auf Anfrage des Gerichts durchgeführten Berechnungen beträgt etwa die Zusatzrente eines 45jähriger Arbeitnehmers mit 3.000 DM Monatsgehalt und Steuerklasse III/0 beim Ausscheiden nach 20jähriger Betriebszugehörigkeit 240 DM. Die unverfallbare Anwartschaft nach § 2 BetrAVG würde 383 DM betragen. Bei einem Monatseinkommen von 10.250 DM würde ein vergleichbarer Arbeitnehmer eine Zusatzrente von 820 DM erhalten, während sich die unverfallbare Anwartschaft nach § 2 BetrAVG auf 1.400 DM belaufen würde. Mit steigenden Entgelten wächst die Differenz. § 16 BetrAVG, der eine Anpassung der laufenden Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung nach billigem Ermessen des Arbeitgebers vorsieht, gilt für die Zusatzrenten des öffentlichen Dienstes nicht (§ 18 Abs.1 Satz 1 BetrAVG). Ungünstiger als im allgemeinen Betriebsrentenrecht ist auch der Ansatz für die Berechnung der Zusatzrente. Während nach § 2 Abs.2 BetrAVG die gesamte Betriebszugehörigkeit berücksichtigt wird, zählen nach § 18 Abs.2 Satz 1 BetrAVG nur die vollen Jahre seit Erwerb der Versorgungsanwartschaft.

76

Den Nachteilen stehen gewisse Vorteile gegenüber. Eine im Vergleich zur gewöhnlichen Betriebsrentenanwartschaft höhere Zusatzrente fällt in unteren bis mittleren Gehaltsgruppen bei Arbeitnehmern mit der Steuerklasse I/0 an; dort kann die Zusatzrente sogar die an sich erst mit Erreichen der Altersgrenze erdiente Versorgungsrente übersteigen. Besonders auffallend ist die Differenz bei Monatsentgelten um 6.000 DM. Bei einem Gehalt von 6.150 DM im Monat beziffert die VBL die Zusatzrente nach 20jähriger Betriebszugehörigkeit auf 492 DM. Demgegenüber ergibt sich auf der Grundlage von § 2 Abs.2 BetrAVG eine Anwartschaft von 173 DM. Bei Erreichen der Altersgrenze nach 40 Dienstjahren würde der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst eine Versorgungsrente von 347 DM erhalten.

77

Diese Vorteile gleichen die dargelegten Nachteile aber schon deswegen nicht aus, weil sie einer anderen Gruppe von Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst zugute kommen, deren Bevorzugung ihrerseits vor Art.3 Abs.1 GG rechtfertigungsbedürftig ist. Die Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes gegenüber den Beschäftigten der Privatwirtschaft wird durch die in einem speziellen Sektor auftretende Begünstigung noch vertieft.

78

Ein Vorteil für die nach § 18 Abs.6 und 7 BetrAVG nachzuversichernden Arbeitnehmer soll nach Auffassung des Bundesministers des Innern darin liegen, daß die Nachversicherungszeiten im Falle eines späteren Wiedereintritts in den öffentlichen Dienst wie normale Pflichtversicherungszeiten berücksichtigt werden. Vorteilhaft ist die Nachversicherung gegenüber einer ratierlichen Berechnung der unverfallbaren Anwartschaft aber allenfalls für Arbeitnehmer, die von ihrem Arbeitgeber eine im Vergleich zu der Versorgungsrente der Zusatzversorgungseinrichtung niedrigere Versorgung zugesagt bekommen hatten. Durch die Nachversicherung kommen sie bei Wiedereintritt in den öffentlichen Dienst in den Genuß dieser höheren Versorgung der Zusatzversorgungseinrichtungen. Diesem Vorteil kommt aber im Verhältnis zu den erheblichen Nachteilen der angegriffenen Regelung nur geringes Gewicht zu. Zum einen entsteht dabei eine von der ursprünglichen Versorgungszusage nicht beabsichtigte Höherversorgung. Zum anderen ist hiervon nur eine kleine Gruppe von Arbeitnehmern betroffen. Ist die zugesagte Versorgung mit der der Zusatzversorgungseinrichtungen - wie vom Gesetzgeber für den Regelfall angenommen - gleichwertig oder übertrifft sie diese sogar, so führt die Nachversicherung bei einem Wiedereintritt in den öffentlichen Dienst zu keinen Vorteilen gegenüber einer ratierlichen Berechnung.

79

3. Die Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt. 80

80

a) Die ursprüngliche Absicht des Gesetzgebers, die Versorgung ausscheidender Bediensteter einheitlich für den gesamten öffentlichen Dienst unter Einbeziehung der Beamten, Richter und Soldaten zu regeln, ist nicht verwirklicht worden. Daß diese Absicht heute noch verfolgt oder wieder aufgegriffen werden soll, ist weder dargelegt worden noch erkennbar. Schon deswegen kann aus diesem Gesichtspunkt kein rechtfertigender Grund für die angegriffene Regelung hergeleitet werden. 81

81

b) Zudem ist fraglich, inwieweit das Streben nach einheitlichen Versorgungsregelungen für den gesamten öffentlichen Dienst eine arbeitsrechtliche Sonderstellung der dort beschäftigten Arbeitnehmer rechtfertigen könnte. Die öffentlichrechtlich geregelten Dienstverhältnisse unterliegen eigenen Prinzipien, die für privatrechtliche Arbeitsverhältnisse keine Geltung beanspruchen. Aus dem Alimentationsprinzip, auf dem die Beamtenbesoldung und -versorgung beruht, lassen sich für die Entgelte und Versorgungen der Arbeitnehmer keine Folgerungen ableiten (vgl BVerfGE_97,35 <45> ). Nichts anderes gilt für das Lebenszeitprinzip. Arbeitsverträge werden im öffentlichen Dienst nicht auf Lebenszeit abgeschlossen und können im Rahmen der allgemeinen Regeln auch vom Arbeitgeber gekündigt werden. Eine durch Tarifverträge begründete Arbeitsplatzsicherung, wie sie für fast alle Bereiche des öffentlichen Dienstes besteht, gibt es auch in zahlreichen Branchen der Privatwirtschaft. Derartige Tarifbestimmungen dienen dem Schutz der Arbeitnehmer und nicht der Etablierung eines dem Beamtenstatus entsprechenden Lebenszeitprinzips. Im einzelnen bedarf dies keiner Vertiefung, da eine Harmonisierung der Behandlung von Versorgungszusagen von Beamten und Arbeitnehmern nicht mehr angestrebt wird.

82

c) Der Umstand schließlich, daß den Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst eine Altersversorgung in Anlehnung an die Beamtenversorgung zusteht, vermag ihre Benachteiligung bei vorzeitigem Ausscheiden im Vergleich mit Arbeitnehmern aus der Privatwirtschaft ebenfalls nicht zu rechtfertigen. Einmal gibt es auch in der Privatwirtschaft vergleichbar hohe Betriebsrenten, ohne daß dies Abstriche an der Höhe der unverfallbaren Anwartschaften zur Folge hätte. Zum anderen haben die öffentlichen Arbeitgeber mit der tarifvertraglich vereinbarten Zusicherung der Versorgung einen entsprechenden Versorgungsbedarf ihrer Arbeitnehmer anerkannt. Dieser Bedarf wird durch vorzeitiges Ausscheiden nicht verringert.

83

d) Zur Rechtfertigung der angegriffenen Regelung wird weiterhin geltend gemacht, sie werde der im öffentlichen Dienst seit langem eingeführten Gesamtversorgungszusage in besonderer Weise gerecht (vgl Amtliche Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BTDrucks 7/1281, S.20; so auch BAG, AP Nr.12 und 17 zu § 18 BetrAVG). Für diese Erwägung gibt es jedoch keine sachliche Grundlage. Die Zusatzrente knüpft allein an das Entgelt im Zeitpunkt des Ausscheidens an und läßt den (Gesamt-)Versorgungsanspruch gänzlich außer acht. Wie bereits dargelegt worden ist, klaffen vor allem bei Gehältern oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze die Versorgungsanwartschaften und die Zusatzrente weit auseinander. Gegen den Gedanken einer spezifischen Rücksichtnahme auf das Gesamtversorgungssystem spricht auch der Umstand, daß die Zusatzrente in bestimmten Fallgestaltungen sogar den vollen Versorgungsanspruch deutlich übersteigt. Bei einer ratierlichen Berechnung, wie sie § 2 BetrAVG auch für Gesamtversorgungssysteme vorsieht (vgl § 2 Abs.5 BetrAVG), treten solche Ungereimtheiten nicht auf. Von daher ist es nicht einsichtig, weshalb diese Regelung nicht mindestens ebensogut zu dem im öffentlichen Dienst üblichen Versorgungssystem paßt wie die Sonderregelung des § 18 BetrAVG.

84

e) Der Gesetzgeber hat mit § 18 BetrAVG auch keine seinerzeit bestehende tarifvertragliche Regelung akzeptiert. Der Vorsitzende des Dritten Senats des Bundesarbeitsgerichts hat in seiner Stellungnahme die Auffassung vertreten, die Sonderregelung für den öffentlichen Dienst stehe in innerem Zusammenhang mit der Tarifdisponibilität des § 2 BetrAVG. Der Gesetzgeber habe in § 18 BetrAVG das bestehende tariflich verankerte Zusatzversorgungssystem akzeptiert. Dem kann jedoch nicht gefolgt werden. Zwar hat sich der Gesetzgeber bei der Regelung des § 18 BetrAVG an der für die VBL geltenden Regelung orientiert (vgl Amtliche Begründung des Regierungsentwurfs zum Betriebsrentengesetz, BTDrucks 7/1281, S.48). Die betriebliche Altersversorgung für die bei der VBL versicherten Arbeitnehmer war auch tarifvertraglich geregelt, und die Satzung der Versorgungsanstalt sah eine partielle Aufrechterhaltung von Anwartschaften vor. Ein tarifvertraglicher Anspruch auf diese Leistung oder eine tarifvertragliche Regelung über die Berechnung der Versicherungsrente bestanden - und bestehen bis heute - aber in den für die VBL maßgeblichen Tarifverträgen nicht (vgl Tarifvertrag über die Versorgung der Arbeitnehmer des Bundes und der Länder sowie von Arbeitnehmern kommunaler Verwaltung und Betriebe idF vom 4.November 1966 , die Änderungen des Ersten bis Achten Änderungstarifvertrages sowie die Fassung des Tarifvertrages vom 26.Juni 1997).

85

f) Für sich genommen rechtfertigt die Tariföffnungsklausel des § 17 Abs.3 BetrAVG die Sonderregelung des § 18 BetrAVG ebenfalls nicht. Sie räumt zwar den Tarifvertragsparteien Handlungsspielräume bei der Ausgestaltung der Unverfallbarkeit von Rentenanwartschaften ein, entbindet sie aber nicht von der Beachtung des Gleichbehandlungsgebotes. Ist - wie hier - eine von § 2 BetrAVG abweichende tarifvertragliche Regelung nicht getroffen worden, ergibt sich für den Gesetzgeber kein erweiterter Gestaltungsspielraum. Zudem wird § 1 BetrAVG, der die Unverfallbarkeit von Betriebsrenten im Grundsatz festlegt, von § 17 Abs.3 BetrAVG nicht erfaßt. Auch die Tarifparteien können daher den Wert der unverfallbaren Anwartschaft nicht in beliebiger Weise schmälern (vgl Höfer, in: Höfer/Reiners/Wüst, Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, Stand: 30.September 1995, Rn.3799 f; Blomeyer/Otto, Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, 2.Aufl, 1997, § 17 Rn. 172; Schock, in: Schulz/Schock, Betriebsrentengesetz, Stand: 1.September 1997, § 17 Anm.4).

86

g) Die Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst mit den in der Privatwirtschaft Beschäftigten wird weiterhin auch nicht durch das legitime Interesse an einer Entlastung der öffentlichen Haushalte gerechtfertigt. Das Betriebsrentengesetz schreibt weder den privaten noch den öffentlichen Arbeitgebern vor, in welchem Umfang sie ihren Arbeitnehmern eine zusätzliche Altersrente zu gewähren haben. Es hindert sie lediglich daran, ihre Zusagen bei vorzeitiger Beendigung der Arbeitsverträge ganz oder teilweise zurückzunehmen. Für wirtschaftliche Erwägungen bleibt daher beim Abschluß der Arbeitsverträge beziehungsweise der entsprechenden Tarifverträge hinreichend Raum. Ein sachlicher Grund dafür, daß gerade die öffentlichen Arbeitgeber über diesen Rahmen hinaus finanziell zu entlasten sind, ist nicht erkennbar.

87

h) Schließlich kann die angegriffene Regelung auch nicht durch Gründe der Praktikabilität gerechtfertigt werden. Zwar bereitet bei der im öffentlichen Dienst verbreiteten Gesamtversorgungszusage eine ratierliche Berechnung der Zusatzversorgungsrente größere Schwierigkeiten als die Berechnung nach § 18 Abs.2 BetrAVG (vgl Weinert, in: Heubeck/Höhne/Paulsdorff/Weinert, Kommentar zum Betriebsrentengesetz, 2.Aufl, 1982, § 18 Rn.32). Diese Schwierigkeiten sind jedoch nicht von solchem Gewicht, daß sie eine grundlegend abweichende und für viele Arbeitnehmer nachteilige Berechnungsweise rechtfertigen können. Auch der privaten Wirtschaft sind Gesamtversorgungszusagen nicht fremd. Der Gesetzgeber hat dafür mit § 2 Abs.5 BetrAVG eine Regelung getroffen, die praktischen Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Anwartschaft auf die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung besonders Rechnung trägt (§ 2 Abs.5 Satz 2 BetrAVG). III.

88

Die angegriffene Regelung verletzt die Beschwerdeführer zu 1) und 2) auch in ihrer Berufsfreiheit aus Art.12 Abs.1 GG.

89

1. a) Art.12 Abs.1 Satz 1 GG garantiert neben der freien Wahl des Berufs auch die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Diese betrifft die Entscheidung, an welcher Stelle der gewählte Beruf ausgeübt werden soll. Das Grundrecht schützt den Einzelnen in seiner Wahl, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in seinem Beruf zu ergreifen, sie beizubehalten oder aufzugeben. Es verpflichtet den Staat zwar nicht dazu, den Einzelnen vor den Risiken eines Arbeitsplatzwechsels zu bewahren. Derartige Risiken gehen vielmehr mit der Wahlfreiheit notwendig einher und können demjenigen, der von dieser Freiheit Gebrauch macht, nicht abgenommen werden. Art.12 Abs.1 GG schützt aber vor staatlichen Beeinträchtigungen, die die freie Arbeitsplatzwahl verhindern oder erheblich erschweren.

90

b) Der Staat ist allerdings verpflichtet, auch das Privatrecht so zu gestalten, daß die in den Grundrechten verkörperte objektive Ordnung gewahrt wird, die für alle Bereiche des Rechts gilt (BVerfGE_7,198 <205>). Soweit die Privatautonomie ihre regulierende Kraft nicht zu entfalten vermag, weil ein Vertragspartner kraft seines Übergewichts Vertragsbestimmungen einseitig setzen kann, müssen staatliche Regelungen ausgleichend eingreifen, um den Grundrechtsschutz zu sichern (vgl BVerfGE_81,242 <254 f>; BVerfGE_89,214 <234> ; Dieterich, RdA 1995, S.129 <131>). Dem objektiven Gehalt der Grundrechte ist der Gesetzgeber gerade auch dort verpflichtet, wo er Rahmenbedingungen speziell für das Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes setzt. Maßstabsetzende Normen des Vertragsrechts können zur Wahrung von Freiheitsrechten und zur Gewähr von Gleichbehandlung ungeachtet des Umstandes verfassungsrechtlich geboten sein, daß staatliche Stellen sich auch bei privatrechtlicher Betätigung prinzipiell an der grundrechtlichen Ordnung auszurichten haben. Das gilt vor allem für solche Bereiche des Arbeitslebens, in denen nicht erwartet werden kann, daß diese Ordnung im Wege von Einzelverträgen ohne gesetzliche Vorgaben verwirklicht wird, und in denen tarifvertragliche Regelungen nicht bestehen.

91

c) Um einen solchen Bereich geht es hier. § 18 BetrAVG regelt für Arbeitsverträge der öffentlichen Hand einen Fragenkomplex, für den es bisher keine allgemeinen tarifvertraglichen Regelungen gibt. Er betrifft eine große Zahl von Arbeitsverhältnissen mit sehr unterschiedlichen Arbeitgebern. Hauptanwendungsbereich der Norm ist der öffentliche Dienst, soweit er nicht dem Beamtenrecht, sondern dem Privatrecht untersteht. Daneben kann sie aber auch für Kirchen und kirchennahe Träger sowie für private, mit öffentlichen Aufgaben befaßte Arbeitgeber Geltung erlangen, denen von den Zusatzversorgungseinrichtungen entsprechende Beteiligungsmöglichkeiten eingeräumt werden (vgl § 19 Abs.2 Buchstabe e, Abs.4 VBL-Satzung). Angesichts eines so breit gefächerten Anwendungsbereichs besteht Anlaß für eine vereinheitlichende Regelung, die die grundrechtliche Ordnung sichert.

92

Bei freier Vertragsgestaltung kann der Arbeitnehmer Vereinbarungen über die Aufrechterhaltung von Versorgungsanwartschaften bei vorzeitigem Ausscheiden in aller Regel nicht privatautonom aushandeln und mitgestalten. Davon ging auch der Gesetzgeber beim Erlaß des Betriebsrentengesetzes aus (vgl Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BTDrucks 7/1281, S.19; so zuvor auch bereits BAG, AP Nr.156 zu § 242 BGB Ruhegehalt, A III 3 b der Gründe). Art und Umfang der betrieblichen Altersversorgung basieren in aller Regel auf einheitlichen Regelungen, die vom Arbeitgeber für den gesamten Betrieb vorgegeben und dann in den Einzelvertrag übernommen werden. Sie sind auf eine Vielzahl von Fällen zugeschnitten und entziehen sich somit weitgehend der einzelvertraglichen Vereinbarung. In aller Regel erlaubt es die Stellung des Arbeitsuchenden nicht, hinsichtlich der betrieblichen Altersversorgung seinen Interessen Geltung zu verschaffen, wenn diese in der einheitlichen Regelung keine Berücksichtigung gefunden haben. Hinsichtlich der Verfallbarkeit von Versorgungszusagen ist die Verhandlungsposition des Arbeitnehmers besonders schwach, weil es um eine Vertragsbedingung geht, der nur im Falle einer vorzeitig beendeten Vertragsbeziehung Bedeutung zukommt. Der in diesem Bereich hartnäckig verhandelnde Arbeitnehmer läuft Gefahr, beim Arbeitgeber Zweifel an seiner ernsthaften Absicht, ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis zu begründen, hervorzurufen (vgl Dieterich, aaO, S.135).

93

d) Art.12 Abs.1 GG schützt Arbeitnehmer vor einem Verfall von betrieblichen Versorgungsanwartschaften, soweit dadurch die freie Wahl eines anderen Arbeitsplatzes in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt wird. Zivilrechtliche Regelungen dieses Gegenstandes müssen sicherstellen, daß ein Arbeitnehmer, dem eine betriebliche Altersversorgung zugesagt worden ist, bei vorzeitigem Ausscheiden keine solchen Verluste erleidet, daß er faktisch an einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses gehindert wird. Arbeitgeber dürfen ihr berechtigtes Interesse, Arbeitnehmer durch eine zusätzliche Altersversorgung an den Betrieb zu binden, nicht ohne Rücksicht auf deren Berufsfreiheit durchsetzen. Durch den Verfall von Versorgungsanwartschaften bei vorzeitigem Ausscheiden eines Arbeitnehmers darf dem Arbeitnehmer keine Bindung auferlegt werden, die zu den Interessen des Arbeitgebers in keinem angemessenen Verhältnis mehr steht.

94

2. Der Gesetzgeber ist seiner Verpflichtung, die Verfallbarkeit von Betriebsrenten im öffentlichen Dienst unter Wahrung der Berufsfreiheit der Arbeitnehmer zu regeln, nicht in ausreichendem Maße gerecht geworden.

95

a) Die zusätzliche Altersversorgung wird in Anwendung von § 18 Abs.2 BetrAVG in vielen Fällen des vorzeitigen Ausscheidens des Arbeitnehmers aus dem öffentlichen Dienst nicht gemäß dem Anteil der dort zurückgelegten Arbeitszeit, sondern in einem erheblich geringeren Maß gewährt. Auch wenn die Regelung den Arbeitnehmer nicht hindert, ein bestimmtes Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst aufzugeben und ein neues mit einem privaten Arbeitgeber zu begründen, so belegt sie einen solchen von Art.12 Abs.1 GG gewährleisteten Schritt doch in vielen Fällen mit Nachteilen, die die Inanspruchnahme der grundrechtlichen Freiheit erschweren. Muß der Arbeitnehmer bei der Aufgabe seines Arbeitsverhältnisses im öffentlichen Dienst erhebliche Einbußen bei seiner Altersversorgung hinnehmen, ist er wirtschaftlich an seinen Arbeitgeber gebunden. Seine Beweglichkeit auf dem Arbeitsmarkt und die freie Wahl eines anderen Arbeitsplatzes werden eingeschränkt.

96

Wird die Altersversorgung eines Arbeitnehmers bei vorzeitigem Ausscheiden nachhaltig verschlechtert, so ist dies für ihn von existentieller Bedeutung. Er kann die Herabsetzung seines Lebensstandards im Alter nach langjähriger Beschäftigung nicht mehr ausgleichen. Die Chance, bei einem neuen Arbeitgeber eine Kompensation zu erlangen, ist höchst ungewiß. Daher wird er auf seinem Arbeitsplatz auch dann ausharren, wenn er sich anderweitig beruflich betätigen oder aus anderen Gründen vorzeitig ausscheiden möchte. Beruht dieser Wunsch etwa darauf, daß er sich mit zunehmendem Alter den Anforderungen seines Arbeitsplatzes nicht mehr voll gewachsen fühlt, daß er in der Hierarchie zurückgesetzt wird oder daß er Konflikten mit seinen Vorgesetzten und im kollegialen Umfeld ausweichen möchte, so berührt die faktische Bindung an seinen Arbeitgeber zugleich in empfindlicher Weise sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, dessen Schutz im beruflichen Umfeld von Art.12 Abs.1 GG mit umfaßt wird (vgl. BVerfGE 30, 292 <334>). Das Bundesarbeitsgericht betrachtet deshalb bestimmte faktische Erschwerungen von Arbeitnehmerkündigungen, etwa durch Vertragsstrafen, Kautionsverluste, Verpflichtungen zur Rückzahlung von Ausbildungskosten, Gratifikationen oder Prämien, als nichtig (§ 134 BGB), weil sie mit Art.12 Abs.1 GG unvereinbar seien (vgl BAG, AP Nr.22 zu § 611 BGB Gratifikation; AP Nr.25, 50 zu Art.12 GG; AP Nr.75, 77 zu § 611 Gratifikation; AP Nr.9, 12, 27 zu § 622 BGB).

97

b) Als Maßstab für den Wert einer Anwartschaft bietet sich eine Berechnungsweise an, die die Höhe der Zusage beim Erreichen der Altersgrenze in Beziehung setzt zu der im maßgeblichen Zeitpunkt bereits erwiesenen Betriebstreue. Eine solche Berechnung hat der Gesetzgeber mit § 2 BetrAVG generell vorgesehen; sie war vom Bundesarbeitsgericht schon zuvor entwickelt worden (vgl BAG, AP Nr.156 zu § 242 BGB Ruhegehalt, A II 2 b und B I 2 der Gründe; BAGE_27,59 <68>). An ihrer Sachangemessenheit ist nicht zu zweifeln (vgl dazu Höfer, aaO, Rn.1697 f.; Höhne, in: Heubeck/Höhne/Paulsdorff/ Weinert, aaO, § 2 Rn.11 und 115 ff). Andere Berechnungsweisen für den zeitbezogenen Wert einer Versorgungsanwartschaft sind damit zwar nicht von vornherein ausgeschlossen. Ein einleuchtender Ansatz, der bei der hier anzustellenden Bewertung zu wesentlich anderen Ergebnissen führen könnte, ist aber nicht ersichtlich und wird auch von keiner Seite geltend gemacht.

98

c) Das Ausmaß, in dem die Zusatzrenten in bestimmten Fallgestaltungen hinter den ratierlich berechneten Anwartschaften zurückbleiben, ist im Zusammenhang mit den obigen Erörterungen zu Art.3 Abs.1 GG bereits dargelegt worden. Beispielhaft läßt es sich anhand der Folgen des § 18 BetrAVG für die Beschwerdeführer weiter verdeutlichen. Werterhöhende Rechte auf abgeleitete Ansprüche (Witwen- und Waisenrenten) sowie die fehlende Dynamisierung der Zusatzrente bleiben dabei außer Betracht.

99

Bei ratierlicher Berechnung hätte die Anwartschaft des Beschwerdeführers zu 1) im Zeitpunkt seines Ausscheidens 1.456,44 DM pro Monat betragen. Seine Zusatzrente nach § 18 BetrAVG belief sich dagegen laut Rentenauskunft der VBL auf 404,63 DM. Die monatliche Zusatzrente blieb daher um 1.051,81 DM hinter der ratierlich berechneten Versorgungsanwartschaft zurück. Der 1940 geborene Beschwerdeführer hatte zum Zeitpunkt seines Ausscheidens aus dem öffentlichen Dienst im Jahre 1985 nach der Sterbetafel des Statistischen Bundesamtes (Statistisches Jahrbuch 1996, S.77) noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von 30,7 Jahren. Bei durchschnittlichem Verlauf summierte sich somit der ihm bei Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis drohende Verlust auf 134.631,68 DM. Das entspricht, bezogen auf sein letztes Arbeitsentgelt, einer Einbuße in der Größenordnung von eineinhalb Jahresgehältern.

100

Der Beschwerdeführer zu 2) hätte nach der ratierlichen Berechnung zum Zeitpunkt seines Ausscheidens eine Anwartschaft auf eine monatliche Versorgung in Höhe von 5.506,80 DM erworben. Dagegen betrug die Anwartschaft auf die Zusatzrente nach § 18 BetrAVG lediglich 961,32 DM. Die monatliche Zusatzrente blieb daher um 4.545,48 DM hinter der ratierlich berechneten Versorgungsanwartschaft zurück. Der 1926 geborene Beschwerdeführer hatte zum Zeitpunkt seines Ausscheidens aus dem öffentlichen Dienst im Jahre 1983 noch eine durchschnittliche Lebenserwartung von 20 Jahren. Für ihn ergab sich danach bei durchschnittlichem Verlauf ein Verlust von 695.458,44 DM, ein Betrag, der fünf Jahresgehälter übersteigt.

101

d) Belange der öffentlichen Arbeitgeber, deren Berücksichtigung eine so weitgehende Unterschreitung des grundrechtlich gebotenen Schutzes der Arbeitnehmer vor Kündigungserschwerungen rechtfertigen könnte, sind nicht erkennbar.

102

Über materielle Grundrechtspositionen, auf die der Gesetzgeber hätte Rücksicht nehmen müssen, verfügen die hier allein betroffenen öffentlichen Arbeitgeber nicht. Die einschlägigen Grundrechte der Art.2 Abs.1 und Art.12 Abs.1 GG stehen ihnen nicht zu. Legitime Interessen, die bei der angegriffenen Regelung zu berücksichtigen waren, wiegen insgesamt nicht so schwer, daß sie die dargelegte Zurücknahme des Arbeitnehmerschutzes auszugleichen vermöchten. Der mit jeder Betriebsrentenzusage angestrebte Anreiz zur Betriebstreue wird für die durch § 18 BetrAVG nachteilig Betroffenen zwar verstärkt. Ein einleuchtender Grund dafür, weshalb gerade bei dieser Gruppe ein weitergehendes Interesse des Arbeitgebers an einer Betriebsbindung besteht, ist jedoch nicht ersichtlich.

103

Es kommt hinzu, daß die durch Versorgungseinbußen bedingte Betriebsbindung um so stärker wirkt, je länger der Arbeitnehmer Betriebstreue gezeigt hat. Jüngere Arbeitnehmer, die sich die steigenden Verluste vor Augen halten, könnten dadurch veranlaßt werden, ihr Arbeitsverhältnis noch rechtzeitig zu kündigen. Insoweit kann sich die Regelung auch gegen das Interesse der Arbeitgeber auswirken. Insgesamt jedenfalls trägt dieser Gesichtspunkt nicht so weit, daß die entgegenstehenden grundrechtlich geschützten Belange der Arbeitnehmer im Rahmen eines gerechten Ausgleichs in diesem Maße zurückgestellt werden konnten.

104

Der Umstand allein, daß Beamte in höheren Besoldungsstufen bei einem vorzeitigen Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst noch stärkere Verluste hinnehmen müssen als Arbeitnehmer, weil die Nachversicherung den Verlust der Versorgungsanwartschaften regelmäßig nicht ausgleicht, begründet kein legitimes Interesse an deren Benachteiligung. Es ist schon dargelegt worden, daß die maßgeblichen Prinzipien des Beamtenrechts auf Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst nicht übertragbar sind. Das ursprüngliche Ziel des Gesetzgebers, eine einheitliche Regelung für den gesamten öffentlichen Dienst einschließlich der Beamten, Richter und Soldaten zu schaffen, ist aufgegeben worden."

 

Auszug aus BVerfG B, 15.07.98, - 1_BvR_1554/89 -, www.BVerfG.de,  Abs.61 ff

§§§

98.028 Bayerische Kommunalwahlen
 
  1. BVerfG,     B, 16.07.98,     – 2_BvR_1953/95 –

  2. BVerfGE_99,1 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. AT GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.12 Abs.1; Art.32 Abs.3

T-98-14

LB 1) Die Grundsätze der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl sind bei Wahlen zu den Volksvertretungen in den Ländern von der Bundesverfassung nicht subjektivrechtlich gewährleistet.

Abs.45

LB 2) Entgegen der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts scheidet im Anwendungsbereich der Art.28 Abs.1 Satz 2, 38 Abs.1 Satz 1 GG auch ein Rückgriff auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG aus.

Abs.80

LB 3) Die Länder gewährleisten den subjektiven Schutz des Wahlrechts bei politischen Wahlen in ihrem Verfassungsraum abschließend.

Abs.87

LB 4) Dabei werden zukünftig auch die Landesverfassungsgerichte derjenigen Länder eine Verfassungsbeschwerde als zulässig anzusehen haben, die - wie etwa das Saarland - die Möglichkeit zur Anrufung des Landesverfassungsgerichts davon abhängig machen, daß eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht nicht zulässig ist (vgl etwa § 55 Abs.3 des saarländischen VGHG).

* * *

T-98-14Verfassungsbeschwerde zum BVerfG

42

"Die Verfassungsbeschwerde hat schon deshalb keinen Erfolg, weil dem Beschwerdeführer ein mit der Verfassungsbeschwerde rügefähiges Recht nicht zur Seite steht (Art.93 Abs.1 Nr.4a GG, § 90 Abs.1 BVerfGG). Die Grundsätze der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl sind bei Wahlen zu den Volksvertretungen in den Ländern von der Bundesverfassung nicht subjektivrechtlich gewährleistet (I.). Entgegen der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts scheidet im Anwendungsbereich der Art.28 Abs.1 Satz 2, 38 Abs.1 Satz 1 GG auch ein Rückgriff auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG aus (II.). Die Länder gewährleisten den subjektiven Schutz des Wahlrechts bei politischen Wahlen in ihrem Verfassungsraum abschließend (III.). I.

43

1. Während bei Bundestagswahlen die Verletzung aller fünf Wahlrechtsgrundsätze mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann (Art.93 Abs.1 Nr.4a GG, § 90 Abs.1 BVerfGG iVm Art.38 Abs.1 Satz 1 GG), fehlt eine vergleichbare Gewährleistung, wenn es um die Durchsetzung dieser Grundsätze bei allgemeinen politischen Wahlen und Abstimmungen im Sinne von Art.20 Abs.2 Satz 2 GG auf der Ebene der Länder geht. Art.38 GG erfaßt unmittelbar nur die Wahlen zum Deutschen Bundestag. Eine analoge Anwendung auf Wahlen und Abstimmungen in den Ländern scheidet mit Rücksicht auf die selbständigen Verfassungsräume von Bund und Ländern aus (vgl BVerfGE_1,208 <236>; BVerfGE_4,31 <44>; BVerfGE_6,121 <129 f>; BVerfGE_6,445 <447>). Zwar verlangt Art.28 Abs.1 Satz 2 GG, daß die Grundsätze der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl auch bei politischen Wahlen in den Ländern gelten. Die Länder haben diesem Verfassungsgebot bei der Regelung des Wahlrechts zu ihren Länderparlamenten und auf kommunaler Ebene zu genügen. Dem Einzelnen vermittelt Art.28 Abs.1 Satz 2 GG jedoch keine mit der Verfassungsbeschwerde rügefähige subjektive Rechtsposition (Art.93 Abs.1 Nr.4a GG; vgl auch BVerfGE_1,208 <236 f>; BVerfGE_3,383 <390 f>).

44

2. Das objektivrechtliche Verfassungsgebot des Art.28 Abs.1 GG kann auch nicht über die in Art.2 Abs.1 GG verbürgte allgemeine Handlungsfreiheit als subjektives Recht eingefordert werden. Mit seinem Wahlrecht übt der Bürger die vom Volk ausgehende Staatsgewalt aus. Die Wahrnehmung dieses Rechts ist nicht Teil der jedem Menschen gewährleisteten freien Entfaltung seiner Persönlichkeit. Die allgemeine Handlungsfreiheit ist umfassender Ausdruck der persönlichen Freiheitssphäre des Menschen und unterscheidet sich damit grundlegend von den im Grundgesetz gewährleisteten politischen Rechten des Aktiv-Status (vgl BVerfGE_49,15 <23>). II.

45

Entgegen der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann der Bürger bei Wahlen zu den Volksvertretungen in den Ländern keinen der fünf Wahlrechtsgrundsätze über Art.3 Abs.1 GG mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht einfordern.

46

1. Das Bundesverfassungsgericht hat die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl bisher uneingeschränkt als Anwendungsfälle des allgemeinen Gleichheitssatzes angesehen

47

(vgl BVerfGE_1,208 <237 u 242>; BVerfGE_3,383 <390 f>; BVerfGE_4,31 <39>; BVerfGE_4,375, <382>; BVerfGE_6,84 <91>; BVerfGE_11,266 <271>; BVerfGE_11,351 <360>; BVerfGE_12,10 <25>; BVerfGE_12,73 <76>; BVerfGE_13,1 <12>; BVerfGE_13,243 <246>; BVerfGE_18,172 <180>; BVerfGE_24,300 <340>; BVerfGE_28,220 <225>; BVerfGE_34,81 <98>; BVerfGE_41,399 <413>; BVerfGE_47,253 <269>; BVerfGE_48,64 <79>; BVerfGE_51,222 <232>; BVerfGE_52,63 <89>; BVerfGE_57,43 <56>; BVerfGE_58,177 <190>; BVerfGE_60,162 <167>; BVerfGE_69,92 <106>; BVerfGE_71,81 <94>; BVerfGE_78,350 <357>; BVerfGE_85,148 <157>).

48

a) Diese Auffassung ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich in der Weimarer Zeit für Durchbrechungen der streng formal aufzufassenden Wahlrechtsgleichheit zunächst keinen, später nur wenig Raum ließ (vgl StGH in RGZ 124, Anhang 1, <12>; 128, Anhang 1 <9, 11 f>). Die demgegenüber von Leibholz vertretene Auffassung (JW 1929, S.3042 ff), Differenzierungen im Bereich der Wahlrechtsgleichheit seien nicht schlechthin ausgeschlossen, sondern ließen sich im Rahmen des auch hier maßgebenden allgemeinen Gleichheitssatzes unter bestimmten Voraussetzungen rechtfertigen, konnte sich seinerzeit nicht durchsetzen. Das Bundesverfassungsgericht jedoch machte sich diese Auffassung in den ersten Jahren seiner Rechtsprechung zum Wahlrecht zu eigen. Es ging davon aus, daß die Wahlrechtsgleichheit zwar gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz durch eine weit stärkere Formalisierung charakterisiert sei und insofern eine selbständige Entwicklung genommen habe. Gleichwohl komme dem allgemeinen Gleichheitssatz auch im Verhältnis zur Wahlrechtsgleichheit eine "regulative und letzthin übergeordnete Bedeutung" zu. Nur so sei es verständlich, daß die Wahlrechtsgleichheit unter gewissen Voraussetzungen durchbrochen werden dürfe, obwohl sie unter dem Verhältniswahlsystem "radikal" formalisiert sei (vgl BVerfGE_4,375 <382>; BVerfGE_13,243 <246 f>).

49

b) Die Annahme einer "regulativen und letzthin übergeordneten Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes" stieß auf Kritik (vgl. H. Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung, 1973, S.146 ff mwN) und wurde später auch vom Bundesverfassungsgericht nicht mehr zur Rechtfertigung von wahlrechtlichen Differenzierungen herangezogen. Heute besteht Einigkeit darüber, daß die Wahlrechtsgleichheit als solche keinem absoluten Differenzierungsverbot unterliegt und es zur - erforderlichen - Rechtfertigung von Differenzierungen keines Rückgriffs auf den allgemeinen Gleichheitssatz bedarf (zusammenfassend BVerfGE_95,408 <417 f>).

50

c) Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht auch weiterhin die Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit als Erscheinungsform des allgemeinen Gleichheitssatzes bewertet

51

(vgl BVerfGE_20,56 <116>; BVerfGE_24,300 <341>; BVerfGE_28,220 <225>; BVerfGE_34,81 <99>; BVerfGE_34,160 <163>; BVerfGE_36,139 <141>; BVerfGE_41,399 <413>; BVerfGE_42,312 <340 f>; BVerfGE_44,125 <146>; BVerfGE_47,198 <227>; BVerfGE_51,222 <235>; BVerfGE_57,43 <56>; BVerfGE_69,92 <106>; BVerfGE_71,81 <96>; BVerfGE_78,350 <358>; BVerfGE_82,322 <338>; BVerfGE_82,353 <364>; BVerfGE_89,266 <270>; BVerfGE_95,408 <417 f>)

52

und hieraus als selbstverständlich die Folgerung gezogen, daß Verletzungen dieser Wahlrechtsgrundsätze bei politischen Wahlen in den Ländern über Art.3 Abs.1 GG mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden können (vgl etwa BVerfGE_1,208 <237>; BVerfGE_58,177 <190>). Erstmals mit Beschluß vom 12.Dezember 1991 - der letzten zu dieser Frage ergangenen Senatsentscheidung - hat das Bundesverfassungsgericht insoweit Zweifel erkennen lassen (vgl BVerfGE_85,148 <157>). In einem danach entschiedenen konkreten Normenkontrollverfahren, bei dem es allerdings nur auf die Übereinstimmung mit der objektivrechtlichen Wahlrechtsgleichheit ankam, hat der Senat nicht mehr auf Art.3 Abs.1 GG als Maßstab abgestellt, sondern allein auf den speziellen wahlrechtlichen Gleichheitssatz aus Art.28 Abs.1 Satz 2 GG (vgl BVerfGE_93,373 <376 ff>). Auch im Schrifttum mehren sich die kritischen Stimmen zur Anwendbarkeit von Art.3 Abs.1 GG bei Wahlen zu den Volksvertretungen

53

(vgl Frowein, AöR 99 <1974>, S.72 <81>; v Münch, in: ders/Kunig, GG, 3.Aufl, Art.38 Rn.48; v Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2.Aufl, 1957, Bd.I, S.194 und S.201 f; dies Bd.II, 2.Aufl, 1964, S.883; Jarass/Pieroth, GG, 4. Aufl, Art.38 Rn.7; Magiera, in: Sachs, GG, Art.38 Rn.92; Murswiek, JZ 1979, S. 48 <50>; Roth, DVBl 1998, S.214 <216 f>; wohl auch Heun in: Dreier, GG, Art.3 Rn.85 u 126).

54

2. Der Senat legt nunmehr zugrunde, daß im Anwendungsbereich der speziellen wahlrechtlichen Gleichheitssätze der Art.28 Abs.1 Satz 2 und 38 Abs.1 Satz 1 GG nicht auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG zurückgegriffen werden kann.

55

a) Das Grundgesetz hat die Anforderungen, die an demokratische Wahlen zu den Volksvertretungen im Sinne von Art.20 Abs.2 Satz 2 zu stellen sind, für die Verfassungsräume des Bundes und der Länder jeweils in den gesonderten Vorschriften der Art.38 Abs.1 Satz 1 und Art.28 Abs.1 Satz 2 geregelt. Insoweit handelt es sich um spezialgesetzlich normierte Ausprägungen der vom Grundgesetz in Art.3 Abs.1 allgemein gewährleisteten Gleichheit der Bürger.

56

Mit dieser Qualifizierung als Spezialregelungen stehen aber die Rechtsfolgen für die Anwendbarkeit des allgemeinen Gleichheitssatzes noch nicht fest. Die Rechtsordnung kennt zur Auflösung derartiger Konkurrenzlagen keine allgemeinen Regeln (vgl Bleckmann/Wiethoff, DÖV 1991, S.722 <724 f u 729>; ferner Hillgruber, MedR 1998, S. 201 <204>). Es mag zwar naheliegen, daß den besonderen Gleichheitssätzen des Grundgesetzes eine je eigenständige normative Funktion zukommt, weil der Verfassunggeber anderenfalls eine überflüssige Regelung getroffen hätte (vgl Sachs in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd V, § 126 Rn.16). Gleichwohl kann die Frage, ob im Sachbereich eines speziellen Gleichheitssatzes ein Rückgriff auf Art.3 Abs.1 GG zulässig ist, jeweils nur durch Auslegung geklärt werden. Dabei darf eine Verfassungsnorm nicht isoliert betrachtet und allein aus sich heraus ausgelegt werden; sie steht in einem Sinnzusammenhang mit den übrigen Vorschriften der Verfassung (BVerfGE_1,14 <32>).

57

b) Die hier aufgeworfene Frage, wie sich das Grundrecht aus Art.3 Abs.1 GG zu den Grundsätzen der Allgemeinheit und der Gleichheit bei politischen Wahlen in den Ländern verhält, kann nur aus dem Zusammenwirken der Art.28 Abs.1 Satz 2, 38 Abs.1 Satz 1, 93 Abs.1 Nr.4a GG sowie des bundesstaatlichen Prinzips beantwortet werden.

58

aa) Bund und Länder haben gemäß Art.20 Abs.2, 38 Abs.1, 28 Abs.1 Satz 2 GG im jeweils eigenen Verfassungsraum Vertretungen des Volkes zu schaffen, die aus Wahlen hervorgegangen sind. Dabei haben Bund und Länder jeweils für die Einhaltung der Grundsätze allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahlen Sorge zu tragen. Das Recht, die Beachtung aller fünf Wahlrechtsgrundsätze im Wege der Verfassungsbeschwerde einzufordern, ist dem Bürger vom Grundgesetz jedoch nur gewährt worden, soweit es um politische Wahlen auf Bundesebene geht (Art.93 Abs.1 Nr.4a iVm Art.38 Abs.1 Satz 1 GG).

59

Diese Regelung erklärt sich aus dem bundesstaatlichen Prinzip. In den Grenzen föderativer Bindungen gewährleistet das Grundgesetz Bund und Ländern eigenständige Verfassungsbereiche. Die Länder genießen im Rahmen ihrer Bindung an die Grundsätze des Art.28 GG im staatsorganisatorischen Bereich Autonomie. In diesem Rahmen regeln sie Wahlsystem und Wahlrecht zu ihren Parlamenten und den kommunalen Vertretungen des Volkes; sie gestalten und organisieren das Wahlprüfungsverfahren. Das Grundgesetz bindet die Länder hierbei an die fünf Wahlrechtsgrundsätze. Insoweit ermöglicht es auch eine Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht: Im Wege der Normenkontrollklage gemäß Art.93 Abs.1 Nr.2 GG können die Bundesregierung, jede Landesregierung (vgl dazu BVerfGE_83,37 <49>) oder ein Quorum des Bundestages die Verletzung der Bindung des Landes an die Wahlrechtsgrundsätze beim Bundesverfassungsgericht geltend machen. Ebenso hat jeder Richter das in einem Rechtsstreit erhebliche Landeswahlrecht auf seine Übereinstimmung mit den fünf Wahlrechtsgrundsätzen des Art.28 Abs.1 Satz 2 GG zu überprüfen und das Gesetz gemäß Art.100 Abs.1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, wenn er der Auffassung ist, es entspreche diesen Grundsätzen nicht. Dabei handelt es sich sowohl bei der abstrakten als auch bei der konkreten Normenkontrolle um Verfahren, in denen allein zu klären ist, ob der Gesetzgeber den objektivrechtlichen Vorgaben der Verfassung genügt hat (vgl BVerfGE_20,350 <351>; BVerfGE_46,34 <36>; BVerfGE_83,37 <49>).

60

bb) Mit Blick auf die Autonomie der Länder beschränkt sich das Grundgesetz allerdings auf diese objektivrechtliche Kontrolle und räumt nicht auch jedem Bürger bei Wahlen im Land das Recht ein, die Beachtung der fünf Wahlrechtsgrundätze mit der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht einzufordern. Insoweit gibt das Grundgesetz den Ländern Raum, den subjektiven Schutz des Wahlrechts zu ihren Volksvertretungen in Ausübung ihres Rechts auf Selbstorganisation auszugestalten und durch die Gerichtsbarkeit des Landes zu gewährleisten.

61

c) Diese Rechtslage zur Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen wahlrechtliche Hoheitsakte der Länder hat das Bundesverfassungsgericht für die drei Grundsätze der unmittelbaren, freien und geheimen Wahl stets als selbstverständlich angesehen. Für die beiden anderen Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl hat es diese Folgerung nicht gezogen, sondern auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG zurückgegriffen, ohne der Frage seiner Verdrängung durch die speziellen Regelungen der Art.28 Abs.1 Satz 2, 38 Abs.1 Satz 1 GG im einzelnen nachzugehen. Die an der Einheit der Verfassung und ihren historischen Grundlagen ausgerichtete Verfassungsinterpretation ergibt jedoch keine Anhaltspunkte dafür, daß das Grundgesetz bei Wahlen in den Ländern zwei Wahlrechtsgrundsätze stärker als die drei anderen einer bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle unterworfen und insoweit die Autonomie der Länder zurückgedrängt hat.

62

aa) Gründe für eine unterschiedliche Gewichtung der Wahlrechtsgrundsätze bestehen nicht. Allen Wahlrechtsgrundsätzen ist gemeinsam, daß sie grundlegende Anforderungen an demokratische Wahlen stellen. Ihnen kommt gleichermaßen die Funktion zu, bei politischen Wahlen und Abstimmungen im Sinne von Art.20 Abs.2 Satz 2 GG das demokratische Prinzip wirksam zur Geltung zu bringen.

63

Allgemeinheit und Gleichheit sichern die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger

64

(vgl BVerfGE_41,399 <413>; BVerfGE_51,222 <234>; BVerfGE_71,81 <94>; BVerfGE_85,148 <158>).

65

Die Geheimheit der Wahl stellt den wichtigsten institutionellen Schutz der Wahlfreiheit dar (vgl Frowein, AöR 99 <1974>, S.72 <105>), die wiederum unabdingbare Voraussetzung für die demokratische Legitimation der Gewählten ist (vgl BVerfGE_44,125 <139>). In diesem Zusammenhang steht schließlich auch die Forderung nach unmittelbarer Wahl (vgl BVerfGE_47,253 <280>), weil diese den Wählerwillen am sinnvollsten zum Ausruck kommen läßt.

66

bb) Auch rechtsgeschichtlich hat sich die Wahlrechtsgleichheit in Deutschland nicht in einer Weise entwickelt, die es nahelegen könnte, im Geltungsbereich der speziellen gleichheitsrechtlichen Gewährleistungen der Art. 28 Abs.1 Satz 2, 38 Abs.1 Satz 1 GG zusätzlich auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG zurückzugreifen.

67

(1) Ein Zusammenhang zwischen dem allgemeinen Gleichheitssatz und der Gleichheit der Bürger im Wahlrecht wurde zunächst in der deutschen Verfassungsgeschichte nicht hergestellt

67a

(vgl dazu und zum folgenden Meyer, aaO, S.83 ff; ferner Frowein, Rechtsgutachten zu der Vereinbarkeit der Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen

68

Dies folgt schon daraus, daß der allgemeine Gleichheitssatz verfassungsrechtlich wesentlich früher verbürgt war als die Wahlrechtsgleichheit. Finden sich erste nennenswerte Ansätze einer verfassungsrechtlichen Kodifizierung des allgemeinen Gleichheitssatzes bereits im Frühkonstitutionalismus des beginnenden 19.Jahrhunderts, so wurden diese Gewährleistungen jedoch - was angesichts des damaligen Klassenwahlrechts kaum verwundert - nicht mit dem Wahlrecht in Verbindung gebracht. Die Verfassung Preußens von 1850 verbürgte zwar die Gleichheit aller Preußen vor dem Gesetz (Art.4 Satz 1); dies hinderte jedoch nicht die Einführung des dort noch bis 1918 geltenden Dreiklassenwahlrechts. Demgegenüber schrieb die Reichsverfassung von 1871 zwar - ebenso wie bereits die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 - den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl zum Reichstag fest (Art.20), enthielt aber keine Gewährleistung des allgemeinen Gleichheitssatzes.

69

Auch in der Folgezeit wurde die Rechtspraxis von der fehlenden Verbindung von allgemeinem Gleichheitssatz und Gleichheit im Wahlrecht bestimmt. Noch in der Weimarer Zeit betonte insbesondere der Staatsgerichtshof die Eigenständigkeit der Wahlrechtsgleichheit, die in der Reichsverfassung in Art.17 Abs.1 für die Länder und in Art.22 für das Reich verbürgt war. Jeden Rückgriff auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art.109 Abs.1 WRV lehnte der Staatsgerichtshof ab (vgl RGZ 128, Anhang, S.1 <9>).

70

(2) Den Beratungen zum Grundgesetz läßt sich nicht entnehmen, daß mit diesem Verständnis gebrochen werden sollte. Das Verhältnis von allgemeinem Gleichheitssatz zu den speziellen wahlrechtlichen Gleichheitssätzen wurde - soweit ersichtlich - nicht behandelt (vgl JöR nF, Bd.1 (1951), S.66 ff; S.244 ff, S.349 ff), wohl aber läßt sich den Materialien zu Art.28 GG entnehmen, daß es bei der Festlegung der Homogenitätsvorgaben darum ging, die Eigenstaatlichkeit der Länder möglichst weitgehend zu wahren (aaO, S.244 ff, insbesondere S.250). Auch bei der Aufnahme der Verfassungsbeschwerde in das Grundgesetz im Jahre 1969 wurde das systematische Verhältnis der Gleichheitsgebote der Art.3 Abs.1, 28 Abs.1 Satz 2, 38 Abs.1 Satz 1 GG nicht erörtert

71

(vgl schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses v 15.November 1968, BTDrucks V/3506 ; BRDrucks 673/68 v 5.Dezember 1968).

72

Die Aufnahme des subjektiven Wahlrechts in den Katalog der verfassungsbeschwerdefähigen Rechte hatte lediglich bei den Beratungen zu dem im Jahre 1951 normierten Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BGBl I S.243) eine Rolle gespielt. In der 31. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht wurde erörtert, ob auch das Wahlrecht als Grundrecht aufzufassen sei, ob eine ausdrückliche Aufnahme in den Katalog der verfassungsbeschwerdefähigen Rechte angezeigt sei oder ob die Frage der Einordnung als verfassungsbeschwerdefähiges Recht der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht anheimgegeben werden solle. Im Zuge dieser Erörterungen äußerte lediglich Lehr (als Sachverständiger in seiner Eigenschaft als Präsident des Hessischen Staatsgerichtshofs) die - nicht unwidersprochen gebliebene - Auffassung, es bedürfe keiner ausdrücklichen Regelung, weil zwar nicht das Wahlrecht als solches grundrechtlich gewährleistet sei, wohl aber die aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abzuleitende Wahlrechtsgleichheit (vgl ParlA I 115 A, Bd.2, Stenogr Protokoll, S.77 f). Diese Ansicht hat sich letztlich nicht durchgesetzt. Der vom Rechtsausschuß am 12.Juli 1950 eingesetzte Unterausschuß hat - von redaktionellen Feinabstimmungen abgesehen - den später beschlossenen § 90 Abs.1 BVerfGG formuliert und das subjektive Wahlrecht aus Art.38 GG eigens in den Katalog der verfassungsbeschwerdefähigen Rechte aufgenommen. Die dazu im Unterausschuß angestellten Erörterungen sind mangels Protokollierung seiner Beratungen nicht bekannt

73

(vgl Schiffers, Grundlegung der Verfassungsgerichtsbarkeit - Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12.März 1951, 1984, S.207, S.311 f, S.348 sowie S.267 mit Fußn.30).

74

3. Der Senat ist an der Änderung seiner Rechtsprechung zur Anwendbarkeit des Art.3 Abs.1 GG bei Wahlen und Abstimmungen im Anwendungsbereich der Art.28 Abs.1 Satz 2, 38 Abs.1 Satz 1 GG nicht durch die Entscheidungen des Ersten Senats vom 3.Juni 1954 (BVerfGE_3,383 ff <390>) und vom 22.Oktober 1985 (BVerfGE_71,81 ff) gehindert. Die Voraussetzungen für eine Anrufung des Plenums (§ 16 BVerfGG) liegen nicht vor.

75

a) Das gilt zunächst für das Urteil vom 3.Juni 1954. Der Erste Senat war seinerzeit für Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Wahlrechts zuständig. In jenem Urteil hatte er noch die Auffassung vertreten, politische Parteien seien zur Geltendmachung ihres Rechts auf chancengleiche Zulassung zu einer Landtagswahl nicht auf den Weg einer Organklage verwiesen, sondern könnten eine Verfassungsbeschwerde erheben, die auf Art.3 Abs.1 GG gestützt werden könne (vgl BVerfGE_3,383 <390 f>; insoweit überholt durch die Plenarentscheidung BVerfGE_4,27 <30 f>). Der allgemeine Gleichheitssatz greife nicht nur dort ein, wo es um die Sphäre des Einzelnen gehe; er müsse auch dort gelten, wo Einzelne oder Gruppen bei der Bildung der Staatsgewalt mitwirkten.

76

Eine Anrufung des Plenums kommt insoweit nicht in Betracht, weil der Zweite Senat mittlerweile allein für das Recht der Wahlen zu den Volksvertretungen und der Abstimmungen zuständig ist

78

Damit liegt der Fall ebenso, als hätte von vornherein ein und derselbe Senat entschieden (vgl auch Wolf, in: MünchKomm - ZPO, § 132 GVG, Rn.15). Die Änderung der Rechtsprechung zu einer Rechtsfrage, für die nur der eine Senat zuständig ist, ist kein Fall für eine Anrufung des Plenums.

79

b) Mit Beschluß vom 22.Oktober 1985 (BVerfGE_71,81 ff) entschied der Erste Senat, daß der Grundsatz der formalen Chancengleichheit unter bestimmten Voraussetzungen bei Wahlen zu Vertretungen im Arbeits- und Sozialwesen Anwendung finde. Dabei berief er sich unter anderem auf die bisherige Rechtsprechung zur Rechtslage bei allgemeinen politischen Wahlen. Er hat hierauf sein Entscheidungsergebnis allerdings nicht maßgeblich gestützt. Der von ihm entschiedene Sachbereich wird nicht von den speziellen Vorschriften der Art.28 Abs.1 Satz 2, 38 Abs.1 Satz 1 GG erfaßt. III.

80

1. Auf der Grundlage der nunmehr vom Senat vertretenen Auffassung steht dem Beschwerdeführer für seine Rüge, der bayerische Gesetzgeber verletze mit seinen Anforderungen an Unterstützungsunterschriften für Wahlvorschläge zu den Gemeinde- und Landkreiswahlen die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl, ein mit der Verfassungsbeschwerde rügefähiges Grundrecht nicht zur Seite. Insoweit führt die Änderung der Rechtsprechung des Senats zu einer Einschränkung des bisher über die Anwendung des Art.3 Abs.1 GG gewährleisteten Rechtswegs zum Bundesverfassungsgericht. Dies findet - wie dargelegt - seine Rechtfertigung in der Anerkennung der Autonomie der Länder, die - unter objektivrechtlicher Bindung an die Homogenitätsanforderungen des Art. 28 Abs.1 GG - für den subjektivrechtlichen Schutz des Wahlrechts zu den Volksvertretungen in ihrem jeweiligen Verfassungsraum allein zuständig sind.

81

2. Der fehlenden Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, dem Bürger bei Wahlen zu den Volksvertretungen in den Ländern subjektiven Rechtsschutz gegen eine Verletzung der Wahlrechtsgrundsätze zu geben, entspricht es, daß Parteien bereits seit langem (vgl BVerfGE_4,27 <30 f> ) eine Verletzung ihres Rechts auf chancengleiche Teilnahme an Wahlen im Land nur im Wege eines Organstreits geltend machen können, den sie vor dem Landesverfassungsgericht zu führen haben (Art.93 Abs.1 Nr.4, 3.Variante GG). Dieser Organstreit wird im Land abschließend entschieden (vgl BVerfGE_96,231 <242 f> mwN). Nur wenn im Land kein Rechtsweg eröffnet ist, ist eine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts begründet, das in diesen Fällen jedoch der Sache nach als "subsidiäres Landesverfassungsgericht" tätig wird

82

(so die vom Bundesminister der Justiz eingesetzte Entlastungskommission, die deshalb sogar für eine Streichung von Art.93 Abs.1 Nr.4, 3.Variante GG eintritt; vgl Bundesministerium der Justiz , Entlastung des Bundesverfassungsgerichts, Bericht der vom Bundesminister der Justiz eingesetzten Kommission, 1998, S.94).

83

3. a) Den Bürgern steht zur Verteidigung ihres subjektiven Wahlrechts auch bei Wahlen in den Ländern ein Rechtsweg zur Verfügung. Alle Länder sehen die Prüfung der Wahl zu ihren Parlamenten vor; dies ist ihnen durch das Homogenitätsgebot des Art.28 Abs.1 GG aufgegeben (vgl BVerfGE_85,148 <158>). Im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens, das auch dem Schutz des subjektiven aktiven und passiven Wahlrechts dient (vgl BVerfGE, aaO, S.159 ), kann - je nach landesrechtlicher Ausgestaltung - spätestens in zweiter Instanz eine gerichtliche Rechtskontrolle erreicht werden. Bei Kommunalwahlen haben die Länder die gerichtliche Kontrolle der Wahlprüfung den Verwaltungsgerichten übertragen. Dabei kann unter den Voraussetzungen der §§ 132 ff VwGO auch das Bundesverwaltungsgericht angerufen werden. Ein Verstoß gegen die Wahlrechtsgrundsätze des Art.28 Abs.1 Satz 2 GG wird als Verletzung von Bundesrecht im Sinne von § 137 Abs.1 Nr.1 VwGO angesehen.

84

(vgl dazu etwa BVerwG, Beschlüsse vom 24. Juni 1997 - BVerwG 8 B 92.97, vom 18.April 1997 - BVerwG 8 C 5.96, vom 16.Juli 1996 - BVerwG 8 PKH 10.96, Urteil vom 29.November 1991 - BVerwG 7 C 13.91 -, Buchholz 160 Nrn.46, 40, 44 und 35).

85

b) Zusätzlich eröffnen die meisten Länder wegen der Verletzung des subjektiven Wahlrechts bei Wahlen zu ihren Volksvertretungen eine Verfassungsbeschwerde, Grundrechts- oder Popularklage zu ihren Landesverfassungsgerichten

86

(zum landesverfassungsgerichtlichen Rechtsschutz in den einzelnen Ländern s BVerfGE_96,345 <351 f>).

87

Dabei werden zukünftig auch die Landesverfassungsgerichte derjenigen Länder eine Verfassungsbeschwerde als zulässig anzusehen haben, die - wie etwa das Saarland - die Möglichkeit zur Anrufung des Landesverfassungsgerichts davon abhängig machen, daß eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht nicht zulässig ist (vgl etwa § 55 Abs.3 des saarländischen VGHG). 88

88

Ein subjektiver verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz wegen Verletzung des Rechts auf Gleichheit der Wahl zu den Volksvertretungen in den Ländern und Kommunen entfällt lediglich in den Ländern Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, die eine Verfassungsbeschwerde oder einen ihr vergleichbaren Rechtsbehelf nicht kennen, sowie - mangels eigener Verfassungsgerichtsbarkeit - in Schleswig-Holstein. Der Bedeutung des subjektiven Wahlrechts (vgl BVerfGE_1,14 <33>) mag es entsprechen, insoweit verfassungsgerichtlichen subjektiven Rechtsschutz im Land einzuführen (vgl dazu auch Ipsen, NdsVBl 1998, S.129 ff). Von Verfassungs wegen ist dies allerdings nicht geboten. Art.19 Abs.4 GG verbürgt keinen subjektiven verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz (vgl BVerfGE_1,332 <344>)."

 

Auszug aus BVerfG B, 16.07.98, - 2_BvR_1953/95 -, www.BVerfG.de,  Abs.42 ff

§§§

98.029 Wehrmachtsausstellung
 
  1. BVerfG,     B, 25.08.98,     – 1_BvR_1435/98 –

  2. www.BVerfG.de = NJW_99,483 -85

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.5 Abs.1; (by) PresseG_§_10

 

LB 1) Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgt die Pflicht des Staates, den Einzelnen wirksam gegen Einwirkungen der Medien auf seine Individualsphäre zu schützen. Dazu gehört, daß der von seiner Darstellung in den Medien Betroffene die rechtlich gesicherte Möglichkeit hat, ihr mit seiner eigenen Darstellung entgegenzutreten.

 

LB 2) Dieser Schutz kommt zugleich der in Art.5 I GG garantierten freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung zugute, weil dem Leser neben der Information durch die Medien auch die Sicht des Betroffenen vermittelt wird.

 

LB 3) Bei der Auslegung des § 10 BayPresseG müssen die Gerichte die von ihrer Entscheidung berührten Grundrechte interpretationsleitend beachten, damit deren wertsetzender Gehalt auch auf der Rechtsanwendungsebende gewahrt wird.

 

LB 4) Für das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art.2 I iVm Art.1 I GG gilt insofern nichts anderes als für die Meinungsfreiheit aus Art.5 I 1 GG. Es ist verletzt, wenn sein Einfluß aus Auslegung und Anwendung des Presserechts grundlegend verkannt worden ist.

 

LB 5) Tatsachenbehauptungen sind durch die objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Realität gekennzeichnet, während Werturteile durch die subjektive Beziehung des einzelnen zum Inhalt seiner Aussage geprägt werden. Für letztere ist das Element der Stellungsnahme und des Darführhaltens charakteristisch, das Tatsachenbeauptungen fehlt.

 

LB 6) Anders als subjektiv geprägte Meinungsäußerungen sind Tatsachenbehauptungen als objektive Aussagen dem Beweis zugänglich. Doch hängt die Einordnung einer Aussage als Tatsachenbehauptung nicht von der Erbringung des Beweises ab.

 

LB 7) Die Deutung einer Äußerung als Meinungsäußerung oder Tatsachenbehauptung ist am Verständnis des durchschnittlichen Empfängers der Äußerung auszurichten. Dabei sind auch die Begleitumstände der Äußerung zu berücksichtigen, jedoch nur, soweit diese auch für den Rezipienten erkennbar waren und deswegen ihr Verständnis der Äußerung bestimmen konnten.

 

LB 8) Auch im Gegendarstellungsrecht ist die Einschätzung, ob eine Tatsachenäußerung oder eine Meinungäußerung vorliegt nach den zur Meinungsfreiheit entwickelten Grundsätzen (BVerfGE_93,266 (295f) = NJW_95,3303) vorzunehmen.

§§§

98.030 Kommunale Wählervereinigung I
 
  1. BVerfG,     B, 29.09.98,     – 2_BvL_64/93 –

  2. BVerfGE_99,69 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.9 Abs.1, GG_Art.28 Abs.1 S.2

 

Das Recht auf Chancengleichheit (Art.3 Abs.1 iVm Art.9 Abs.1 und Art.28 Abs.1 Satz 2 GG) ist verletzt, wenn kommunale Wählervereinigungen und ihre Dachverbände zur Körperschaft- und Vermögensteuer herangezogen werden, Parteien und deren Untergliederungen dagegen nicht.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. § 1 Absatz 1 Nummer 4, § 5 Absatz 1 Nummer 7 Satz 1 Körperschaftsteuergesetz (KStG), jeweils ab der für den Veranlagungszeitraum 1988 geltenden Fassung, sind insoweit mit dem Recht auf Chancengleichheit (Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 9 Absatz 1, Artikel 28 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes) unvereinbar und nichtig, als hiernach kommunale Wählervereinigungen und ihre Dachverbände - anders als politische Parteien und deren Gebietsverbände - körperschaftsteuerpflichtig sind.

2. § 1 Absatz 1 Nummer 2 Buchstabe d, § 3 Absatz 1 Nummer 10 Satz 1 Vermögensteuergesetz (VStG), jeweils in der für den Stichtag 1.Januar 1989 und die folgenden Stichtage geltenden Fassung, waren insoweit mit dem Recht auf Chancengleichheit (Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 9 Absatz 1, Artikel 28 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes) unvereinbar und nichtig, als hiernach kommunale Wählervereinigungen und ihre Dachverbände - anders als politische Parteien und deren Gebietsverbände - bis zum 31.Dezember 1996 vermögensteuerpflichtig waren.

§§§

[ 1997 ] RS-BVerfG - 1998   (1) [  ›  ]     [ » ]     [ 1999 ]

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