1992 | ||
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1991 1993 | [ ] |
92.001 | Beamtenversorgungsgesetz | |
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§ 46 Abs.2 S.1 des Beamtenversorgungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 12.02.87 (BGBl_87,570 ber S.1339) ist mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit nach dieser Vorschrift Beamte, die einen Dienstunfall erlitten haben, über die ihnen nach § 30 bis 43 des genannten Gesetzes zustehenden Ansprüche gegen ihren Dienstherrn hinausgehende Ansprüche gegen einen anderen öffentlich-rechtlichen Dienstherrn aufgrund allgemeiner gesetzlicher Vorschriften dann nicht geltend machen können, wenn der andere Dienstherr gerade für den besonderen Gefahrenkreis verantwortlich ist, innerhalb dessen der Beamte unter Eingliederung in den Dienstbetrieb der von dem anderen Dienstherrn getragenen Dienststelle seine dienstlichen Pflichten schwerpunktmäßig versieht, und sich der Dienstunfall in diesem Gefahrenkreis ereignet hst. | ||
§§§ |
92.002 | Kündigung | |
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1) Es ist mit der Eigentumsgarantie vereinbar, daß § 564b Abs.3 BGB die Wirksamkeit der Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses durch den Vermieter von der Darlegung eines berechtigten Interesses im Kündigungsschreiben abhängig macht. | ||
2) Der Vermieter ist im Hinblick auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht nicht verpflichtet, solche Daten seines persönlichen Lebensbereiches im Kündigungsschreiben mitzuteilen, die für den Entschluß des Mieters, der Kündigung zu widersprechen oder diese hinzunehmen, nicht von Bedeutung sein können. | ||
§§§ |
92.003 | Nachtarbeitsverbot | |
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1) Ein Gesetz ist nicht entscheidungserheblich im Sinne von Art.100 Abs.1 Satz.1 GG, wenn feststeht, daß es aufgrund entgegenstehenden Gemeinschaftsrechts nicht angewendet werden darf. | ||
2) Eine Ungleichbehandlung, die an das Geschlecht anknüpft, ist mit Art.3 Abs.3 GG nur vereinbar, soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich ist. | ||
3) Der über das Diskriminierungsverbot des Art.3 Abs.3 GG hinausgehende Regelungsgehalt des Art.3 Abs.2 GG besteht darin, daß er ein Gleichberechtigungsgebot aufstellt und dieses auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt. | ||
4) Das Nachtarbeitsverbot des § 19 der Arbeitszeitordnung benachteiligt Arbeiterinnen im Vergleich zu Arbeitern und weiblichen Angestellten; es verstößt damit gegen Art.3 Abs.1 und Abs.2 GG. | ||
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Beschluss | Entscheidungsformel: | |
§§§ |
92.004 | Arztliches Werbeverbot | |
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Eine Auslegung des ärztlichen Werbeverbots durch die Gerichte, die dem Arzt die Mitwirkung bei redaktionellen Presseberichten über seine berufliche Tätigkeit ausnahmslos verbietet, wenn er sich nicht deren Prüfung und Genehmigung vorbehalten hat, schränkt die Grundrechte aus Art.12 Abs.1 Satz 1 und Art.5 Abs.1 Satz 1 GG unverhältnismäßig ein. | ||
§§§ |
92.005 | Justizgewährungspflicht | |
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1) Mit der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Justizgewährungspflicht ist es nicht vereinbar, den Rechtsuchenden durch Vorschriften über die Gerichts- und Anwaltsgebühren oder deren Handhabung mit einem Kostenrisiko zu belasten, das außer Verhältnis zu seinem Interesse an dem Verfahren steht und die Anrufung des Gerichts bei vernünftiger Abwägung als wirtschaftlich nicht mehr sinnvoll erscheinen läßt. | ||
2) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen kann - und muß - bei der Auslegung und Anwendung des § 48 Abs.2 des Wohnungseigentumsgesetzes Rechnung getragen werden. | ||
§§§ |
92.006 | Akademie-Auflösung | |
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1) Die Regelung des Einigungsvertrages, durch die die Arbeitsverhältnisse der bei Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik Beschäftigten auf den 31.Dezember 1991 befristet worden sind (Art.38 Abs.3 Satz 1 EV ), ist mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig, soweit sie Arbeitsverhältnisse betrifft, die an dem genannten Stichtag nach Mutterschutzrecht nicht gekündigt werden durften. | ||
2) Die Arbeitsverhältnisse derjenigen Beschäftigten, die sich um Weiterverwendung bei einer Nachfolgeeinrichtung der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik beworben haben und denen nicht bis zum 30.November 1991 bekanntgegeben worden ist, daß sie über den 31.Dezember 1991 hinaus keine derartige Beschäftigung finden werden, enden nicht vor Ablauf des auf die Bekanntgabe folgenden Monats. | ||
3) Bei der Ausschreibung und Besetzung der Stellen von Nachfolgeeinrichtungen der Akademie der Wissenschaften müssen die sozialen Belange der früheren Mitarbeiter, vor allem auch die von Schwerbehinderten, älteren Arbeitnehmern, Alleinerziehenden und anderen in ähnlicher Weise Betroffenen, angemessen berücksichtigt werden. | ||
4) Die Freiheit von Forschung und Lehre schützt den einzelnen Forscher nicht vor einer Auflösung der öffentlichen Einrichtung, bei der er arbeitet. | ||
5) Einrichtungen, die Zwecken der Wissenschaft dienen, können für ihren eigenen Fortbestand grundsätzlich keinen Grundrechtsschutz in Anspruch nehmen. | ||
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Beschluss | Entscheidungsformel:
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§§§ |
92.007 | Erschöpfung des Rechtsweges | |
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Einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor Erschöpfung des Rechtsweg (§ 90 Abs.2 Satz 2 BVerfGG) kann entgegenstehen, daß die einfachrechtliche Lage nicht hinreichend geklärt ist. Das gilt besonders dann, wenn der Streit in erster Linie die Auslegung einfachen Rechts betrifft und das Bundesverfassungsgerichts Aussagen über den Inhalt einer Regelung treffen müßte, zu der sich noch keine gefestigte Rechtsprechung der Fachgerichte entwickelt hat. | ||
§§§ |
92.008 | Fangschaltung | |
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1) Sämtliche der Post zur Beförderung oder Übermittlung anvertraute Kommunikationsvorgänge und -inhalte genießen den Schutz des Art.10 Abs.1 GG. | ||
2) Die Erfassung von Ferngesprächsdaten mittels Fangschaltung und Zählervergleichseinrichtungen durch die Deutsche Bundespost greift in das Grundrecht aus Art.10 Abs.1 GG ein und bedarf einer gesetzlichen Grundlage. | ||
3) § 30 Abs.2 PostVerfG bildet keine ausreichende gesetzliche Ermächtigung zum Erlaß von Regelungen über Fangschaltungen und Zählervergleichseinrichtungen. | ||
§§§ |
92.009 | Krüppel/geb-Mörder | |
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Zur Meinungsfreiheit (Art.5 Abs.1 Satz 1 GG) bei Äußerungen in einem Satiremagazin (Bezeichnung eines Menschen als "geb Mörder" und als "Krüppel"). | ||
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Meinungsfreiheit | ||
"Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das angegriffene Urteil verletzt die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art.5 Abs.1 Satz 1 GG, soweit sie wegen des in der März-Ausgabe 1988 der TITANIC erschienenen Artikels zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verurteilt worden sind. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist jedoch die Auffassung des Oberlandesgerichts, der an den Kläger gerichtete Brief in der Juli-Ausgabe 1988 verletze ihn in seinem Persönlichkeitsrecht. I. | ||
1. Prüfungsmaßstab hinsichtlich beider Presseartikel ist das Grundrecht der Meinungsfreiheit. | ||
a) Der Beitrag in der März-Ausgabe 1988 ist allerdings durch satirische Verfremdung geprägt. Seine satirischen Elemente heben ihn jedoch noch nicht in den Rang eines durch Art.5 Abs.3 Satz 1 GG geschützten Kunstwerks. Satire kann Kunst sein; nicht jede Satire ist jedoch Kunst. Das ihr wesenseigene Merkmal, mit Verfremdungen, Verzerrungen und Übertreibungen zu arbeiten, kann ohne weiteres auch ein Mittel der einfachen Meinungsäußerung oder der durch Massenmedien sein. Allerdings muß auch bei der Anwendung dieser Grundrechte stets der satirische Charakter der einzelnen Meinungskundgabe berücksichtigt werden. Auch Erklärungen, die lediglich unter Art.5 Abs.1 GG fallen, darf kein Inhalt unterschoben werden, den ihnen ihr Urheber erkennbar nicht beilegen wollte; das gilt besonders bei satirischer oder glossierender Meinungsäußerung. | ||
Wo bei satirisch gemeinten Äußerungen die Grenze zwischen der Meinungsfreiheit nach Art.5 Abs.1 Satz 1 GG und der Kunstfreiheit nach Art.5 Abs.3 Satz 1 GG verläuft und ob eine satirische Äußerung im Einzelfall im Schutzbereich beider Grundrechte liegen kann, bedarf hier keiner Entscheidung (vgl auch BVerfGE_68,226 <233>). Selbst wenn auf den Märzbeitrag nur das nicht vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht aus Art.5 Abs.1 GG angewendet wird, hält das angegriffene Urteil der verfassungsrechtlichen Überprüfung insoweit nicht stand. | ||
b) Der "Brief an den Leser" in der Juli-Ausgabe 1988 der TITANIC ist hingegen nicht durch das für eine Satire Typische geprägt, nämlich durch Übertreibung, Verzerrung und Verfremdung. Er stellt vielmehr eine Antwort auf die Schmerzensgeldforderung des Klägers dar; diese wird abgelehnt. Zwar enthält er gewisse Elemente der Verfremdung, so etwa daß abweichend von üblichen Leserbriefspalten nicht der Leser zu Wort kommt und dessen Zuschrift abgedruckt wird, vielmehr umgekehrt die Redaktion nochmals das Wort ergreift und die Äußerung des Lesers zum Gegenstand ihrer Antwort macht. Diese Elemente prägen indessen den Beitrag nicht. Vielmehr wird er durch seinen Inhalt bestimmt, das Begehren des Klägers abzuwehren. | ||
2. a) Das Urteil des Oberlandesgerichts unterliegt einer intensiven verfassungsrechtlichen Prüfung. Diese kommt nicht nur bei strafgerichtlicher Ahndung eines dem Schutz des Art. 5 Abs.1 Satz 1 GG unterliegenden Verhaltens wegen des darin liegenden nachhaltigen Eingriffs in Betracht. Ein solcher Eingriff ist vielmehr auch bei zivilgerichtlichen Entscheidungen anzunehmen, wenn diese geeignet sind, über den konkreten Fall hinaus präventive Wirkungen zu entfalten, das heißt in künftigen Fällen die Bereitschaft mindern können, von dem betroffenen Grundrecht Gebrauch zu machen (vgl BVerfGE_54,129 <139>; BVerfGE_83,130 <145 f>). | ||
Diese Gefahr besteht hier. Ein Satiremagazin wie TITANIC, das es sich angelegen sein läßt, wirkliche oder vermeintliche Mißstände aufzugreifen und anzuprangern, hierbei häufig das Verhalten bestimmter Personen geißelt und dabei Übertreibungen und Verfremdungen als Stilmittel verwendet, könnte zur Aufgabe seiner Eigenart gezwungen sein, wenn Schmerzensgeldklagen deshalb Erfolg hätten, weil die Fachgerichte die Reichweite der Meinungsfreiheit verkennen. | ||
Die Prüfung erstreckt sich deshalb darauf, ob das Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung dem Sinn und der Eigenart des Textes ausreichend Rechnung getragen hat. Untersucht werden muß auch, ob das Gericht die Veröffentlichungen unzutreffend als Formalbeleidigung oder Schmähkritik mit der Folge eingestuft hat, daß sie dann nicht im selben Maße am Schutz des Grundrechts teilnehmen wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind (vgl BVerfGE_60,234 <242>; BVerfGE_61,1 <10>; BVerfGE_82,43 <51>; BVerfGE_82,272 <281>). | ||
b) Die Meinungsfreiheit ist vom Grundgesetz allerdings nicht vorbehaltlos gewährleistet, sondern findet ihre Schranken nach Art.5 Abs.2 GG in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Diese Bestimmungen müssen aber ihrerseits wieder im Lichte des eingeschränkten Grundrechts ausgelegt werden, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene zur Geltung kommt (vgl BVerfGE_7,198 (202 f); stRspr). Das führt in der Regel zu einer fallbezogenen Abwägung zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und dem vom grundrechtsbeschränkenden Gesetz geschützten Rechtsgut. II. | ||
Hiernach hält die Entscheidung des Oberlandesgerichts der verfassungsrechtlichen Prüfung nur teilweise stand. | ||
1. Soweit es seinem Urteil den Artikel im März-Heft 1988 zugrunde legt, verletzt es Art.5 Abs.1 Satz 1 GG schon deshalb, weil es bei dessen Deutung keine der Satire gerecht werdenden Maßstäbe angelegt hat. | ||
Der Artikel war Teil einer damals ständigen Rubrik, mit der die üblicherweise positive Rang- oder Bestsellerliste anderer Magazine in eine Negativliste gewendet wurde. Der zugehörige Text deckte in mehr oder weniger rüder Weise tatsächlich oder vermeintlich schwache Stellen der betroffenen Personen auf. Neben diese Verfremdung des üblichen Inhalts solcher Listen trat noch der charakteristische Stil der Beiträge, der nicht nur durch Verzerrung oder Überzeichnung, sondern auch durch eine erkennbar unernste, durch Wortwitze bis hin zu Albernheiten geprägte Sprache gekennzeichnet war. Ziel war es ersichtlich auch, zum Lachen zu reizen, was ein typisches Ziel der Satire ist; dieser ist es wesenseigen, daß sie mit Übertreibungen, Verzerrungen und Verfremdungen arbeitet (vgl BVerfGE_75,369 <377>). | ||
Besonders deutlich wird das durch die für die drei zuletzt genannten Personen gewählten Zusätze "geb.". Während dieser Zusatz für Frau Becker im herkömmlichen Sinne benutzt wird, um ihren - der Öffentlichkeit wesentlich bekannteren - Geburtsnamen kenntlich zu machen, trifft das schon auf den dem Namen des Bundespräsidenten beigefügten Zusatz "geb. Bürger" nicht zu. Im Falle des Klägers wird die Verfremdung noch einmal gesteigert, indem satirisch an das Urteil des Landgerichts Frankfurt angeknüpft wird, das sich mit der Frage zu befassen hatte, ob die Bezeichnung eines Soldaten als "potentieller Mörder" eine strafbare Volksverhetzung und Beleidigung darstellt. | ||
Die Satire muß ihres in Wort und Bild gewählten Gewandes entkleidet werden, um ihren eigentlichen Inhalt erkennen zu lassen. Ihr Aussagekern und ihre Einkleidung sind sodann gesondert daraufhin zu überprüfen, ob sie eine Kundgabe der Mißachtung der karikierten Person enthalten (vgl BVerfGE_75,369 <377 f>). Bereits diesen Ansatzpunkt hat das Oberlandesgericht verfehlt, wenn es ausführt, die Wirklichkeit werde gerade nicht - nachahmend - indirekt, sondern direkt und gezielt angesprochen. Daran ist zwar richtig, daß sich der Begleittext auf das den Gegenstand der öffentlichen Erörterungen bildende Urteil des Landgerichts Frankfurt bezieht und der Beschwerdeführer zu 1) als Verfasser des Artikels die Kritik an diesem Urteil angreift. Das Oberlandesgericht klammert sich jedoch an die Bezeichnung "Mörder", die es wörtlich nimmt. Beim Leser solle die Vorstellung hervorgerufen werden, der Kläger sei sozusagen "von Geburt an", also seinem Wesen nach "der geborene Mörder". Diese Eigenschaft sei ihm in dem Sinne angeboren, daß er die innere Veranlagung habe, töten zu wollen. Dieses Verständnis verfehlt den Aussagegehalt des Artikels. Die isolierte Betrachtung der Zusatzbezeichnung "geb Mörder" läßt außer acht, daß sich der gesamte Text nicht nur gegen den Kläger richtet, sondern auch das Verhalten anderer Personen aufs Korn nimmt und deren Namen ebenfalls der Zusatz "geb." beigefügt wird. Sie hat zur Qualifizierung der Äußerung als Schmähkritik zumindest beigetragen. | ||
Das Urteil wird in diesem Punkt auch nicht von der Hilfserwägung getragen, wonach eine unerlaubte, schwere, rechtswidrige Persönlichkeitsrechtsverletzung selbst dann vorliege, wenn man die Veröffentlichung als Satire ansehe. Hierin kommt wiederum die unzureichende Interpretation der Satire zum Ausdruck, die die persönliche Verunglimpfung des Klägers in den Vordergrund stellt, indessen kein Auge dafür hat, daß der Zusatz hinter dem Namen des Klägers "geb. Mörder" im Gesamtzusammenhang des Artikels im übertragenen Sinne zu verstehen ist. | ||
2. Anders steht es um den Beitrag im Juli-Heft 1988, in welchem der Kläger als "Krüppel" angeredet worden ist, was das Oberlandesgericht als Formalbeleidigung beurteilt. Seine Wertung, die unmittelbare Anrede des Behinderten mit dieser Bezeichnung bringe dessen Mißachtung zum Ausdruck und verletze ihn schwer in seinem Persönlichkeitsrecht, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden und läßt insbesondere keine Fehlgewichtung zu Lasten der Meinungsäußerungsfreiheit erkennen. Mit der Bezeichnung "Krüppel" ist nicht nur der in seiner Bewegungsfähigkeit auf Dauer behinderte Mensch mit Mißbildungen oder fehlenden Gliedmaßen gemeint (vgl etwa Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 1978, S.1592). Der Begriff wird auch nicht nur wie in früheren Jahrhunderten als Beschreibung eines mißgebildeten körperlichen Zustandes gebraucht (vgl die umfangreichen Nachweise bei Grimm, Deutsches Wörterbuch, 1984, Sp.2472 ff). Heute wird die Anrede eines Menschen mit dem Wort "Krüppel" als Demütigung verstanden. Er wird damit zum minderwertigen Menschen gestempelt. Der Bedeutungswandel zeigt sich besonders darin, daß er auch gegenüber dem körperlich Gesunden benutzt wird, um diesen zu beschimpfen und in seinem Ansehen herabzusetzen. Diese Bedeutung verliert die Bezeichnung nicht dadurch, daß das Bemühen des Klägers, als körperlich Behinderter gleichwohl Dienst bei der Bundeswehr zu verrichten, kritisiert wird. Im Zusammenhang mit Kriegs- und Unfallopfern hat das Wort "Krüppel" zwar auch heute noch einen eher mitfühlenden Sinn. Aus dem gesamten Inhalt des "Briefes an die Leser" ergibt sich aber, daß der Kläger durch diese Anrede persönlich getroffen werden sollte. | ||
Die Beschwerdeführer haben mit ihrer Verfassungsbeschwerde auch nicht darzulegen vermocht, weshalb die Verwendung des kränkenden Ausdrucks als Reaktion auf die Schmerzensgeldforderung des Klägers gerechtfertigt sein könnte. Sie können für sich insbesondere nicht das rechtfertigende Argument vom Gegenschlag ins Feld führen. Abgesehen davon, daß sie den Kläger mit dessen Aufnahme in ihre Liste der "sieben peinlichsten Persönlichkeiten" als erste angriffen, hat er sich ihnen gegenüber mit seinem Verlangen nach Zahlung einer billigen Entschädigung in Geld nicht eines aggressiven, das Persönlichkeitsrecht berührenden Mittels bedient. Zwar blieb es ihnen unbenommen, hierauf in publizistischer Weise in ihrem Magazin zu antworten. Diese Ebene haben sie aber mit der Anrede des Klägers in dem "Brief an die Leser" verlassen, indem sie ihn ohne jeden rechtfertigenden Grund als "Krüppel" bezeichnet haben. III. | ||
Da das Oberlandesgericht die Beschwerdeführer zur Zahlung eines Schmerzensgeldes wegen beider Veröffentlichungen verurteilt hat, mußte seine Entscheidung insgesamt aufgehoben werden. Denn der Fehler bei der Interpretation des satirischen Artikels vom März 1988 hat sich auf die Bemessung der Höhe dieses Betrages ausgewirkt, ohne daß dies betragsmäßig vom Bundesverfassungsgericht abgegrenzt werden könnte. | ||
Im übrigen erschien es angezeigt, die Sache gemäß § 95 Abs.2 BVerfGG an einen anderen Senat des Oberlandesgerichts zurückzuverweisen. | ||
Die Kostenentscheidung beruht auf § 34a Abs.2 BVerfGG. Da die Beschwerdeführer in der Sache nur einen Teilerfolg erzielt haben, ist es angemessen, daß die ihnen erwachsenen Kosten nur zu einem Teil erstattet werden." | ||
Auszug aus BVerfG B, 25.03.92, - 1_BvR_514/90 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.30 ff | ||
§§§ |
92.010 | Parteienfinanzierung II | |
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1) Die vom Grundgesetz vorausgesetzte Staatsfreiheit der Parteien erfordert nicht nur die Gewährleistung ihrer Unabhängigkeit vom Staat sondern auch, daß die Parteien sich ihren Charakter als frei gebildete, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Gruppen bewahren (vgl BVerfGE_20,56 <101>). | ||
2) Entgegen der bisher vom Senat vertretenen Auffassung ist der Staat verfassungsrechtlich nicht gehindert, den Parteien Mittel für die Finanzierung der allgemein ihnen nach dem Grundgesetz obliegenden Tätigkeit zu gewähren. Der Grundsatz der Staatsfreiheit erlaubt jedoch nur eine Teilfinanzierung der allgemeinen Tätigkeit der politischen Parteien aus staatlichen Mitteln. Er wird durch die Gewährung finanzieller Zuwendungen dann verletzt, wenn durch sie die Parteien der Notwendigkeit enthoben werden, sich um die finanzielle Unterstützung ihrer Aktivitäten durch ihre Mitglieder und ihnen nahestehende Bürger zu bemühen. | ||
3) Die Regelung des Chancenausgleichs in § 22a Abs.2 PartG ist nicht vereinbar mit dem aus Art.21 Abs.1 und Art.3 Abs.1 GG folgenden Recht der Parteien auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb (teilweise Abweichung von BVerfGE_73,40). | ||
4) Einer zulässigen steuerlichen Begünstigung von Beiträgen und Spenden an politische Parteien ist dort eine verfassungsrechtliche Grenze gezogen, wo sie ein Ausmaß erreicht, das geeignet ist, die vorgegebene Wettbewerbslage zwischen den Parteien in einer ins Gewicht fallenden Weise zu verändern. Diese Grenze ist nicht erreicht, wenn die steuerliche Begünstigung von der Mehrzahl der Steuerpflichtigen in gleicher Weise genutzt werden kann. | ||
5) Die steuerliche Begünstigung von Parteispenden, die von Körperschaften geleistet werden, ist im Blick auf das Recht des Bürgers auf gleiche Teilhabe an der politischen Willensbildung durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt (Abweichung von BVerfGE_73,40). | ||
6) Die Festlegung der sogenannten Publizitätsgrenze in § 25 Abs.2 PartG auf 40.000 DM verstößt gegen Art.21 Abs.1 Satz 4 GG. | ||
§§§ |
92.011 | Papenburg | |
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1) Es gehört zum verfassungsrechtlich gewährleisteten Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung, daß Bestands- und Gebietsänderungen von Gemeinden nur aus Gründen des öffentlichen Wohls und nach Anhörung der betroffenen Gebietskörperschaften zulässig sind. | ||
2) Bei Rück-Neugliederungsgesetzen ist im Blick auf die Rechtfertigung aus Gründen des öffentlichen Wohls in der gesetzgeberischen Abwägung insbesondere ein Vertrauen der bereits einmal neugegliederten Gemeinde wie auch der Bürger in die Beständigkeit staatlicher Organisationsmaßnahmen in Rechnung zu stellen. | ||
3) Der Gesetzgeber muß sich über die tatsächlichen Grundlagen seiner Abwägung aufgrund verläßlicher Quellen ein eigenes Bild verschaffen. | ||
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Beschluss | Entscheidungsformel: | |
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T-92-02 | Rück-Neugliederungsgesetz | |
"Die Verfassungsbeschwerden sind, soweit sie sich gegen die §§ 1 bis 3 des Gesetzes vom 28.März 1990 richten, zulässig. Die Beschwerdeführerinnen sind nach Art.93 Abs.1 Nr.4b GG iVm § 91 Satz 1 BVerfGG beschwerdebefugt. Sie behaupten schlüssig, durch die gesetzlich geregelte Wiederausgliederung von Teilen ihres durch die Gemeindereform von 1972 bis 1974 geschaffenen Gebietsbestandes unmittelbar in ihrem Recht auf Selbstverwaltung nach Art.28 Abs.2 Satz 1 GG verletzt zu sein. Ob wegen eines engen sachlichen Zusammenhangs mit der Selbstverwaltungsgarantie die Beschwerdeführerin zu 3. auch § 7 Abs.3 des Gesetzes mit der Rüge der Verletzung des im Demokratieprinzip wurzelnden Parlamentsvorbehalts sowie des aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Bestimmtheitsgrundsatzes angreifen könnte (vgl BVerfGE_71,25 <37>; BVerfGE_79,127 <149>), kann offenbleiben. Insoweit ist die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 3. jedenfalls deshalb unzulässig, weil es an der erforderlichen unmittelbaren Beschwer durch das angegriffene Gesetz fehlt. Für die Feinabstimmung des Grenzverlaufs, der einseitig übrigens lediglich zugunsten der Beschwerdeführerin zu 3. erfolgen darf, sieht das Gesetz noch den Erlaß einer besonderen Rechtsverordnung vor (vgl BVerfGE_76,107 <113>). Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen § 10 des Gesetzes richtet, ist sie durch die einstweilige Anordnung vom 10.Juli 1990 (BVerfGE_82,310) gegenstandslos geworden. | ||
§ 91 Satz 2 BVerfGG steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden nicht entgegen. Die Beschwerdeführerinnen können nach Art.42 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung und § 13 des Niedersächsischen Gesetzes über den Staatsgerichtshof keine Beschwerde wegen Verletzung ihres Rechts auf Selbstverwaltung beim Staatsgerichtshof erheben (vgl BVerfGE_59,216 <225>). | ||
Das vom Niedersächsischen Staatsgerichtshof in Anwendung der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung erstattete Gutachten vom 13. Dezember 1989 (StGH 1/89) über verfassungsrechtliche Fragen zur Änderung von Neugliederungsmaßnahmen der Gemeindegebietsreform entfaltet für das Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht keine Bindungswirkung. Im Hinblick darauf steht den Beschwerdeführerinnen übrigens auch zweifelsfrei das erforderliche allgemeine Rechtsschutzinteresse (vgl BVerfGE_74,163 <172 f>) zur Seite. C. | ||
Die Verfassungsbeschwerden sind begründet. §§ 1 bis 3 des Gesetzes vom 28. März 1990 verletzen die Beschwerdeführerinnen in ihrem durch Art.28 Abs.2 Satz 1 GG geschützten Recht auf Selbstverwaltung. I. | ||
Die Selbstverwaltungsgarantie des Art.28 Abs.2 Satz 1 GG steht Veränderungen des Gebietsbestandes einzelner Gemeinden nicht entgegen. Art.28 Abs.2 Satz 1 GG gewährleistet Gemeinden nur institutionell, nicht individuell. Auflösungen von Gemeinden, Gemeindezusammenschlüsse, Eingemeindungen und sonstige Gebietsänderungen beeinträchtigen den verfassungsrechtlich geschützten Kernbereich des Selbstverwaltungsrechts deshalb grundsätzlich nicht. Zum Inhalt des verfassungsrechtlich gewährleisteten Kernbereichs der kommunalen Selbstverwaltung, so wie diese sich historisch entwickelt hat (vgl zur Bedeutung der geschichtlichen Entwicklung und der verschiedenen historischen Erscheinungsformen der Selbstverwaltung BVerfGE_50,195 <201>; BVerfGE_59,216 <226 f>), gehört jedoch, daß Bestands- und Gebietsänderungen von Gemeinden nur aus Gründen des öffentlichen Wohls und nach Anhörung der betroffenen Gebietskörperschaften zulässig sind (vgl den Beschluß des Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats, BVerfGE_50,50; BVerfGE_50,195 <202>). Dem werden die §§ 17, 18 Abs.4 der Niedersächsischen Gemeindeordnung - NGO - idF vom 22.Juni 1982 (GVBl S.229) gerecht. | ||
1. Das Gebot der Anhörung der von Neugliederungs- oder Gebietsänderungsmaßnahmen betroffenen Gemeinde fordert, daß die Gemeinde von der beabsichtigten Regelung Kenntnis erlangt. Diese Information muß den wesentlichen Inhalt des Neugliederungsvorhabens und der dafür gegebenen Begründung umfassen (vgl BVerfGE_50,195 <203>). Sie muß so rechtzeitig erfolgen, daß es der Gemeinde möglich ist, sich aufgrund eigener fundierter Vorbereitung unter Mitwirkung der gewählten Bürgervertretung zur geplanten Gebietsänderung als einer für sie existentiellen Entscheidung sachgerecht zu äußern und ihre Auffassung zur Geltung zu bringen. Die dafür zur Verfügung zu stellende Zeit ist, ohne daß sich fest umrissene Zeiträume oder Mindestfristen mit dem Anspruch auf generelle Verbindlichkeit angeben lassen, dem jeweiligen Umfang des Neugliederungsvorhabens und dem dabei im konkreten Einzelfall maßgeblichen Sachverhalt entsprechend - im Zweifel eher großzügig - zu bemessen. Die Stellungnahme der Gemeinde, durch die zumeist erst die erforderliche umfassende und zuverlässige Information über alle für die Gebietsreform erheblichen Umstände erlangt wird, ist vor einer abschließenden Entscheidung zur Kenntnis zu nehmen und bei der Abwägung der für und gegen die Neugliederungsmaßnahme sprechenden Gründe zu berücksichtigen. | ||
2. Mit Organisationsgesetzen über eine Neugliederung oder eine anderweitige Gebietsänderung von Gemeinden strebt der Gesetzgeber an, die Voraussetzungen für eine funktionstüchtige kommunale Selbstverwaltung zu verbessern. Der finale Charakter einer solchen Regelung eines komplexen Sachverhalts verleiht ihr einen deutlichen planerischen Einschlag. Dies wirkt sich auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen aus, denen die Entscheidung des Gesetzgebers unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Wohls zu genügen hat. | ||
Über die Ausrichtung einer gemeindlichen Gebietsänderung oder Neugliederung an Gründen des öffentlichen Wohls hat der Gesetzgeber allerdings nach Zielen, Leitbildern und Maßstäben, die er selbst gesetzt hat, grundsätzlich frei zu entscheiden. Um dem Gemeinwohl zu entsprechen, muß die in den Gebietsbestand einer Gemeinde eingreifende gesetzliche Regelung aber schon in ihrem Zustandekommen bestimmten prozeduralen Anforderungen genügen. Ferner muß sich die gesetzgeberische Problemlösung auch in ihrem Ergebnis an gewissen unverzichtbaren, aus dem Grundgesetz abzuleitenden Wertmaßstäben orientieren. Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht nachzuprüfen, ob der Gesetzgeber den für seine Regelung erheblichen Sachverhalt ermittelt und dem Gesetz zugrundegelegt hat und ob er die im konkreten Fall angesprochenen Gemeinwohlgründe sowie die Vor- und Nachteile der gesetzlichen Regelung in die vorzunehmende Abwägung eingestellt hat. Auf der Grundlage eines in dieser Weise ermittelten Sachverhalts und der Gegenüberstellung der daraus folgenden verschiedenen - oft gegenläufigen - Belange ist der Gesetzgeber befugt, sich letztlich für die Bevorzugung eines Belangs (oder mehrerer Belange) und damit notwendig zugleich für die Zurückstellung aller anderen betroffenen Gesichtspunkte zu entscheiden. Insoweit hat sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle eines Neugliederungsgesetzes auf die Prüfung zu beschränken, ob der gesetzgeberische Eingriff in den Bestand einer einzelnen Gemeinde offenbar ungeeignet oder unnötig ist, um die mit ihm verfolgten Ziele zu erreichen, oder ob er zu ihnen deutlich außer Verhältnis steht und ob das Gesetz frei von willkürlichen Erwägungen und Differenzierungen ist. Soweit Ziele, Wertungen und Prognosen des Gesetzgebers in Rede stehen, hat das Verfassungsgericht darauf zu achten, ob diese offensichtlich oder eindeutig widerlegbar sind oder ob sie den Prinzipien der verfassungsrechtlichen Ordnung widersprechen. | ||
3. Die vorgenannten Anforderungen gelten grundsätzlich auch für solche Gesetze, die eine frühere Gemeindeneugliederung korrigieren oder rückgängig machen. | ||
Stellt der Gesetzgeber in noch fortbestehendem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einer früheren umfassenden Neugliederung, ohne deren Ziele und Leitvorstellungen aufzugeben, lediglich in einzelnen Fällen den ursprünglichen Gebietszuschnitt oder Gemeindebestand wieder her, um damit einem von ihm nicht vorausgesehenen Mangel in der Verwirklichung seines Neugliederungsziels abzuhelfen oder auf eine unvorhergesehene Entwicklung zu reagieren, so kann dies als "Rück-Neugliederung" bezeichnet werden, während in Fällen erneuter Gebietsreform im übrigen, insbesondere solchen aufgrund eines veränderten Konzepts, von "Mehrfachneugliederung" gesprochen wird (vgl Saarländischer Verfassungsgerichtshof, NVwZ 1986, S.1008 <1009>; Stüer, DVBl 1977, S.1 <5 ff>). | ||
Der Gesetzgeber ist nicht prinzipiell gehindert, eine Neugliederungsmaßnahme aufzuheben oder zu ändern, wenn diese sich ihm als Fehlentscheidung darstellt oder wenn ihm eine erneute Regelung abweichenden Inhalts wegen veränderter Verhältnisse oder neuer Erkenntnisse notwendig oder zweckmäßig erscheint. Der besondere Charakter solcher Gesetze wirkt sich indes auf die verfassungsrechtlichen Maßstäbe aus, denen sie zu genügen haben. | ||
a) Die Anhörung der Gemeinde muß bei einem Rück- Neugliederungsvorhaben der Besonderheit des Sachverhalts angepaßt sein. Der Gesetzgeber muß der Gemeinde insbesondere die Gründe nachvollziehbar mitteilen, die ihn veranlassen, seine grundsätzlich auf dauerhaften Bestand angelegte Neugliederung schon nach einer - gemessen an der zunächst ins Auge gefaßten Kontinuität - verhältnismäßig kurzen Zeit rückgängig zu machen. | ||
b) Auch im Blick auf die Rechtfertigung aus Gründen des öffentlichen Wohls erfordert eine Rück-Neugliederungsmaßnahme eine besondere Beurteilung. Wiederholte gesetzliche Änderungen im Bestand oder im gebietlichen Zuschnitt von Gemeinden sind geeignet, die rechtsstaatlich gebotene Rechtssicherheit zu beeinträchtigen. Rechtssicherheit bedeutet hier auch Bestands- und Vertrauensschutz (vgl BVerfGE_30,392 <403 f>). In Betracht zu ziehen ist in diesem Zusammenhang zum einen das Vertrauen der bereits einmal nach den Zielvorstellungen des Gesetzgebers neugegliederten Gemeinde, wenn sie etwa bestimmte auf den neuen Gebietsbestand ausgerichtete und längerfristig wirksame Entscheidungen getroffen und Entwicklungen in die Wege geleitet hat. Zum anderen ist auch das für eine Identifikation mit der Gemeinde und eine Bereitschaft zur Beteiligung an den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft notwendige Vertrauen der Bürger in die Beständigkeit einmal getroffener staatlicher Organisationsmaßnahmen in Rechnung zu stellen. Die Bürger bringen gesetzlichen Maßnahmen dieser Art die - berechtigte - Erwartung entgegen, daß sie nicht Gegenstand kurzfristiger oder experimenteller Überlegungen, sondern auf Kontinuität angelegt und insofern in ihrem Bestand geschützt sind. Diese Gesichtspunkte hat der Gesetzgeber, der sich anschickt, eine Neugliederung nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder rückgängig zu machen, in der Abwägung zu berücksichtigen. | ||
Die fehlende Akzeptanz des die neue örtliche Gemeinschaft konstituierenden Gebietszuschnitts bei erheblichen Teilen der Einwohnerschaft kann sich nachteilig auf die notwendige Integration und die zu wahrende örtliche Verbundenheit der Einwohner (vgl § 16 Abs.1 NGO) auswirken und letztlich die bürgerschaftliche Verwurzelung und die Leistungsfähigkeit der Selbstverwaltung beeinträchtigen. Die Behebung solcher Nachteile durch erneuten Eingriff in den gemeindlichen Gebietsbestand, zB durch Wiederherstellung der ursprünglichen Verhältnisse, ist deshalb grundsätzlich zulässiges Gemeinwohlziel. Dem Gesetzgeber ist es dabei nicht verwehrt, dem Willen der Bevölkerung nunmehr ein größeres und dem vorher zugrundegelegten Leitbild einer bestimmten Mindesteinwohnerzahl für eine eigenständige Selbstverwaltungseinheit ein demgegenüber geringeres Gewicht beizumessen. | ||
Ein bloßer Unwille im Sinne einer Stimmung der Unzufriedenheit mit der durch die Neugliederung geschaffenen Lage wird allerdings für sich allein eine Rück-Neugliederungsmaßnahme nicht zu tragen vermögen. Das erforderliche Gewicht als ein Belang, der gegenüber den gegen eine Rück- Neugliederung sprechenden Belangen der Rechtssicherheit und des Bestandsschutzes den erneuten Eingriff in den gemeindlichen Gebietsbestand verfassungsrechtlich rechtfertigt, kann ein Defizit an Akzeptanz jedoch dann gewinnen, wenn es sich auf objektivierbare gewichtige Gründe aus der historischen und kulturellen Entwicklung, aus den geographischen Verhältnissen, der wirtschaftlichen oder sozialen Struktur oder aus anderen vergleichbaren Gegebenheiten zurückführen läßt, so daß mit seinem Schwinden in einem überschaubaren Zeitraum nicht zu rechnen ist. Auch kommt es darauf an, ob ein nach außen erkennbar werdender Mangel an örtlichem Verbundenheitsgefühl in der Einwohnerschaft geeignet ist, die Leistungsfähigkeit der Selbstverwaltung der neugegliederten Gemeinde und deren gedeihliche Entwicklung fühlbar und nachhaltig zu stören. | ||
Um in Orientierung an diesen Maßstäben zu einer tragfähigen, dem öffentlichen Wohl entsprechenden Abwägung zu gelangen, muß der Gesetzgeber auch den für ein so begründetes Gesetzesvorhaben maßgeblichen Sachverhalt entsprechend ermitteln. Hierzu ist erforderlich, daß hinreichend sichere Feststellungen, insbesondere über Ausmaß und Gewicht der Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der ersten Neugliederung, deren Ursachen und deren Bedeutung für die Entwicklung der örtlichen Gemeinschaft, aber auch über die Folgewirkungen, die mit einer Rück-Neugliederung voraussichtlich verbunden sind, getroffen und dem Gesetz zugrundegelegt werden. Der Gesetzgeber ist dabei gehalten, sich aufgrund verläßlicher Quellen ein eigenes Bild von den tatsächlichen Verhältnissen in der Gemeinde zu verschaffen, in deren Gebietsbestand er erneut eingreifen will; er darf sich nicht mit Berichten von interessierter Seite begnügen. II. | ||
§§ 1 bis 3 des Gesetzes vom 28.März 1990 werden diesen Anforderungen nicht gerecht. Sie verstoßen gegen Art.28 Abs.2 Satz 1 GG und sind deshalb nichtig. | ||
1. Dies folgt allerdings nicht schon daraus, daß die Anhörung der Beschwerdeführerinnen als unzureichend zu bezeichnen wäre. | ||
In dem Schreiben des Präsidenten des Niedersächsischen Landtages vom 10.Januar 1990 wurde den Beschwerdeführerinnen eine Frist zur schriftlichen Äußerung zu dem gleichzeitig - zusammen mit dem Rechtsgutachten des Staatsgerichtshofs - übersandten Gesetzentwurf bis zum 9.Februar 1990 eingeräumt. Eine solche Frist von nur einem Monat für die Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme zu einem Rück-Neugliederungsvorhaben ist zwar außerordentlich kurz. Sie war aber jedenfalls bei Berücksichtigung weiterer für das hier zu beurteilende Gesetzgebungsverfahren erheblicher Umstände noch genügend. | ||
Die Beschwerdeführerinnen hatten bereits zuvor auf der Grundlage des sogenannten Überprüfungserlasses des Niedersächsischen Ministers des Inneren vom 29.September 1987 und des Schreibens der Bezirksregierung Weser-Ems vom 6.Oktober 1987 Gelegenheit, innerhalb von zwei Monaten zur beabsichtigten Wiederausgliederung von Gemeindeteilen und den damit im Zusammenhang stehenden Fragen Stellung zu nehmen. Hiervon haben sie auch Gebrauch gemacht und - jeweils auf der Grundlage von Beschlüssen ihrer Gemeinderäte - zum Teil umfangreiche Äußerungen vorgelegt. Die Beschwerdeführerin zu 1. hat außerdem - nach einer Beschlußfassung im Gemeinderat - am 17. März 1989 erneut zu der in der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und FDP angekündigten Korrektur der Gebietsreform Stellung genommen. Aus alledem läßt sich entnehmen, daß die Beschwerdeführerinnen von Gegenstand, Zielsetzung und Inhalt des Gesetzentwurfs vom 5. Januar 1990 nicht überrascht worden sind und in der Lage waren, ihre Standpunkte und Argumente nach insgesamt ausreichender Vorbereitung unter Mitwirkung der gewählten Bürgervertretung in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Mit Rücksicht hierauf bleibt der Umstand, daß die Beschwerdeführerin zu 3. sich wegen der Kürze der Frist außerstande sah, ihre Stellungnahme vom 8.Februar 1990 zum Gegenstand einer Beschlußfassung ihres Gemeinderates zu machen, und diese deshalb ausdrücklich als "vorläufige" bezeichnet hat, auf das Ergebnis letztlich ohne Einfluß. Es kommt hinzu, daß die Beschwerdeführerinnen in der gemeinsamen Sitzung der Ausschüsse für innere Verwaltung und für Rechts- und Verfassungsfragen des Niedersächsischen Landtages am 16.Februar 1990 ihre Standpunkte noch einmal mündlich darlegen und auf Fragen der Abgeordneten antworten konnten. Angesichts der genannten Umstände war die verhältnismäßig kurze Zeit, die den Beschwerdeführerinnen zum Vortrag ihres Standpunktes zur Verfügung stand, auch nicht zu knapp. | ||
Ohne Erfolg machen die Beschwerdeführerinnen geltend, die Gesetzgebungsorgane seien wegen der zwischen den Regierungsparteien bestehenden Absprache über Korrekturen der Gebietsreform für die von ihnen vorgetragenen Argumente nicht mehr offen gewesen, so daß schon das Anhörungsverfahren infolge mangelnder Anhörungsbereitschaft, aber auch die Abwägung an Fehlern litten. Aus einer politischen Abrede des geschilderten Inhalts folgt für sich allein noch nicht, daß das Gesetzgebungsverfahren in seinem Ergebnis abweichenden Überlegungen nicht mehr zugänglich gewesen sein könnte. In diesem Zusammenhang fällt auch ins Gewicht, daß von ursprünglich 16 für eine Korrektur der Gebietsreform ins Auge gefaßten Fällen schließlich nur vier zum Gegenstand des Rück-Neugliederungsgesetzes gemacht worden sind. | ||
In § 1 des Gesetzes vom 28.März 1990 ist allerdings der konkrete Gebietszuschnitt der wiederauszugliedernden Gemeinde Aschendorf abweichend von der Fassung dieser Vorschrift im Gesetzentwurf bestimmt worden. Ob auch insoweit von einer dem Verfassungsgebot des Art.28 Abs.2 Satz 1 GG genügenden Anhörung der Beschwerdeführerin zu 3. ausgegangen werden kann, könnte deshalb erheblichen Zweifeln unterliegen. Der Senat kann dies indes offenlassen, weil die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 3., wie sogleich darzulegen ist, aus anderen Gründen Erfolg hat. | ||
2. Die in den §§ 1 bis 3 des angegriffenen Gesetzes angeordneten Veränderungen im Gebietsbestand der Beschwerdeführerinnen durch Wiederausgliederung von ehemals selbständigen Gemeindeteilen können sich schon deswegen nicht auf Gründe des öffentlichen Wohls stützen, weil es an einer ausreichenden Ermittlung des für die gesetzgeberischen Entscheidungen erheblichen Sachverhalts und deshalb notwendig auch an einer verfassungsrechtlich tragfähigen Abwägung der Gründe und Gegengründe fehlt (a). Unabhängig davon liegen den Bestimmungen der §§ 1 und 3 des Gesetzes auch inhaltlich verfassungsrechtlich erhebliche Abwägungsfehler zugrunde (b). | ||
a) aa) Der Gesetzgeber hat sich ausweislich der Begründung zum Gesetzentwurf (LTDrs.11/4796, S.4 ff) bei allen drei hier zu beurteilenden Rück-Neugliederungsfällen für sein Wiederaufgreifen der Gebietsreform maßgeblich auf die Feststellung gestützt, bei der Bevölkerung in den betreffenden Gemeinden bestehe noch immer nachhaltiger und energischer Widerstand gegen die vor 15 oder noch mehr Jahren durchgeführten Neugliederungsmaßnahmen. Dieser habe seine Ursachen zum Teil in fortbestehender Unzufriedenheit mit den Maßnahmen der Gebietsreform, stütze sich überwiegend aber darauf, daß die Ziele der Gemeindegebietsreform nicht erreicht worden und Fehlentwicklungen eingetreten seien. Der anhaltende Widerstand lasse nicht erwarten, daß sich die für eine erfolgreiche bürgerschaftliche Selbstverwaltung notwendigen Voraussetzungen in absehbarer Zeit herstellen ließen. Als einziges Mittel, weitere schädliche Auswirkungen dieser vielfältig demonstrierten Unzufriedenheit zu vermeiden, komme die Trennung der betreffenden Teile von der übrigen Gemeinde in Betracht. Mangels anderweitiger Zuordnungsmöglichkeiten werde unter Abwägung aller Gesichtspunkte und unter besonderer Berücksichtigung des Gemeinwohls die Wiederherstellung der Selbständigkeit der Gemeinden vorgesehen und zwar auch dort, wo die Einwohnerzahlen des Leitbildes der Gemeindereform nicht erreicht würden. | ||
Im Falle der Beschwerdeführerin zu 1. verweist die Einzelbegründung des Gesetzentwurfs (aaO S.10) insbesondere darauf, daß von einer die gesamte Gemeinde umfassenden örtlichen Gemeinschaft nicht gesprochen werden könne. Vielmehr stellten Neuenkirchen, das schon seit jeher zum Landkreis Vechta gehöre, und die wiederauszugliedernden Gemeindeteile, die früher Teil des Landkreises Osnabrück gewesen seien, eigenständige Teilgemeinschaften dar. Nach den Ergebnissen der Überprüfung im Jahre 1987 bestünden in den früheren Gemeinden Vörden, Hörsten und Hinnenkamp in großem Umfang erhebliche Widerstände und Vorbehalte gegen die Ergebnisse der Gemeindereform fort. - Für die Beschwerdeführerin zu 2. hat sich der Gesetzgeber der Einzelbegründung zu § 2 des Entwurfs (aaO S.8 f) zufolge im wesentlichen darauf gestützt, daß es nicht gelungen sei, den Widerstand der Bevölkerung Langfördens gegen die Eingliederung zu überwinden und eine örtliche Verbundenheit mit der neugebildeten Stadt Vechta herzustellen. Die Bestrebungen der Aktionsgemeinschaft "Selbständiges Langförden eV" würden auch vom Ortsrat Langfördens unterstützt. Die festzustellende Unzufriedenheit der Bevölkerung spreche für erhebliche Integrationsdefizite und lasse die Annahme zu, daß eine örtliche Verbundenheit der Einwohner nicht erreicht worden sei. - Im Falle der Beschwerdeführerin zu 3. führt der Gesetzgeber in der Begründung zu § 1 des Gesetzentwurfs (aaO S.5 ff) an, daß sich eine örtliche Verbundenheit Aschendorfs mit der neugebildeten Stadt Papenburg nicht habe herstellen lassen und Fehlentwicklungen immer offensichtlicher geworden seien. Die deshalb 1981 mit dem Ziel einer Korrektur der Gebietsreform gegründete Aschendorfer Interessengemeinschaft habe noch im Gründungsjahr bei Wahlen zum Ortsrat auf Anhieb die absolute Mehrheit der Sitze erreicht. Auch in der Folgezeit hätten in der Ortsvertretung die Mitglieder, die für die Wiederherstellung der kommunalen Selbständigkeit Aschendorfs eingetreten seien, die überwiegende Mehrheit innegehabt. Eine große Mehrheit der Bevölkerung Aschendorfs und damit ein beachtlicher Teil der Gesamtbevölkerung Papenburgs stehe der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinde ablehnend gegenüber. | ||
Diese Darlegungen in der Begründung des Gesetzentwurfs lassen erkennen, daß der Gesetzgeber sich für ein Wiederaufgreifen der Gemeindegebietsreform im wesentlichen mit dem begnügt hat, was über eine vorhandene Unzufriedenheit von Teilen der Bevölkerung in den neugegliederten Gemeinden mit den Ergebnissen der Reform an ihn herangetragen worden ist. Eine eigene Überprüfung und Gewichtung dieser Aussagen über die Haltung der Einwohnerschaft und eine Berücksichtigung des Willens der Gesamtbevölkerung liegen dem Gesetzentwurf nicht zugrunde. | ||
bb) Um zu einer tragfähigen Abwägungsgrundlage zu kommen, hätte der Gesetzgeber aber insbesondere auch über die Ursachen des vorhandenen Unmuts und seiner Auswirkungen auf die Entwicklung der betroffenen Gemeinden Feststellungen treffen müssen. Das ist nicht ausreichend geschehen. | ||
(1) Im allgemeinen Teil der Begründung des Gesetzentwurfs vom 5.Januar 1990 (LTDrs.11/4796, S.4) wird lediglich ausgeführt, daß nachhaltiger und energischer Widerstand gegen die Neugliederungsmaßnahmen vorhanden sei. Als Ursachen werden neben fortbestehender Unzufriedenheit mit den Maßnahmen der Gemeindereform das Nichterreichen der Ziele der Reform und der Eintritt von Fehlentwicklungen benannt. Aus diesen nicht näher substantiierten Angaben, die sich im wesentlichen in pauschalen Behauptungen erschöpfen, ergeben sich nicht die notwendigen Anhaltspunkte dafür, dem fortbestehenden Widerstand gegen die Neugliederung in der Bevölkerung könne wegen seiner Ursachen und Folgen ein solches Gewicht beizumessen sein, daß deshalb eine Rück-Neugliederung dem öffentlichen Wohl entspreche. | ||
(2) Auch die Einzelbegründungen zu den §§ 1 bis 3 des Gesetzentwurfs enthalten keine Hinweise auf ausreichende Feststellungen des Gesetzgebers: | ||
Für die Beschwerdeführerin zu 1. verweist die Begründung des Gesetzentwurfs (aaO S.10) zwar darauf, daß der Gesetzgeber seinerzeit die konfessionellen, historischen und soziokulturellen Gegebenheiten nicht angemessen berücksichtigt habe, weshalb die Gemeinde nach wie vor aus durch erhebliche Unterschiede voneinander getrennten eigenständigen Teilgemeinschaften bestehe. Die Vorstellung, die verschiedenen zusammengefügten Teile würden nach einer Übergangszeit zu einer Einheit zusammenwachsen, habe sich als Irrtum herausgestellt. Hieraus läßt sich ebenfalls kein faßbarer und nachvollziehbarer Eindruck über die Ursachen, erst recht aber kein Bild über die Auswirkungen der angeführten Unzufriedenheit der Bevölkerung auf den Stand und die Entwicklung des Zusammenlebens in der örtlichen Gemeinschaft gewinnen. | ||
In vergleichbarer Weise unbestimmt und pauschal bleiben die Darlegungen in der Einzelbegründung zu dem die Beschwerdeführerin zu 2. betreffenden § 2 des Gesetzentwurfs (aaO S.9). Dort heißt es, es sei nicht gelungen, die örtliche Verbundenheit Langfördens, dessen historische Bedeutung als 1100 Jahre alte traditionsreiche Südoldenburger Landgemeinde in der Stadt Vechta keine Berücksichtigung gefunden habe, mit der neugebildeten Stadt herzustellen und eine gemeinsame Identität zu entwickeln. Die Unzufriedenheit der Langfördener Bevölkerung mit den Ergebnissen der Gemeindereform sei in zahlreichen Aktionen und auf vielfältige Weise durch die Aktionsgemeinschaft "Selbständiges Langförden eV", durch Verbände, Vereine, Vereinigungen und Bürgerinitiativen ua durch Einwohnerbefragungen und Unterschriftenaktionen dokumentiert. Als Gründe für die Bestrebungen nach Trennung Langfördens von Vechta würden unterschiedliche Gemeindestruktur, Abhängigkeit von Vechta mit seinem höheren städtischen Preisniveau und infolgedessen eine Stagnation bei der Gewerbeansiedlung und beim Wohnungsbau sowie zu lange Wege zu den kommunalen Verwaltungseinrichtungen in Vechta angeführt. Angesichts der für erhebliche Integrationsdefizite sprechenden Unzufriedenheit der Bevölkerung sei die Annahme einer mangelnden örtlichen Verbundenheit der Einwohner berechtigt und die Reformmaßnahme als fehlgeschlagen anzusehen. Damit ist weder in bezug auf die Ursachen noch in bezug auf die Auswirkungen des der ersten Reform entgegenstehenden Bürgerwillens eine tragfähige und nachvollziehbare Tatsachengrundlage festgestellt. | ||
Hinsichtlich der Beschwerdeführerin zu 3. wird in der Einzelbegründung zu § 1 des Gesetzentwurfs (aaO S.5 ff) ausgeführt, trotz ausgeprägter Bereitschaft und vielfacher Anstrengungen seitens der Aschendorfer Bürger sei es zwischen 1972 und 1981 nicht gelungen, die örtliche Verbundenheit mit der neugebildeten Stadt Papenburg herzustellen. Die aufgrund der damaligen Entscheidung eingetretenen Fehlentwicklungen seien immer offensichtlicher geworden. Der Ortsrat von Aschendorf habe bei der Überprüfung im Jahre 1987 als Gründe für die Forderung nach Wiederausgliederung auf die doppelte Schädigung durch Verlust der Selbständigkeit als Gemeinde im Jahre 1972 und den Verlust des Kreissitzes im Jahre 1977 hingewiesen. Aschendorf habe an Investitionen der Beschwerdeführerin zu 3. nicht entsprechend seiner Einwohnerzahl teilgenommen; außerdem bestünden erhebliche Strukturunterschiede. Die mit der Reform verbundene Erwartung des Gesetzgebers, die Einwohner der beteiligten Gemeinden könnten zu einer - für die Existenz des Gemeinwesens unverzichtbaren - neuen örtlichen Verbundenheit zusammengefaßt werden, hätten sich bisher nicht erfüllt. Eine große Mehrheit der Bevölkerung Aschendorfs fühle sich und ihren Stadtteil von der Entwicklung Papenburgs ausgeschlossen; dazu werde insbesondere auf die Ausweisung neuer Baugebiete fernab vom Ortskern Aschendorfs, auf die große Anzahl leerstehender Geschäfte und auf die mangelhafte städtebauliche Entwicklung Aschendorfs mit wirtschaftlicher und bevölkerungsmäßiger Ausdünnung verwiesen. Die historische Bedeutung Aschendorfs, auch als ehemalige Kreisstadt, habe keine Berücksichtigung gefunden. Die durch Finanz- und Wirtschaftsdaten nachgewiesene Beeinträchtigung der Entwicklung Aschendorfs habe zu nachhaltigem Widerstand geführt; dies zwinge zu der Annahme, daß die Integration der Einwohner Aschendorfs in die Bürgerschaft Papenburg mißlungen sei. - Damit sind Ursachen und Auswirkungen des Bürgerprotestes in Aschendorf gegen die Zusammenlegung mit Papenburg allenfalls ansatzweise skizziert. Um den schwerwiegenden Eingriff in das Selbstverwaltungsrecht der Beschwerdeführerin zu 3., der mit einer Rück-Neugliederung verbunden ist, verfassungsrechtlich abzusichern, hätte es aber einer Feststellung derjenigen Tatsachen bedurft, aus denen sich nachteilige Auswirkungen der mangelnden Akzeptanz des bestehenden Gebietszuschnitts der Beschwerdeführerin zu 3. bei Teilen der Bevölkerung auf die Leistungsfähigkeit der Selbstverwaltung und die gedeihliche Entwicklung in der Gemeinde insgesamt ergeben sollen. Es fehlt an Feststellungen, ob die geschilderten Benachteiligungen und Fehlentwicklungen in Aschendorf ihre Ursache in einer Majorisierung dieses Ortsteils oder einer Vernachlässigung seiner Belange haben oder ob hierfür andere Umstände die Ursache sind. | ||
cc) Die dargestellten Mängel sind im weiteren Gesetzgebungsverfahren nicht behoben worden. | ||
Die eingegangenen schriftlichen Stellungnahmen erschöpften sich ebenso wie die Äußerungen in der mündlichen Anhörung am 16. Februar 1990 im wesentlichen in einer Wiederholung der bereits dargelegten kontroversen Standpunkte und Beurteilungen. Bis zuletzt bestanden einander widersprechende Darstellungen über Gewicht und Ausmaß des noch vorhandenen Bürgerunwillens, wie insbesondere im Falle der Beschwerdeführerin zu 2. im Rahmen der Anhörung am 16.Februar 1990 deutlich geworden war. Der Gesetzgeber hat die Widersprüche in den tatsächlichen Darstellungen des Bürgerwillens und der Gemeindeentwicklung nach der ersten Neugliederung und in der Bewertung der hierzu vorgetragenen Umstände auch erkannt (vgl die Übersicht über die Vorlagen zum Gesetzentwurf Drs.11/4796 mit kurzgefaßter Inhaltsangabe gemäß Vorlage Nr.23 und Nachtrag hierzu). | ||
Bei dieser Sachlage durfte er nicht von vornherein auf den Versuch verzichten, selbst den Sachverhalt festzustellen, indem er sich in ihm geeignet erscheinender Weise ein aktuelles eigenes Bild über die tatsächlichen Umstände verschaffte, die für seine auf Befriedung ausgerichtete Entscheidung erheblich waren. Der Landtag sah jedoch hierzu keine Veranlassung; Anträge auf Bereisung der betroffenen Gemeinden wurden von der Mehrheit des federführenden Ausschusses für innere Verwaltung abgelehnt (vgl Niedersächsischer Landtag, 11.P, Niederschrift über die 104. Sitzung des Ausschusses für innere Verwaltung am 10.Januar 1990, S.15; 108. Plenarsitzung am 9.März 1990, Plenarprot. S.10041 f | ||
Damit mangelt es für die gesetzgeberische Abwägung bereits an einer auf eigener Vergewisserung des Gesetzgebers beruhenden verläßlichen Tatsachengrundlage. | ||
b) Unabhängig hiervon ergeben sich aus der Begründung des Gesetzgebers für seine Rück-Neugliederungsmaßnahmen und aus den übrigen Materialien des Gesetzes weitere Fehlbewertungen mit der Folge, daß die von dem eine Rück-Neugliederung anstrebenden Gesetzgeber zu fordernde Abwägung gegenläufiger Belange den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt: | ||
aa) Im Falle der Beschwerdeführerin zu 1. wird in der Begründung des Gesetzentwurfs (LTDrs.11/4796, S.10) als eine der Ursachen für die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Ergebnis der Neugliederung angeführt, daß die früheren Gemeinden Vörden, Hörsten und Hinnenkamp aus Gründen ihrer historisch gewachsenen Zugehörigkeit zum (hannoverschen) Landkreis Osnabrück eine Eingemeindung in das zum (oldenburgischen) Landkreis Vechta gehörende Neuenkirchen unter gleichzeitiger Zuordnung der neuen Gemeinde zum Landkreis Vechta von Anfang an entschieden abgelehnt hätten. Auch aus dieser verschiedenen Zuordnung erkläre sich der anhaltende Widerstand gegen die Gebietsreform. Gleichwohl hat der Gesetzgeber für die aus den genannten früheren Gemeinden neuzubildende Gemeinde Vörden aus raumordnerischen Gründen die Zuordnung zum Landkreis Vechta vorgesehen (aaO S.11). Eine solche Regelung, die einen wesentlichen Grund dafür, daß ein erneuter Eingriff in den Gebietsbestand der Beschwerdeführerin zu 1. für notwendig erachtet wurde, letztlich nicht ausräumt, hätte der sorgfältigen Abwägung mit den entgegenstehenden Belangen des Bestandsschutzes unter den Gesichtspunkten der Geeignetheit und Erforderlichkeit bedurft. Das ist hier nicht geschehen. | ||
bb) Im Falle der Beschwerdeführerin zu 3. ist im Gesetzgebungsverfahren nach der Einbringung des Entwurfs vom 5. Januar 1990 nicht nur die Bestimmung der genauen Gebietsabgrenzung zwischen Papenburg und der neuzuschaffenden Stadt Aschendorf geändert und einer späteren endgültigen Festlegung nach Maßgabe des § 7 Abs.3 des Gesetzes vom 28.März 1990 vorbehalten worden. Gegenstand der Erörterung im Gesetzgebungsverfahren war auch die Zuordnung der durch § 12 des Neugliederungsgesetzes vom 20.November 1972 (GVBl S.479) ebenfalls nach Papenburg eingemeindeten, zuvor mit Aschendorf in einer Samtgemeinde funktional verbundenen früheren Gemeinden Herbrum, Nenndorf und Tunxdorf (vgl. LTDrs. 7/1300, S.103). Während der Beratung des angegriffenen Gesetzes im Ausschuß für innere Verwaltung wurde darauf hingewiesen, daß die drei genannten, von der Rück-Neugliederung nicht erfaßten früheren Gemeinden auf Aschendorf ausgerichtet seien; es sei deshalb zu fragen, ob der im Gesetzentwurf angelegte Zuschnitt der beiden zukünftigen Gemeinden Papenburg und Aschendorf wirklich gewollt sei oder nicht Anlaß für weitere Unzufriedenheiten sein könne (vgl. Niedersächsischer Landtag, 11.WP., Niederschrift über die 108.Sitzung des Ausschusses für innere Verwaltung am 14.Februar 1990, S.20 f.; Niederschrift über die 160. Sitzung des Ausschusses für Rechts- und Verfassungsfragen am 22. Februar 1990, S. 17). Von einer Einbeziehung des damit aufgeworfenen Problems in das laufende Gesetzgebungsverfahren wurde indes aus Zeitgründen Abstand genommen, weil Vertreter aus diesen Ortsteilen nicht angehört worden seien und der Bevölkerungswille hier nicht abschließend habe ermittelt werden können (vgl Niedersächsischer Landtag, 11.WP., Niederschrift über die 112. Sitzung des Ausschusses für innere Verwaltung am 27.Februar 1990, S.10, 18; 108. Plenarsitzung am 9.März 1990, Plenarprot. S.10042). Es liegt auf der Hand, daß auch schon aus diesem Grunde die in § 1 des angegriffenen Gesetzes angeordnete Rück-Neugliederung einer selbständigen Stadt Aschendorf nicht das Ergebnis einer fehlerfreien Abwägung aller für und gegen die gesetzgeberische Maßnahme sprechenden Belange sein und deshalb nicht dem öffentlichen Wohl entsprechen kann." | ||
Auszug aus BVerfG B, 12.05.92, - 2_BvR_470/90 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.42 ff | ||
§§§ |
92.012 | Petitionsbescheid | |
---|---|---|
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(LF) Eine besondere Begründungspflicht in dem Sinne, daß ein Petitionsbescheid die für die Entscheidung des Parlaments inhaltlich maßgebenden Entscheidungsgründe enthalten muß, läßt sich weder unmittelbar aus Art.17 GG und Art.19 Abs.4, 103 Abs.1 GG und dem Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes herleiten. | ||
§§§ |
92.013 | Auszubildender | |
---|---|---|
| ||
Zum Schutz der freien Meinungsäußerung (Art.5 Abs.1 S.1 GG) bei der Übernahme von Auszubildenden in ein Arbeitsverhältnis. | ||
§§§ |
92.014 | Rechtliches Gehör | |
---|---|---|
| ||
1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art.103 Abs.1 GG) gewährleistet den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern. Es verstößt gegen Art.103 Abs.1 GG, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (Anschluß an BVerfGE_84,188). | ||
2) Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so läßt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (Fortführung von BVerfGE_47,182 <189>). | ||
* * * | ||
Beschluss | Entscheidungsformel:
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§§§ |
92.015 | Finanzausgleich | |
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1) Das Gebot des Art.107 Abs.2 Satz 1 Hs 2 GG, Finanzkraft und Finanzbedarf der Gemeinden (Gemeindeverbände) zu berücksichtigen, ist dem Ziel eines angemessenen Ausgleichs der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder zu- und untergeordnet. | ||
2) Einnahmen aus Quellen, über deren Nutzung Länder und Kommunen eigenverantwortlich entscheiden, können dem Grunde nach von der Finanzkraft nicht ausgenommen werden. Der Finanzkraftbegriff ist dafür offen, solche Einnahmen nach einem Soll-Aufkommen zu bemessen. | ||
3) Die in Art.107 Abs.2 Satz 1 Hs.2 GG getroffene Anordnung, den Finanzbedarf der Gemeinden (Gemeindeverbände) zu berücksichtigen, fügt sich dem Regelungskonzept des ersten Halbsatzes ein. Sie betrifft nicht Sonderbedarfe, sondern einen abstrakten Finanzbedarf, der ohne Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse bestimmter Gemeinden allgemein bei der Erfüllung der den Gemeinden zukommenden Aufgaben anfällt. Merkmale, nach denen der Finanzbedarf der Kommunen bestimmt wird, müssen daher unabhängig von eigenen kommunalen Prioritätsentscheidungen gegeben sein; sie müssen auch bei Kommunen generell, dh aufgrund ihrer Eigenart als Kommunen, und gemeinsam, dh bei den Kommunen aller Länder - wenn auch in quantitativ unterschiedlicher Ausprägung - gegeben sein können. | ||
4) Dem Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht von vornherein verwehrt, das Ergebnis des von ihm festgelegten Verfahrens, das auf einen angemessenen Ausgleich zielt und diesen an sich zu bewirken in der Lage ist, aus besonderen Gründen noch einmal zu korrigieren. Doch verletzt eine solche Korrektur dann das verfassungsrechtliche Willkürverbot, wenn der Gesetzgeber selbstgesetzte Maßstäbe für die - stufenweise - Bewirkung des angemessenen Ausgleichs ohne irgendwie einleuchtenden Grund wieder verläßt und dies Ergebnisse hervorruft, die zu den selbstgesetzten Maßstäben und Ausgleichsschritten in Widerspruch stehen. | ||
5) Die Haushaltsnotlage eines Landes kann als Sonderlast nach Art.107 Abs.2 Satz 3 GG nur insoweit berücksichtigt werden, als sich dafür gewährte Bundesergänzungszuweisungen der Sache und dem Umfang nach noch als (vorübergehende) Hilfe zur Selbsthilfe des betroffenen Landes darstellen. | ||
6) Befindet sich ein Glied der bundesstaatlichen Gemeinschaft - sei es der Bund, sei es ein Land - in einer extremen Haushaltsnotlage, so erfährt das bundesstaatliche Prinzip seine Konkretisierung in der Pflicht aller anderen Glieder der bundesstaatlichen Gemeinschaft, dem betroffenen Glied mit dem Ziel der haushaltswirtschaftlichen Stabilisierung auf der Grundlage konzeptionell aufeinander abgestimmter Maßnahmen Hilfe zu leisten. | ||
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Beschluss | Entscheidungsformel:
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§§§ |
92.016 | Strafaussetzung | |
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1) Das Tatbestandsmerkmal "die besondere Schwere der Schuld" (§ 57a Abs.1 Satz 1 Nr.2 StGB) ist verfassungsrechtlich hinreichend bestimmt. | ||
2) Die Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen zur Aussetzung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe sind am Maßstab des Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.20 Abs.3 GG (Rechtsstaatsprinzip), des Art.2 Abs.2 GG und des Art.104 Abs.2 Satz 1 GG zu messen. | ||
3) a) Die Regelungen der §§ 454, 462a StPO und des § 74 Abs.1 Satz 1, Abs.2 Satz 1 Nr.4 GVG sind, insoweit sie die Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes betreffen, mit dem Grundgesetz nur dann vereinbar, wenn die für die Bewertung der Schuld gemäß § 57a Abs.1 Satz 1 Nr.2 StGB erheblichen Tatsachen im Erkenntnisverfahren vom Schwurgericht festgestellt und im Urteil dargestellt werden, wenn das Urteil darüber hinaus auf dieser Grundlage die Schuld - unter dem für die Aussetzungsentscheidung erheblichen Gesichtspunkt ihrer besonderen Schwere - gewichtet und wenn das Strafvollstreckungsgericht daran gebunden ist. | ||
b) Bei der Entscheidung über die Aussetzungsanträge von Verurteilten, deren Schuld noch nicht im vorstehenden Sinne gewichtet ist (Altfälle), darf das Vollstreckungsgericht zu Lasten des Verurteilten nur das dem Urteil zugrunde liegende Tatgeschehen und die dazu festgestellten Umstände der Ausführung und der Auswirkung der Tat berücksichtigen. | ||
4) a) Die Vorschrift des § 454 Abs.1 StPO ist verfassungskonform dahin auszulegen, daß im Falle der Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe das Strafvollstreckungsgericht nicht nur darüber entscheidet, ob deren weitere Vollstreckung zur Bewährung auszusetzen ist, sondern im Falle der Ablehnung auch, bis wann die Vollstreckung - unbeschadet sonstiger Voraussetzungen und Möglichkeiten ihrer Aussetzung - unter dem Gesichtspunkt der besonderen Schwere der Schuld fortzusetzen ist. | ||
b) Der voraussichtliche Zeitpunkt einer Aussetzung der Strafvollstreckung muß so rechtzeitig festgelegt werden, daß die Vollzugsbehörden die Vollzugsentscheidungen, die die Kenntnis dieses Zeitpunktes unabdingbar voraussetzen, ohne eigene Feststellungen zur voraussichtlichen Verbüßungszeit so treffen können, daß die bedingte Entlassung nicht verzögert wird. | ||
LB 5) Zur abweichenden Meinung des Richters Vizepräsident Mahrenholz siehe BVerfGE_86,340 = www.dfr/BVerfGE, Abs.166 ff. | ||
LB 6) Zur abweichenden Meinung des Richters Winter siehe BVerfGE_86,355 = www.dfr/BVerfGE, Abs.211 ff. | ||
§§§ |
92.017 | Trümmerfrauen | |
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1. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung ergibt sich aus Art.74 Nr.12 GG. Zum Erlaß des Kindererziehungsleistungs-Gesetzes war der Bund nach Art.74 Nr.7 GG befugt. | ||
2) Das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz und das Kindererziehungsleistungs-Gesetz verstießen nicht dadurch gegen das Grundgesetz, daß sie Zeiten der Kindererziehung nicht generell mit Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung gleichsetzten. Der Gesetzgeber ist jedoch nach Art.3 Abs.1 GG in Verbindung mit Art.6 Abs.1 GG verpflichtet, den Mangel des Rentenversicherungssystems, der in den durch Kindererziehung bedingten Nachteilen bei der Altersversorgung liegt, in weiterem Umfang als bisher auszugleichen. | ||
3) Der Ausschluß der vor 1921 geborenen Mütter von der Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz war mit Art.3 Abs.1 GG vereinbar. Auch die nur stufenweise Zuerkennung von Leistungen für Kindererziehung an Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 und der gleichzeitige Leistungsausschluß der Väter im Rahmen des Kindererziehungsleistungs-Gesetzes waren im Hinblick auf Art.3 Abs.1 GG durch sachliche Gründe gerechtfertigt. | ||
* * * | ||
Beschluss | Entscheidungsformel: | |
§§§ |
92.018 | Potentielle Mörder | |
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1) Die freiheitssichernde Funktion des Grundrechts auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren (Art.2 Abs.1 iVm Art.20 Abs.3 GG ) erfordert es, daß der Richter den Inhalt von Meinungsäußerungen unter Heranziehung des gesamten Kontextes einer Erklärung objektiv und sachlich vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Geschehens, in dem sie gefallen ist, ermittelt und in der Begründung seiner Entscheidung erkennen läßt, daß er seine Entscheidung auf diese Weise gewonnen hat. | ||
2) Gegen diese Grundsätze wird, in einem fachgerichtlichen Urteil verstoßen, wenn einzelnen Teilen einer Meinungsäußerung eine bei hinreichender Beachtung des Zusammenhangs nicht mehr verständliche verschärfende und damit überzogene Deutung gegeben wird und sie in dieser Deutung einer disziplinarrechtlichen Würdigung und Ahndung unterworfen werden. | ||
§§§ |
92.019 | Normenkontrolle | |
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1) Ist vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde ein fachgerichtlicher Rechtsweg zu erschöpfen, dessen Beschreiten - wie im Falle von § 47 VwGO - nicht an eine Antragsfrist gebunden ist, so ergibt sich aus Sinn und Zweck von § 93 Abs.2 BVerfGG, daß das fachgerichtliche Verfahren, soll die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde offengehalten werden, innerhalb der in § 93 Abs.2 BVerfGG vorgesehenen Jahresfrist eingeleitet werden muß (vgl BVerfG, B v 23.06.87 - 2_BvR_826/83 - BVerfGE_76,107 (115f)). Gesetze, die iSv Art.14 Abs.1 S.2 GG Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmen, sind auch untergesetzliche - auf gesetzlicher Ermächtigung beruhende - Normen, insbesondere auch Bebauungspläne (vgl BVerfG, B v 30.11.88 - 1_BvR_1301/84 - BVerfGE_79,174 (191f) | ||
2) Die Frage der Wirksamkeit dieser den Inhalt des Eigentums bestimmenden Vorschriften, einschließlich der Frage, ob die Rechtswidrigkeit einzelner Festsetzungen eines Bebauungsplans, dessen teilweise oder vollständig Nichtigkeit zur Folge hat, gehört zur Auslegung und Anwendung einfachen Rechts und ist damit der verfassungsrechtlichen Nachprüfung entzogen. | ||
3) Der Rechtsschutzgarantie von Art.19 Abs.4 GG läßt sich ein Anspruch auf das teilweise Aufrechterhalten eines Bebauungsplans und der daraus hergeleiteten Rechtsposition nicht entnehmen. | ||
§§§ |
92.020 | Schwangeren- + Familienhilfegesetz | |
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LB: Auf Antrag der Bayerischen Staatsregierung hat das BVerfG eine einstweilige Anordnung zur Abwendung einer Gefahr für das gemeine Wohl erlassen. | ||
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Beschluss | Entscheidungsformel:
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T-92-03 | Einstweilige Anordnung | |
"Die Anträge sind begründet. Die einstweilige Anordnung ist zur Abwendung einer Gefahr für das gemeine Wohl dringend geboten. | ||
1. An einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist ein strenger Maßstab anzulegen, insbesondere wenn die Anordnung die Wirksamkeit eines Gesetzes betrifft (vgl zuletzt BVerfGE_82,310 <312 f>). Wenn - wie hier - der angekündigte Antrag im Hauptsacheverfahren weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet erscheint, wägt das Bundesverfassungsgericht die Nachteile, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, das Gesetz aber später für verfassungswidrig erklärt würde, gegen diejenigen ab, die entstünden, wenn das Gesetz nicht in Kraft träte, es sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erwiese. | ||
2. Bei der Nachteilsabwägung hat der Senat die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Bestimmungen sprechen, ebenso außer Betracht gelassen wie die Gegengründe. | ||
Die Folgenabwägung hat hier davon auszugehen, daß es sich bei der Schutzpflicht des Staates gegenüber ungeborenem menschlichem Leben um einen fundamentalen Bestandteil der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland handelt. Die normativen Konzepte zur Verwirklichung eines solchen Schutzes, wie sie von der Indikationsregelung und von der Fristenregelung verfolgt werden, unterscheiden sich - unerachtet ihrer jeweiligen praktischen Schutzwirkung - in prinzipieller Weise. Sie beruhen auf einer grundsätzlich unterschiedlichen Auffassung, auf welchem Weg in einer einzigartigen existentiellen Konfliktlage ungeborenes Leben - abgestützt durch soziale Maßnahmen - wirksamer geschützt werden kann: durch rechtliche Mißbilligung nicht indizierter Schwangerschaftsabbrüche auch unter Einsatz des Strafrechts von Anfang an oder durch das vorrangige Abstellen auf die durch soziale Maßnahmen und Beratung unterstützte Eigenverantwortlichkeit der Frau bei der Entscheidung, ungeborenes Leben auszutragen. Das vom Gesetzgeber jetzt verfolgte Konzept setzt - unerachtet seiner hier nicht zu beurteilenden Verfassungsmäßigkeit - für seine Verwirklichung Dauer und Beständigkeit der Regelung voraus. Ebenso zielt der im Einigungsvertrag festgelegte Auftrag an den Gesetzgeber auf eine dauernde Regelung, "die den Schutz vorgeburtlichen Lebens und die verfassungskonforme Bewältigung von Konfliktsituationen schwangerer Frauen vor allem durch rechtlich gesicherte Ansprüche für Frauen, insbesondere auf Beratung und soziale Hilfe besser gewährleistet, als dies in beiden Teilen Deutschlands derzeit der Fall ist" (Art.31 Abs.4). | ||
Angesichts dieser Besonderheiten der Regelungsmaterie erscheint es als schwerer Nachteil für das gemeine Wohl, wenn das Gesetz, das mit seinem Inkrafttreten den Übergang auf ein prinzipiell anderes Konzept des Lebensschutzes herbeiführt, im Falle seiner Verfassungswidrigkeit nach einigen Monaten wieder außer Kraft träte und einem anderen Konzept weichen müßte. Die Entscheidung des Gesetzgebers ist als prinzipielle Entscheidung gedacht, nicht als bloß kurzfristiger Versuch, ungeborenes Leben auf eine grundsätzlich neue Weise zu schützen. Es muß auch bedacht werden, daß es nachhaltige negative Auswirkungen auf das Rechtsvertrauen der Bevölkerung und auf die Möglichkeit haben kann, in der hier inmitten stehenden Frage menschliches Verhalten durch Recht zu bestimmen, wenn in diesem Regelungsbereich von so existentieller Bedeutung das normative Konzept mehrfach wechselt. | ||
Dem stehen die Nachteile gegenüber, die damit verbunden sind, daß das neue Recht, soweit der von dem Antrag betroffene strafrechtliche Bereich in Betracht kommt, im Falle seiner Verfassungsmäßigkeit erst mit der Verzögerung von einer Reihe von Monaten in Kraft tritt. Sie wiegen weniger schwer als ein möglicher mehrfacher Wechsel des Konzepts zum Schutze ungeborenen Lebens innerhalb kurzer Zeit. Der Senat geht dabei davon aus, daß die am 5.August 1992 in Kraft tretenden sozialen Maßnahmen, die das Schwangeren- und Familienhilfegesetz zur Verbesserung der Situation von Müttern und Kindern getroffen hat, zur Verwirklichung des Lebensschutzes ernsthaft gewollt sind und daher - entgegen Einschätzungen von Äußerungsberechtigten in der mündlichen Verhandlung - auch dann ohne Abstriche ins Werk gesetzt werden, wenn Art. 13 Nr.1 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes einstweilen nicht in Kraft treten kann. | ||
3. Obwohl sich die verfassungsrechtlichen Bedenken der Antragsteller nur gegen einen Teil der strafrechtlichen Vorschriften des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes richten, ist es geboten, das Inkrafttreten des Art.13 Nr.1 des Gesetzes insgesamt auszusetzen und die §§ 218 ff StGB bisheriger Fassung in ihrem Geltungsbereich vorläufig weiter anzuwenden. Die neuen strafrechtlichen Vorschriften bilden ebenso wie die Vorschriften des bisher geltenden Rechts über den Schwangerschaftsabbruch je eine systematische Einheit, die sich nicht in einzelne Elemente auflösen und mit Teilen des bisher geltenden Rechts verknüpfen läßt, ohne daß im Hinblick auf Art.103 Abs.2 GG bedenkliche Unklarheiten zu besorgen wären. Vor allem sind die Vorschriften über die Beratung, soweit diese Voraussetzung für die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs ist, auf das jeweilige Regelungssystem abgestimmt; dieser Regelungszusammenhang muß erhalten bleiben. Da die Vorschriften des Art.1 §§ 2 bis 4 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes von der einstweiligen Anordnung nicht berührt werden, bedeutet dies, daß für die Dauer der einstweiligen Anordnung verschiedene Rechtsgrundlagen für die Beratung nebeneinander bestehen. Für die Beratung als Voraussetzung der Straflosigkeit bleiben im Anwendungsbereich des Strafgesetzbuchs dessen Vorschriften über die Beratung auch für nach neuem Recht anerkannte Beratungsstellen maßgebend. | ||
4. In dem in Art.3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet bleiben die in Art.16 des Gesetzes bezeichneten Vorschriften aus den dargelegten Gründen vorübergehend anwendbar; sie gelten nach der Übergangsregelung des Art.31 Abs.4, Art.4 Nr.5 des Einigungsvertrages jedenfalls bis zum 31.Dezember 1992. Das ,Angebot und die Tätigkeit von Beratungsstellen hingegen sind durch das Schwangeren- und Familienhilfegesetz - insoweit für das gesamte Bundesgebiet - neu geregelt worden; diese Regelung tritt am 5.August 1992 in Kraft. Dabei gilt, daß das ungeborene Leben von Verfassungs wegen geschützt ist, daß also insbesondere der Schwangerschaftsabbruch nicht ein Instrument der Familienplanung sein darf. | ||
5. Die einstweilige Anordnung muß darüber hinaus die Aufrechterhaltung der oben genannten Meldepflicht der Ärzte erfassen. Die Bedeutung der beschriebenen staatlichen Schutzpflichten läßt es nicht zu, daß der Staat, ohne daß das Gewicht der Meldepflicht für den Lebensschutz vom Senat eingehend geprüft worden ist, auf wenn auch unvollkommene - statistische Daten zu der Frage verzichtet, in welchem Maße die Ärzte Schwangerschaften abbrechen; infolgedessen muß an der Kontinuität der Datenerhebung festgehalten werden. In dem in Art.3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet fehlt es gegenwärtig an jeder Rechtsgrundlage für eine Meldepflicht; daher wird die für die alten Bundesländer getroffene Regelung insoweit ebenfalls vorläufig für anwendbar erklärt." | ||
Auszug aus BVerfG U, 04.08.92, - 2_BvQ_16/92 -, www.BVerfG.de, Abs.9 ff | ||
§§§ |
92.021 | Kleingärten-Pachtzins | |
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1) Hat das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für verfassungswidrig, aber nicht für nichtig erklärt, muß der Gesetzgeber grundsätzlich zumindest mit Wirkung von diesem Zeitpunkt an die verfassungswidrige Lage beseitigen. Für die Zeit vor der Neuregelung kann jedoch keine Abhilfe verlangt werden, wenn diese praktisch nicht mehr durchführbar wäre oder den Betroffenen keinen Nutzen mehr bringen könnte oder wenn sie nur unter unverhältnismäßiger Beeinträchtigung anderer schutzwürdiger Belange möglich wäre. | ||
2) Die Begrenzung des Pachtzinses für Kleingärten in § 5 Abs.1 Satz 1 BKleingG ist in ihrem Ausmaß für private Verpächter mit Art.14 Abs.1 Satz 1 GG nicht vereinbar. | ||
§§§ |
92.022 | Grundfreibetrag | |
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1. Dem der Einkommensteuer unterworfenen Steuerpflichtigen muß nach Erfüllung seiner Einkommensteuerschuld von seinem Erworbenen soviel verbleiben, als er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und -- unter Berücksichtigung von Art.6 Abs.1 GG -- desjenigen seiner Familie bedarf (Existenzminimum). | ||
2. Die Höhe des steuerlich zu verschonenden Existenzminimums hängt von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarf ab. Der Steuergesetzgeber muß dem Einkommensbezieher von seinen Erwerbsbezügen zumindest das belassen, was er dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt. | ||
3) Bei einer gesetzlichen Typisierung ist das steuerlich zu verschonende Existenzminimum grundsätzlich so zu bemessen, daß es in möglichst allen Fällen den existenznotwendigen Bedarf abdeckt, kein Steuerpflichtiger also infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen wird, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu decken.
]EF1> Beschluss ]EF1[ Entscheidungsformel:
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Beschluss | Entscheidungsformel:
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§§§ |
92.023 | 7.Rundfunkentscheidung | |
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1) Überträgt der Gesetzgeber die Rundfunkveranstaltung ganz oder zum Teil öffentlichrechtlichen Anstalten, so verlangt Art.5 Abs.1 Satz 2 GG, daß er die Erfüllung ihrer Aufgaben finanziell sicherstellt. | ||
2) Die Finanzierung der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten muß nach Art und Umfang ihrer Funktion entsprechen und darf ihre von Art.5 Abs.1 Satz 2 GG geschützte Programmautonomie nicht gefährden. | ||
3) Die dem öffentlichrechtlichen Rundfunk gemäße Art der Finanzierung ist die Rundfunkgebühr. Mischfinanzierung ist zulässig, sofern dabei die Gebührenfinanzierung nicht in den Hintergrund tritt. | ||
4) Der Umfang der finanziellen Gewährleistungspflicht richtet sich nach den Programmen, die der Funktion des öffentlichrechtlichen Rundfunks entsprechen und zu ihrer Wahrnehmung erforderlich sind. | ||
5) Bezugsgröße für die Bestimmung des zur Aufgabenerfüllung Erforderlichen ist nicht jedes einzelne Programm, sondern das gesamte Programmangebot einer öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalt. | ||
6) Eine Pflicht zum Ausgleich gesetzlich entzogener Einnahmen besteht nur dann, wenn das Programmangebot einer Rundfunkanstalt anders nicht in dem erforderlichen Umfang aufrechterhalten werden kann. | ||
§§§ |
92.024 | Tanz der Teufel | |
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1) Das Analogieverbot des Art.103 Abs.2 GG läßt es nicht zu, den Begriff "Mensch" in § 131 Abs.2 StGB dahin auszulegen, daß er auch menschenähnliche Wesen umfaßt. | ||
2) Das Tatbestandsmerkmal "in einer die Menschenwürde verletzenden Weise" in § 131 Abs.1 StGB genügt dem Bestimmtheitsgebot, soweit darunter Darstellungen von grausamen oder unmenschlichen Gewalttätigkeiten verstanden werden, die darauf angelegt sind, beim Betrachter eine Einstellung zu erzeugen oder zu verstärken, die den jedem Menschen zukommenden fundamentalen Wert- und Achtungsanspruch leugnet. | ||
3) Die Einziehung eines Films wegen Verstoßes gegen § 131 Abs.1 Nr.4 StGB vor Abschluß des vom Betreiber veranlaßten Kennzeichnungsverfahrens nach § 6 Abs.3 Nr.5 JöSchG verstößt gegen das Zensurverbot des Art.5 Abs.1 Satz 3 GG. | ||
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Beschluss | Entscheidungsformel: | |
§§§ |
92.025 | Erörterungsgebühr | |
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1) Die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes macht für sich allein eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise mißdeutet wird. | ||
2) Die Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz (Art.20 Abs.3 GG) führt nicht dazu, daß das Bundesverfassungsgericht Gerichtsentscheidungen auf ihre Übereinstimmung mit einfachem Recht überprüft. Das Bundesverfassungsgericht greift erst ein, wenn die Begründung der Entscheidung eindeutig erkennen läßt, daß sich das Gericht aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben hat, also objektiv nicht bereit war, sich Recht und Gesetz zu unterwerfen. | ||
§§§ |
92.026 | Vorlagepflicht | |
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Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Gericht gegen Art.101 Abs.1 Satz 2 GG verstößt, wenn es einen Rechtsentscheid nicht einholt, obwohl dies geboten wäre. | ||
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T-92-04 | Rechtsentscheid | |
" Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Eine Verletzung von Art.101 Abs.1 Satz 2 GG läßt sich nicht feststellen. | ||
1. Das Landgericht war zur Vorlage an das im Rechtszug übergeordnete Oberlandesgericht Hamm gemäß § 541 Abs.1 Satz 1 ZPO verpflichtet. Danach hat das Landgericht, will es als Berufungsgericht bei der Entscheidung einer Rechtsfrage, die sich aus einem Mietverhältnis über Wohnraum ergibt oder den Bestand eines solchen Mietvertragsverhältnisses betrifft, von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes oder eines Oberlandesgerichts abweichen, vorab die Entscheidung des übergeordneten Oberlandesgerichts über die Rechtsfrage (Rechtsentscheid) herbeizuführen. Diese Voraussetzungen lagen im Ausgangsverfahren vor. | ||
Denn nach den beiden vom Beschwerdeführer genannten Rechtsentscheiden kann sich der Vermieter zur Begründung eines Mieterhöhungsverlangens nach § 2 Abs.2 Satz 4 MHG auch auf (drei) Vergleichswohnungen beziehen, die sich in dem vom Mieter bewohnten Haus befinden und ebenfalls vom Vermieter vermietet worden sind. Das Landgericht hingegen hat das in dieser Weise begründete Mieterhöhungsverlangen des Beschwerdeführers für unwirksam gehalten. Mit den beiden Rechtsentscheiden setzt es sich weder auseinander noch erwähnt es sie. | ||
2. Für die Annahme eines Verstoßes gegen Art.101 Abs.1 Satz 2 GG reicht jedoch nicht jede irrtümliche Überschreitung der den Fachgerichten gezogenen Grenzen aus (vgl BVerfGE_3,359 <364 f>; BVerfGE_13,132 <144>; BVerfGE_29,166 <172 f>; BVerfGE_67,90 <95>; BVerfGE_76,93 <96 f>). Nicht jede fehlerhafte Anwendung oder Nichtbeachtung einer einfachgesetzlichen Verfahrensvorschrift ist zugleich eine Verfassungsverletzung; andernfalls würde die Anwendung einfachen Rechts auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben werden (vgl BVerfGE_82,286 <299>). Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist erst überschritten, wenn die -- fehlerhafte -- Auslegung und Anwendung einfachen Rechts willkürlich ist (grundlegend BVerfGE_3,359 <364 f>). Das gilt auch, wenn ein Gericht die Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht außer acht läßt (BVerfGE_13,132 <143>; BVerfGE_42,237 >241>; BVerfGE_67,90 <95>; BVerfGE_76,93 <96>; BVerfGE_79,292 <301>; stRspr). Eine verfassungswidrige Entziehung des gesetzlichen Richters durch eine richterliche Zuständigkeitsentscheidung liegt darüber hinaus vor, wenn das Gericht Bedeutung und Tragweite von Art.101 Abs.1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl BVerfGE_82,286 <299>). | ||
3. Bei Anwendung dieser Grundsätze hält das angegriffene Urteil den Angriffen der Verfassungsbeschwerde stand. Die Frage, ob das Mieterhöhungsverlangen des Beschwerdeführers deshalb unwirksam war, weil Vergleichswohnungen aus dem eigenen Bestand in demselben Haus benannt worden waren, ist im Ausgangsverfahren nicht erörtert worden. Keine der beiden am Verfahren beteiligten Parteien hatte auf die in der Verfassungsbeschwerde genannten Rechtsentscheide hingewiesen. | ||
Zur Begründung seiner Auffassung bezieht sich das Landgericht in dem angegriffenen Urteil unter teilweise wörtlicher Wiedergabe auf die Kommentierung von Sternel (Mietrecht, 3.Auflage), allerdings nur auf Kapitel III mit den Randnummern 682, 683 und 685. Die Kommentarstelle Kapitel III Randnummer 680 nennt es hingegen nicht; dort heißt es: | ||
Es entsprach herrschender Meinung, daß die 3 Wohnungen jeweils anderen Vermietern gehören mußten. Durch die Neufassung ... sind die Worte "in der Regel" und "anderer Vermieter" gestrichen worden. Hieraus folgert die überwiegende Meinung im Anschluß an die Gesetzesmaterialien, daß der Vermieter seiner Begründungspflicht auch dadurch genügt, daß er 3 Vergleichsmieten aus seinem eigenen Vermietungsbestand, ja sogar aus demselben Haus, in dem sich die Bezugswohnung befindet, angibt. | ||
Auf die beiden Rechtsentscheide der Oberlandesgerichte Frankfurt am Main und Karlsruhe bezieht sich der Kommentator lediglich in den Fußnoten 149 und 153, ohne sie inhaltlich näher wiederzugeben. Daneben weist die Einleitung der Randnummer 682, "Die Begründung des Erhöhungsverlangens allein mit Wohnungen aus eigenem Bestand...", den Leser darauf hin, daß im vorangehenden Text eine Meinung dargestellt worden ist, die der Autor nicht teilt. Hiernach hätte es für das Landgericht nahe gelegen, sich auch mit dem Text der auf derselben Seite abgedruckten Randnummer 680 zu befassen, in der auf die überwiegende Meinung und in der Fußnote 149 auf die Rechtsentscheide hingewiesen wird. | ||
Das zwingt jedoch noch nicht zu dem Schluß, daß sich das Landgericht in Kenntnis der beiden Rechtsentscheide über sie hinweggesetzt und damit zugleich Verfassungsrecht verletzt hat. Denkbar ist, daß es sich mit der Kommentarmeinung begnügt hat, ohne dem Umstand Aufmerksamkeit zu widmen, daß die Gegenmeinung auch in zwei Rechtsentscheiden vertreten worden ist. Nicht jedes unsorgfältige Arbeiten der Gerichte rechtfertigt das Verdikt der Willkür im Sinne von Art.3 Abs.1 GG oder Art.101 Abs.1 Satz 2 GG. Das gilt auch im Bereich des § 541 Abs.1 ZPO. Zwar wird den Landgerichten durch diese Vorschrift die Aufgabe übertragen, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung in Mietsachen zu wahren; das setzt voraus, daß sie jeweils prüfen, ob zu einer entscheidungserheblichen Frage ein Rechtsentscheid vorliegt. Ein Verstoß gegen Art.101 Abs.1 Satz 2 GG kann aber auch dann nur angenommen werden, wenn sich aus dem Urteil oder aus dem Verfahrensverlauf Anhaltspunkte dafür ergeben, daß sich dem Landgericht die Notwendigkeit einer Vorlage aufdrängen mußte. Das wäre etwa dann der Fall, wenn eine der Parteien auf einen einschlägigen Rechtsentscheid hingewiesen hätte. So lag es in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16.Juni 1987 (BVerfGE_76,93). Hier ist es jedoch nicht ausgeschlossen, daß dem Landgericht lediglich ein Fehler bei der Sammlung der von ihm bei der Rechtsfindung zu beachtenden Rechtsprechung unterlaufen ist. Daß es die Verfahrensgarantie des gesetzlichen Richters nicht hat beachten oder daß es sich gar über die Bindung an das Gesetz (Art.20 Abs.3 GG) hat hinwegsetzen wollen, läßt sich nicht feststellen." | ||
Auszug aus BVerfG B, 03.11.92, - 1_BvR_137/92 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.6 ff | ||
§§§ |
92.027 | Zulassung zur Rechtsanwaltschaft | |
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1) Die Vorschriften der Bundesrechtsanwaltsordnung, nach denen die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft verweigert, zurückgenommen oder widerrufen wird, wenn ein zweiter Beruf des Bewerbers mit dem Anwaltsberuf oder dem Ansehen der Rechtsanwaltschaft unvereinbar ist (§ 7 Nr.8 Bundesrechtsanwaltsordnung, § 15 Nr.2 Bundesrechtsanwaltsordnung aF, § 14 Abs.2 Nr.9 Bundesrechtsanwaltsordnung nF), verletzen nicht Art.12 Abs.1 GG. | ||
2) Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist die Rechtsprechung, soweit die fordert, daß der Zweitberuf ausreichenden Handlungsspielraum für eine Anwaltstätigkeit läßt. Das gleiche gilt für die Rechtsprechung zu Tätigkeiten im öffentlichen Dienst, soweit durch diese in den Augen der Öffentlichkeit die erforderliche Unabhängigkeit beeinträchtigt erscheint. | ||
3) Hingegen wird die Freiheit der Berufswahl übermäßig beschränkt, soweit die Rechtsprechung einen Unvereinbarkeitsgrund schon darin sieht, dass der Zweitberuf keine "gehobene Position" vermittelt. | ||
4) Die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft darf auch nicht allein deshalb verweigert werden, weil der Berufsbewerber in seinem Zweitberuf als Angestellter verpflichtet ist, Dritte im Auftrag eines standesrechtlich ungebundenen Arbeitgebers rechtlich zu beraten. | ||
5) Kaufmännisch-erwerbswirtschaftliche Tätigkeiten können den Ausschluß vom Beruf des Rechtsanwalts nur dann rechtfertigen, wenn sich die Gefahre einer Interessenkollision deutlich abzeichnet oder dem Berufsbewerber nicht genügend Zeit für die Ausübung des Anwaltsberufs zur Verfügung steht. | ||
§§§ |
92.028 | Einkommensanrechnung | |
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1) Die für die Gewährung von Arbeitslosenhilfe in § 138 Abs.1 Nr.2, Abs.3 Nr.9 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) vorgeschriebene Einkommensanrechnung unter nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten benachteiligt Ehepartner, die zuvor beide erwerbstätig waren, gegenüber solchen, von denen nur einer erwerbstätig war, sowie gegenüber Alleinstehenden; außerdem hat sie auch eine erhebliche Benachteiligung von zusammenlebenden Ehepaaren gegenüber solchen Ehepartnern zur Folge, die dauernd getrennt leben. Sie ist daher mit Art.3 Abs.1 GG in Verbindung mit Art.6 Abs.1 GG unvereinbar. | ||
2) Beseitigt der Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Mängel dieser Regelung, so ist § 137 Abs.2a AFG, wonach bei der Bedürftigkeitsprüfung Einkommen und Vermögen einer Person, die mit dem Arbeitslosen in eheähnlicher Gemeinschaft lebt, ebenso wie Einkommen und Vermögen eines nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten zu berücksichtigen sind, bei verfassungskonformer Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar.
]c> ]c> 3) Eine eheähnliche Gemeinschaft im Sinne des § 137 Abs.2a AFG liegt bei verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift nur vor, wenn zwischen den Partnern so enge Bindungen bestehen, daß von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann (Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft).
]EF1> Beschluss ]EF1[ Entscheidungsformel: | ||
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Beschluss | Entscheidungsformel: | |
§§§ |
92.029 | Nachtbackverbot II | |
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1) Das Nachtbackverbot (§ 5 Abs.1 BAZG) und das Ausfahrverbot (§ 5 Abs.5 BAZG) sind nach wie vor mit dem Grundgesetz vereinbar (Bestätigung von BVerfGE_41,360). Das Sonntagsbackverbot (§ 6 Abs.1 BAZG) ist ebenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. | ||
2) Die Verhängung von Bußgeldern wegen des Ausfahrens von Backwaren zur Nachtzeit (§ 15 Abs.1 Nr.2 BAZG) verstößt nicht gegen Art.103 Abs.2 GG. | ||
§§§ |
92.030 | Versammlungsauflösung | |
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Es ist mit Art.8 GG unvereinbar, wenn die Strafgerichte die Weigerung, sich unverzüglich von einer aufgelösten Versammlung zu entfernen, ohne Rücksicht darauf, ob die Auflösung rechtmäßig war, gemäß § 29 Abs.1 Nr.2 Versammlungsgesetz ahnden. | ||
LB 2) Art.8 Abs.1 GG gewährleistet allen Deutschen das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Dieses Recht umfaßt auch die Bestimmung über Ort, Zeit, Art und Thema der Veranstaltung. Geschützt sind nicht allein Veranstaltungen, bei denen Meinungen in verbaler Form kundgegeben oder ausgetauscht werden, sondern auch solche, bei denen die Teilnehmer ihre Meinung auf andere Art und Weise zum Ausdruck bringen (vgl BVerfGE_69,315 <343>). | ||
LB 3) Auch Sitzblockaden genießen den Schutz der Versammlungsfreiheit. Sie erfüllen unabhängig davon, ob sie als Anwendung von Gewalt im Sinn von § 240 StGB anzusehen sind, nicht den Tatbestand der Unfriedlichkeit im Sinn von Art.8 Abs.1 GG, der sie dem Schutzbereich dieses Grundrechts entziehen würde. | ||
LB 4) Unfriedlich ist eine Versammlung vielmehr erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa Gewalttätigkeiten oder aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen stattfinden, nicht schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen (vgl BVerfGE_73,206 <248>). | ||
LB 5) Die Versammlungsfreiheit ist allerdings nicht unbeschränkt gewährleistet. Bei Versammlungen unter freiem Himmel sind Eingriffe in das Grundrecht gemäß Art.8 Abs.2 GG durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig. | ||
LB 6) Die Verfassung trägt damit dem Umstand Rechnung, daß solche Versammlungen Vorkehrungen notwendig machen, die einerseits die Voraussetzungen für die Ausübung des Grundrechts schaffen und andererseits kollidierende Interessen Dritter wahren (vgl BVerfGE_69,315 <348>). | ||
LB 7) Gesetze, die die Versammlungsfreiheit beschränken, müssen aber ihrerseits verfassungsmäßig sein und auch in verfassungsrechtlich einwandfreier Weise angewandt werden. Die staatlichen Organe haben die grundrechtsbeschränkenden Gesetze im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art.8 Abs.1 GG auszulegen und sich bei Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutz gleichwertiger anderer Rechtsgüter notwendig ist (vgl BVerfGE_69,315 <349>). | ||
LB 8) Die Berücksichtigung von Art.8 Abs.1 GG führt zu einer Auslegung von § 29 Abs.1 Nr.2 VersG, derzufolge Verstöße gegen Auflösungsverfügungen nicht ohne Rücksicht auf deren Rechtmäßigkeit geahndet werden dürfen. | ||
LB 9) Eine Versammlungsauflösung, die diesen Anforderungen nicht entspricht, verstößt gegen Art.8 GG. Gleichwohl müssen die Versammlungsteilnehmer eine solche Anordnung zunächst hinnehmen. | ||
LB 10) Die Pflicht, sich von einer aufgelösten Versammlung zu entfernen, kann nicht von der Rechtswidrigkeit der Auflösungsverfügung abhängig gemacht werden. Da sich diese immer erst im nachhinein verbindlich feststellen läßt, könnten Versammlungsauflösungen nicht durchgesetzt werden, sobald ein Teilnehmer die Rechtmäßigkeit der Auflösung geltend machte. | ||
LB 11) Widersetzen sich Versammlungsteilnehmer der polizeilichen Anordnung, ist der Einsatz staatlicher Zwangsmittel grundsätzlich zulässig (§ 80 Abs.2 Nr.2 VwGO). | ||
LB 12) Den Versammlungsteilnehmern bleibt lediglich die Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit und gegebenenfalls die Verfassungswidrigkeit des polizeilichen Vorgehens nachträglich gerichtlich feststellen zu lassen. Der Grundrechtsverstoß, der in der rechtswidrigen Auflösung einer Versammlung liegt, läßt sich auf diese Weise freilich nicht mehr heilen. | ||
LB 13) Was für die verwaltungsrechtliche Durchsetzung der Auflösungsverfügung gilt, trifft aber nicht in gleicher Weise auf die Ahndung der Widersetzlichkeit nach dem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht zu. Zwischen beiden muß unterschieden werden. | ||
LB 14) Da gegen Versammlungsauflösungen nach § 15 Abs.2 VersG vorgängiger Verwaltungsrechtsschutz nicht erlangt und eine nachträgliche, allein im Hinblick auf das möglicherweise folgende Ordnungswidrigkeitenverfahren erhobene Klage den Betroffenen nicht zugemutet werden kann, muß der Strafrichter jedenfalls in Fällen, in denen die Rechtmäßigkeit der Versammlungsauflösung verwaltungsgerichtlich nicht geklärt ist, diese selbst feststellen, weil anders die Anforderungen von Art.8 GG nicht zu erfüllen wären. | ||
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T-92-05 | Ahndung der Weigerung | |
" Die Verfassungsbeschwerden sind begründet. Die angegriffenen Urteile verletzen die Beschwerdeführer in ihren Rechten aus Art.8 Abs.1 und Art.103 Abs.2 GG. I. | ||
1. Es verstößt gegen Art.8 GG, wenn die Strafgerichte eine Geldbuße gemäß § 29 Abs.1 Nr.2, Abs.2 VersG ohne Rücksicht auf die Rechtmäßigkeit der Versammlungsauflösung verhängen. | ||
a) Art.8 Abs.1 GG gewährleistet allen Deutschen das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Dieses Recht umfaßt auch die Bestimmung über Ort, Zeit, Art und Thema der Veranstaltung. Geschützt sind nicht allein Veranstaltungen, bei denen Meinungen in verbaler Form kundgegeben oder ausgetauscht werden, sondern auch solche, bei denen die Teilnehmer ihre Meinung auf andere Art und Weise zum Ausdruck bringen (vgl BVerfGE_69,315 <343>). Auch Sitzblockaden genießen den Schutz der Versammlungsfreiheit. Sie erfüllen unabhängig davon, ob sie als Anwendung von Gewalt im Sinn von § 240 StGB anzusehen sind, nicht den Tatbestand der Unfriedlichkeit im Sinn von Art.8 Abs.1 GG, der sie dem Schutzbereich dieses Grundrechts entziehen würde. Unfriedlich ist eine Versammlung vielmehr erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa Gewalttätigkeiten oder aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen stattfinden, nicht schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen (vgl BVerfGE_73,206 <248>). | ||
Die Versammlungsfreiheit ist allerdings nicht unbeschränkt gewährleistet. Bei Versammlungen unter freiem Himmel sind Eingriffe in das Grundrecht gemäß Art.8 Abs.2 GG durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig. Die Verfassung trägt damit dem Umstand Rechnung, daß solche Versammlungen Vorkehrungen notwendig machen, die einerseits die Voraussetzungen für die Ausübung des Grundrechts schaffen und andererseits kollidierende Interessen Dritter wahren (vgl BVerfGE_69,315 <348>). Gesetze, die die Versammlungsfreiheit beschränken, müssen aber ihrerseits verfassungsmäßig sein und auch in verfassungsrechtlich einwandfreier Weise angewandt werden. Die staatlichen Organe haben die grundrechtsbeschränkenden Gesetze im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art.8 Abs.1 GG auszulegen und sich bei Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutz gleichwertiger anderer Rechtsgüter notwendig ist (vgl BVerfGE_69,315 <349>). | ||
b) Die Vorschrift des § 29 Abs.1 Nr.2 VersG ist bei verfassungskonformer Auslegung mit Art.8 GG vereinbar. | ||
aa) So wie es keinen Bedenken begegnet, daß eine Versammlung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufgelöst werden kann, wenn die Voraussetzungen des § 15 Abs.2 VersG vorliegen (vgl BVerfGE_69,315 <352>), läßt es sich auch nicht beanstanden, daß die Weigerung, sich von einer aufgelösten Versammlung zu entfernen, nach § 29 Abs.1 Nr.2 VersG als Ordnungswidrigkeit geahndet wird. Auch die Anknüpfung an die verwaltungsrechtliche Vorschrift des § 15 Abs. 2 VersG ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber darf verwaltungsrechtliche Pflichten und verwaltungsbehördliche Anordnungen mit Strafen oder Bußen bewehren, um auf diese Weise der Gehorsamspflicht Nachdruck zu verleihen. Ob er das im jeweiligen Fachgesetz, also im Nebenstrafrecht, oder im Strafgesetzbuch selber tut, ist Sache seiner Entscheidung (vgl BVerfGE_75,329 <343>). Auch Blankettatbestände, die erst durch verwaltungsrechtliche Vorschriften ausgefüllt werden, sind bei hinreichender Bestimmtheit mit dem Grundgesetz vereinbar (vgl BVerfGE_14,245 <252>; stRspr). | ||
Allerdings führt diese Regelungstechnik zwangsläufig zu einer Verzahnung von Verwaltungsrecht und Straf- sowie Ordnungswidrigkeitenrecht. Das kann für den Strafrichter einerseits zu Bindungen an Verwaltungsentscheidungen führen, andererseits Beurteilungskompetenzen hinsichtlich dieser Entscheidungen begründen, ohne daß schon deswegen die Grundsätze der Gewaltenteilung verletzt würden (vgl BVerfGE_75,329 <346>; BVerfGE_80,244 <256>). Über die Reichweite dieser Bindungen und Beurteilungskompetenzen läßt sich von Verfassungs wegen keine allgemeine Aussage treffen. Es ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob die Strafbarkeit oder Ahndbarkeit einer Zuwiderhandlung gegen Verwaltungsanordnungen von deren Rechtmäßigkeit abhängen soll oder nicht. Er ist dabei freilich an die Anforderungen der Verfassung, namentlich die des eingeschränkten Grundrechts, gebunden. | ||
bb) Ob § 29 Abs.1 Nr.2 VersG an den Rechtsgüterschutz anknüpft und daher nur die rechtmäßige Versammlungsauflösung mit Buße bewehrt oder ob er bereits die Mißachtung der Auflösungsverfügung ohne Rücksicht auf ihre Rechtmäßigkeit sanktioniert, ist ungewiß. In Judikatur und Literatur wird die Frage unterschiedlich beantwortet (vgl einerseits etwa OLG Düsseldorf, NStZ 1984, S.513, sowie Ott, Gesetz über Versammlungen und Aufzüge, 5.Aufl, 1987, § 29 Rdnr.9; Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 10.Aufl, 1991, § 29 Rdnr.7; Offczors, in: Ridder ua, Versammlungsrecht, 1992, § 29 Rdnr.24 ff, besonders 28; andererseits etwa OLG Stuttgart, NJW 1989, S.1870, sowie Meyer/Köhler, Das neue Demonstrations- und Versammlungsrecht, 3.Aufl, 1990, § 29 Anm.4 b). Weder der Gesetzestext noch die Gesetzgebungsmaterialien führen zu einem eindeutigen Ergebnis. | ||
Auch der Verzicht auf das Merkmal der Vollziehbarkeit in § 29 Abs.1 Nr.2 VersG (im Unterschied zu §§ 23, 26 Nr.1, 29 Abs.1 Nr.1 und 3 VersG) erlaubt keinen sicheren Schluß, weil es ausweislich der Materialien aus anderen Gründen in das Versammlungsgesetz aufgenommen worden ist (vgl BTDrucks VII/550, S.375). Überdies würde es zu widersprüchlichen Ergebnissen führen, wenn die Ahndbarkeit davon abhinge, daß das Merkmal der Vollziehbarkeit ausdrücklich genannt ist. So begingen beispielsweise die Teilnehmer an einer Versammlung beim Verstoß gegen eine rechtswidrige, aber vollziehbare Auflage gemäß § 29 Abs.1 Nr.3 VersG eine Ordnungswidrigkeit, weil der Bußgeldtatbestand 1978 den Zusatz "vollziehbar" erhalten hat, während der Versammlungsleiter in demselben Fall straffrei bliebe, weil dieser Zusatz in § 25 VersG fehlt. | ||
cc) Unter diesen Umständen führt die Berücksichtigung von Art.8 Abs.1 GG zu einer Auslegung von § 29 Abs.1 Nr.2 VersG, derzufolge Verstöße gegen Auflösungsverfügungen nicht ohne Rücksicht auf deren Rechtmäßigkeit geahndet werden dürfen. | ||
Die Versammlungsfreiheit besitzt, ähnlich wie die Meinungsfreiheit, für die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen und für die demokratische Ordnung grundlegende Bedeutung (vgl BVerfGE_69,315 <343 bis 347>). Verbot und Auflösung einer Versammlung stellen die intensivsten Eingriffe in das Grundrecht dar. Sie sind daher an strenge Voraussetzungen gebunden und dürfen nur ausgesprochen werden, wenn dies zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist und wenn eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung abgewendet werden muß (vgl BVerfGE_69,315 <353>). Als Grundlagen einer solchen Entscheidung kommen nur tatsächliche Umstände in Betracht, während Verdachtsmomente und Vermutungen für sich allein nicht ausreichen (vgl BVerfG, aaO, S.353 f). | ||
Eine Versammlungsauflösung, die diesen Anforderungen nicht entspricht, verstößt gegen Art.8 GG. Gleichwohl müssen die Versammlungsteilnehmer eine solche Anordnung zunächst hinnehmen. Die Pflicht, sich von einer aufgelösten Versammlung zu entfernen, kann nicht von der Rechtswidrigkeit der Auflösungsverfügung abhängig gemacht werden. Da sich diese immer erst im nachhinein verbindlich feststellen läßt, könnten Versammlungsauflösungen nicht durchgesetzt werden, sobald ein Teilnehmer die Rechtmäßigkeit der Auflösung geltend machte. Widersetzen sich Versammlungsteilnehmer der polizeilichen Anordnung, ist der Einsatz staatlicher Zwangsmittel grundsätzlich zulässig (§ 80 Abs.2 Nr.2 VwGO). Den Versammlungsteilnehmern bleibt lediglich die Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit und gegebenenfalls die Verfassungswidrigkeit des polizeilichen Vorgehens nachträglich gerichtlich feststellen zu lassen. Der Grundrechtsverstoß, der in der rechtswidrigen Auflösung einer Versammlung liegt, läßt sich auf diese Weise freilich nicht mehr heilen. Die daraus folgende Beeinträchtigung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit ist jedoch unvermeidlich, wenn die vom Staat zu gewährleistende Sicherheit anderer Rechtsgüter, denen die Beschränkung der Versammlungsfreiheit zu dienen bestimmt ist, nicht hintangestellt werden soll. | ||
Was für die verwaltungsrechtliche Durchsetzung der Auflösungsverfügung gilt, trifft aber nicht in gleicher Weise auf die Ahndung der Widersetzlichkeit nach dem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht zu. Zwischen beiden muß unterschieden werden. Der Grund dafür, daß es bei der Durchsetzung der Auflösungsverfügung nicht auf deren Rechtmäßigkeit ankommt, liegt in der Situationsgebundenheit der Entscheidung, deren Vollzug nicht bis zur verbindlichen oder auch nur vorläufigen Klärung der Rechtsfrage aufgeschoben werden kann. Bei der Verhängung einer Sanktion für die Nichtbefolgung der Anordnung fehlt dieser Grund. Sie erfolgt immer erst nach dem Ereignis und erlaubt daher eine verbindliche Klärung der Rechtmäßigkeit. Käme es dessen ungeachtet auf die Rechtmäßigkeit der Auflösungsverfügung nicht an, würde die unvermeidliche Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit, die in einer rechtswidrigen Auflösungsverfügung liegt, ohne vergleichbare Notwendigkeit gegenüber denjenigen fortgesetzt werden, die -- wie sich nachträglich herausstellt -- die Versammlungsfreiheit zu Recht in Anspruch genommen haben. | ||
Ob der Gesetzgeber die bloße Unbotmäßigkeit gleichwohl hätte ahnden dürfen, kann hier offen bleiben. Dem Gesetz ist eine entsprechende Absicht nicht zu entnehmen. Es bietet daher auch keinen Ansatz für die Prüfung, ob ein Grund vorliegt, der geeignet sein könnte, einen so weitgehenden Eingriff verfassungsrechtlich zu legitimieren. Unter diesen Umständen kann dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit nur Rechnung getragen werden, wenn die Sanktion des § 29 Abs.1 Nr.2 VersG auf Fälle rechtmäßiger Versammlungsauflösung beschränkt wird. Die Rechtmäßigkeit muß daher feststehen, ehe der Strafrichter eine Buße verhängen darf. | ||
Die Streitfrage, ob der Strafrichter eine verwaltungsgerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit abwarten muß, falls sie beantragt wird, und ob er an deren Ergebnis gebunden ist, bedarf hier ebenfalls keiner Entscheidung. Da gegen Versammlungsauflösungen nach § 15 Abs. 2 VersG vorgängiger Verwaltungsrechtsschutz nicht erlangt und eine nachträgliche, allein im Hinblick auf das möglicherweise folgende Ordnungswidrigkeitenverfahren erhobene Klage den Betroffenen nicht zugemutet werden kann, muß der Strafrichter jedenfalls in Fällen, in denen die Rechtmäßigkeit der Versammlungsauflösung verwaltungsgerichtlich nicht geklärt ist, diese selbst feststellen, weil anders die Anforderungen von Art.8 GG nicht zu erfüllen wären. | ||
2. Eine Auslegung, derzufolge ein Verstoß gegen die Auflösungsverfügung nach § 29 Abs.1 Nr.2 VersG ohne Rücksicht auf deren Rechtmäßigkeit zu ahnden ist, verletzt außerdem Art.103 Abs.2 GG. | ||
Nach dieser Vorschrift kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Ihr Schutz erstreckt sich auch auf die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten (vgl BVerfGE_81,132 <135>; stRspr). Sie soll einerseits sicherstellen, daß der Normadressat vorhersehen kann, welches Verhalten mit Strafe oder Buße bedroht ist, und andererseits gewährleisten, daß der Gesetzgeber und nicht erst die Gerichte über die Strafbarkeit oder Ahndbarkeit entscheiden. Daher schließt Art.103 Abs.2 GG jede Rechtsanwendung aus, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht (vgl BVerfGE_47,109 <120>; BVerfGE_82,236 <269>). | ||
Zwar ist es dem Gesetzgeber nicht von vornherein verwehrt, Widersetzlichkeit gegen behördliche Anordnungen unter Strafe oder Buße zu stellen, ohne daß es für deren Verhängung auf die Rechtmäßigkeit der Anordnung ankäme (vgl. BVerfGE 80, 244 [256 | ||
Die angegriffenen Urteile halten einer Nachprüfung an diesen Maßstäben nicht stand. | ||
1. Das Amtsgericht mußte Art.8 GG bei der Auslegung und Anwendung von § 29 Abs.1 Nr.2 in Verbindung mit § 15 Abs.2 VersG berücksichtigen. Die Sitzdemonstrationen, an denen die Beschwerdeführer teilnahmen, sind vom Schutzbereich des Art. 8 Abs.1 GG umfaßt. In der Verhängung von Geldbußen wegen Nichtentfernens von den geschützten Versammlungen liegt ein Eingriff in das Grundrecht. Dieser ist nach den dargelegten Grundsätzen nur dann mit Art.8 GG vereinbar, wenn die Auflösung der Versammlung rechtmäßig war. Das hat das Amtsgericht nicht geprüft. | ||
Im Verfahren des Beschwerdeführers zu 2) ist die Feststellung der Rechtmäßigkeit der Versammlungsauflösung völlig unterblieben. Im Verfahren des Beschwerdeführers zu 1) hat das Amtsgericht zwar ausgeführt, es gebe keine Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit der Versammlungsauflösung. Die Begründung legt aber den Schluß nahe, daß es dabei nur die formell korrekte Bekanntgabe der Auflösungsverfügung im Auge hatte. Dafür sprechen die wörtliche Wiedergabe der Verfügung sowie die Beschränkung auf die Feststellung, daß diese zweimal mitgeteilt und auch zur Kenntnis genommen worden sei. Schon die Frage, ob die Auflösung durch die zuständige Behörde angeordnet worden war, wie es § 29 Abs.1 Nr.2 VersG verlangt, hat das Amtsgericht aber nicht geprüft. Das Urteil im Verfahren des Beschwerdeführers zu 2) enthält nicht einmal Angaben darüber, wer die Auflösung angeordnet hat. Es wird lediglich festgestellt, daß die Vollzugspolizei die Auflösung bekanntgegeben habe. Das Urteil im Verfahren des Beschwerdeführers zu 1) stellt zwar fest, daß der Einsatzleiter der Vollzugspolizei die Auflösung gemäß § 46 Abs.2 Nr.2 des Polizeigesetzes Baden-Württemberg angeordnet habe, weil die Versammlungsbehörde nicht zu erreichen gewesen sei. Es fehlen aber tatsächliche Feststellungen darüber, welcher Geschehensablauf eine Gefahr im Verzuge begründete, die nach dieser Vorschrift Voraussetzung des vollzugspolizeilichen Einschreitens ist. Feststellungen darüber, aufgrund welcher konkreten Ereignisse eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit bestanden habe, enthalten die Entscheidungen überhaupt nicht. Sie beschränken sich insoweit auf die Wiedergabe der Bekanntmachung der Auflösungsverfügung, wonach eine Nötigung unmittelbar bevorgestanden habe. Welcher Sachverhalt dieser Beurteilung zugrunde lag, ob sich etwa Fahrzeuge dem blockierten Tor näherten und andere Möglichkeiten, das Kasernengelände zu betreten oder zu verlassen, nicht bestanden, ist den angegriffenen Entscheidungen nicht zu entnehmen. | ||
Zu einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Auflösung hätte hier jedoch Anlaß bestanden. Die Versammlungsbehörde hatte die Sitzdemonstrationen nicht verboten, sondern unter ausdrücklichem Hinweis auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den Veranstaltern nur Auflagen erteilt. Der Beschwerdeführer zu 1) hat vorgetragen, daß die Auflagen beachtet worden seien und daß von den drei Kasernentoren nur eines blockiert gewesen sei. Unter diesen Umständen hätte es tatsächlicher Feststellungen bedurft, warum sich das von der Versammlungsbehörde gewählte Mittel der Gefahrenabwehr als unzureichend erwiesen hatte und die Vollzugspolizei zur Auflösung der Versammlung schreiten mußte. | ||
Die Verurteilung der Beschwerdeführer beruht auf der Verkennung von Art.8 GG. Es ist nicht auszuschließen, daß das Amtsgericht bei hinreichender Beachtung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. | ||
2. Da die Beschwerdeführer unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Auflösungsverfügung zu Geldbußen verurteilt worden sind, obwohl das in § 29 Abs.1 Nr.2 VersG nicht erkennbar bestimmt ist, verstoßen die angegriffenen Entscheidungen ferner gegen Art.103 Abs.2 GG." | ||
Auszug aus BVerfG B, 01.12.92, - 1_BvR_88/91 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.33 ff | ||
§§§ |
92.031 | Beratungshilfe | |
---|---|---|
| ||
Der Ausschluß der Beratungshilfe in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten verstößt gegen Art.3 Abs.1 GG. | ||
* * * | ||
Beschluss | Entscheidungsformel: | |
§§§ |
92.032 | Private Grundschule | |
---|---|---|
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Zur Anerkennung eines besonderen pädagogischen Interesses für die Zulassung einer privaten Grundschule (Art.7 Abs.5 erste Alternative GG) und den Maßstäben für ihre fachgerichtliche Überprüfung. | ||
* * * | ||
Beschluss | Entscheidungsformel:
| |
§§§ |
[ 1991 ] [ ] | RS-BVerfG - 1992 (1) | [ » ] [ 1993 ] [ ] |
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