2001   (2)  
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01.031 Satirische Meinungsäußerung

  1. BVerfG,     B, 01.08.01,     – 1_BvR_1906/97 –

  2. www.BVerfG.de NJW_01,3613 - 15

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.5 Abs.1 + 2; StGB_§_185

  4. Meinungsäußerung - satirische / polemisch verletztende Formulierung.

 

LB 1) Auch bei satirischer oder glossierender Meinungsäußerung darf der Erklärungen kein Inhalt unterschoben werden, den ihnen ihr Urheber erkennbar nicht beilegen wollte.

 

LB 2) Das Grundrecht der Meinungsfreiheit schützt die Meinungskundgabe unabhängig davon, ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird. Auch die polemische oder verletztende Formulierung der Aussage entzieht sie nicht seinem Schutzbereich.

 

LB 3) Es ist widersprüchlich, eine Äußerung als ironisch zu charakterisieren, ihr sodann aber einen Bedeutungsinhalt beizumessen, der ihr nur zukommen würde, wenn sie als ernst gemeint beim Wort zu nehmen wäre.

§§§

01.032 Diplom-Jurist

  1. BVerfG,     B, 26.09.01,     – 1_BvR_1740/98 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.3 Abs.1; GG_Art.12 Abs.1; BNotO_§_5; EV

  4. Gleichbehandlungsgrundsatz / Gesetzgeber / Gestaltungsspielraum / Grenzen richterlicher Kontrolle / gesetzliche Fiktion / Notar.

T-01-11

LB 1) Art.3 Abs.1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln.

Abs.26

LB 2) Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt aber das Grundrecht, wenn er bei Regelungen, die Personengruppen betreffen, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl BVerfGE_102,41 <54>; stRspr).

Abs.27

LB 3) Dabei sind dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl BVerfGE_88,87 <96>).

Abs.28

LB 4) Deshalb ist der Richter, wenn er Gesetzesbestimmungen auslegt, gehalten zu prüfen und darzulegen, ob, inwieweit und aus welchen Gründen seine Entscheidung in grundrechtlich geschützte Freiheiten eingreift oder Personengruppen ungleich behandelt.

Abs.30

LB 5) Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen werfen ebenfalls keine grundsätzlichen Fragen auf. Es ist geklärt, dass die von Fachgerichten vorgenommene Auslegung einer Norm verfassungsrechtlich nur zu beanstanden ist, wenn sie willkürlich ist, die Tragweite eines Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt (vgl BVerfGE_85,248 <257 f>; BVerfGE_94,372 <396>).

Abs.30

LB 6) Die Verfassungsmäßigkeit des § 5 BNotO ist nach den vom BVerfG entwichelten Maßstäben nicht zweifelhaft.

Abs.37

LB 7) Bei der Übernahme der Diplom-Juristen in juristische Berufe hat der Gesetzgeber die Gleichstellung mittels gesetzlicher Fiktionen bewirkt.

Abs.41

LB 8) Wer als Diplom-Jurist zum Richter auf Lebenszeit ernannt wird, erfüllt die Voraussetzungen des Deutschen Richtergesetzes in der ganzen Bundesrepublik.

Abs.44

LB 9) Auch für die Notare hat der Gesetzgeber entsprechende Fiktionen geschaffen.

Abs.52

LB 10) Das Nebeneinander von Diplom-Juristen und Juristen mit der Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz in den Berufen als Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Notare wird nach den ausdrücklich getroffenen Regelungen des Gesetzgebers so lange anhalten, wie Diplom-Juristen noch in diesen Berufen tätig sein werden.

Abs.54

LB 11) Eine Auslegung, die für das Anwaltsnotariat in Berlin für solche Diplom-Juristen, die im Zeitpunkt des Beitritts noch nicht zum Anwaltsnotar bestellt waren, die Befähigung zum Richteramt zwar für den Anwaltsberuf nicht voraussetzt (oder als fingiert ansieht), wohl aber für den Notarberuf fordert, verkennt damit die Reichweite des Art.3 Abs.1 in Verbindung mit Art.12 Abs.1 GG in Ansehung der Gesamtregelung, die der Gesetzgeber zur Integration des Diplom-Juristen getroffen hat.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 20.Juli 1998 - NotZ 7/98 -, der Beschluss des Kammergerichts vom 19.Februar 1998 - Not 21 und 31/97 - sowie der Bescheid der Präsidentin des Kammergerichts vom 30.Oktober 1997 - I-RA Z 212 - verletzen den Beschwerdeführer zu 1) in seinen Grundrechten aus Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Bundesgerichtshofs wird aufgehoben und das Verfahren an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.

2) Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 30.November 1998 - NotZ 13/98 -, der Beschluss des Kammergerichts vom 10.März 1998 - Not 27 und 28/97 - sowie der Bescheid der Präsidentin des Kammergerichts vom 30.Oktober 1997 - I-RA T 273 - verletzen die Beschwerdeführerin zu 2) in ihren Grundrechten aus Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Bundesgerichtshofs wird aufgehoben und das Verfahren an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.

3) Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 30.November 1998 - NotZ 14/98 -, der Beschluss des Kammergerichts vom 10.März 1998 - Not 29 und 30/97 - sowie der Bescheid der Präsidentin des Kammergerichts vom 30.Oktober 1997 - I-RA G 495 - verletzen die Beschwerdeführerin zu 3) in ihren Grundrechten aus Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Bundesgerichtshofs wird aufgehoben und das Verfahren an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.

4) Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.

* * *

T-01-11Zulassung als Anwaltsnotar

23

"Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von in § 90 Abs.1 BVerfGG genannten Rechten angezeigt ist (§ 93a Abs.2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs.1 BVerfGG sind gegeben. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf Gleichbehandlung und in ihrer Berufsfreiheit (Art.3 Abs.1 und Art.12 Abs.1 GG).

I.

23

Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Grundsätzliche Fragen werfen die vorliegenden Fälle auch nach der Überzeugung, die sich der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in der Beratung am 9.Mai 2001 gebildet hat, nicht auf.

24

1. Den Beschwerdeführern, die im Zeitpunkt des Beitritts seit mehreren Jahren Diplom-Juristen waren und seit 1990 oder 1991 als Rechtsanwälte praktizieren, wird in den angegriffenen Entscheidungen der Zugang zum Zweitberuf des Notars verwehrt, weil sie keine Voll-Juristen im Sinne des bundesrepublikanischen Rechts sind. Abweichend von der Behandlung der Diplom-Juristen beim Zugang zum Beruf des Richters, Staatsanwalts, Rechtsanwalts und Nur-Notars haben die angegriffenen Entscheidungen der Gruppe der Berliner Rechtsanwälte, die vor oder kurz nach dem Beitritt ihre Berufstätigkeit in Berlin aufgenommen haben, für das Anwaltsnotariat keine wiedervereinigungsbedingten Sonderkonditionen eingeräumt. Sie haben sie auch anders behandelt als die Diplom-Juristen, die im Zeitpunkt des Beitritts schon Anwaltsnotare in Berlin waren.

25

Derartige Ungleichbehandlungen sind am Maßstab des Art.3 Abs.1 GG zu messen. Berufswahlregelungen berühren zugleich den Schutzbereich von Art.12 Abs.1 GG.

26

2. Die verfassungsrechtlichen Fragen zum Schutz- und Prüfungsumfang bei Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes sind verfassungsrechtlich geklärt und werfen keine Fragen grundsätzlicher Bedeutung mehr auf (vgl BVerfGE_60,123 <133 f>; BVerfGE_82,126 <146>; BVerfGE_100,59 <90>). Art.3 Abs.1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt aber das Grundrecht, wenn er bei Regelungen, die Personengruppen betreffen, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl BVerfGE_102,41 <54>; stRspr).

27

Dabei sind dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl BVerfGE_88,87 <96>).

28

Der Richter ist bei Auslegung und Anwendung der Gesetze an denselben Maßstab gebunden. Ihm sind Differenzierungen verboten, die auch dem Gesetzgeber nicht erlaubt wären (vgl BVerfGE_54,224 <235>; BVerfGE_99,129 <139>). Deshalb ist der Richter, wenn er Gesetzesbestimmungen auslegt, gehalten zu prüfen und darzulegen, ob, inwieweit und aus welchen Gründen seine Entscheidung in grundrechtlich geschützte Freiheiten eingreift oder Personengruppen ungleich behandelt. Ferner ist zu begründen, warum dieser Eingriff oder die Ungleichbehandlung den im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Absichten des Gesetzgebers entspricht und verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.

29

3. Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass auch die Berufsausübung der Notare unter dem Grundrechtsschutz des Art.12 Abs.1 GG steht (vgl BVerfGE_73,280 <292>) und dass dieser Schutz auch für einen Zweitberuf gilt (vgl BVerfGE_21,173 <179>; BVerfGE_87,287 <316>).

30

4. Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen werfen ebenfalls keine grundsätzlichen Fragen auf. Es ist geklärt, dass die von Fachgerichten vorgenommene Auslegung einer Norm verfassungsrechtlich nur zu beanstanden ist, wenn sie willkürlich ist, die Tragweite eines Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt (vgl BVerfGE_85,248 <257 f>; BVerfGE_94,372 <396>).

II.

31

Grundlage der angegriffenen Entscheidungen ist § 5 BNotO, dessen Verfassungsmäßigkeit nach den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben nicht zweifelhaft ist.

32

1. Die Vorschrift setzt für die Bestellung zum Notar die Befähigung zum Richteramt voraus. Es bedarf keiner vertieften Begründung, dass der Gesetzgeber die Norm für geeignet und erforderlich halten durfte, um die zu schützenden Gemeinwohlbelange in Gestalt der Sicherung der Funktionsfähigkeit der vorsorgenden Rechtspflege und der freiwilligen Gerichtsbarkeit zu verwirklichen. Sie ist auch verhältnismäßig im engeren Sinne, soweit an den Zugang zum Notariat regelmäßig keine geringeren Anforderungen gestellt werden als an den Zugang zu den sonstigen juristischen Berufen (Richter, Staatsanwalt und Rechtsanwalt).

33

2. An dieser Einschätzung hat der Gesetzgeber indessen nicht uneingeschränkt festgehalten, als die beiden deutschen Staaten zusammengeführt wurden. Der Gesetzgeber hat vielmehr durch zahlreiche Einzelregelungen im Einigungsvertrag und in nachfolgenden Gesetzen sichergestellt, dass die in der Deutschen Demokratischen Republik ausgebildeten und tätigen Diplom-Juristen nach dem Beitritt weiterhin als Juristen tätig sein konnten. Für diesen Personenkreis hat er in allen juristischen Vollberufen Ausnahmen von der sonst einheitlich vorausgesetzten Befähigung zum Richteramt geschaffen.

34

Den Ausgangspunkt für die verfassungsrechtliche Prüfung bilden daher neben § 5 BNotO diese übergangsrechtlichen Sondernormen für Diplom-Juristen, welche im Gesetzgebungsverfahren als einschneidend, aber angesichts der Wirklichkeit in der Deutschen Demokratischen Republik auch für unvermeidlich gehalten worden sind (vgl die Erläuterungen zu den Anlagen zum Einigungsvertrag in BTDrucks 11/7817, S.7). III.

35

Die im Zusammenwirken dieser Vorschriften zum Ausdruck gekommene Absicht des Gesetzgebers wird in den angegriffenen Entscheidungen nicht hinreichend gewürdigt. Diese genügen daher den oben genannten verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht. Sie verfehlen eine dem Gleichheitssatz entsprechende Auslegung von § 5 BNotO in Verbindung mit den Normen des Einigungsvertrags und der nachfolgenden Gesetze, die die Rechtsverhältnisse der Rechtsanwälte und der Notare geregelt haben und erkennen lassen, dass einem Diplom-Juristen, der die Voraussetzungen für die Ausübung eines juristischen Berufes nach dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik erworben hat, jeweils die volle Befähigung zu seiner Ausübung zukommt, sofern ihm der Berufszugang zugleich nach den jeweiligen Übergangsvorschriften erhalten geblieben ist. Die berufsrechtlichen Einschränkungen sind vom Gesetzgeber auf das Unumgängliche zurückgeführt worden. Dieser Erkenntnis haben sich die angegriffenen Entscheidungen verschlossen und damit die verfassungsrechtlich gebotene Gleichbehandlung im Berufsrecht verfehlt.

36

1. Neben die Sicherstellung einer kontinuierlichen Rechtspflege auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik, die nur gewährleistet war, wenn die dort ausgebildeten und politisch unbelasteten Juristen weiterhin Rechtspflegeaufgaben wahrnahmen (vgl BTDrucks 11/7817, S.7), trat im Zeitpunkt der Vereinigung der deutschen Staaten auch das öffentliche Interesse an einer Integration der in der Deutschen Demokratischen Republik Berufstätigen als wichtiger öffentlicher Belang hinzu (vgl. zu diesem Gesichtspunkt im öffentlichen Dienst:BVerfGE 92, 140 <154> mit Hinweis auf BTDrucks 11/7817, S.179; s auch Denkschrift zum Einigungsvertrag BTDrucks 11/7760, S.356). So blieben beispielsweise auch die ärztlichen Approbationen und die Handwerkerrechte für die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik erhalten (vgl BTDrucks 11/7817, S.159 und S.130).

37

Bei der Übernahme der Diplom-Juristen in juristische Berufe hat der Gesetzgeber die Gleichstellung mittels gesetzlicher Fiktionen bewirkt.

38

a) Bis zum Beitritt stand nach bundesrepublikanischem Recht fest, dass der Abschluss als Diplom-Jurist dem Zweiten Juristischen Staatsexamen nicht gleichstand (vgl BGH, NJW 1968, S.1047; NJW 1990, S.910). Die juristischen Vollberufe setzten einheitlich die Befähigung zum Richteramt nach § 5 DRiG voraus (vgl § 122 Abs.1 DRiG für die Staatsanwälte, § 5 BNotO für die Notare, § 4 BRAO für die Rechtsanwälte und § 3 Abs.2 BVerfGG für die Verfassungsrichter). Diese Regelung gilt auch gegenwärtig und für die Zukunft, soweit nicht Probleme im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung betroffen sind.

39

Die Diplom-Juristen erfüllten diese Voraussetzungen nicht; dennoch wurden ihnen die juristischen Vollberufe in der Bundesrepublik ab dem Tag des Beitritts eröffnet. Dieser Zugang wurde nicht einmal nur denjenigen vorbehalten, die schon im Zeitpunkt des Beitritts in juristischen Berufen tätig waren; die Ausbildung zum Diplom-Juristen konnte noch danach beendet werden; die notwendige zweijährige Berufspraxis vor Aufnahme des Berufs musste erst spätestens im September 1996 abgeschlossen sein. Die an sich notwendige Qualifikation, die § 5 DRiG und die Verweisungen auf diese Vorschrift in den übrigen berufsregelnden Gesetzen sicherstellen sollen, wurde für diese Übergangszeit zurückgestellt. Bezogen auf einzelne Berufe wurde die Gleichwertigkeit der Ausbildungsgänge fingiert. 40

40

b) Die Diplom-Juristen gelten jeweils als nach den bundesrepublikanischen Vorschriften ernannt, bestellt oder zugelassen.

41

aa) Wer als Diplom-Jurist zum Richter auf Lebenszeit ernannt wird, erfüllt die Voraussetzungen des Deutschen Richtergesetzes in der ganzen Bundesrepublik (Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr.8 Buchstabe y Doppelbuchstabe bb EV; vgl auch BTDrucks 11/7817, S.22). Das gilt für die Staatsanwälte entsprechend (Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr.8 Buchstabe z Doppelbuchstabe cc EV). Hieraus hat das Gesetz zur Änderung des Rechtspflegergesetzes und anderer Gesetze vom 24.Juni 1994 die Konsequenz gezogen, dass Staatsanwälten, die in den Richterberuf wechseln wollen, oder Richtern, die als Staatsanwälte eingesetzt werden sollen, nicht entgegengehalten werden kann, ihnen fehle jeweils die für diesen Beruf notwendige Befähigung zum Richteramt nach § 5 oder nach § 122 Abs.1 DRiG.

42

bb) Diplom-Juristen, die im Zeitpunkt des Beitritts als Rechtsanwälte tätig waren oder später nach dem Rechtsanwaltsgesetz der Deutschen Demokratischen Republik in Verbindung mit dem Einigungsvertrag zu diesem Beruf noch zugelassen worden sind, haben 1994 durch Art.21 Abs.2 des Neuordnungsgesetzes ihre volle Gleichstellung erhalten. Sie gelten als nach der Bundesrechtsanwaltsordnung zugelassen, wodurch die Erfüllung der dort vorgesehenen Voraussetzungen, also auch des § 4 BRAO, fingiert wird.

43

In Berlin, wo die Bundesrechtsanwaltsordnung unmittelbar durch den Einigungsvertrag eingeführt worden ist, gelten die dort nach dem Rechtsanwaltsgesetz am Tage des Beitritts zugelassenen Anwälte als nach der Bundesrechtsanwaltsordnung zugelassen (Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt IV Nr.1 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa EV). Auch hier wird insofern vom Tage des Beitritts an fingiert, dass die zugelassenen Rechtsanwälte die Voraussetzungen der Bundesrechtsanwaltsordnung, also auch § 4 BRAO, erfüllen. Wer erst später die Befähigung zur Zulassung nach dem Rechtsanwaltsgesetz erworben hat, wird in Berlin ebenfalls als Diplom-Jurist nach der Bundesrechtsanwaltsordnung zugelassen; auch auf diese Personen erstreckt sich die Fiktion (Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt IV Nr. 1 Buchstabe a Doppelbuchstabe bb EV).

44

cc) Auch für die Notare hat der Gesetzgeber entsprechende Fiktionen geschaffen.

45

In den fünf neuen Ländern war eine solche Gleichstellung zunächst nicht nötig, da die Notariatsverordnung fortgalt. Sie ist jedoch im Jahr 1998 durch Art.13 Abs.2 3.ÄndG BNotO eingeführt worden. Seitdem gelten die Notare in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen als nach der Bundesnotarordnung bestellt und können demzufolge auch in den übrigen Ländern zum Notar bestellt werden; in Art.13 Abs.7 3.ÄndG BNotO wird dies nochmals ausdrücklich klargestellt.

46

In Berlin waren die Rechtsanwälte, die am Tage des Wirksamwerdens des Beitritts zu Anwaltsnotaren in eigener Praxis bestellt waren, nach ihrer Zulassung als Rechtsanwalt bei einem Gericht Berlins zugleich auch zu "Anwaltsnotaren nach der Bundesnotarordnung" bestellt. Dies regelt der Einigungsvertrag in Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt IV Nr.1 Buchstabe b, ohne ausdrücklich eine Befreiung von § 5 BNotO auszusprechen. Dies war auch entbehrlich, da die Anwaltszulassung, wie oben dargestellt, bereits auf der Fiktion beruhte, dass die Voraussetzungen von § 5 DRiG als erfüllt galten.

47

2. a) Bei den drei Beschwerdeführern könnten schon allein nach dem Wortlaut des Einigungsvertrages die Voraussetzungen für eine Zulassung zum Anwaltsnotariat vorliegen. Sie hatten lediglich - wie für die Zulassung am Kammergericht (vgl BTDrucks 11/7817, S.33) - die erforderliche Zeit der Zulassung im Sinne von § 6 Abs.2 Nr.1 und 2 BNotO abzuwarten. Da die Zulassung zur Anwaltschaft im Lande Berlin nur an die Voraussetzung geknüpft ist, dass der Diplom-Jurist als Anwalt im Zeitpunkt des Beitritts zugelassen war (so die Beschwerdeführerinnen zu 2 und 3) oder dort später die Voraussetzungen für diese Zulassung erfüllte (so der Beschwerdeführer zu 1), gelten alle Beschwerdeführer nach dem Wortlaut des Einigungsvertrages als nach der Bundesrechtsanwaltsordnung zugelassen. Personen, die im Sinne des Einigungsvertrages als nach der Bundesrechtsanwaltsordnung zugelassen gelten, erfüllen die Voraussetzungen auch für die Zulassung zum Anwaltsnotariat, soweit die Voraussetzungen beider Berufe identisch sind. Ob ein Bewerber um ein Notaramt Voll-Jurist ist, bedarf in Berlin danach keiner erneuten Prüfung. Lediglich für eine Bewerbung um ein Anwaltsnotariat außerhalb Berlins war die ergänzende Regelung in Art.21 Abs.2 Satz 1 des Neuordnungsgesetzes von Bedeutung, die ab 1994 für die Rechtsanwälte des Beitrittsgebiets die Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet hergestellt hat.

48

b) Allein ein solches Verständnis der Normen wird jedenfalls dem Gleichbehandlungsgebot des Art.3 Abs.1 GG unter besonderer Berücksichtigung der Gewährleistung von Art.12 Abs.1 GG gerecht. Sollte der Wortlaut noch andere Auslegungsvarianten zulassen, kommen sie von Verfassungs wegen nicht in Betracht.

49

Es sind keine ausreichend gewichtigen Gründe dafür ersichtlich, den Diplom-Juristen das Anwaltsnotariat zu verschließen, nachdem ihnen das Nur-Notariat nicht nur überall dort offen steht, wo es im Beitrittsgebiet eingeführt worden ist, sondern seit 1998 auch im restlichen Bundesgebiet. An den Anwaltsnotar dürfen nach dem allgemeinen Gleichheitssatz keine strengeren Anforderungen gestellt werden als an den Nur-Notar, zumal der Gesetzgeber solche Differenzierungen zwischen den beiden Notariatsformen in der Bundesnotarordnung auch im Übrigen nicht kennt. Hierauf hat die Bundesnotarkammer zutreffend hingewiesen.

50

Der ursprüngliche Rechtfertigungsgrund, dass zwar in den fünf neuen Ländern die Rechtspflege ohne gewisse Abstriche an der Qualifikation der Juristen nicht hätte aufrechterhalten werden können, dass dies aber für Berlin nicht in gleichem Maße gelte, überzeugt nicht mehr, nachdem der Gesetzgeber den zu Notaren bestellten Diplom-Juristen die volle Freizügigkeit gewährt hat. Seitdem haben sich die Übergangsvorschriften von der Bedarfslage in den neuen Ländern abgelöst.

51

Ebenso wenig ist der Gedanke der Rechtseinheit im Lande Berlin ein zureichender Grund für die angegriffenen Entscheidungen. Diese Rechtseinheit kann mit keiner Auslegungsvariante hergestellt werden. Denn vom Beitritt an sind dort Diplom-Juristen als Anwaltsnotare zugelassen; sie können auch - jedenfalls mit dem Umweg über eine Zulassung in den neuen Ländern - dort weiterhin zu Notaren bestellt werden. Mit Art.13 Abs.7 3.ÄndG BNotO hat der Gesetzgeber die Rechtseinheit vielmehr definitiv zugunsten der Integration der Diplom-Juristen zurückgestellt, indem er ihnen das Notariat in den alten Ländern zugänglich gemacht hat.

52

c) Das Nebeneinander von Diplom-Juristen und Juristen mit der Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz in den Berufen als Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Notare wird nach den ausdrücklich getroffenen Regelungen des Gesetzgebers so lange anhalten, wie Diplom-Juristen noch in diesen Berufen tätig sein werden. Es lässt sich dem seit der Wiedervereinigung geltenden Recht als Grundgedanke entnehmen, dass die Diplom-Juristen mit entsprechender Berufserfahrung den Volljuristen gleichgestellt sind, so dass jede Abweichung hiervon besonderer Begründung bedarf. Eine solche Begründung kann gegebenenfalls aus dem Anforderungsprofil eines Berufes abgeleitet werden; dann müssen die Anforderungen aber für dasselbe Amt ausnahmslos durchgesetzt werden.

53

Nachdem der Gesetzgeber ersichtlich die Diplom-Juristen vom Notaramt nicht hat fernhalten wollen, fehlt es im Anwaltsnotariat Berlins insofern an einer stichhaltigen Rechtfertigung für ihren Ausschluss. Die Besonderheiten des Auswahlverfahrens können entgegen der Auffassung des Bundesministeriums der Justiz ebenfalls nicht als Differenzierungsgrund herangezogen werden. Für Bewerber, deren Zeugnis eine Benotung nicht enthält, bestehen schon Sonderregelungen (vgl Nr.12 Abs.2 Buchstabe a der Allgemeinen Verfügung über Angelegenheiten der Notare vom 22.April 1996, ABl Berlin, S.1741). Die Vermeidung von Problemen bei der Auswahl unter mehreren Bewerbern stellt keinen Gemeinwohlbelang dar, der vor Art.12 Abs.1 GG die vollständige Sperre des Berufszugangs rechtfertigen könnte.

54

d) Die angegriffenen Entscheidungen berücksichtigen die Fiktionen des Einigungsvertrages und der nachfolgenden Gesetze nicht. Ihre Auslegung, die für das Anwaltsnotariat in Berlin für solche Diplom-Juristen, die im Zeitpunkt des Beitritts noch nicht zum Anwaltsnotar bestellt waren, die Befähigung zum Richteramt zwar für den Anwaltsberuf nicht voraussetzt (oder als fingiert ansieht), wohl aber für den Notarberuf fordert, verkennt damit die Reichweite des Art.3 Abs.1 in Verbindung mit Art.12 Abs.1 GG in Ansehung der Gesamtregelung, die der Gesetzgeber zur Integration des Diplom-Juristen getroffen hat. Die Entscheidungen sind daher aufzuheben und die Verfahren zur erneuten Entscheidung in der Sache an die letzte Tatsacheninstanz zurückzuverweisen."

 

Auszug aus BVerfG B, 26.09.01, - 1_BvR_1740/98 -, www.BVerfG.de,  Abs.23 ff

§§§

01.033 NPD-Parteiverbotsverfahren

  1. BVerfG,     B, 01.10.01,     – 2_BvB_1/01 –

  2. BVerfGE_104,63 = www.BVerfG.de

  3. BVerfGG_§_45;

  4. NPD.Verbotsverfahren / Durchführungsanordnung

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Die Verhandlung über die Anträge des Deutschen Bundestags, des Bundesrats und der Bundesregierung, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) für verfassungswidrig zu erklären, ist durchzuführen.

§§§

01.034 Schuldnerspiegel-Internet

  1. BVerfG,     B, 09.10.01,     – 1_BvR_622/01 –

  2. BVerfGE_104,65 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.5 Abs.1 S.1 +2, GG_Art.17; BVerfGG_§_92; BGB_§_1004, BGB_§_823

  4. Erschöpfung / Rechtsweg / Hauptsache / Abhilfe /

T-01-12

LB 1) die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache ist geboten, wenn dort nach der Art des gerügten Grundrechtsverstoßes die Gelegenheit besteht, der verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen (vgl BVerfGE_79,275 <278 f>; BVerfGE_86,15 <22 f> ; stRspr). Dies ist regelmäßig anzunehmen, wenn mit der Verfassungsbeschwerde Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich auf die Hauptsache beziehen (vgl BVerfGE_86,15 <22>).

Abs.30

LB 2) Die Problematik der Prangerwirkung des Schuldnerspiegels hat das Oberlandesgericht auf der Grundlage der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb entschieden. Vorliegend besteht jedoch die Möglichkeit, dass die Gerichte bei der im Hauptsacheverfahren gebotenen umfassenden Sachprüfung den Besonderheiten einer Veröffentlichung im Internet gesteigertes Augenmerk widmen und eine hierauf zugeschnittene Lösung entwickeln.

Abs.31

LB 3) Dem Hauptsacheverfahren kann grundsätzliche Bedeutung zukommen, weil die Zivilgerichte bei der rechtlichen Bewertung von Internetkommunikation inhaltlich Neuland betreten.

Abs.32

LB 4) Es wird von den Zivilgerichten daher zu prüfen sein, ob die mit der im Internet erfolgenden öffentlichen Anprangerung einer Person als Schuldner verbundenen nachteiligen Wirkungen Besonderheiten bei der rechtlichen Würdigung, insbesondere bei der Abwägung mit den ebenfalls grundrechtlich geschützten Kommunikationsinteressen der Domain-Inhaber, bewirken.

Abs.37

LB 5) Die Nutzung des erst im Aufbau befindlichen und daher mit erheblichen rechtlichen Unsicherheiten verbundenen Internet für eine neuartige, Dritte gezielt in ihren grundrechtlich geschützten Positionen belastende Tätigkeit ist mit einem rechtlichen Risiko verbunden. Dies besteht auch darin, gegebenenfalls eine gerichtliche Klärung abwarten zu müssen, die in der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes im Interesse der Richtigkeit des gefundenen Ergebnisses die Einschaltung mehrerer Instanzen vorsieht.

* * *

T-01-12Subsidiaritätsgrundsatz

23

"Einer Sachprüfung der auf eine Verletzung der Grundrechte aus Art.5 Abs.1 Satz 1 und 2, Art.17 GG gestützten Rüge steht der Grundsatz der Subsidiarität entgegen.

24

1. Die angegriffenen Entscheidungen sind im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangen. Der in diesem Verfahren zulässige Rechtsweg ist erschöpft, da die Revision gegen das Urteil des Oberlandesgerichts gemäß § 545 Abs.2 Satz 1 ZPO nicht zulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fordert der Grundsatz der Subsidiarität im materiellen Sinne jedoch zusätzlich, dass der Beschwerdeführer über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus die ihm zur Verfügung stehenden weiteren Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erreichen oder diese gar zu verhindern. Daher ist die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache geboten, wenn dort nach der Art des gerügten Grundrechtsverstoßes die Gelegenheit besteht, der verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen (vgl BVerfGE_79,275 <278 f>; BVerfGE_86,15 <22 f> ; stRspr). Dies ist regelmäßig anzunehmen, wenn mit der Verfassungsbeschwerde Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich auf die Hauptsache beziehen (vgl BVerfGE_86,15 <22>). Mit dem Vorbringen, sie sei in ihrem Grundrecht aus Art.5 Abs.1 und Art.17 GG verletzt, erhebt die Beschwerdeführerin vorliegend Rügen, die das Hauptsacheverfahren betreffen.

25

Die Beschwerdeführerin hat den Rechtsweg erschöpft, soweit sie nach § 926 Abs.1 ZPO den Antrag auf Fristsetzung zur Erhebung der Hauptsacheklage gestellt hat (vgl zu dieser Voraussetzung auch BVerfGE_75,318 <325>). Über die von der Verfügungsklägerin daraufhin erhobene Klage ist jedoch noch nicht entschieden worden.

26

2. Die Voraussetzungen, unter denen vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung in der Hauptsache abgesehen werden könnte, liegen nicht vor.

27

Ein Beschwerdeführer darf bei der Rüge von Grundrechtsverletzungen, die sich auf die Hauptsache beziehen, dann nicht auf das Hauptsacheverfahren verwiesen werden, wenn dies für ihn unzumutbar ist, etwa weil die Durchführung des Verfahrens von vornherein aussichtslos erscheinen muss (vgl BVerfGE_70,180 <186>), oder wenn die Entscheidung von keiner weiteren tatsächlichen und rechtlichen Klärung abhängt und diejenigen Voraussetzungen gegeben sind, unter denen das Bundesverfassungsgericht gemäß § 90 Abs.2 Satz 2 BVerfGG sofort entscheiden kann (vgl BVerfGE_79,275 <279>; BVerfGE_86,15 <22 f>).

28

a) Das Oberlandesgericht hat zwar die für die Beurteilung maßgeblichen Rechtsfragen schon im Verfügungsverfahren nicht nur summarisch geprüft. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen aber auf der Beurteilung schwieriger rechtlicher Fragen, die in der fachgerichtlichen Rechtsprechung noch nicht höchstrichterlich entschieden sind. Das Hauptsacheverfahren bietet daher Möglichkeiten weiterer Klärung.

29

aa) Dies gilt zum einen für die Rüge der Verletzung des Art.5 Abs.1 Satz 1 und 2 GG.

30

Die Problematik der Prangerwirkung der hier in Rede stehenden Veröffentlichung hat das Oberlandesgericht auf der Grundlage der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb entschieden. Vorliegend besteht jedoch die Möglichkeit, dass die Gerichte bei der im Hauptsacheverfahren gebotenen umfassenden Sachprüfung den Besonderheiten einer Veröffentlichung im Internet gesteigertes Augenmerk widmen und eine hierauf zugeschnittene Lösung entwickeln. Auch kann das Hauptsacheverfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zur Anrufung des Bundesgerichtshofs führen (vgl § 543 Abs.1 Nr.1, Abs.2 Nr.1 und § 544 ZPO nF).

31

Dem Hauptsacheverfahren kann grundsätzliche Bedeutung zukommen, weil die Zivilgerichte bei der rechtlichen Bewertung von Internetkommunikation inhaltlich Neuland betreten. Das Internet ist ein weltumspannender, in schnellem Wachstum begriffener Zusammenschluss zahlreicher öffentlicher und privater Computernetze. Es ist für den Informationsaustausch zwischen bestimmten Teilnehmern verfügbar (etwa für die Versendung von e-mails), aber auch für die mit dem "Schuldnerspiegel" beabsichtigte Kommunikation an eine unbestimmte und grundsätzlich unbegrenzte Öffentlichkeit. Die Nutzbarkeit wird durch eine Vielzahl von Suchdiensten erleichtert, die ein systematisches Auffinden einzelner Informationen aus großen Datenmassen erleichtern und es zum Beispiel erlauben, das Internet nach bestimmten Informationstypen oder konkreten Informationen durchzusehen und in kurzer Zeit die jeweils interessierende Information zu identifizieren. Es ermöglicht ferner spezifische Formen der Informationsverknüpfung unter Einbeziehung anderer im Netz verfügbarer Inhalte. Die Information kann für einen langen oder gar unbegrenzten Zeitraum bereitgehalten werden.

32

Derartige Besonderheiten des Internet können dazu führen, dass eine Information schnell für alle verfügbar ist, die an ihr interessiert sind, und dass sie mit anderen relevanten Informationen leicht kombiniert werden kann. Es wird von den Zivilgerichten daher zu prüfen sein, ob die mit der im Internet erfolgenden öffentlichen Anprangerung einer Person als Schuldner verbundenen nachteiligen Wirkungen Besonderheiten bei der rechtlichen Würdigung, insbesondere bei der Abwägung mit den ebenfalls grundrechtlich geschützten Kommunikationsinteressen der Domain-Inhaber, bewirken. Auch werden die Gerichte klären müssen, wie weit die von der Beschwerdeführerin verfolgten Zwecke und die beabsichtigte redaktionelle Bearbeitung der zunächst von Gläubigern bereitgestellten Informationen rechtserheblich sind. Dabei ist es auch Aufgabe der Zivilgerichte, die Ausstrahlungswirkung der betroffenen Grundrechte in das einfache Recht zu berücksichtigen.

33

Damit besteht die Aussicht, dem Bundesverfassungsgericht für den Fall einer gegen die letztinstanzliche Hauptsachenentscheidung gerichteten Verfassungsbeschwerde die vertieft begründete Rechtsauffassung der Fachgerichte unter Einschluss des Bundesgerichtshofs zu vermitteln; zugleich wird auf diese Weise der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung entsprochen, nach der vorrangig die Fachgerichte Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen gewähren (vgl BVerfGE_68,376 <380> mwN).

34

bb) Bei der vorherigen fachgerichtlichen Prüfung können auch die Gesichtspunkte gewürdigt werden, auf denen die Rüge der Verletzung des Petitionsrechts aus Art.17 GG beruht.

35

Die angegriffenen Entscheidungen unterbinden den Zugang eines Schreibens an die öffentliche Hand, also an eine nach Art.17 GG "zuständige Stelle". Das gerichtliche Verbot gilt aber der Durchsetzung eines von der Verfügungsklägerin geltend gemachten zivilrechtlichen Anspruchs. Für die Entscheidung in der Hauptsache bedarf es der Klärung, ob der Schutzbereich des Art.17 GG unter diesen Umständen berührt ist beziehungsweise wie weit Art.17 GG im Rahmen mittelbarer Drittwirkung von Grundrechten auf zivilrechtliche Beziehungen einwirken kann.

36

b) Die Zumutbarkeit des Abwartens einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren scheitert auch nicht daran, dass die Beschwerdeführerin vorträgt, von der Eilentscheidung der Zivilgerichte in existentieller Weise betroffen zu sein, so dass ihr ein schwerer und unabwendbarer Nachteil im Sinne des § 90 Abs.2 Satz 2 BVerfGG entstehe.

37

Die Nutzung des erst im Aufbau befindlichen und daher mit erheblichen rechtlichen Unsicherheiten verbundenen Internet für eine neuartige, Dritte gezielt in ihren grundrechtlich geschützten Positionen belastende Tätigkeit ist mit einem rechtlichen Risiko verbunden. Dies besteht auch darin, gegebenenfalls eine gerichtliche Klärung abwarten zu müssen, die in der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes im Interesse der Richtigkeit des gefundenen Ergebnisses die Einschaltung mehrerer Instanzen vorsieht. Dazu wird ungeachtet des rechtsstaatlichen Gebots der Zügigkeit gerichtlicher Verfahren notwendigerweise Zeit benötigt. Das Abwarten der fachgerichtlichen Prüfung der im Instanzenzug ergehenden letztinstanzlichen Entscheidung dient auch der Rechtssicherheit und kommt daher grundsätzlich allen von dem Rechtsstreit Betroffenen zugute."

 

Auszug aus BVerfG B, 09.10.01, - 1_BvR_622/01 -, www.BVerfG.de,  Abs.23 ff

§§§

01.035 "Kalte Enteignung"

  1. BVerfG,     B, 10.10.01,     – 1_BvL_17/00 –

  2. BVerfGE_104,74 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1; EntschG_§_1 Abs.3

  4. Entschädigungsgesetz / Gleichheitssatz / Vereinbarkeit.

 

§ 1 Abs.3 des Gesetzes über die Entschädigung nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen vom 27.September 1994 ist mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG unvereinbar und nichtig. Deshalb ist auch für Mietshausgrundstücke im Beitrittsgebiet, die in der Deutschen Demokratischen Republik auf Grund nicht kostendeckender Mieten und infolgedessen eingetretener oder unmittelbar bevorstehender Überschuldung durch Eigentumsverzicht, Schenkung oder Erbausschlagung in Volkseigentum übernommen wurden und nicht in Natur zurückgegeben werden können, eine Entschädigung zu gewähren.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 1 Absatz 3 des Gesetzes über die Entschädigung nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Entschädigungsgesetz - EntschG) vom 27.September 1994 (Bundesgesetzblatt I Seite 2624) ist mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

§§§

01.036 Blockadeaktion

  1. BVerfG,     B, 24.10.01,     – 1_BvR_1190/90 –

  2. BVerfGE_104,92 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.8, GG_Art.103 Abs.2; StGB_§_240 Abs.1, StGB_§_240 Abs.2

  4. § 240/1 StGB / körperliche Anwesenheit / psychische Barriere / Gewalt / Nötigung / Versammlung / Selbstbestimmungsrecht / Rechte anderer.

 

1) Art.103 Abs.2 GG ist nicht verletzt, wenn die Strafgerichte das Tatbestandsmerkmal der Gewalt in § 240 Abs.1 StGB auf Blockadeaktionen anwenden, bei denen die Teilnehmer über die durch ihre körperliche Anwesenheit verursachte psychische Einwirkung hinaus eine physische Barriere errichten.

 

2) Versammlung im Sinne des Art.8 GG ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.

 

3) Das Selbstbestimmungsrecht der Träger des Grundrechts der Versammlungsfreiheit hinsichtlich Ziel und Gegenstand sowie über Ort, Zeitpunkt und Art der Versammlung umfasst nicht auch die Entscheidung, welche Beeinträchtigungen die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben.

 

4) Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Prüfung der Verwerflichkeit nach § 240 Abs.2 StGB.

 

LB 5) Zur abweichenden Meinung der Richterin Dr Haas, siehe BVerfGE_104,115 = www.BVerfG.de, Abs.70 ff.

 

LB 6) Zur abweichenden Meinung der Richterin Jaeger und des Richters Prof Dr Bryde, siehe BVerfGE_104,124 = www.BVerfG.de, Abs.95 f.

§§§

01.037 Dienstbeschädigungsteilrenten

  1. BVerfG,     B, 21.11.01,     – 1_BvL_19/93 –

  2. BVerfGE_104,126 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1; AAÜG_§_9 Abs.1 Nr.2 S.2, AAÜG_§_11 Abs.2, AAÜG_§_11 Abs.5 S.2

  4. Wiedervereinigung / DDR / Dienstbeschädigungsteilrenten / Beendung / ostdeutsche Unfallrente / Überführung / gesetzliche Unfallversicherung.

 

Es verstößt gegen Art.3 Abs.1 GG, wenn der Gesetzgeber im Zuge der Wiedervereinigung die Zahlung von Dienstbeschädigungsteilrenten beendet, die den Angehörigen von Sonderversorgungssystemen der Deutschen Demokratischen Republik zum Ausgleich einer durch Dienstunfall oder Diensterkrankung verursachten Beschädigung gewährt wurden, demgegenüber aber die ostdeutschen Unfallrenten in die gesamtdeutsche gesetzliche Unfallversicherung überführt.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) § 9 Absatz 1 Nummer 2 Satz 2 des Gesetzes zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets (Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz - AAÜG) vom 25.Juli 1991 (Bundesgesetzblatt I Seite 1606, 1677) ist mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit auf Grund der in der Vorschrift angeordneten Anrechnung die Dienstbeschädigungsteilrente wegfällt.

2) § 11 Absatz 2 und Absatz 5 Satz 2 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes sowie § 11 Absatz 2 Satz 1 und Absatz 5 Satz 2 dieses Gesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG-Änderungsgesetz - AAÜG-ÄndG) vom 11.November 1996 (Bundesgesetzblatt I Seite 1674) sind mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit danach Dienstbeschädigungsteilrenten nicht gewährt werden.

3) Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 10.Mai 1994 - RA 49/93 -, das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 25. August 1993 - L 1 An 44/92 -, das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 18. August 1992 - S (KG) 8 An 4/92 - und der Bescheid des Wehrbereichsgebührnisamtes VII vom 23.Juli 1991 - 67-01-00 - in der Fassung des Widerspruchsbescheids der Wehrbereichsverwaltung VII in Strausberg vom 3.Dezember 1991 - II B 4 Az 20-01-10 - verletzen den Beschwerdeführer zu 1 in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Urteile des Bundessozialgerichts und des Landessozialgerichts werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt zurückverwiesen.

4) Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 10. Mai 1994 - 4 RA 47/93 -, das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 25. August 1993 - L 1 An 40/92 -, das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 30. Juni 1992 - S 5 An 138/92 - und der Bescheid der Bezirksregierung Halle vom 20. September 1991 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 22. Januar 1992 - 14.P - verletzen den Beschwerdeführer zu 2 in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Urteile des Bundessozialgerichts und des Landessozialgerichts werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt zurückverwiesen.

5) Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 29. September 1994 - 4 RA 7/94 -, das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 18. Mai 1993 - S 4 An 9/93 - und der Bescheid des Wehrbereichsgebührnisamtes VII vom 29.Mai 1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheids der Wehrbereichsverwaltung VII in Strausberg vom 18.Dezember 1992 - II B 4.030 Az 20-01-10 - verletzen den Beschwerdeführer zu 3 in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Urteile werden aufgehoben. Die Sache wird an das Sozialgericht Halle zurückverwiesen.

6) Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 15.Dezember 1994 - 4 RA 23/94 -, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg vom 20.Januar 1994 - L 2 An 27/93 -, das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 8.Juli 1993 - S 3a An 829/92 - und der Bescheid des Bundesverwaltungsamtes - Außenstelle Berlin-Lichtenberg - vom 31.Juli 1991 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 7.November 1991 - IX 4 - verletzen die Beschwerdeführerin zu 4 in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Urteile des Bundessozialgerichts und des Landessozialgerichts werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landessozialgericht für das Land Brandenburg zurückverwiesen.

7) Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

01.038 Nato-Konzept

  1. BVerfG,     U, 22.11.01,     – 2_BvE_6/99 –

  2. BVerfGE_104,151 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.24 Abs.2, GG_Art.59 Abs.2 S.1

  4. Sicherheitssystem / Einordnung / Zustimmung - Gesetzgeber / Fortentwicklung.

 

1) Die Einordnung Deutschlands in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit bedarf nach Art.24 Abs.2 iVm Art.59 Abs.2 Satz 1 GG der Zustimmung des Gesetzgebers.

 

2) Die Fortentwicklung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art.24 Abs.2 GG, die keine Vertragsänderung ist, bedarf keiner gesonderten Zustimmung des Bundestags.

 

3) Die Zustimmung der Bundesregierung zur Fortentwicklung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit darf nicht die durch das Zustimmungsgesetz bestehende Ermächtigung und deren verfassungsrechtlichen Rahmen gem Art.24 Abs.2 GG überschreiten. 3) Die Zustimmung der Bundesregierung zur Fortentwicklung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit darf 6? v? nicht die durch das Zustimmungsgesetz bestehende Ermächtigung und deren verfassungsrechtlichen Rahmen gem Art.24 Abs.2 GG überschreiten.

 

4) Der Bundestag wird in seinem Recht auf Teilhabe an der auswärtigen Gewalt verletzt, wenn die Bundesregierung die Fortentwicklung des Systems jenseits der ihr erteilten Ermächtigung betreibt.

 

5) Die Fortentwicklung darf nicht die durch Art.24 Abs.2 GG festgelegte Zweckbestimmung des Bündnisses zur Friedenswahrung verlassen.

 

6) Das neue Strategische Konzept der NATO von 1999 ist weder ein förmlich noch ein konkludent zu Stande gekommener Vertrag.

§§§

01.039 Vorabentscheidung

  1. BVerfG,     B, 22.11.01,     – 2_BvB_1/01 –

  2. BVerfGE_104,214 = www.BVerfG.de

  3. EGV_Art.234 Abs.1 Buchst.a, EGV_Art.191

  4. Gemeinschaftsrecht - vertragliches / Auslegung / Vorabentscheidung.

T-01-13

LB 1) Die Voraussetzungen für die Vorlage auf Vorabentscheidung beim Europäischen Gerichtshof nach Art.234 Abs.1 Buchstabe a EGV liegen nicht vor. Fragen der Auslegung von vertraglichem Gemeinschaftsrecht bedürfen keiner Klärung.

Abs.15

LB 2) Eine Zuständigkeit zur Regelung des Rechts der politischen Parteien hat die Gemeinschaft nach geltendem Vertragsrecht nicht.

Abs.18

LB 3) Es fällt in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten darüber zu entscheiden, welche Parteien sich an der Wahl beteiligen dürfen.

Abs.19

LB 4) Allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechtsschutz begründen entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ebenfalls keine vorlagefähige Frage.

* * *

T-01-13Vorabentscheidung EuGH

14

"1. Die Voraussetzungen für die Vorlage auf Vorabentscheidung beim Europäischen Gerichtshof nach Art.234 Abs.1 Buchstabe a EGV liegen nicht vor. Fragen der Auslegung von vertraglichem Gemeinschaftsrecht bedürfen keiner Klärung.

15

Eine Zuständigkeit zur Regelung des Rechts der politischen Parteien hat die Gemeinschaft nach geltendem Vertragsrecht nicht. Das Gemeinschaftsrecht beschränkt sich auf die Regelung des Art.191 EGV. Diese Vorschrift bestimmt:

16

"Politische Parteien auf europäischer Ebene sind wichtig als Faktor der Integration in der Union. Sie tragen dazu bei, ein europäisches Bewusstsein herauszubilden und den politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen."

17

Die Norm erkennt die Funktion der politischen Parteien auf europäischer Ebene im Prozess der europäischen Integration an und ist insoweit die Grundlage für die Bildung von gemeinsamen Fraktionen der als Mitglieder bestimmter nationaler Parteien gewählten Abgeordneten im Europäischen Parlament.

18

Eine Aussage dazu, ob und unter welchen Voraussetzungen eine politische Partei durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union verboten werden kann, enthält das Gemeinschaftsrecht nicht. Die Beteiligung einer Partei auf mitgliedstaatlicher Ebene an einer Wahl zum Europäischen Parlament wirft keine gemeinschaftsrechtlichen Fragen auf. Regelung und Durchführung einer solchen Wahl sind nach Art.190 EGV iVm Art.7 Abs.2 DWA Sache der Mitgliedstaaten. Es fällt folglich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten darüber zu entscheiden, welche Parteien sich an der Wahl beteiligen dürfen. Das folgt auch aus Art.12 Abs.2 DWA der das Freiwerden eines Mandats im Europäischen Parlament auf Grund des innerstaatlichen Rechts regelt. Zu den den Staaten bei Beschluss des Direktwahlakts bekannten Gründen für den Verlust des Mandats gehört auch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer politischen Partei. Folglich normiert § 22 Abs.2 Nr.5 des Gesetzes über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland in der Fassung der Bekanntmachung vom 8.März 1994 (Europawahlgesetz - EuWG; BGBl I S.423, ber S.555 ) entsprechend § 46 Abs.1 Nr.5 BWahlG, dass ein Abgeordneter die Mitgliedschaft im Europäischen Parlament bei Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei des Abgeordneten durch das Bundesverfassungsgericht nach Art.21 Abs.2 Satz 2 GG verliert.

19

Allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechtsschutz begründen entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin ebenfalls keine vorlagefähige Frage. Die Anwendbarkeit dieser Grundsätze setzt voraus, dass entweder die Gemeinschaft selbst oder aber ein Mitgliedstaat im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts tätig wird. Eine allgemeine Bindung der Mitgliedstaaten an die konstitutionellen Vorschriften des Unions- und Gemeinschaftsrechts besteht nicht (stRspr; vgl EuGH, Urteil vom 18.Juni 1991, Rs.C-260/89, Slg.1991, I-2925; vgl auch Art.51 Charta der Grundrechte der EU).

20

2. Auch eine Vorlage gemäß Art.234 Abs.1 Buchstabe b EGV wäre unzulässig. Danach entscheidet der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über die "Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft". Insoweit käme allein der genannte Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Betracht. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine auf der Grundlage vertraglicher Ermächtigung ergangene Handlung der Organe der Gemeinschaft, sondern um einen ratifizierungsbedürftigen völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des EG-Vertrags (vgl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 18.Februar 1999, Rs.24833/94, Matthews gegen Vereinigtes Königreich Rn.31 ff). 21

21

3. Eine Vorlage gemäß Art.68 Abs.1 EGV kommt nicht in Betracht, weil die zur Entscheidung stehenden Fragen nicht den freien Personenverkehr im Sinne der Art.61 ff EGV berühren.

22

4. Eine Vorlage zum Recht des Vertrags über die Europäische Union gemäß Art.46 EUV in Verbindung mit Art.234 EGV wäre ebenfalls nicht zulässig. Insoweit kommt nur Art.46 Buchstabe d EUV in Betracht. Danach gelten die Bestimmungen des Art.234 EGV nur für die Vorschriften des Art.6 Abs.2 EUV und dies nur in Bezug auf Handlungen der Organe. Bei dem hier in Frage stehenden Verfahren auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer politischen Partei gemäß Art.21 Abs.2 GG stehen jedoch Handlungen des Europäischen Rates oder der Europäischen Gemeinschaftsorgane nicht in Rede. Soweit der Vertrag über die Europäische Union gemäß Art.6 Abs.1 EUV gegebenenfalls materielle Anforderungen an die mitgliedstaatlichen verfassungsmäßigen Ordnungen auch für die Parteiverbote ergeben sollte, schiede eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof demnach bereits deswegen aus, weil der Gerichtshof für die Auslegung der Vorschrift insoweit nicht zuständig ist."

 

Auszug aus BVerfG B, 22.11.01, - 2_BvB_1/01 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.14 ff

§§§

01.040 Abschiebungshaft

  1. BVerfG,     B, 05.12.01,     – 2_BvR_527/99 –

  2. BVerfGE_104,220 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.19 Abs.4; AuslG_§_57 Abs.1; FEVG_§_11

  4. Inhaftierung / Freiheitsverlust / Rehabilitierungsinteresse / Rechtsschutzbedürfnis / nach Erledigung der Maßnahme.

 

1) Ein Freiheitsverlust durch Inhaftierung (hier: Abschiebungshaft) indiziert ein Rehabilitierungsinteresse des Betroffenen, das ein von Art.19 Abs.4 GG umfasstes Rechtsschutzbedürfnis für die Feststellung der Rechtswidrigkeit auch dann begründet, wenn die Maßnahme erledigt ist.

 

2) Die Gewährung von Rechtsschutz kann hier weder vom konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme noch davon abhängen, ob Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden kann (Ergänzung zu BVerfGE_96,27).

§§§

01.041 Moratorium Gorleben

  1. BVerfG,     B, 05.12.01,     – 2_BvG_1/00 –

  2. BVerfGE_104,238 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.20 Abs.3, GG_Art.20a, GG_Art.87 Abs.3 S.1

  4. Bund Kompetenzausübungsschranke / bundesfreundliches Verhalten / Akzessorietät / Rechtsposition der Länder / Vollzug bestimmter Gesetze.

 

Als Kompetenzausübungsschranke für den Bund setzt der Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens wegen seiner Akzessorietät eine korrespondierende Rechtsposition der Länder voraus. Allein der Umstand, dass das Land für den Vollzug bestimmter Gesetze zuständig ist, begründet noch keine solche Rechtsposition.

§§§

01.042 Ehrenamtl-Parteileistungen

  1. BVerfG,     B, 06.12.01,     – 2_BvE_3/94 –

  2. BVerfGE_104,287 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. PartG_§_26 Abs.4 S.1, PartG_§_26 Abs.4 S.2

  4. Parteienfinanzierung / ehrenamtliche Leistungen / Nichtberücksichtigung.

 

Zur Nichtberücksichtigung ehrenamtlicher Leistungen von Parteimitgliedern im Recht der staatlichen Parteienfinanzierung.

§§§

01.043 IHK-Zwangsmitgliedschaft

  1. BVerfG,     B, 07.12.01,     – 1_BvR_1806/98 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.9 Abs.1; BVerfGG_§_93a Abs.2; IHKG_§_3 Abs.2 S.1,

  4. Vereinigungsfreiheit / Schutz / Eingliederung / öffentlich-rechtliche Körperschaft / privatrechtlicher freiwilliger Zusammenschluss / Fernbleiberecht / Zwangskorporation / Prüfungsmaßstab.

Abs.28

LB 1) Art.9 Abs.1 GG schützt nicht vor einer gesetzlich angeordneten Eingliederung in eine öffentlichrechtliche Körperschaft (vgl BVerfGE_10,89 <102>; BVerfGE_10,354 <361 f>; BVerfGE_15,235 <239>; BVerfGE_38,281 <297 f>).

Abs.29

LB 2) Der Schutz der Vereinigungsfreiheit greift ein, wenn es um einen privatrechtlichen Zusammenschluss natürlicher oder juristischer Personen geht, der auf Dauer angelegt ist, auf der Basis der Freiwilligkeit erfolgt, zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks konstituiert ist und eine organisierte Willensbildung aufweist.

Abs.30

LB 3) Auch aus der Entstehungsgeschichte folgt, dass Art.9 Abs.1 GG nicht im Sinne eines umfassenden Fernbleiberechts gegenüber öffentlichrechtlichen Verbänden verstanden werden kann.

Abs.34

LB 4) Wenn vom Bundesverfassungsgericht der Schutzbereich des Art.9 Abs.1 GG in ständiger Rechtsprechung auf das Recht ausgedehnt wird, einer Vereinigung fernzubleiben (vgl BVerfGE_10,89 <102> ; BVerfGE_50,290 <354>), so reicht dieser Schutz der negativen Vereinigungsfreiheit daher nicht weiter als der Schutzbereich der positiven Gewährleistung. Den Bürgerinnen und Bürgern ist die Freiheit garantiert, sich auf freiwilliger Basis zusammenzuschließen, und der Staat darf nicht andere Bürger zwingen, sich diesem freiwilligen Zusammenschluss anzuschließen.

Abs.35

LB 5) Prüfungsmaßstab für den Schutz gegen die Inanspruchnahme als Mitglied einer Zwangskorporation ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Art.2 Abs.1 GG (vgl BVerfGE_10,89 <102>; BVerfGE_10,354 <363>; BVerfGE_15,235 <239>; BVerfGE_38,281 <297 f>).

Abs.37

LB 6) Voraussetzung für die Errichtung eines öffentlich-rechtlichen Verbands mit Zwangsmitgliedschaft ist, dass der Verband legitime öffentliche Aufgaben erfüllt (vgl BVerfGE_10,89 <102>; BVerfGE_15,235 <241>; BVerfGE_38,281 <299>). Damit sind Aufgaben gemeint, an deren Erfüllung ein gesteigertes Interesse der Gemeinschaft besteht, die aber weder allein im Wege privater Initiative wirksam wahrgenommen werden können noch zu den im engeren Sinn staatlichen Aufgaben zählen, die der Staat selbst durch seine Behörden wahrnehmen muss (vgl BVerfGE_38,281 <299>). Bei der Einschätzung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kommt dem Staat ein weites Ermessen zu.

Abs.38

LB 7) Die Änderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, zum Beispiel die Änderung der Struktur von den in den Kammern zusammengefassten Unternehmen und die Entwicklung des Verbandswesens im entsprechenden Bereich, verlangt vom Gesetzgeber allerdings die ständige Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine öffentlichrechtliche Zwangskorporation noch bestehen.

Abs.40

LB 8) Die Organisation dieser öffentlichen Aufgabe in einer Selbstverwaltungskörperschaft mit Zwangsmitgliedschaft ist auch im Lichte der geänderten Verhältnisse noch verhältnismäßig, nämlich geeignet und erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne.

* * *

T-01-14Verfassungsmäßigkeit

22

"Die Verfassungsbeschwerde ist mangels Vorliegens der Annahmevoraussetzungen (§ 93a Abs.2 BVerfGG) nicht zur Entscheidung anzunehmen.

23

Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung. Die mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfene Frage der Vereinbarkeit der Zwangsmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer mit dem Grundgesetz lässt sich anhand der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl BVerfGE_15,235 ff; BVerfGE_38,281 ff) beantworten.

24

Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt, da sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Die Verfassungsbeschwerde ist zum Teil unzulässig, im Übrigen unbegründet.

I.

25

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie mittelbar gesondert gegen § 3 Abs.2 Satz 1 in Verbindung mit Abs.3 IHKG (auch) in der neuesten, ab 1.Januar 1998 und ab 1.Januar 1999 wirksamen Fassung gerichtet ist. Hinsichtlich der Neufassung ist die Beschwerdeführerin nicht beschwert, da die neue Fassung dem Ausgangsverfahren noch nicht zugrunde lag (vgl BVerwGE_107,169 <170>). Insoweit ist auch der Rechtsweg noch nicht erschöpft. Zudem fehlt es an einer ausreichenden Substantiierung.

II.

26

Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Die Pflichtmitgliedschaft der Beschwerdeführerin in einer Industrie- und Handelskammer ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

27

1. Der Schutzbereich von Art.9 Abs.1 GG ist nicht berührt.

28

Art.9 Abs.1 GG schützt nicht vor einer gesetzlich angeordneten Eingliederung in eine öffentlichrechtliche Körperschaft (vgl BVerfGE_10,89 <102>; BVerfGE_10,354 <361 f>; BVerfGE_15,235 <239>; BVerfGE_38,281 <297 f>).

29

a) Der Schutz der Vereinigungsfreiheit greift ein, wenn es um einen privatrechtlichen Zusammenschluss natürlicher oder juristischer Personen geht, der auf Dauer angelegt ist, auf der Basis der Freiwilligkeit erfolgt, zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks konstituiert ist und eine organisierte Willensbildung aufweist (vgl Löwer, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd.1, 5.Aufl 2000, Art.9 Rn.27 ff; Bauer, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd.I, 1996, Art.9 Rn.33 ff.; Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 38.Erg-Lief 2001, Art.9 Rn.57; Rinken, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Alternativkommentar, 3.Aufl 2001, Art.9 Abs.1 Rn.46; Kemper, in: v Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd.1, 4.Aufl 1999, Art.9 Rn.78). Damit ist das Element der Freiwilligkeit für den in Art.9 Abs.1 GG verwandten Vereinsbegriff konstituierend. Vereinigungen, die ihre Entstehung und ihren Bestand nicht grundrechtsinitiierter Freiwilligkeit verdanken - wie hier die Industrie- und Handelskammer -, unterfallen daher von vornherein nicht dem Vereinsbegriff des Art.9 Abs.1 GG.

30

b) Auch aus der Entstehungsgeschichte folgt, dass Art.9 Abs.1 GG nicht im Sinne eines umfassenden Fernbleiberechts gegenüber öffentlichrechtlichen Verbänden verstanden werden kann.

31

Schon im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee wurde der Vorschlag der Ergänzung der Vereinigungsfreiheit um eine Regelung, dass niemand solle gezwungen werden dürfen, sich einer Vereinigung anzuschließen, abgelehnt. Die Ablehnung gründete sich auf die möglicherweise bestehende Notwendigkeit, auch künftig Angehörige bestimmter Berufe in öffentlich-rechtlichen Organisationen verpflichtend zusammenzufassen (Dt Bundestag/Bundesarchiv , Der Parlamentarische Rat. 1948-1949. Akten und Protokolle, Bd.2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, bearbeitet von Peter Bucher, 1981, Dok Nr.14, S.514 f).

32

Auf dieser eindeutigen Stellungnahme bauen die Beratungen des Parlamentarischen Rats auf. Dieser trennte die allgemeine Vereinigungsfreiheit von den arbeitsverfassungsrechtlichen Problemen, fasste aber beide Aspekte der Vereinigungsfreiheit in einen Artikel, wobei nur für die Koalitionsfreiheit ein ausdrückliches Fernbleiberecht diskutiert wurde (Dt. Bundestag/Bundesarchiv , Der Parlamentarische Rat, 1948-1949, Akten und Protokolle, Bd.7: Entwürfe zum Grundgesetz, bearbeitet von Michael Hollmann, 1995, Dok Nr.1, S.4; Bd.5/1: Ausschuss für Grundsatzfragen, bearbeitet von Eberhard Pikart und Wolfram Werner, 1993, Dok Nr.7, S.123 ff.; Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948/49, S. 569 ff).

33

Den Mitgliedern des Parlamentarischen Rats war in dieser Diskussion die Existenz berufsständischer Zwangszusammenschlüsse bewusst. Diesen alten Traditionszusammenhang wollten sie weder unterbrechen noch aufheben, sonst hätte dies besonders zum Ausdruck gebracht werden müssen.

34

c) Wenn vom Bundesverfassungsgericht der Schutzbereich des Art.9 Abs.1 GG in ständiger Rechtsprechung auf das Recht ausgedehnt wird, einer Vereinigung fernzubleiben (vgl BVerfGE_10,89 <102>; BVerfGE_50,290 <354>), so reicht dieser Schutz der negativen Vereinigungsfreiheit daher nicht weiter als der Schutzbereich der positiven Gewährleistung. Den Bürgerinnen und Bürgern ist die Freiheit garantiert, sich auf freiwilliger Basis zusammenzuschließen, und der Staat darf nicht andere Bürger zwingen, sich diesem freiwilligen Zusammenschluss anzuschließen.

35

2. Prüfungsmaßstab für den Schutz gegen die Inanspruchnahme als Mitglied einer Zwangskorporation ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Art.2 Abs.1 GG (vgl BVerfGE_10,89 <102>; BVerfGE_10,354 <363>; BVerfGE_15,235 <239>; BVerfGE_38,281 <297 f>).

36

Diese Vorschrift stellt ein hinreichendes Instrument zur Abwehr unnötiger Pflichtverbände dar und erlaubt damit auch, dem Prinzip der freien sozialen Gruppenbildung, das Art.9 Abs.1 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl BVerfGE_38,281 <303>; BVerfGE_50,290 <353>) zugrunde liegt, gerecht zu werden. Zugleich lässt dieser Prüfungsmaßstab aber dem Staat genügende Gestaltungsfreiheit, damit er seine Aufgaben angemessen wahrnehmen kann. Zwangsverbände sind danach nur zulässig, wenn sie öffentlichen Aufgaben dienen und ihre Errichtung, gemessen an diesen Aufgaben, verhältnismäßig ist.

37

a) Voraussetzung für die Errichtung eines öffentlich-rechtlichen Verbands mit Zwangsmitgliedschaft ist, dass der Verband legitime öffentliche Aufgaben erfüllt (vgl BVerfGE_10,89 <102>; BVerfGE_15,235 <241>; BVerfGE_38,281 <299>). Damit sind Aufgaben gemeint, an deren Erfüllung ein gesteigertes Interesse der Gemeinschaft besteht, die aber weder allein im Wege privater Initiative wirksam wahrgenommen werden können noch zu den im engeren Sinn staatlichen Aufgaben zählen, die der Staat selbst durch seine Behörden wahrnehmen muss (vgl BVerfGE_38,281 <299>). Bei der Einschätzung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kommt dem Staat ein weites Ermessen zu.

38

Die Änderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, zum Beispiel die Änderung der Struktur von den in den Kammern zusammengefassten Unternehmen und die Entwicklung des Verbandswesens im entsprechenden Bereich, verlangt vom Gesetzgeber allerdings die ständige Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine öffentlichrechtliche Zwangskorporation noch bestehen. Dies hat der Gesetzgeber bei der letzten Gesetzesreform im Jahre 1998 überprüft und bejaht, wie die begleitende Entschließung des Deutschen Bundestages vom 1. April 1998 (vgl BTDrucks 13/10297, S.1; BTProtokoll 13/227, S.20897 ff <20901>) zeigt. Nach dem Entschließungsantrag kommt vornehmlich der Herstellung eines "Gesamtinteresses" Bedeutung zu. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber nach wie vor von der Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch die Kammern ausgeht.

39

§ 1 IHKG weist den Kammern Aufgaben in der Wirtschaftsförderung zu. Es begegnet von Verfassungs wegen keinen Bedenken, wenn der Staat sich bei der öffentlichen Aufgabe der Wirtschaftsförderung der Hilfe von Selbstverwaltungseinrichtungen bedient, die er aus der Wirtschaft selbst heraus sich bilden lässt und die durch ihre Sachkunde die Grundlagen dafür schaffen helfen, dass staatliche Entschließungen auf diesem Gebiet ein möglichst hohes Maß an Sachnähe und Richtigkeit gewinnen (vgl BVerfGE_15,235 <240 ff.>). Das Bundesverfassungsgericht hat als zwei unterscheidbare Aufgabenkomplexe die "Vertretung der gewerblichen Wirtschaft" und die "Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben auf wirtschaftlichem Gebiet" benannt und beide als legitime öffentliche Aufgaben eingeordnet ( BVerfGE_15,235 <241>). In der Aufgabenstellung der Kammern s ind die beiden Komplexe nicht getrennt, sondern - wie auch der Wortlaut des § 1 IHKG deutlich macht ("dabei") - in der Sicht des Gesetzgebers in einer für Wirtschaftsverwaltung mithilfe von Selbstverwaltungseinrichtungen spezifischen Weise verbunden. Die Organisation der Wirtschaftssubjekte in einer Selbstverwaltungskörperschaft soll Sachverstand und n Interessen bündeln, sie strukturiert und ausgewogen in de d wirtschaftspolitischen Willensbildungsprozess einbringen un gleichzeitig den Staat in der Wirtschaftsverwaltun e entlasten. Gerade diese Kombination rechtfertigt die Annahm einer öffentlichen Aufgabe, ohne dass es darauf ankommt, o einzelne dieser Aufgaben auch in anderer Form wahrgenommen werden könnten. Insbesondere handelt es sich nicht um eine reine Inte ressenvertretung wie Fachverbände sie wahrnehmen, sondern um die Vertretung des Gesamtinteresses der gewerblichen Wirtschaft mit der praktisch im Vordergrund stehenden Aufgabe, die Staatsorgane zu beraten (vgl BVerfGE_15,235 <241 f.>). Es bedarf daher nicht der Prüfung, ob auch eine reine Interessenvertretung in einer Gesellschaft mit entwickeltem Verbandswesen noch öffentlichrechtlich organisiert werden dürfte.

40

b) Die Organisation dieser öffentlichen Aufgabe in einer Selbstverwaltungskörperschaft mit Zwangsmitgliedschaft ist auch im Lichte der geänderten Verhältnisse noch verhältnismäßig, nämlich geeignet und erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne.

41

aa) Ein Mittel ist bereits dann im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt (vgl BVerfGE_63,88 <115>; BVerfGE_67,157 <175>; BVerfGE_96,10 <23>). Auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftsordnung gebührt dem Gesetzgeber ein besonders weitgehender Einschätzungs- und Prognosevorrang (vgl BVerfGE_25,1 <17, 19 f>; BVerfGE_37,1 <20>; BVerfGE_50,290 <338>; BVerfGE_51,193 <208>; BVerfGE_77,84 <106 f>; BVerfGE_87,363 <383>). Es ist vornehmlich Sache des Gesetzgebers, auf der Grundlage seiner wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen und Ziele und unter Beachtung der Sachgesetzlichkeiten des betreffenden Sachgebiets zu entscheiden, welche Maßnahmen er im Interesse des Gemeinwohls ergreifen will.

42

Die Entscheidung des Gesetzgebers, Wirtschaftsförderung und -verwaltung mit Hilfe von Selbstverwaltungseinrichtungen zu organisieren, ist von diesen Grundsätzen gedeckt. Es ist daher nicht zulässig, aus dem Gesamtzusammenhang Aufgaben herauszugreifen, die - isoliert betrachtet - auch von privaten Verbänden oder von staatlichen Behörden wahrgenommen werden könnten. Aus der Sicht des Gesetzgebers ist die Erfüllung von Wirtschaftsverwaltungsaufgaben durch die Kammern sachnäher und wegen der Beteiligung der Betroffenen durch selbstgewählte Organe auch freiheitssichernder als durch staatliche Behörden. Die Interessenvertretung durch private Verbände ist in dieser Sicht nicht im gleichen Maße am Gesamtinteresse und am Gemeinwohl orientiert. Eine Aufteilung der Aufgaben auf private Verbände und Behörden würde damit gerade die vom Gesetzgeber mit einer Selbstverwaltungsorganisation zulässigerweise verfolgten Ziele verfehlen und wäre daher nicht gleich geeignet.

43

bb) Die Errichtung von Körperschaften mit Zwangsmitgliedschaft ist für die Erreichung der gesetzgeberischen Ziele auch erforderlich.

44

Das Gebot der Erforderlichkeit ist verletzt, wenn das Ziel der staatlichen Maßnahme durch ein anderes, gleich wirksames Mittel erreicht werden kann, mit dem das betreffende Grundrecht nicht oder weniger fühlbar eingeschränkt wird (vgl BVerfGE_68,193 <218 f>; BVerfGE_77,84 <109>; BVerfGE_81,70 <90 f>). Allerdings muss nicht jeder einzelne Vorzug einer anderen Lösung gegenüber der vom Gesetzgeber gewählten schon zu deren Verfassungswidrigkeit führen. Die sachliche Gleichwertigkeit zur Zweckerreichung muss vielmehr bei dem als Alternative vorgeschlagenen geringeren Eingriff in jeder Hinsicht eindeutig feststehen (vgl BVerfGE_25,1 <19 f>; BVerfGE_30,292 <319>; BVerfGE_81,70 <90>).

45

Auch bei dieser Prüfung kann es nicht darauf ankommen, ob einzelne der Aufgaben in bestimmter Hinsicht in für die Beschwerdeführerin weniger belastender Weise erfüllt werden könnten.

46

Rein private Verbände wären mangels Gemeinwohlbindung nicht in der Lage, die Aufgaben wahrzunehmen, die die Industrie- und Handelskammern mit Hilfe der Pflichtmitgliedschaft zu erfüllen befähigt sind. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber Verwaltungsaufgaben im wirtschaftlichen Bereich im Rahmen seiner ihm grundsätzlich eröffneten Wahlfreiheit, öffentliche Aufgaben auch in mittelbarer Staatsverwaltung wahrnehmen zu lassen, auf die Industrie- und Handelskammern überträgt. Dies gilt insbesondere für Verwaltungsaufgaben, die sich in den Rahmen der Gesamtaufgabe der Industrie- und Handelskammern einfügen und die die besondere Sachnähe und Kompetenz der Kammern nutzen (vgl BVerfGE_15,235 <242>). Die Wahrnehmung der Aufgabe durch den Staat könnte das zulässige rechtspolitische Ziel der Verlagerung auf die primären Träger wirtschaftlicher Interessen, deren Sachkompetenz der Staat zur Entfaltung volkswirtschaftlich sinnvoller Rahmenbedingungen für sich nutzbar machen will, nicht erreichen.

47

Demgemäß ist auch die Mitgliedschaft aller Gewerbetreibenden in den Industrie- und Handelskammern zur sachgerechten Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich. Wegen des Gemeinwohlauftrags der Industrie- und Handelskammern und ihrer vielfältigen Wirtschaftsverwaltungsaufgaben ist ein alle Branchen und Betriebsgrößen umfassender Mitgliederbestand vonnöten. Für die wirtschaftliche Selbstverwaltung bedarf es der Mitwirkung aller Unternehmen, gerade auch der mittleren und kleinen, damit die Kammern ihre Aufgaben umfassend erfüllen können. Der Wert der von den Kammern erarbeiteten Vorschläge und Gutachten beruht neben der Unabhängigkeit ihres Urteils auf der Vollständigkeit des Überblicks, das die Kammern im Bereich der zu beurteilenden Verhältnisse besitzen (vgl BVerfGE_15,235 <241>).

48

Unter dem Aspekt der Erforderlichkeit ist auch die Verknüpfung der Pflichtmitgliedschaft mit der in § 3 Abs.2 Satz 1 IHKG begründeten Beitragslast verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch insoweit ist die für wirtschaftliche Selbstverwaltung typische Verbindung von Interessenvertretung, Förderung und Verwaltungsaufgaben der Aufgabenstellung nach § 1 IHKG zu beachten. Die Tätigkeit der Industrie- und Handelskammer besteht auch, wenngleich es sich um eine öffentliche Aufgabe handelt, in der Wahrnehmung des Interesses der Mitglieder und der Förderung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit, was es rechtfertigt, diese an der Kostenlast der Kammer angemessen zu beteiligen.

49

cc) Die Anordnung der Pflichtmitgliedschaft ist zu dem angestrebten legitimen Zweck auch verhältnismäßig im engeren Sinn und damit zumutbar.

50

Die Beeinträchtigung des einzelnen Gewerbetreibenden durch die Pflichtmitgliedschaft bedeutet keine erhebliche Einschränkung der unternehmerischen Handlungsfreiheit. Zu berücksichtigen ist dabei vor allem, dass die Pflichtmitgliedschaft den Kammerzugehörigen zum einen die Chance zur Beteiligung und Mitwirkung an staatlichen Entscheidungsprozessen eröffnet, dabei aber zum anderen ihnen die Möglichkeit offen lässt, sich nicht aktiv zu betätigen. Zugleich hat die Pflichtmitgliedschaft eine freiheitssichernde und legitimatorische Funktion, weil sie auch dort, wo das Allgemeininteresse einen gesetzlichen Zwang verlangt, die unmittelbare Staatsverwaltung vermeidet und statt dessen auf die Mitwirkung der Betroffenen setzt.

51

Etwaige Aufgabenüberschreitungen durch den Zwangsverband und seine Organe kann das einzelne Mitglied, worauf das Bundesverwaltungsgericht in dem angegriffenen Urteil zutreffend verweist, erforderlichenfalls im Klagewege abwehren."

 

Auszug aus BVerfG B, 07.12.01, - 1_BvR_1806/98 -, www.BVerfG.de,  Abs.22

§§§

01.044 Ethik-Unterricht

  1. BVerfG,     U, 11.12.01,     – 1_BvF_1/96 –

  2. BVerfGE_104,305 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. (Bb) SchulG_§_9, SchulG_§_11 Abs.2 -4

  4. Bundesverfassungsgericht / Bereitschaft / einvernehmliche Verständigung / Brandenburgisches Schulgesetz / Vorschlag.

 

LB: Nachdem die Beteiligten gegenüber dem BVerfG ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt haben über den Gegenstand der anhängigen Verfahren eine einvernehmliche Verständigung herbeizuführen unterbreitet der Senat einen Vorschlag für eine Vereinbarung über die Änderung des Brandenburgischen Schulgesetzes, die die Voraussetzungen dafür schaffen soll, dass die Antragsteller und Beschwerdeführer der anhängigen Verfahren Erklärungen abgeben, durch die die Verfahren beendet werden können.

§§§

01.045 Profalla II

  1. BVerfG,     U, 17.12.01,     – 2_BvE_2/00 –

  2. BVerfGE_104,310 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.38 Abs.1 S.2, GG_Art.46 Abs.2

  4. Art.46/2 GG / Abgeordnete / Rechte / Genehmigungsvorbehalt / Funktion / Aufhebung der Immunität / Willkür.

 

Aus Art.46 Abs.2 GG können sich nicht ohne weiteres Rechte eines einzelnen Abgeordneten gegenüber dem Bundestag ergeben; der Genehmigungsvorbehalt für die strafrechtliche Verfolgung von Abgeordneten dient vornehmlich dem Parlament als Ganzes. Der einzelne Abgeordnete hat aber aus Art.46 Abs.2 iVm Art.38 Abs.1 Satz 2 GG einen Anspruch darauf, dass sich das Parlament bei der Entscheidung über die Aufhebung der Immunität nicht - den repräsentativen Status des Abgeordneten grob verkennend - von sachfremden, willkürlichen Motiven leiten lässt.

§§§

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