1986  
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86.001 Nachrichtendienste
 
  1. BVerfG,     U, 14.01.86,     – 2_BvE_14/83 –

  2. BVerfGE_70,324 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.38 Abs.1, GG_Art.42 Abs.2, GG_Art.110 Abs.1

 

1) Fraktionen sind im Organstreit auch zur Geltendmachung eigener Rechte befugt, wenn diese in der Verfassung verankert sind.

 

2) Aus der Zugehörigkeit des Abgeordneten zu einer Fraktion folgt nicht das Recht, deren etwaige Rechte im eigenen Namen im Organstreit zu verfolgen.

 

3) Dem einzelnen Abgeordneten erwächst aus seinem in Art.38 Abs.1 GG gewährleisteten Status ein Recht darauf, daß ihm grundsätzlich diejenigen Informationen nicht vorenthalten werden, die ihm eine sachverständige Beurteilung des Haushaltsplans ermöglichen.

 

4) Aus den Haushaltsgrundsätzen mit Verfassungsrang kann nicht abgeleitet werden, daß die ersichtlich als Ausnahme gehandhabte, auf vier Haushaltsansätze beschränkte ergänzende Beratung geheimer Wirtschaftspläne in einem zu diesem Zweck eingesetzten Gremium vor der Verabschiedung des Haushalts stattzufinden habe. Art.110 Abs.1 GG verlangt die Beachtung des Grundsatzes der Öffentlichkeit nicht ausnahmslos.

 

5) Dem Parlament bleibt vorenthalten, sich für einen Modus der Beratung solcher Haushaltsstellen zu entscheiden, der nach seiner -- willkürfreien -- Einschätzung den Geheimschutzinteressen hinreichend dient und zugleich den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie Rechnung trägt.

 

6) Entscheidet sich der Bundestag, durch Gesetz die Beratung und Bewilligung der in den Wirtschaftsplänen der Nachrichtendienste enthaltenen Veranschlagungen einem nach der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes für das jeweilige Haushaltsjahr zu bildenden besonderen Gremium zu übertragen, so begegnet dies im Blick auf die Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments keinen Bedenken. Das gilt jedenfalls dann, wenn das Gesetz -- auch zu seiner Aufhebung -- nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf, der Kern der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestags nicht berührt wird und überdies gewichtige sachliche Gründe dafür sprechen, die Form des Gesetzes zu wählen.

 

7) Der Schutz der parlamentarischen Minderheit geht nicht dahin, die Minderheit vor Sachentscheidungen der Mehrheit zu bewahren (Art.42 Abs.2 GG), wohl aber dahin, der Minderhei t zu ermöglichen, ihren Standpunkt in den Willensbildungsprozeß des Parlaments einzubringen.

 

8) Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, daß die Mitglieder des Gremiums nach § 4 Abs.9 Haushaltsgesetz 1984 mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags zu wählen sind. Dieses Verfahren soll gewährleisten, daß nur Abgeordnete gewählt werden, die persönlich das Vertrauen der Mehrheit des Bundestags genießen.

 

9) Jedenfalls aus zwingenden Gründen des Geheimschutzes kann es verfassungsrechtlich hinzunehmen sein, daß einzelne Fraktionen bei der Besetz ung eines Ausschusses unberücksichtigt bleiben.

 

10) Zur abweichenden Meinung des Richters Dr Mahrenholz, siehe BVerfGE_70,366 = www.dfr/BVerfGE, Abs.162 ff.

 

11) Zur abweichenden Meinung des Richters Dr Böckenförde, siehe BVerfGE_70,380 = www.dfr/BVerfGE, Abs.213 ff.

§§§

86.002 Altersgrenze
 
  1. BVerfG,     B, 12.02.86,     – 1_BvR_1578/82 –

  2. BVerfGE_72,1 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.2, GG_Art.93 Abs.1 Nr.2; AVG_§_25 Abs.3; BVerfGG_§_90 Abs.2 S.1;

T-86-01

Zur "gegenwärtigen Betroffenheit" bei einer Verfassungsbeschwerde, die sich unmittelbar gegen ein Urteil und mittelbar gegen eine gesetzliche Vorschrift richtet.

Abs.16

LB 2) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist für jede Verfassungsbeschwerde ein Rechtsschutzinteresse erforderlich (vgl BVerfGE_9,89 <92>; BVerfGE_21,139 <143>; BVerfGE_56,99 <106>).

 

LB 3) Dieses fehlt, wenn ein Beschwerdeführer in seinen Grundrechten nicht gegenwärtig, sondern nur virtuell -- irgendwann einmal in der Zukunft -- betroffen sein kann. Solche Voraussetzungen für das Rechtsschutzinteresse hat das Bundesverfassungsgericht vornehmlich bei der Prüfung der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden entwickelt, die sich unmittelbar gegen Gesetze richten (vgl BVerfGE_1,97 <102>; BVerfGE_60,360 <371>).

Abs.17

LB 4) Dieses Zulässigkeitserfordernis gilt aber auch für Verfassungsbeschwerden gegen ein gerichtliches Urteil. Allerdings wird sich in solchen Fällen die gegenwärtige Beschwer eines Beschwerdeführers meist schon daraus ergeben, daß das angegriffene Urteil ihn gegenwärtig betrifft; die Anwendung des abstrakten Rechtssatzes auf den konkreten Sachverhalt führt in aller Regel zu einem aktuellen Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen.

Abs.18

LB 5) Das kann jedoch bei gerichtlicher Überprüfung eines Verwaltungsakts anders sein, dessen Erlaß ein Beschwerdeführer provoziert hat, um im Gerichtszug im Wege der Inzidentkontrolle eine Norm auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen. Hier handelt es sich letztlich um den Versuch, die Möglichkeiten zu erweitern, durch welche eine verfassungsgerichtliche Normprüfung im Wege der Verfassungsbeschwerde erreicht werden kann (vgl zu diesen Möglichkeiten BVerfGE_60,360 <369 f>). Dies ist aber -- ebenso wie bei den unmittelbar gegen gesetzliche Vorschriften gerichteten Verfassungsbeschwerden -- nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer durch die Norm selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen ist.

Abs.21

LB 6) § 25 Abs.3 AVG beschwert den Beschwerdeführer nicht gegenwärtig.

* * *

T-86-01Rechtsschutzinteresse

15

" Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil ihr das Rechtsschutzinteresse fehlt. I.

16

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist für jede Verfassungsbeschwerde ein Rechtsschutzinteresse erforderlich (vgl BVerfGE_9,89 <92>; BVerfGE_21,139 <143>; BVerfGE_56,99 <106>). Dieses fehlt, wenn ein Beschwerdeführer in seinen Grundrechten nicht gegenwärtig, sondern nur virtuell -- irgendwann einmal in der Zukunft -- betroffen sein kann. Solche Voraussetzungen für das Rechtsschutzinteresse hat das Bundesverfassungsgericht vornehmlich bei der Prüfung der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden entwickelt, die sich unmittelbar gegen Gesetze richten (vgl BVerfGE_1,97 <102>; BVerfGE_60,360 <371>)

17

Dieses Zulässigkeitserfordernis gilt aber auch für Verfassungsbeschwerden gegen ein gerichtliches Urteil. Allerdings wird sich in solchen Fällen die gegenwärtige Beschwer eines Beschwerdeführers meist schon daraus ergeben, daß das angegriffene Urteil ihn gegenwärtig betrifft; die Anwendung des abstrakten Rechtssatzes auf den konkreten Sachverhalt führt in aller Regel zu einem aktuellen Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen.

18

Das kann jedoch bei gerichtlicher Überprüfung eines Verwaltungsakts anders sein, dessen Erlaß ein Beschwerdeführer provoziert hat, um im Gerichtszug im Wege der Inzidentkontrolle eine Norm auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen. Hier handelt es sich letztlich um den Versuch, die Möglichkeiten zu erweitern, durch welche eine verfassungsgerichtliche Normprüfung im Wege der Verfassungsbeschwerde erreicht werden kann (vgl zu diesen Möglichkeiten BVerfGE_60,360 <369 f>). Dies ist aber -- ebenso wie bei den unmittelbar gegen gesetzliche Vorschriften gerichteten Verfassungsbeschwerden -- nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer durch die Norm selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen ist. In einem solchen Fall ist das Bundesverfassungsgericht auch nicht daran gebunden, daß das Fachgericht seinerseits die bei ihm anhängige Klage nach einfachem Prozeßrecht für zulässig erachtet und darüber sachlich entschieden hat. Denn die verbindliche Auslegung des Verfassungsprozeßrechts obliegt allein dem Bundesverfassungsgericht. Dieses hat zu entscheiden, ob ein ausreichendes Rechtsschutzinteresse für eine bei ihm erhobene Verfassungsbeschwerde gegeben ist.

19

Das ist vorliegend nicht der Fall, denn der Beschwerdeführer wird gegenwärtig weder durch die Norm, deren mittelbare Kontrolle er anstrebt, noch durch das unmittelbar angegriffene Urteil des Bundessozialgerichts beschwert. II.

20

1. § 25 Abs.3 AVG beschwert den Beschwerdeführer nicht gegenwärtig. Weder läßt sich übersehen, ob bei ihm der Versicherungsfall des Altersruhegeldes überhaupt eintreten noch ob zu diesem Zeitpunkt die Norm, die weibliche Versicherte begünstigt, in dieser Form weitergelten wird. Ebenfalls ist ungewiß, ob die tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift im Hinblick auf Art.3 Abs.2 GG zu beurteilen sein wird, sich bis zur Vollendung des 60.Lebensjahres des Beschwerdeführers verändert haben werden.

21

a) Wäre § 25 Abs.3 AVG nach Art.3 Abs.2 GG verfassungsrechtlich zu beanstanden, so könnte das Bundesverfassungsgericht allenfalls entscheiden, daß der Gesetzgeber hinsichtlich der Altersgrenze zwischen männlichen und weiblichen Versicherten eine Angleichung herbeiführen müsse. Ob dies dazu führen würde, daß der Gesetzgeber eine gemeinsame Altersgrenze für Frauen und Männer bei Vollendung des 60.Lebensjahres oder zu einem späteren Zeitpunkt bestimmt, ist offen. Jedenfalls gibt es keine Anhaltspunkte dafür, daß diese Grenze wesentlich vor der Vollendung des 60. Lebensjahres liegen könnte. Das bedeutet aber für den Beschwerdeführer, daß er allenfalls in über sechs Jahren mit der Bewilligung von Altersruhegeld rechnen könnte. Eine verfassungsgerichtliche Entscheidung darüber kann er aber jetzt noch nicht begehren. Auch wenn er die übrigen Voraussetzungen für den Rentenbezug nach gegenwärtiger Rechtslage sicher oder jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit erfüllen wird, so bleibt gleichwohl unsicher, ob der Versicherungsfall überhaupt eintreten wird.

22

b) Des weiteren ist zur Zeit nicht absehbar, ob die Norm, deren verfassungsrechtliche Überprüfung der Beschwerdeführer begehrt, in dem Zeitpunkt, in dem er das 60.Lebensjahr erreichen würde, noch in der Weise in Geltung ist, die er verfassungsrechtlich beanstandet. Die Notwendigkeit einer Strukturreform des Rechts der gesetzlichen Altersversicherung wird schon seit geraumer Zeit öffentlich diskutiert. In diesem Zusammenhang wird vielfach die Frage aufgeworfen, ob und in welcher Weise die Regelungen des Rentenversicherungsrechts, nach deren Maßgabe gegenwärtig Ansprüche auf Altersruhegeld erhoben werden können, der Veränderung bedürfen.

23

c) Endlich ist auch der vom Bundessozialgericht vertretenen Auffassung beizutreten, daß eine zuverlässige Vorausschau über die Frage heute noch nicht möglich ist, wie sich im Jahre 1992 die Doppelbelastung durch Beruf und Haushalt bei Frauen und Männern entwickelt haben wird.

24

2. Der Beschwerdeführer wird auch nicht dadurch gegenwärtig beschwert, daß sich die Klärung der Frage, um die es ihm geht, wegen der erforderlichen Erschöpfung des Rechtswegs bei den Fachgerichten, der Dauer des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht und des eventuell sich daran anschließenden Gesetzgebungsverfahrens länger hinziehen kann. Dieser Umstand allein gibt dem Einzelnen nicht die Möglichkeit, zu einem von ihm für zutreffend gehaltenen Zeitpunkt die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsnormen in einer Weise überprüfen zu lassen, die einem Normenkontrollverfahren gleichkommt. Eine abstrakte Normenkontrolle können nach Art.93 Abs.1 Nr.2 GG nur die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages beantragen. Das Verfahren ist ein von subjektiven Berechtigungen unabhängiges Verfahren zum Schutz der Verfassung; es dient lediglich der Prüfung von Rechtsnormen am Maßstab des Grundgesetzes. Diese Bestimmung des Grundgesetzes würde unterlaufen, wenn es anderen als den verfassungsrechtlich vorgesehenen Antragsberechtigten ermöglicht würde, auf dem Umweg eines provozierten Verwaltungsaktes und eines Sozialgerichtsprozesses ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ohne eigene gegenwärtige Beschwer in Gang zu setzen, das sich in seiner Wirkung von einem Normenkontrollverfahren nicht unterscheiden würde (vgl BVerfGE_67,26 >37>). III.

25

Auch das unmittelbar vom Beschwerdeführer angegriffene Urteil, welches seine Sprungrevision gegen die sozialgerichtliche Entscheidung zurückweist, beschwert den Beschwerdeführer nicht gegenwärtig.

26

Dabei ist es nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen, ob das Bundessozialgericht zutreffend die Voraussetzungen beurteilt hat, unter denen eine Feststellungsklage nach § 55 Abs.1 SGG zulässig ist (vgl dazu Zeihe, SGB 1983, S.443). Zwar ist das Urteil in Rechtskraft gegenüber dem Beschwerdeführer erwachsen. Jedoch beschwert dies den Beschwerdeführer nicht gegenwärtig. Das Bundessozialgericht hat nämlich nur entschieden, daß § 25 Abs. 3 AVG "gegenwärtig" -- also im Zeitpunkt des Urteilsspruches -- nicht gegen Art.3 Abs.2 GG verstoße. Diese Feststellung berührt den Beschwerdeführer jetzt noch nicht, weil sein Begehren dahin geht, eine Entscheidung darüber zu erlangen, daß § 25 Abs.3 AVG verfassungswidrig sei mit der Folge, daß er im Zeitpunkt der Vollendung seines 60.Lebensjahres Altersruhegeld erhalten könne. Eine solche Entscheidung hat das Bundessozialgericht aber ausdrücklich abgelehnt, weil sich heute noch nicht beurteilen lasse, wie sich die Doppelbelastung durch Haushalt und Beruf bei Frauen und Männern bis 1992 entwickeln werde. Das angegriffene Urteil läßt deutlich erkennen, daß das Gericht dieser Entwicklung für die Frage der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des § 25 Abs.3 AVG ausschlaggebende Bedeutung beimißt. Das angegriffene Urteil steht einer erneuten Beurteilung der Regelung, nach welcher unter bestimmten Voraussetzungen weibliche Versicherte vorgezogenes Altersruhegeld beziehen können, nicht entgegen."

 

Auszug aus BVerfG B, 12.02.86, - 1_BvR_1578/82 -,

§§§

86.003 Erziehungszeitengesetz
 
  1. BVerfG,     B, 25.02.86,     – 1_BvR_1384 –

  2. BVerfGE_72,39 = www.dfr/BVerfGE

  3. BVerfGG_§_90 Abs.2 S.1; RVO_§_1250 (= AVG_§_27), RVO_§_1251a (= AVG_§_28a)

 

Unmittelbar gegen das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz (HEZG) eingelegten Verfassungsbeschwerden von Müttern, die vor dem 31. Dezember 1920 geboren sind und denen die Anrechnung von Kindeserziehungszeiten versagt worden ist (§§ 1250, 1251a RVO), sind unzulässig, weil zur Durchführung dieses Gesetzes ein besonderer Vollziehungsakt erforderlich ist und die Voraussetzungen für eine Ausnahme nicht vorliegen.

 

LB 2) Setzt die Durchführung der angegriffenen Vorschriften rechtsnotwendig oder auch nur nach der tatsächlichen Verwaltungspraxis einen besonderen Vollzugsakt voraus, muß der Beschwerdeführer grundsätzlich zunächst diesen Akt angreifen und den gegen ihn eröffneten Rechtsweg erschöpfen, bevor er die Verfassungsbeschwerde erhebt.

 

LB 3) Diese besondere Zulässigkeitsvoraussetzung beruht auf dem in § 90 Abs.2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden und dieser Vorschrift zugrunde liegenden Gedanken der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ( BVerfGE_1,97 <102 f>; BVerfGE_58,81 <104 f>; BVerfGE_68,376 <379 f>).

 

LB 4) Dem Bundesverfassungsgericht soll vor seiner Entscheidung ein regelmäßig in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und die Fallanschauung der Gerichte, insbesondere der obersten Bundesgerichte, vermittelt werden (BVerfGE_8,222 <227>; BVerfGE_9,3 <7>).

 

LB 5) Zugleich entspricht es der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung, daß vorrangig die Fachgerichte Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen selbst gewähren (BVerfGE_47,182 <191>).

 

LB 6) Diese Gesichtspunkte fallen vor allem dann ins Gewicht, wenn das Gesetz der Verwaltung einen Entscheidungsspielraum läßt, gelten grundsätzlich aber auch dann, wenn -- wie hier -- ein solcher Spielraum fehlt ( BVerfGE_58,81 <104 f>; BVerfG, Beschluß vom 15.Oktober 1985 -- 2 BvR 1808/82, 1809/82, 1810/82 -- Umdruck S.12; insoweit abweichend die früheren Entscheidungen BVerfGE_43,108 <117>; BVerfGE_45,104 <117, 118>).

 

LB 7) Auch in diesem Fall erfordert der Grundsatz der Subsidiarität, daß zunächst die für das jeweilige Rechtsgebiet zuständigen Fachgerichte eine Klärung darüber herbeiführen, inwieweit die beanstandete Regelung Rechte der Bürger beeinträchtigt und ob sie mit der Verfassung vereinbar ist; dabei ist nach Maßgabe der Voraussetzungen des Art.100 Abs.1 GG zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Vorschriften gegebenenfalls eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen ( BVerfGE_1,97 <103 f>; BVerfGE_58,81 <105>; stRspr).

 

LB 8) Für die Aktualisierung der Anrechnung von Erziehungszeiten, gleichgültig, ob diese Anrechnung zugunsten einer schon bewilligten Bestandsrente begehrt wird oder für die erste Berechnung einer Zugangsrente erfolgen soll, bedarf es in jedem Fall eines Vollziehungsakts in Form eines ergänzenden oder neuen Rentenbescheides. Den Beschwerdeführerinnen ist zuzumuten, zunächst diesen Vollziehungsakt abzuwarten und dagegen den Rechtsweg zu den Sozialgerichten zu beschreiten.

 

LB 9) Die Rechtsprechung hat allerdings ein Rechtsschutzbedürfnis für eine unmittelbar gegen ein Gesetz gerichtete Verfassungsbeschwerde ausnahmsweise vor Erlaß des Vollzugsakts bejaht, wenn das Gesetz die Normadressaten bereits gegenwärtig zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder zu Dispositionen veranlaßt, die sie nach dem späteren Gesetzesvollzug nicht mehr nachholen können ( BVerfGE_65,1 <37> mwN), oder der mit dem Grundsatz der Subsidiarität verfolgte Zweck, eine fachgerichtliche Klärung der Sach- und Rechtsfragen herbeizuführen, nicht erreichbar ist (BVerfGE, aaO <38>).

§§§

86.004 Flughafen Salzburg
 
  1. BVerfG,     B, 12.03.86,     – 1_BvL_81/79 –

  2. = NJW_86,2188 = ESGG_Art.14 - 2

  3. GG_Art.14; Vert_BRD_Östr_Art.1 S.1, Bert_BRD_Östr_Art.4 Abs.3 S.2

 

Art.1 S.1 und Art.4 Abs.3 S.2 des Vertrages vom 19.12.67 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Auswirkungen der Anlage und des Betriebs des Flughafens Salzburg auf das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit Art.1 des dazu ergangenen Zustimmungsgesetzes bestimmen in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise Inhalt und Schranken des Eigentums an denjenigen auf deutschem Gebiet gelegenen Grundstücken, die beim Betrieb des Flughafens Salzburg überflogen werden.

§§§

86.005 Sozialplan
 
  1. BVerfG,     B, 23.04.86,     – 2_BvR_487/80 –

  2. BVerfGE_73,261 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.9 Abs.3; BGB_§_133, BGB_§_157; (72); BetrVG_§_77 Abs.4; BetrVG_§_112 Abs.1 S.3

 

Eine Bindung des Richters an die Grundrechte kommt bei der streitentscheidenden Tätigkeit auf dem Gebiet des Privatrechts (hier: Auslegung von Sozialplänen) nicht unmittelbar, wohl aber insoweit in Betracht, als das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt zugleich Elemente objektiver Ordnung aufgerichtet hat, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts Geltung haben, mithin auch das Privatrecht beeinflussen.

 

LB 2) Hier wirkt der Rechtsgehalt der Grundrechte über das Medium der das einzelne Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften, insbesondere der Generalklauseln und sonstigen auslegungsfähigen und ausfüllungsbedürftigen Begriffe, die im Sinne dieses Rechtsgehalts ausgelegt werden müssen, auf dieses Rechtsgebiet ein (vgl BVerfGE_7,198 <206 f>; BVerfGE_25,256 <263>; BVerfGE_42,143 148>; -- sog Ausstrahlungs- oder mittelbare Drittwirkung der Grundrechte).

 

LB 3) Dabei überprüft das Bundesverfassungsgericht die Auslegung und Anwendung der Vorschriften des Privatrechts in ständiger Rechtsprechung nur daraufhin, ob die ordentlichen Gerichte bzw. Arbeitsgerichte die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte hinreichend beachtet oder ob sie ihren Entscheidungen eine unrichtige Auffassung von der Reichweite und Wirkkraft der Grundrechte zugrunde gelegt haben (vgl zB BVerfGE_7,198 <207>; BVerfGE_34,269 <280>; BVerfGE_35,202 <219>; BVerfGE_42,163 <168>; BVerfGE_61,1 <6>; stRspr).

 

LB 4) Eine Prüfung unmittelbar am Maßstab des Art.2 Abs.1 iVm Art.20 Abs.3 GG hat das Bundesverfassungsgericht lediglich in Fällen richterlicher Rechtsfortbildung vorgenommen (vgl zB BVerfGE_65,182; BVerfGE_65,196).

 

LB 5) Die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte entfaltet sich in einem Fall wie dem vorliegenden, der die Interpretation der Vorschrift eines Sozialplanes betrifft, im Rahmen der Auslegung und Anwendung der §§ 133, 157 BGB, in denen die Grundsätze für die Interpretation bürgerlich-rechtlicher Willenserklärungen und Verträge normiert sind und die -- wenn auch mit gewissen Modifizierungen -- von den Arbeitsgerichten auch für die Interpretation von Sozialplänen herangezogen werden. Aus dem grundrechtlichen Bereich sind im vorliegenden Fall insbesondere Art.9 Abs.3 GG (positive und negative Koalitionsfreiheit) sowie Art.2 Abs.1 GG (Privatautonomie, Vertragsfreiheit) in den Blick zu nehmen.

 

LB 6) Die Auslegung des Bundesarbeitsgerichts, daß diese Regelung nicht lediglich auf die tarifvertraglichen Bestimmungen in der damaligen Fassung Bezug nehme, sondern der Hausbrandanspruch sich nach der jeweils aktuell gültigen Fassung der tarifvertraglichen Bestimmungen richte, ist im Blick auf den Rechtsgehalt des Art.2 Abs.1 GG nicht zu beanstanden.

 

B 7) Das Gericht konnte darauf abstellen, daß die Auslegung als dynamische Verweisung dem Gesamtzusammenhang der in dem Sozialplan enthaltenen Bestimmungen und dem Sinn und Zweck von Sozialplänen entspreche, die auf einen Nachteilsausgleich für eine längere Zukunft und auf eine Gleichstellung mit den erst später aus einem aktiven Bergbauunternehmen ausscheidenden Berginvaliden ausgerichtet seien. Hiermit hat es die Reichweite und Wirkkraft der verfassungsrechtlich geschützten Privatautonomie nicht verkannt.

 

LB 8) Die Grenzen zulässiger Auslegung hat das Bundesarbeitsgericht auch insoweit nicht überschritten, als es die dynamische Verweisung des Sozialplanes auf die Änderung der tarifvertraglichen Bestimmungen vom 13. April 1976 erstreckte, die den Arbeitnehmern statt des Anspruchs auf Hausbrandkohlen einen Anspruch auf Barabgeltung einräumte. Damit trat an die Stelle der Sachleistung für die häusliche Verwendung eine Geldleistung, die nicht mehr an die häusliche Verwendung anknüpft und insofern ein "aliud" darstellt.

 

LB 9) Die Erstreckung einer Verweisung auch auf solche Tatbestände ist zwar bei staatlichen Gesetzen unzulässig, weil eine im Blick auf das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip hinreichende Begrenzung der Verweisung nicht mehr erkennbar wäre (vgl BVerfGE_64,208 <215 unter 2 a>).

 

LB 10) Die verfassungsrechtliche Wertung muß aber im vorliegenden Fall anders ausfallen; denn es ist nicht die Verweisung eines staatlichen Gesetzes, sondern diejenige eines zwischen Unternehmer und Betriebsrat vereinbarten Sozialplanes zu beurteilen. In einem solchen Fall ist Prüfungsmaßstab nicht das für staatliche Akte geltende Rechtsstaats- und Demokratieprinzip, sondern die Reichweite und Wirkkraft des Art.2 Abs.1 GG, der die Privatautonomie schützt und über §§ 133, 157 BGB auf das Privatrecht und die richterliche Auslegung und Anwendung der Privatrechtsordnung einwirkt. Unter diesem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt bestehen Grenzen für die Auslegung von Verweisungen rechtsgeschäftlicher Art nur insoweit, als diese nicht in einer Weise ausgedehnt werden dürfen, die für die Parteien des Rechtsgeschäfts zum Zeitpunkt seines Abschlusses keineswegs mehr vorhersehbar war.

 

LB 11) Zur abweichenden Meinung des Richters Dr Dr hc Nieblers siehe BVerfGE_73,274 = www.dfr/BVerfGE, Abs.41 ff.

§§§

86.006 Lebenslange Freiheitsstrafe
 
  1. BVerfG,     B, 24.04.86,     – 2_BvR_1146/85 –

  2. BVerfGE_72,105 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1 +2, GG_Art.1 Abs.1; StGB_§_57a

 

Zu den verfassungsrechtlichen Erfordernissen bei der Anwendung des § 57a StGB.

§§§

86.007 Wohnungsfürsorge
 
  1. BVerfG,     B, 13.05.86,     – 1_BvR_99/85 –

  2. BVerfGE_72,175 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.14, GG_Ar.20 Abs.3, GG_Art.76, GG_Art.77 Abs.2; 2.WoBauG_§_87a Abs.5; WoBindG_§_18a Abs.1 +2

 

1) Zur Einbeziehung eines vom Bundestag nicht abschließend beratenen Gesetzentwurfs in einem Vorschlag des Vermittlungsausschusses.

 

2) Die Gewährung zins- und tilgungsbegünstigter Darlehen aus Mitteln der Wohnungsfürsorge begründet keine verfassungsrechtlich geschützte Eigentumsposition.

 

3) Die Ermächtigung der Bundesregierung, in bestimmtem Umfang die Zinsen für ältere Darlehen aus Mitteln der Wohnungsfürsorge zu erhöhen (§ 87a Abs.5 des II.Wohnbaugesetzes iVm § 18a Abs.1 und 2 des Wohnungsbindungsgesetzes, jeweils in der Fassung des 2.Haushaltsstrukturgesetzes), verletzt keine Grundrechte der Darlehensnehmer und ist unter dem Gesichtspunkt der unechten Rückwirkung zulässig.

§§§

86.008 Einkommensteuerrecht
 
  1. BVerfG,     B, 14.05.86,     – 2_BvL_2/83 –

  2. BVerfGE_72,200 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.20 Abs.3, GG_Art.105 Abs.2, GG_Art.106 Abs.3 S.1 +2; (71) EStG_§_1 Abs.1 S.1, EStG_§_49, EStG_§_50 Abs.2 +4, EStG_§_50a; (71) DBA_Art.30 Abs.1, DBA_Art.32; AStG_§_2 Abs.1 +5 S.2

T-86-02

Zu den Grenzen zulässiger Rückwirkung bei der Änderung einkommensteuerrechtlicher Vorschriften.

 

LB 2) Zur abweichenden Meinung des Richters Steinberger siehe BVerfGE_72,276 = www.dfr/BVerfGE, Abs.208 ff.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. a) § 20 Absatz 1 Buchst.a des Gesetzes über die Besteuerung bei Auslandsbeziehungen (Außensteuergesetz) vom 8.September 1972 (Bundesgesetzbl.I S.1713) ist insoweit mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes) unvereinbar und daher nichtig, als die Bestimmung die Anwendung des 32 Absatz 1 und Absatz 5 Satz 2 Außensteuergesetz auf die vom 1.Januar 1972 bis zum 21.Juni 1972 (einschließlich) zugeflossenen Einkünfte solcher Personen anordnet, bei denen nach der ursprünglich maßgeblichen Rechtslage entweder in dieser Zeit nur die beschränkte Einkommensteuerpflicht des § 1 Absatz 2 Einkommensteuergesetz 1971 bestanden hat und diese Pflicht vor dem 22.Juni 1972 jedenfalls für das Kalenderjahr 1972 ersatzlos geendet hat oder in dieser Zeit überhaupt eine Einkommensteuerpflicht nicht bestanden hat und eine solche Pflicht auch nicht im restlichen Kalenderjahr 1972 noch entstanden wäre.

b) Weiterhin ist die auf § 2 Absatz 1 und Absatz 5 Satz 2 Außensteuergesetz bezogene Anordnung des § 20 Absatz 1 Buchst.a Außensteuergesetz insoweit mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes) unvereinbar und daher nichtig, als sie sich auf solche Einkünft erstreckt, die dem Steuerpflichtigen vom 1.Januar 1972 bis zum 21.Juni 1972 (einschließlich) zugeflossen sind und nach der ursprünglich maßgeblichen Rechtslage einem Steuerabzug mit Abgeltungswirkung unterworfen waren.

c) Im übrigen sind § 2 Absatz 1 und Absatz 5 satz 2 Außensteuergesetz sowie die auf diese Bestimmung bezogene Anordnung des § 20 Absatz 1 Buchst. a Außensteuergesetz mit dem Grundgesetz vereinbar.

2. a) Artikel 1 Satz 1 des Gesetzes vom 5. September 1972 zu dem Abkommen vom 11. August 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Bundesgesetzbl. 1972 II S. 1021) verstößt insoweit gegen das Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes), als er über die Billigung der Artikel 30 Absatz 1 und 32 Absatz 2 des Abkommens die innerstaatliche Anwendung des Artikels 4 Absatz 6 Buchst.a des Abkommens durch die Bundesrepublik Deutschland für die deutsche Einkommenbesteuerung der vom 1. januar 1972 bis zum 13. Juni 1972 (einschließlich) zugeflossenen Einkünfte solcher Personen anordnet, nach denen bei der ursprünglich maßgeblichen Rechtslage, wäre insoweit die deutsche Einkommenbesteuerung zulässig gewesen, entweder in dieser Zeit nur die beschränkte Einkommensteuerpflicht des § 1 Absatz 2 Einkommensteuergesetz 1971 bestanden hätte und diese Pflicht vor dem 14. Juni 1972 jedenfalls für das Kalenderjahr 1972 ersatzlos geendet hätte oder in dieser Zeit eine deutsche Einkommensteuerpflicht nicht bestanden hätte und eine solche Pflicht auch nicht im restlichen Kalenderjahr 1972 noch entstanden wäre.

b) Ferner verstößt Artikel 1 Satz 1 des Gesetzes vom 5. September 1972 insoweit gegen das Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes), als er über die Billigung der Artikel BVerfGE 72, 200 (202)BVerfGE 72, 200 (203)30 Absatz 1 und 32 Absatz 2 des Abkommens vom 11. August 1971 die innerstaatliche Anwendung des Artikels 4 Absatz 6 Buchst. a dieses Abkommens durch die Bundesrepublik Deutschland für die deutsche Einkommenbesteuerung solcher Einkünfte anordnet, die dem Steuerpflichtigen vom 1. Januar 1972 bis zum 13. Juni 1972 (einschließlich) zugeflossen sind und nach der ursprünglich maßgeblichen Rechtslage, wäre insoweit die deutsche Einkommenbesteuerung zulässig gewesen, einem Steuerabzug mit Abgeltungswirkung unterworfen gewesen wären.

c) In dem zu a) und b) genennten Umfang ist Artikel 1 Satz 1 des Gesetzes vom 5. September 1972 nichtig; die innerstaatliche Anwendung der Artikel 30 Absatz 1 und 32 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 6 Buchst. a des Abkommens vom 11. August 1971 durch die Bundesrepublik Deutschland ist insoweit von Verfassungs wegen gehindert.

d) Im übrigen ist Artikel 1 Satz 1 des Gesetzes vom 5. September 1972, soweit er für die deutsche Einkommenbesteuerung die innerstaatliche Anwendung des Artikels 4 Absatz 6 Buchst. a und - hierauf bezogen - der Artikel 30 Absatz 1 und 32 Absatz 2 des Abkommens vom 11. August 1971 anordnet, mit dem Grundgesetz vereinbar.

* * *

T-86-02Rückwirkung von Steuergesetzen

128

Die verfassungsrechtlichen Bedenken des vorlegenden Gerichts greifen nur zum Teil durch. Die vorgelegten Normen sind insoweit mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar und daher nichtig, als sie sich Geltung auch für die im Zeitraum vom 1. Januar 1972 bis zum Tage vor dem Gesetzesbeschluß des Bundestages (einschließlich) zugeflossenen Einkünfte solcher Personen beimessen, bei denen nach der ursprünglich maßgeblichen Rechtslage in dieser Zeit nur die beschränkte Einkommensteuerpflicht des § 1 Abs. 2 EStG 1971 bestanden hat und diese Pflicht vor dem endgültigen Gesetzesbeschluß jedenfalls für das Kalenderjahr 1972 ersatzlos geendet hat oder - wäre insoweit die deutsche Einkommenbesteuerung zulässig gewesen - bestanden und ersatzlos geendet hätte. Entsprechendes gilt für die vor dem endgültigen Gesetzesbeschluß des Bundestages zugeflossenen Einkünfte solcher Personen, bei denen nach der ursprünglich maßgeblichen Rechtslage in dieser Zeit überhaupt keine Einkommensteuerpflicht bestand und eine solche Pflicht auch nicht im restlichen Kalenderjahr 1972 noch entstanden wäre oder - wäre insoweit die deutsche Einkommenbesteuerung zulässig gewesen - nicht bestanden hätte und auch nicht noch entstanden wäre. Ferner sind die vorgelegten Bestimmungen insoweit rechtsstaatswidrig und nichtig, als sie sich Geltung für solche in dem genannten Zeitraum zugeflossenen Einkünfte beimessen, die nach der ursprünglich maßgeblichen Rechtslage einem Steuerabzug mit Abgeltungswirkung unterworfen waren oder - wäre ihre deutsche Einkommenbesteuerung zulässig gewesen - unterworfen gewesen wären. Im übrigen sind die zur Prüfung gestellten Normen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. I.

129

Gegen die Besteuerungsregelung des § 2 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 2 AStG bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere ist die Auferlegung der erweiterten beschränkten Einkommensteuerpflicht auch gegenüber solchen ehemals als Deutsche unbeschränkt Einkommensteuerpflichtigen mit dem Grundgesetz vereinbar, die - wie der Kläger des Ausgangsverfahrens - ihren Wohnsitz unter Beibehaltung wesentlicher wirtschaftlicher Interessen im Inland bereits vor dem Beginn des Kalenderjahres 1972 in das niedrigbesteuernde Ausland verlegt haben. Hierin liegt keine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung.

130

1. a) Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum deutsch-österreichischen Rechtshilfevertrag (BVerfGE_63,343 <353>) entfaltet eine Rechtsnorm dann Rückwirkung, wenn der Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs normativ auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm rechtlich existent, dh gültig geworden ist. Rechtlich existent wird eine Norm nach deutschem Staatsrecht mit ihrer ordnungsgemäßen Verkündung, dh regelmäßig im Zeitpunkt der Ausgabe des ersten Stücks des Verkündungsblattes. Demgegenüber ist es in der genannten Entscheidung nicht als eine Frage des zeitlichen Anwendungsbereichs der Norm und damit nicht als eine Frage der Rückwirkung angesehen worden, ob der erwähnte Rechtshilfevertrag auch auf solche Beitreibungsverfahren anzuwenden sei, denen als Vollstreckungstitel Abgabenbescheide zugrundeliegen, welche vor dem Beginn des zeitlichen Anwendungsbereichs des Vertrages bestandskräftig geworden waren. Diese Frage ist vielmehr als eine solche des sachlichen Anwendungsbereichs der Norm bezeichnet worden (BVerfGE aaO, S.356).

131

b) Der Sache nach handelt es sich bei dieser Unterscheidung von sachlichem und zeitlichem Anwendungsbereich einer Norm um die Unterscheidung ihres tatbestandlichen Anknüpfungsbereichs von dem zeitlichen Bereich ihrer Rechtsfolgenanordnung:

132

Der zeitliche Anwendungsbereich einer Norm, so wie er in BVerfGE_63,343 (353) gekennzeichnet worden ist, betrifft allein die zeitliche Zuordnung der normativ angeordneten Rechtsfolgen im Hinblick auf den Zeitpunkt der Verkündung der Norm. Gefragt wird danach, ob diese Rechtsfolgen für einen bestimmten, vor dem Zeitpunkt der Verkündung der Norm liegenden Zeitraum eintreten sollen (Rückbewirkung von Rechtsfolgen) oder ob dies für einen nach (oder mit) der Verkündung beginnenden Zeitraum geschehen soll.

133

Alle anderen, in einer Norm enthaltenen Merkmale betreffen demgegenüber den sachlichen Anwendungsbereich der Norm, gehören also zu ihren Tatbestandsmerkmalen. Eine tatbestandliche Rückanknüpfung ist einer Norm insoweit eigen, als sie den Eintritt ihrer Rechtsfolgen von Gegebenheiten aus der Zeit vor ihrer Verkündung abhängig macht.

134

c) Dieser Unterscheidung entsprechend sind die verfassungsrechtlichen Maßstäbe zu präzisieren:

135

aa) Die Rückwirkung von Rechtsfolgen wirft generell die Frage nach dem Schutz des Vertrauens in den Bestand der ursprünglich geltenden Rechtsfolgenlage auf, welche nunmehr n achträglich geändert wird. Eine solche Rückbewirkung von Rechtsfolgen muß sich d amit vorrangig an den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen insbesondere des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit messen lassen (vgl BVerfGE_45,142 <167 f>). In Verbindung mit diesen Grundsätzen sind allerdings auch diejenigen Grundrechte zu berücksichtigen, deren Schutzbereich von der nachträglich geänderten Rechtsfolge in belastender Weise betroffen ist.

136

bb) Demgegenüber können tatbestandliche Rückanknüpfungen vorrangig Grundrechte berühren, die mit der Verwirklichung des jeweiligen Tatbestandsmerkmals vor Verkündung der Norm "ins Werk gesetzt" worden sind (vgl BVerfGE_31,275 <292 ff>). In die damit erforderliche grundrechtliche Bewertung f ließen freilich die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit, aber auch der Verhältnismäßigkeit (hier beschränkt auf den Gesichtspunkt der Vergangenheitsanknüpfung) in der Weise ein, wie dies allgemein bei der Auslegung und Anwendung von Grundrechten im Hinblick auf die Fragen des materiellen Recht geschieht.

137

cc) Angesichts der Differenzierung in den verfassungsrechtlichen Maßstäben für die tatbestandliche Rückanknüpfung von Rechtsnormen einerseits und die rückwirkende normative Herbeiführung von Rechtsfolgen andererseits ist es nicht sinnvoll, beide Bereiche unter einen einheitlichen Oberbegriff bringen zu wollen. Dieser Oberbegriff, die "Rückwirkung im weitesten Sinne", vermöchte keinerlei verfassungsrechtliche Maßstäbe aufzuzeigen.

138

2. § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG wirft keine Fragen der Rückbewirkung von Rechtsfolgen auf. Die Norm bestimmt lediglich generell, in welchen Fällen die im einzelnen näher beschriebene erweiterte beschränkte Einkommensteuerpflicht eintreten soll; der zeitliche Eintritt dieser Steuerpflicht findet sich in § 20 Abs.1 Buchst.a AStG geregelt (dazu unten II.).

139

3. Wohl aber enthält § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG eine tatbestandliche Rückanknüpfung insoweit, als - in Verbindung mit den anderen dort genannten Tatbestandsmerkmalen - die Beendigung der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht als Deutscher, also die näherhin bezeichnete Wohnsitzverlegung ins Ausland, zum Anknüpfungspunkt der verschärften Einkommensteuerpflicht auch in solchen Fällen genommen wird, in denen diese Wohnsitzverlegung bereits vor der Verkündung der Norm erfolgt war. Das wird auch durch die Klarstellung des § 20 Abs.2 AStG belegt. Danach wird die Anwendung der §§ 2 bis 5 AStG nicht dadurch berührt, daß die unbeschränkte Steuerpflicht der natürlichen Person bereits vor dem 1. Januar 1972 geendet hat.

140

Wie sich aus der Begrenzung der angeordneten Rechtsfolge auf die ersten zehn Veranlagungsjahre nach der Wohnsitzverlegung ergibt, werden damit für das Veranlagungsjahr 1972 auch alle diejenigen von der neuen Einkommensteuerpflicht erfaßt, die ihren Wohnsitz in den Jahren 1962 bis 1971 ins Ausland verlegt haben, sofern bei ihnen die übrigen Tatbestandsmerkmale gegeben sind; zu diesem Personenkreis gehört der 1965 in die Schweiz gezogene Kläger des Ausgangsverfahrens; Entsprechendes gilt für die späteren Veranlagungsjahre. Er wird daher - unter im übrigen unveränderten Umständen - erst für das Einkommensteuer- Veranlagungsjahr 1976 von dieser Steuerpflicht frei. Die Rückanknüpfung selbst entfällt erst im Veranlagungsjahr 1982.

141

Rückanknüpfend ist in allen diesen Fällen auch das normative Merkmal, demzufolge in den letzten zehn Jahren vor der Wohnsitzverlegung ins Ausland während mindestens fünf Jahren eine unbeschränkte Einkommensteuerpflichtigkeit als Deutscher bestanden haben muß (§ 2 Abs.1 Satz 1 AStG). Diese Rückanknüpfung entfällt erst im Einkommensteuer-Veranlagungsjahr 1987.

142

Demgegenüber müssen die übrigen Tatbestandsmerkmale des § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG ab dem Zeitpunkt der Verkündung der Norm in Gegenwart und Zukunft erfüllt sein, wenn die erweiterte Einkommensteuerpflicht eintreten soll. Wie es mit diesen Merkmalen in der Zeit vor der Verkündung der Norm bestellt war, ist für den Eintritt der steuerlichen Rechtsfolge unerheblich.

143

4. Diese tatbestandliche Rückanknüpfung der erweiterten beschränkten Einkommensteuerpflicht durch § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG ist ebenso wie der gesamte Regelungsgehalt der Vorschrift verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Grundrechte der Betroffenen werden hierdurch auch nicht in Verbindung mit allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen verletzt.

144

a) Für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Norm ist der Sinn bedeutsam, der dem Tatbestandsmerkmal der Wohnsitzverlegung in Verbindung mit dem Umstand zukommt, daß in den letzten zehn Jahren zuvor während mindestens fünf Jahren eine unbeschränkte Einkommensteuerpflichtigkeit als Deutscher bestanden haben muß. Diese Tatbestandsmerkmale besitzen zentrale Bedeutung; das Gesetz will gerade auf die bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung wesentlicher wirtschaftlicher Inlandsinteressen erfolgende "Steuerflucht" Deutscher einwirken, während etwa die im Falle der Tatbestandsverwirklichung eintretende Steuerpflicht mit der Folge der zusätzlichen Erzielung steuerlicher Einnahmen durch das Gemeinwesen nachrangige Bedeutung besitzt (vgl Salditt, StuW 1972, S.12 <18, 22>; Lipps, RIW/AWD 1972, S.105 <107 f>). Es handelt sich mithin um den typischen Fall einer verhaltenslenkenden Besteuerung.

145

b) Prüfungsmaßstab dieser tatbestandlichen Anknüpfung sind vorrangig die mit der Tatbestandsverwirklichung, hier mit der Wohnsitzverlegung in das Ausland, ins Werk gesetzten Grundrechte. Diese Wohnsitzverlegung eines Deutschen ins Ausland steht - ebenso wie die nur befristete Ausreise dorthin - verfassungsrechtlich nicht unter dem Schutz des Art.11 GG; die Ausreisefreiheit ist durch Art.2 Abs.1 GG geschützt und damit der dort normierten Schrankentrias unterworfen (vgl BVerfGE_6,32 <34 ff>). Die in § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG normierte Steuerpflicht hält sich im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung. Denn sie steht formell und materiell mit dem Verfassungsrecht in Einklang (vgl BVerfGE_6,32 <41>).

146

aa) Dies gilt zum einen für die Fälle, in denen der Wohnsitz erst so spät nach der Verkündung der Norm verlegt wird, daß die beiden hier zu erörternden Tatbestandsmerkmale - für das betreffende Veranlagungsjahr - bereits vollständig in der Zeit nach der Verkündung der Norm erfüllt worden sind.

147

Die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes über die - auch erweiterte beschränkte - Einkommenbesteuerung ergibt sich aus Art.105 Abs.2 GG iVm Art.106 Abs.3 Satz 1 und 2 GG (BVerfGE_36,66 <70 f>). Auf den Entschluß, den Wohnsitz zu verlegen, dadurch einzuwirken, daß eine fortwirkende inländische Steuerpflicht nach der Wohnsitzverlegung eintritt, ist jedenfalls dann kein unverhältnismäßiges Mittel zur staatlichen Steuerung des Verhaltens Einzelner, wenn diese Wohnsitzverlegung - wie hier nach den übrigen Tatbestandsmerkmalen des § 2 Abs.1 AStG sichergestellt ist - auch nicht annähernd dem Handeln des typischen Auswanderers gleichkommt. Dieses Handeln ist dadurch gekennzeichnet, daß auch alle wesentlichen wirtschaftlichen Bindungen zu dem bisherigen Wohnsitzstaat beendet werden; diese Auswanderer nimmt § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG von der erweiterten beschränkten Einkommensteuerpflicht gerade aus. Je mehr sich demgegenüber der Betreffende noch am inländischen wirtschaftlichen Leben beteiligt, zugleich aber sich steuerliche Vorteile aus der Verlegung seines Wohnsitzes zu verschaffen sucht, um so weniger geht es ihm darum, die von Art.2 Abs.1 GG geschützte Ausreisefreiheit zu verwirklichen. Dies gilt auch dann, wenn der Betreffende - wie es § 2 Abs.1 AStG umschreibt - zugleich mit der Wohnsitzverlegung oder weniger als fünf Jahre zuvor die deutsche Staatsangehörigkeit aufgegeben hat. Ein solcher - ehemaliger - Deutscher will bei der im Steuerrecht zulässigen typisierenden Betrachtung die Vorteile beider Rechtsordnungen genießen, ohne sich den Lasten jedenfalls einer von ihnen voll zu stellen: Er will im Ausland leben und dort spürbar weniger Steuern zahlen als bei Wohnsitz im Inland hier anfallen würden. Andererseits will er aber zugleich auch im Inland in erheblicher Weise wirtschaftlich tätig bleiben, anstatt auch diese Tätigkeiten ins Ausland zu verlegen (und damit möglicherweise seiner dort besonders günstigen steuerlichen Lage verlustig zu gehen). Ein solches Verhalten eigener oder ehemals eigener Staatsangehöriger muß kein Staat tatenlos hinnehmen. Vielmehr ist es zulässig, ja konnte dem Gesetzgeber zur Aufrechterhaltung gerechter Besteuerungsverhältnisse im Inland nachgerade als geboten erscheinen, den Anreiz für ein solches "Doppelspiel" zu vermindern, indem dessen inländische steuerliche Vorteile auf das unvermeidliche Mindestmaß zurückgeführt werden. § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG halten sich der Sache nach in diesem Rahmen des rechtsstaatlich Zulässigen und verstoßen daher insoweit auch nicht gegen Art.2 Abs.1 GG. Ebenso läßt der von der erweiterten beschränkten Einkommensteuerpflicht ausgehende - und beabsichtigte - steuerliche Druck dem Betreffenden noch genügend Spielraum, sich für oder gegen die Wohnsitzverlegung zu entscheiden. Auch wenn er bei seinem Entschluß zur Wohnsitzverlegung bleibt, wird durch die neue Steuerpflicht nicht der gesamte, bei der Pflege der wirtschaftlichen Inlandsinteressen erzielte Ertrag zugunsten des deutschen Staates abgabepflichtig, geschweige denn die Substanz der hierfür verwendeten Wirtschaftsgüter entzogen.

148

bb) Verfassungsrechtlich nichts anderes gilt, wenn - wie etwa beim Kläger des Ausgangsverfahrens - die Wohnsitzverlegung (und damit auch die vorherige mindestens fünfjährige unbeschränkte Einkommensteuerpflicht als Deutscher) in den Zeitraum vor der Verkündung des Außensteuergesetzes fällt. Zwar war in solchen Fällen der Wohnsitz bereits verlegt, als die Norm verkündet wurde. Das bedeutet indessen nicht, daß die mit der erweiterten beschränkten Einkommensteuerpflicht verbundene Lenkungsabsicht hier überhaupt nicht mehr oder nur noch in völlig atypischen Fällen verwirklicht werden könnte. Denn es ist nicht ausgeschlossen, daß ein Betroffener die nunmehr eintretende Steuerpflicht zum Anlaß nimmt, die Frage, ob er seinen ausländischen Wohnsitz beibehält, mit dem Ergebnis zu überprüfen, daß er den Wohnsitz in das Inland zurückverlegt. Hiergegen spricht nicht, daß dies keineswegs in allen Fällen geschehen wird. Immerhin liegt ein solches Verhalten im Bereich des Möglichen und ist damit der staatlichen Verhaltenssteuerung zugänglich. Die verfassungsrechtliche Berechtigung zu diesem Steuerungsimpuls ist dabei nicht zu bezweifeln. Die "Halbherzigkeit" der Lösung vom Inland, an welche § 2 Abs.1 und Abs.5 AStG anknüpft, entfällt nicht mit der Verlegung des Wohnsitzes, sondern erst mit der Aufgabe der inländischen wirtschaftlichen Interessen beachtlichen Gewichts oder mit der Rückkehr ins Inland.

149

Ebensowenig läßt sich gegen die Verfassungsmäßigkeit der hier in Rede stehenden tatbestandlichen Rückanknüpfung einwenden, daß diese selbst sich die eingangs erwähnte zeitliche Grenze gesetzt hat, mithin von der erweiterten Einkommensteuerpflicht bereits im ersten Veranlagungsjahr (1972) derjenige nicht betroffen ist, der im Jahre 1961 oder früher den Wohnsitz im Bundesgebiet aufgegeben hat. Es ist weder willkürlich noch sonstwie unvertretbar anzunehmen, daß ab einer gewissen Dauer des allein noch ausländischen Wohnsitzes auch derjenige (ehemalige) Deutsche, der weiterhin wesentliche wirtschaftliche Interessen im Inland pflegt, sich in seinem neuen Aufenthaltsstaat so sehr eingelebt hat, daß er die Rückkehr von dort ins Inland jedenfalls nicht angesichts des Eintritts steuerlicher Belastungen von der Art des § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG noch ernstlich in Betracht zieht. Die zeitliche Begrenzung der tatbestandlichen Rückanknüpfung stellt sich mithin als eine mögliche Konkretisierung des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dar; sie stellt denjenigen von der neuen steuerlichen Rechtsfolge frei, bei dem diese - durchaus spürbare - Rechtsfolge weitaus gewichtiger wäre als die hier nicht mehr realistische staatliche Hoffnung auf seine Rückkehr ins Bundesgebiet. Zwar mag es dabei angesichts der Notwendigkeit, einen Stichtag zu setzen, bis zu dem der Wohnsitz spätestens verlegt worden sein muß, zu gewissen Härten in Einzelfällen kommen, in denen die Ausreise nur kurze Zeit nach dem Stichtag erfolgt ist. Jedoch ist dies wie bei allen Stichtagsregelungen als unvermeidliche Nebenfolge zulässiger gesetzlicher Typisierungen hinzunehmen. In einer hinreichenden Zahl von Fällen kann die von solchen Härten begleitete steuerrechtliche Regelung hier ihren Lenkungszweck durchaus erfüllen. Auch wiegen diese Härten um so weniger schwer, als in derartigen Fällen die neue Steuerpflicht nur noch für kurze Zeit besteht, nämlich nur noch für so viele Jahre, wie der Betreffende erst nach dem Stichtag seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt hat.

150

c) Die erweiterte beschränkte Einkommensteuerpflicht ist auch nicht wegen "erdrosselnder Wirkung" auf die von ihr betroffenen Arten der Einkunftserzielung (dazu BVerfGE_63,343 <368> mwN) oder aus anderen Gründen mit Art.14 Abs.1 GG unvereinbar. Insbesondere geht die neue Steuerpflicht ihrer Höhe nach - wie durch § 2 Abs.6 AStG sichergestellt wird - regelmäßig nicht über diejenige der entsprechenden unbeschränkten Einkommensteuerpflicht eines im Inland Ansässigen hinaus.

151

d) Schließlich liegt auch kein Verstoß gegen Art.3 Abs.1 GG darin, daß derjenige, der die in § 2 Abs.1 AStG beschriebene wirtschaftliche Tätigkeit im Inland ausübt, ohne die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen oder in der dort beschriebenen Weise besessen zu haben, nicht der erweiterten beschränkten Einkommensteuerpflicht unterworfen ist. Es ist als sachgerechte und darum den Willkürvorwurf ausschließende Erwägung anzusehen, Ausländer nicht von der Rückwanderung in ihre Heimat abzuhalten und auch keinen Druck zur (Wieder-)Einwanderung auf solche Ausländer (nicht auch: Doppelstaater) auszuüben, die bereits vor der Verkündung des Außensteuergesetzes in das Ausland zurückgekehrt sind oder die ihren Wohnsitz zu keiner Zeit im Bundesgebiet hatten. II.

152

Nicht in jeder Hinsicht frei von verfassungsrechtlichen Verstößen ist hingegen § 20 Abs.1 Buchst.a AStG, soweit er - was hier allein zu prüfen ist - sich auf § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG bezieht.

153

§ 20 Abs.1 Buchst.a AStG ordnet an, daß die Vorschriften dieses Gesetzes für die Einkommensteuer erstmals für den Veranlagungszeitraum 1972 anzuwenden sind, welcher sich vom 1.Januar 1972 bis zum 31.Dezember 1972 erstreckte (§ 25 Abs.1 EStG 1971). Damit trifft er eine zeitbezogene Regelung sowohl auf der tatbestandlichen Ebene wie auch hinsichtlich der Rechtsfolgen der materiellen Steuernorm.

154

1. Steuerpflichtig sind danach schon solche Einkünfte, die zwischen dem 1.Januar 1972 und dem Tag vor der Verkündung des Außensteuergesetzes, also dem 11.September 1972 (einschließlich) zugeflossen sind. Insoweit knüpft § 20 Abs.1 Buchst.a iVm § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG eine Steuerpflicht an einen vor Verkündung des Gesetzes eingetretenen Sachverhalt.

155

Zugleich erfolgt - in Teilbereichen - eine bis auf den 1. Januar 1972 rückwirkende Änderung der bisherigen steuerrechtlichen Lage zum Nachteil der Betroffenen.

156

a) Soweit die verlangte Einkommensteuer solcher Steuerpflichtiger geregelt ist, für die der Veranlagungszeitraum 1972 gemäß § 25 Abs.1 EStG 1971 das volle Kalenderjahr 1972 umfaßte, sind die Rechtsfolgen - die erweiterte beschränkte Einkommensteuerpflicht bezüglich dieser Einkünfte - allerdings erst mit dem Ende des Jahres 1972 und damit erst nach der Verkündung des Außensteuergesetzes eingetreten (unten 2.a). Die damit insoweit allein gegebene tatbestandliche Rückanknüpfung bereits an die im Jahre 1972 in der Zeit vor der Verkündung des Gesetzes erzielten Einkünfte ist, wie oben I.1.c) bb) aufgezeigt, vorrangig an den mit der Einkunftserzielung ins Werk gesetzten Grundrechten zu messen. Sie ist danach ebensowenig wie die materielle steuerrechtliche Regelung des § 2 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 2 AStG verfassungsrechtlich zu beanstanden (unten 2. b).

157

b) Dagegen trifft für diejenigen ursprünglich im Jahre 1972 nur beschränkt Einkommensteuerpflichtigen, deren beschränkte Steuerpflicht vor dem 12.September 1972 jedenfalls für das Kalenderjahr 1972 ersatzlos geendet hatte, mit der tatbestandlichen Rückanknüpfung zugleich eine (nachteilige) Änderung der ursprünglichen Rechtsfolgenlage zusammen. Durch das Außensteuergesetz wird der Kreis ihrer steuerpflichtigen Einkünfte nachträglich erweitert und die entsprechende Neuberechnung ihrer Steuerschuld angeordnet. Für diese Steuerpflichtigen war, wie sich aus § 25 Abs.2 Satz 2 EStG 1971 ergibt, der Veranlagungszeitraum zur beschränkten Einkommensteuer (§ 1 Abs.2 EStG 1971) spätestens mit dem 11.September 1972 beendet. Ihre Steuerpflicht war zu dieser Zeit - nur in dem durch die ursprüngliche Rechtslage angeordneten Umfang - bereits entstanden (unten 3. a). Verfassungsrechtlicher Maßstab ist hier - wegen des Schwergewichts der Gesamtregelung auf der Seite der nachträglichen Änderung der Rechtsfolgen - vorrangig das Rechtsstaatsprinzip (oben I.1.c) aa). Gegen diesen Verfassungsgrundsatz verstößt die auf § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG bezogene Anordnung des § 20 Abs.1 Buchst.a AStG hinsichtlich der erwähnten Gruppe von Steuerpflichtigen insoweit, als deren beschränkte Einkommensteuerpflicht vor dem 22.Juni 1972 ersatzlos geendet hat. Nur für die Einkünfte der noch nach dem 21.Juni 1972 nach der ursprünglich maßgeblichen Rechtslage beschränkt einkommensteuerpflichtig gewesenen Personen ist die in Rede stehende Anordnung des § 20 Abs.1 Buchst.a AStG verfassungsrechtlich unbedenklich. Die verfassungsrechtliche Beanstandung erstreckt sich auch auf die vom 1.Januar 1972 bis zum 21.Juni 1972 (einschließlich) zugeflossenen Einkünfte solcher Personen, bei denen nach der ursprünglich maßgeblichen Rechtslage in dieser Zeit überhaupt keine Einkommensteuerpflicht bestand und eine solche Pflicht auch nicht im restlichen Kalenderjahr 1972 noch entstanden wäre (unten 3. b).

158

c) Tatbestandliche Rückanknüpfung und zugleich rückwirkende Änderung von Rechtsfolgen sind auch hinsichtlich derjenigen Einkünfte ursprünglich nur beschränkt Steuerpflichtiger gegeben, die vom 1.Januar 1972 bis zum Tage vor der Verkündung des Außensteuergesetzes, also bis zum 11.September 1972 (einschließlich), erzielt worden sind und in dieser Zeit einem Steuerabzug mit Abgeltungswirkung unterworfen worden waren. Die nachträgliche (nachteilige) Änderung der ursprünglichen steuerlichen Rechtsfolge liegt darin, daß die Abgeltungswirkung des § 50 Abs.4 Satz 1 EStG 1971 durch § 2 Abs.5 Satz 2 AStG rückwirkend beseitigt wird mit der Folge, daß diese Einkünfte in die - tarifmäßig nach dem "Welteinkommen" vorzunehmende - Berechnung der gesamten Jahres-Einkommensteuerschuld einbezogen sind (unten 4.a). Nur für die frühestens am Tage des Gesetzesbeschlusses des Bundestages über das Außensteuergesetz zugeflossenen Einkünfte ist die hierfür ursächliche Regelung des § 20 Abs.1 Buchst.a AStG verfassungsrechtlich unbedenklich; dagegen ist sie für die in der Zeit zuvor zugeflossenen derartigen Einkünfte rechtsstaatswidrig und nichtig (unten 4.b).

159

2. a) Nach § 2 Abs.1 EStG 1971 (§ 2 Abs.7 Satz 2 EStG 1985, BGBl.1985 I S.977) bemißt sich die Einkommensteuer nach dem Einkommen, das der Steuerpflichtige innerhalb eines Kalenderjahres bezogen hat. Gemäß § 25 Abs.1 EStG 1971/1985 wird die Einkommensteuer, soweit eine Veranlagung erfolgt, für den Regelfall nach Ablauf des Veranlagungszeitraums nach dem Einkommen veranlagt, das der Steuerpflichtige in diesem Zeitraum bezogen hat. "Einkommen" bedeutet dabei, wie sich aus der Begriffsbestimmung des § 2 Abs.2 Satz 1 EStG 1971 (§ 2 Abs.3 und 4 EStG 1985) ergibt, die Summe der Einkünfte aus den im Einkommensteuergesetz näher bezeichneten Einkunftsarten nach Abzug (insbesondere) der im Einkommensteuergesetz geregelten Sonderausgaben. Auch innerhalb der einzelnen Einkunftsarten erfolgt zunächst jeweils eine auf den gesamten Veranlagungszeitraum bezogene Saldierung von positiven und negativen Einkünften, ehe der - positive oder negative - Gesamtbetrag der Einkünfte aus der jeweiligen Einkunftsart in der beschriebenen Weise in die Rechnung zur Ermittlung des Einkommens des Steuerpflichtigen eingestellt wird; dies zeigen etwa die Begriffsbestimmungen "Gewinn" und "Überschuß" in § 2 Abs.4 Nr.1 und 2 EStG 1971 (§ 2 Abs.2 Nr.1 und 2 EStG 1985).

160

Dieser Grundsatz der Jahresbezogenheit der Einkunfts- und Einkommensermittlung durchzieht - vorbehaltlich spezialgesetzlicher Durchbrechungen wie etwa in § 25 Abs.2 EStG 1971/1985 (dazu unter 3.a) - das gesamte Einkommensteuerrecht. Weiterhin ordnete zur Zeit der Verkündung des Außensteuergesetzes die Vorschrift des § 3 Abs.5 Nr.1 Buchst.c Steueranpassungsgesetz - StAnpG - (vgl jetzt § 36 Abs.1 EStG 1985) an, daß die Einkommensteuerschuld aus der veranlagten Einkommensteuer mit Ablauf des Veranlagungszeitraums entsteht. Mithin treten die Rechtsfolgen einkommensteuerlicher Bestimmungen, die die Steuerpflichtigkeit bestimmter Einkünfte regeln, in bezug auf die veranlagte Einkommensteuer stets erst mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums, im Regelfall des § 25 Abs.1 EStG 1971/1985 also mit Ablauf des Kalenderjahres der Einkunftserzielung, ein. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Steuerpflichtigkeit als auch - gegebenenfalls - für die Steuerfreiheit von Einkünften. Erst wenn eine nach Ablauf des Veranlagungszeitraums verkündete Norm mit Wirkung für diesen Zeitraum eine ursprünglich geltende steuerliche Rechtsfolgenlage nachträglich ändert, handelt es sich um die Rückbewirkung einer Rechtsfolge. In allen anderen Fällen, in denen die Änderung noch während des Laufs des Veranlagungszeitraums verkündet wird, liegt lediglich eine Neubestimmung einer bislang noch nicht eingetretenen Rechtsfolge vor.

161

Nach diesen Kriterien entfaltet die Anordnung des § 20 Abs.1 Buchst.a AStG, daß die Rechtsfolgen des § 2 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 2 AStG auch schon "für den Veranlagungszeitraum 1972" eintreten sollen, in den in § 25 Abs.1 EStG 1971 umschriebenen Regelfällen der veranlagten Einkommensteuer keine Rückwirkung. Auch soweit mit dieser Anordnung an Einkunftstatbestände angeknüpft wird, welche bereits vor der Verkündung der Norm verwirklicht worden sind, tritt die Rechtsfolge, nämlich die (neugeregelte) Einkommensteuerpflichtigkeit dieser Einkünfte, für den Regelfall des § 25 Abs.1 EStG 1971 erst mit dem Ablauf des Kalenderjahres 1972 und damit nach der am 11.September 1972 erfolgten Verkündung des Außensteuergesetzes ein.

162

b) Den Maßstab für die verfassungsrechtliche Überprüfung dieser Anordnung künftiger Rechtsfolgen, die (auch) an der Vergangenheit zugehörige Tatbestandsmerkmale anknüpft, bilden wie oben I.1.c) bb) aufgezeigt, vorrangig die mit der Verwirklichung des Steuertatbestands ins Werk gesetzten Grundrechte. Je nach Art der betroffenen Einkünfte und der Wege, auf denen sie erzielt wurden, kommen dabei namentlich Art.12 Abs.1 GG, Art.14 Abs.1 und 2 GG sowie Art.2 Abs.1 GG in Betracht.

163

In Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (oben I.1.c) bb) ist allen diesen Grundrechten im Hinblick auf steuerlich belastende Neuregelungen der vorliegenden Art gemeinsam, daß sie den (nunmehr) Steuerpflichtigen vor der Enttäuschung schutzwürdigen Vertrauens bewahren. Der Steuerpflichtige muß im Rechtsstaat grundsätzlich bis zum Zeitpunkt der Verkündung einer steuerlichen Neuregelung darauf vertrauen können, daß Einkünfte, die ihm bis dahin zugeflossen sind, nicht nachträglich einer schärferen steuerlichen Belastung unterworfen werden, als sie bis dahin galt. Der Gesetzgeber andererseits ist von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht gehindert, für die Zukunft die steuerlichen Folgen eines in der Vergangenheit liegenden Verhaltens zu verschärfen.

164

Dem Gesetzgeber muß es grundsätzlich möglich sein, auch im Wege tatbestandlicher Rückanknüpfungen unter Änderung künftiger Rechtsfolgen dieser Tatbestände auf veränderte soziale Gegebenheiten mit einer Änderung seines Normenwerks zu reagieren oder durch eine solche Änderung erst bestimmte soziale Gegebenheiten in einem bestimmten Sinne zu beeinflussen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn entweder das Handeln des Gesetzgebers schlechterdings ohne sachlichen Grund erfolgt und darum im Sinne des Art.3 Abs.1 GG willkürlich ist oder wenn die Neuregelung, wiewohl sie von sachlichen Gründen getragen ist, ausnahmsweise hinter ein überwiegendes schutzwürdiges Vertrauen der Betroffenen zurücktreten muß, welches auf die Bewahrung der nach der ursprünglich maßgeblichen Rechtslage bevorstehenden (günstigeren) Rechtsfolge ihres vergangenen Handelns gerichtet ist.

165

Ein solches schutzwürdiges Vertrauen liegt hier nicht in der - sodann enttäuschten - Hoffnung der Betroffenen, daß ihre Erwerbsvorgänge, welche sie vor der Verkündung des Außensteuergesetzes vorgenommen oder eingeleitet hatten, nach dem Ablauf des Veranlagungsjahres 1972 keine ungünstigere steuerliche Rechtsfolge auslösen würden als nach der seinerzeit maßgeblichen Rechtslage abzusehen war. Wie der Bundesminister der Finanzen in seiner Stellungnahme zutreffend ausgeführt hat, handelte es sich bei dieser ursprünglichen Rechtsfolgenanordnung - wenngleich entgegen seiner Ansicht im wesentlichen nur für den Regelfall des § 25 Abs.1 EStG 1971 - von vornherein nur um eine vorläufige, unter dem Vorbehalt rechtzeitiger - auch verschlechternder - Abänderung stehende normative Regelung. Diese Vorläufigkeit des Einkommensteuerrechts vor Ablauf des Veranlagungszeitraums ist den am Steuerrechtsverkehr Beteiligten, gerade wenn sie zu dem nunmehr von § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG erfaßten Personenkreis gehören, seit jeher bekannt. Sie richten sich in ihrem wirtschaftlichen Verhalten nicht selten ganz bewußt darauf ein, so etwa wenn sie gewisse einkommensteuerlich erhebliche Vorgänge erst gegen Ende des Kalenderjahres vornehmen, weil dann die Wahrscheinlichkeit einer noch rechtzeitig eintretenden verschlechternden Neuregelung der steuerlichen Rechtsfolgen dieser Vorgänge bereits aus zeitlichen Gründen nur noch sehr gering ist.

166

Unter diesen Umständen war der Gesetzgeber nicht durch die Grundrechte der Betroffenen in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gehindert, die erwähnte Teilregelung des § 20 Abs.1 Buchst.a AStG iVm § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG zu treffen.

167

3. a) Anders dagegen liegt es, soweit § 20 Abs.1 Buchst.a AStG die Anwendung des § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG auch auf die vom 1.Januar 1972 bis zum Tag vor der Verkündung des Gesetzes, also bis zum 11.September 1972 (einschließlich), zugeflossenen Einkünfte solcher Steuerpflichtiger anordnet, bei denen nach der ursprünglichen maßgeblichen Rechtslage in dieser Zeit nur die beschränkte Einkommensteuerpflicht des § 1 Abs.2 EStG 1971 bestanden hat und diese Steuerpflicht vor dem 12.September 1972 jedenfalls für das Kalenderjahr 1972 ersatzlos geendet hat, also insbesondere nicht durch einen sofortigen oder späteren, aber noch im Kalenderjahr 1972 erfolgten Eintritt der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht oder Neueintritt der (gewöhnlichen) beschränkten Einkommensteuerpflicht ersetzt worden ist. Entsprechendes gilt hinsichtlich der vom 1.Januar 1972 bis zum 11.September 1972 (einschließlich) zugeflossenen Einkünfte derjenigen Personen, bei denen nach der ursprünglich maßgeblichen Rechtslage in diesem Zeitraum überhaupt keine Einkommensteuerpflicht bestanden hat und eine solche Pflicht auch im restlichen Kalenderjahr 1972 nicht mehr - in der Form der beschränkten oder der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht - entstanden wäre.

168

In der zuerst genannten Gruppe von Fällen war gemäß § 25 Abs.2 Satz 2 EStG 1971 die Veranlagung der Betroffenen zur Einkommensteuer sofort nach dem ersatzlosen Wegfall der beschränkten Einkommensteuerpflicht, also noch vor der Verkündung des Außensteuergesetzes, zulässig. Ungeachtet der Umschreibung des Veranlagungszeitraums als des (vollen) Kalenderjahres (§ 25 Abs.1 EStG 1971/1985) setzte die Zulässigkeit dieser Veranlagung - unabhängig davon, wann sie vorgenommen wurde - voraus, daß auch die Steuerschuld spätestens zum Zeitpunkt der Zulässigkeit der Veranlagung entstanden war. Die Einkommensteuerschuld der Personen, die im Jahre 1972 spätestens am Tag vor der Verkündung des Außensteuergesetzes ersatzlos aus der beschränkten Einkommensteuerpflicht ausgeschieden waren, war bereits vor der Verkündung dieses Gesetzes entstanden. Damit strukturell übereinstimmend stand in der zweiten Fallgruppe die Einkommensteuerfreiheit der vom 1.Januar 1972 bis zum 11.September 1972 (einschließlich) zugeflossenen Einkünfte bereits vor der Verkündung des Außensteuergesetzes endgültig fest.

169

Indem § 20 Abs.1 Buchst.a AStG die Anwendung des § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG auch auf die in dem genannten Zeitraum zugeflossenen Einkünfte dieser beiden Gruppen von Betroffenen anordnet, knüpft er nicht nur (wie in den übrigen Fällen) an Tatbestandsmerkmale an, die der Vergangenheit an gehören, sondern ändert rückwirkend (und typischerweise nachteilig) auch die steuerlichen Rechtsfolgen des vergangenen tatbestandlichen Handelns.

170

b) Verfassungsrechtlicher Maßstab für die Zulässigkeit einer Rechtsänderung, die an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpft und zugleich Rechtsfolgen in die Vergangenheit erstreckt, ist - wegen des Schwergewichts der Gesamtregelung auf der Rechtsfolgenseite - vorrangig das Rechtsstaatsprinzip des Art.20 Abs.3 GG iVm den von der Rechtsfolgenanordnung berührten Grundrechten (oben I.1.c) aa). Vor dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes bedarf es stets besonderer Rechtfertigung, soll eine nachträgliche belastende Änderung der bereits eingetretenen Rechtsfolgen eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens ausnahmsweise zulässig sein. Bei der Prüfung möglicher Gründe einer solchen Rechtfertigung ist auch darauf Bedacht zu nehmen, daß sich die Regelung zugleich an den Grundrechten messen lassen muß, welche die Betroffenen damit ins Werk gesetzt haben (oben I.1.c) aa).

171

Eine derartige Änderung der Rechtsfolgenlage ist hier nur für die Zeit ab dem endgültigen Gesetzesbeschluß des Bundestages, dem 22.Juni 1972, zu rechtfertigen. Daran fehlt es für den vor diesem Beschluß liegenden Zeitraum vom 1.Januar 1972 bis zum 21.Juni 1972 (einschließlich).

172

aa) Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes zieht der Befugnis des Gesetzgebers, den Eintritt nachteiliger Rechtsfolgen auf einen Zeitraum vor der Verkündung des Gesetzes zu erstrecken, enge Grenzen. Aus Art.103 Abs.2 GG, der ein Rückwirkungsverbot für materielle Strafrechtsnormen aufstellt, darf nicht gefolgert werden, daß Rückwirkung im übrigen verfassungsrechtlich unbedenklich sei. Die Verläßlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde den Einzelnen in seiner Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an sein Verhalten oder an ihn betreffende Umstände ohne weiteres im nachhinein stärker belastende Rechtsfolgen knüpfen, als sie zur Zeit des Ablaufs dieses Verhaltens oder des Eintritts dieser Umstände von dem damals geltenden Recht angeordnet waren. Dies gilt zumal dort, wo die angeordnete Rückwirkung - wie hier - mit einer tatbestandlichen Anknüpfung im wesentlichen an Umstände der Vergangenheit einhergeht (vgl BVerfGE_30,272 <285>; stRspr).

173

In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind solche Rechtfertigungsgründe falltypisch entwickelt worden. Diese Falltypen sind nicht erschöpfend. Sie sind Ausprägungen des Grundgedankens, daß allein zwingende Gründe des gemeinen Wohls oder ein nicht - oder nicht mehr - vorhandenes schutzbedürftiges Vertrauen des Einzelnen eine Durchbrechung des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots zugunsten der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers rechtfertigen oder gar erfordern können. Lediglich der bislang vom Bundesverfassungsgericht zusätzlich anerkannte sogenannte Bagatellvorbehalt (BVerfGE_30,367 <389>) läßt sich nicht auf diesen Grundgedanken zurückführen; auf seine Berechtigung ist indessen im vorliegenden Zusammenhang nicht einzugehen.

174

Liegt in diesem Sinne ein Grund vor, der es von Verfassungs wegen rechtfertigt, das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot zu durchbrechen, so darf diese Durchbrechung gleichwohl nicht zu Ergebnissen führen, die den grundrechtlichen Schutz der Lebenssachverhalte verletzen, welche von dem Eingriff - sei es durch die nachträgliche Änderung der Rechtsfolgen, sei es durch die rückanknüpfenden Tatbestandsmerkmale - betroffen sind. Am Beispiel der eigentumskräftig gewährleisteten Rechtspositionen bedeutet dies, daß die Grenzen des Art.14 Abs.1 Satz 2 und Art.14 Abs.3 GG für die zulässige Sozialbindung oder Enteignung solcher Rechtspositionen nicht durch die Anordnung von Rückwirkung unterlaufen werden dürfen (BVerfGE_13,261 <272>; BVerfGE_30,367 <387 ff>; stRspr).

175

bb) (1) Von den möglichen Rechtfertigungsgründen für die in Rede stehende Änderung der steuerlichen Rechtsfolgen kommt hier der sogenannte Bagatellvorbehalt nicht in Betracht. Wie sich aus § 2 Abs. 1 Satz 2 AStG ergibt, tritt die erweiterte beschränkte Einkommensteuerpflicht nur für solche Veranlagungszeiträume ein, in denen die hiernach insgesamt beschränkt steuerpflichtigen Einkünfte des einzelnen Steuerpflichtigen mehr als 32 000 DM betragen. Hat die gegenständliche Erweiterung der beschränkten Einkommensteuerpflicht, wie sie § 2 Abs.1 Satz 1 AStG vornimmt, zur Besteuerung von Einkünften in dieser Größenordnung geführt, so folgt aus ihr typischerweise eine erheblich höhere Steuerlast für den Zeitraum der Steuerpflicht als sie nach der bis zur Verkündung des Außensteuergesetzes geltenden Rechtslage gegeben war. Dies gilt zumal im Hinblick auf die Beseitigung der Abgeltungswirkung des § 50 Abs.4 Satz 1 EStG 1971 durch § 2 Abs.5 Satz 2 AStG, soweit Einkünfte im Sinne dieser einkommensteuergesetzlichen Regelung im steuerlich maßgeblichen Zeitraum erzielt wurden. Erst recht ist die Höhe der steuerlichen Mehrbelastung in den Fällen erheblich, in denen erst die vom Außensteuergesetz bewirkte Rechtsänderung zu einer Einkommensteuerpflicht und Einkommensteuerschuld für die vom 1.Januar 1972 bis zum 11.September 1972 (einschließlich) erzielten Einkünfte eines Steuerpflichtigen geführt hat.

176

(2) Vor der Verkündung des Außensteuergesetzes war im fraglichen Sachbereich auch keine unklare oder verworrene Rechtslage gegeben, deren Ersetzung durch eine eindeutige, allerdings fallweise stärker belastende Regelung hätte gerechtfertigt sein können (dazu BVerfGE_13,261 <272>; BVerfGE_30,367 <388 f>). Aus §§ 1 Abs.2, 49 EStG 1971 ergab sich seinerzeit klar und eindeutig, daß diejenigen Einkünfte anderer als unbeschränkt Einkommensteuerpflichtiger, die dort nicht der beschränkten Einkommensteuerpflicht unterworfen wurden, nach deutschem Einkommensteuerrecht steuerfrei waren. Entsprechendes gilt für die Anordnung der Abgeltungswirkung in § 50 Abs.4 Satz 1 EStG 1971.

177

(3) Ebensowenig läßt sich behaupten, durch § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG sei mit Wirkung vom 1.Januar 1972 eine verfassungswidrige Lücke im bisherigen System der inländischen Einkommenbesteuerung geschlossen worden, auf deren Fortbestand zu keiner Zeit habe vertraut werden dürfen (vgl dazu BVerfGE_13,261 <272>). Das insoweit angesprochene, aus Art.3 Abs.1 GG - gegebenenfalls in Verbindung mit weiteren betroffenen Grundrechten - fließende Gebot der gleichmäßigen Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit (vgl - gerade für das Einkommensteuerrecht - jüngst BVerfGE_68,143 <152 f>; BVerfGE_61,319 <343 f>) hinderte die nach der früheren Rechtslage gegebene einkommensteuerliche Freistellung derjenigen Einkünfte des nunmehr betroffenen Personenkreises nicht, die in typischer Weise weniger enge Verbindungen zum Inland aufweisen, als sie bei anderen Einkünften derselben Person oder bei gleichen Einkünften von Gebietsinländern bestehen. Weiterhin hatte die Anordnung der Abgeltungswirkung in § 50 Abs.4 Satz 1 EStG 1971 auch für den vom Außensteuergesetz erfaßten Personenkreis vor dem Verfassungsrecht Bestand.

178

(4) Die Entstehungsgeschichte des Außensteuergesetzes belegt schließlich nicht, daß die hier in Rede stehende Änderung des Steuerrechts aus "zwingenden Gründen des gemeinen Wohls" (dazu BVerfGE_13,261 <272>; BVerfGE_30,367 <390 f>) geboten gewesen wäre. Daß solche Gründe nicht vorlagen, hat der Bundesfinanzhof in seinem Vorlagebeschluß überzeugend dargetan.

179

(5) Allerdings entfiel für die von der Neuregelung Betroffenen vom Tag des Gesetzesbeschlusses des Bundestages über das Außensteuergesetz an das bis dahin gegebene schutzwürdige Vertrauen in den Fortbestand der ursprünglichen Rechtslage. Ab diesem Tage mußten die Betroffenen mit der Verkündung und dem Inkrafttreten der Neuregelung rechnen. Es war ihnen daher zuzumuten, ihr Verhalten seither auf deren Inhalt einzurichten. Unter diesen Umständen durfte der Gesetzgeber den zeitlichen Anwendungsbereich der in Rede stehenden Regelung auch auf den Zeitraum vom Gesetzesbeschluß bis zur Verkündung - nicht jedoch für die Zeit vor dem Gesetzesbeschluß - erstrecken.

180

Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung den Wegfall des schutzwürdigen Vertrauens in den Bestand der bisherigen Rechtsfolgenlage in der Regel auf den Zeitpunkt des endgültigen Gesetzesbeschlusses über die normative Neuregelung festgelegt (vgl etwa BVerfGE_30,272 <287>). Zugleich hat das Gericht aber stets hervorgehoben, daß das Bekanntwerden von Gesetzesinitiativen und die öffentliche Berichterstattung über die Vorbereitung einer Neuregelung durch die gesetzgebenden Körperschaften die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in die bisherige Rechtslage noch nicht entfallen lassen (BVerfGE aaO). An dieser Rechtsprechung ist auch unter Würdigung der hiergegen insbesondere vom Kläger des Ausgangsverfahrens vorgebrachten Einwände festzuhalten.

181

Jede Festlegung eines für das Ende des schutzwürdigen Vertrauens in die bisherige Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkts stellt notwendig einen Ausgleich zwischen gegenläufigen Interessen dar. Bei diesen handelt es sich zum einen um das - rechtsstaatliche, aber auch aus dem Inbegriff der Grundrechte und letztlich aus dem Freiheitsverständnis entspringende - Interesse des Einzelnen, daß er sich eine Neuregelung erst entgegenhalten lassen muß, wenn sie endgültig verbindlich geworden ist und er sich über ihren vollständigen Inhalt genau unterrichten konnte. Bestmögliche Lösung aus dieser Sicht wäre das Fortbestehen des Vertrauensschutzes, bis die neue Regelung verkündet worden ist. Diesem Interesse steht gegenüber das staatliche Interesse, daß eine vom Gesetzgeber für geboten erachtete Neuregelung alsbald "greift" und so die zeitlichen Möglichkeiten weitgehend eingeschränkt werden, sie zu umgehen und damit den angestrebten politischen Erfolg zu mindern. Diesem Zweck diente es am besten, den Vertrauensschutz spätestens mit der Einbringung des Gesetzentwurfs der Neuregelung entfallen zu lassen.

182

In diesem Spannungsfeld ist es der verhältnismäßig beste Ausgleich, auf den Zeitpunkt des - vorbehaltlich neuerlicher Beschlußfassung gemäß Art.77 Abs.2 bis 4 GG - endgültigen Gesetzesbeschlusses des Bundestages abzustellen. Er setzt keines der beiden gegenläufigen Interessen über Gebühr hintan und läuft nicht ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Verankerungen zuwider.

183

Auch in den Fällen, in denen - wie bei den hier in Rede stehenden Regelungen des Außensteuergesetzes - die politische Lage den Erlaß der gesetzlichen Neuregelung bereits von vornherein als mit hoher Wahrscheinlichkeit absehbar erscheinen ließ, stellt der endgültige Gesetzesbeschluß des Bundestages einen wesentlichen Markstein auf dem Weg der Gesetzwerdung dar. Mit diesem Beschluß ist der wesentliche - wenn auch nicht der einzige und nicht der letzte - Unsicherheitsfaktor beseitigt, was das "Ob" und "Wie" der Neuregelung angeht. Das rechtfertigt und gebietet es, auch in derartigen Fällen den Vertrauensschutz nicht vor dem Gesetzesbeschluß enden zu lassen. Zugleich liegt von diesem Zeitpunkt an das Zwischenergebnis des Gesetzgebungsverfahrens offen zutage und kann von jedem zur Kenntnis genommen werden. Steht damit - schon wegen der Mitwirkungsbefugnisse des Bundesrates - auch weder der Inhalt des künftigen Gesetzes fest, noch daß es überhaupt endgültig zustandekommen wird, so läuft es gleichwohl dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten nicht zuwider, wenn von diesem Einschnitt an der Einzelne auf das künftige Fortbestehen der bisherigen Rechtslage jedenfalls nicht mehr vertrauen darf.

184

Im vorliegenden Fall spricht zumal die Besonderheit des Kreises der von der Rechtsänderung Betroffenen und deren lebhafte Anteilnahme am Entstehen der Neuregelung, auch vermittels publizistischer Beiträge von Angehörigen der steuerberatenden Berufe, für die Richtigkeit dieser Erwägungen.

185

Wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip verfassungswidrig und nichtig ist die auf § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG bezogene Anordnung des § 20 Abs.1 Buchst.a AStG in den hier in Rede stehenden sachlichen Teilbereichen (oben aa) daher nur, BVerfGE 72, 200 (262)BVerfGE 72, 200 (263)soweit sich ihr zeitlicher Anwendungsbereich auf die Zeit vom 1.Januar 1972 bis zum 21.Juni 1972 (einschließlich) erstreckt.

186

4. a) Tatbestandliche Rückanknüpfung und rückwirkende Änderung von Rechtsfolgen treffen auch insoweit zusammen, als die auf § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG bezogene Anordnung des § 20 Abs.1 Buchst.a AStG auf solche Einkünfte erstreckt wird, die dem Steuerpflichtigen vom 1. Januar 1972 bis zum 21. Juni 1972 zugeflossen sind und nach der ursprünglich maßgeblichen Rechtslage einem Steuerabzug mit Abgeltungswirkung unterworfen waren. Die tatbestandliche Rückanknüpfung der erweiterten beschränkten Einkommensteuerpflicht auch an solche Einkünfte ergibt sich unmittelbar aus den genannten Vorschriften. Die rückwirkende Änderung der steuerlichen Rechtsfolgen liegt jedenfalls darin begründet, daß § 2 Abs.5 Satz 2 AStG die für diese Einkünfte nach der ursprünglich maßgeblichen Rechtslage, dem § 50 Abs. 4 Satz 1 EStG 1971, eingetretene Abgeltungswirkung der im Wege des Steuerabzugs entrichteten Einkommensteuer (aus der gewöhnlichen beschränkten Einkommensteuerpflicht des § 1 Abs.2 EStG 1971) nachträglich beseitigt hat. Hierdurch werden diese Einkünfte in die tarifmäßig nach dem "Welteinkommen" zu bemessende Einkommenbesteuerung nach Maßgabe der erweiterten beschränkten Einkommensteuerpflicht (§ 2 Abs.5 Satz 1 AStG) einbezogen. Soweit der Steuersatz der Abzugssteuer, wie in der Regel, wesentlich niedriger war als der Steuersatz, der sich bei Zugrundelegung des "Welteinkommens" nach der erweiterten beschränkten Einkommensteuer ergibt, folgt hieraus für die betroffenen Einkünfte eine nachträgliche Erhöhung der auf sie entfallenden Steuerschuld.

187

Wesentlich für die Feststellung einer rückwirkenden Änderung der steuerlichen Rechtsfolgenlage ist hier der Umstand, daß die Besteuerung der in Rede stehenden Einkünfte mit dem Abfluß der im Abzugswege erhobenen Einkommensteuer nach ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung "abgegolten", also in jeder Hinsicht beendet war. Durch diesen Steuerabzug war die - mithin bereits zuvor entstandene - Einkommensteuerschuld auf diese Einkünfte (vgl dazu auch § 3 Abs.5 Nr.1 Buchst.a Steueranpassungsgesetz) beglichen worden und erloschen. Die Rechtslage ist insoweit eine grundlegend andere als bei den der veranlagten - beschränkten oder unbeschränkten - Einkommensteuer unterworfenen Einkünften, für die die Einkommensteuerschuld erst mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums (oben 2. a) oder gegebenenfalls erst mit dem vor Jahresende erfolgten ersatzlosen Wegfall der Einkommensteuerpflicht (oben 3.a) entsteht.

188

b) Aus den vorstehend zu 3.b) genannten Gründen kann auch diese rückwirkende Änderung der steuerlichen Rechtsfolgen vergangenheitszugehöriger Lebenssachverhalte verfassungsrechtlich nur insoweit hingenommen werden, als sich ihr zeitlicher Anwendungsbereich auf die Zeit zwischen dem endgültigen Gesetzesbeschluß des Bundestages und der Verkündung des Außensteuergesetzes erstreckt. Dagegen ist sie für die vom 1.Januar 1972 bis zum 21.Juni 1972 (einschließlich) zugeflossenen und dem Steuerabzug mit Abgeltungswirkung unterworfen gewesenen Einkünften rechtsstaatlich nicht hinnehmbar; § 20 Abs.1 Buchst.a AStG, soweit er sich auf § 2 Abs.1 und Abs.5 Satz 2 AStG bezieht, ist in diesem Umfange verfassungswidrig und nichtig."

 

Auszug aus BVerfG B, 14.05.86, - 2_BvL_2/83 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.128 ff

§§§

86.009 Selbstablehnung
 
  1. BVerfG,     B, 04.06.86,     – 1_BvR_1046/85 –

  2. BVerfGE_72,296 = www.dfr/BVerfGE

  3. BVerfGG_§_18

 

Zur Selbstablehnung eines Richters des Bundesverfassungsgerichts.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Die Selbstablehnung des Vizepräsidenten Professor Dr. Herzog wird für begründet erklärt.

* * *

T-86-03Herzog

1

" 1. Die Beschwerdeführer wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung eines Flurbereinigungsverfahrens und die sie bestätigenden gerichtlichen Entscheidungen. Mit der Flurbereinigung sollen die Voraussetzungen zur Errichtung eines Prüfgeländes für Kraftfahrzeuge durch die Firma Daimler- Benz AG geschaffen werden. Die Regierung des Landes Baden- Württemberg hat sich im Februar 1978 für den Standort der Teststrecke im Raum der Stadt Boxberg und der Gemeinde Assamstadt entschieden und im weiteren das Vorhaben befürwortet und unterstützt.

2

2. Vizepräsident Professor Dr. Herzog hat Umstände mitgeteilt, die die Besorgnis seiner Befangenheit begründen könnten.

3

Seines Wissens seien die wesentlichen Entscheidungen der Landesregierung über die Teststrecke vor seinem Eintritt in diese am 9.Mai 1978 gefällt worden. In der Folgezeit habe es aber immer wieder Beschlüsse gegeben, in denen sich der fortbestehende Wille der Landesregierung zur Durchführung und Förderung des Projektes manifestiert habe und an denen er sowohl als Mitglied des Ministerrats als auch als Mitglied des Landtags beteiligt gewesen sei. Neben anderen Entscheidungen handele es sich um einen Kabinettsbeschluß vom 19.Dezember 1979, mit dem das Finanzministerium zu der Zusage an die Firma Daimler-Benz AG ermächtigt wurde, ihr im Falle des Scheiterns des Projektes landwirtschaftlichen Grundbesitz bis zum Preis von 25 Millionen DM abzukaufen. Dieser Beschluß sei während seiner Amtszeit als Kultusminister des Landes Baden-Württemberg gefaßt worden. II.

4

Die Selbstablehnung ist begründet. 4

5

1. Für die Beurteilung der Frage, ob im Falle des § 19 Abs.3 BVerfGG ein Ablehnungsgrund vorliegt, kommt es nicht darauf an, ob der Richter sich für befangen hält oder nicht. Maßgebend ist allein, ob ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlaß hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl BVerfGE 43, 126 <127>, stRspr). Ob dies der Fall ist, hat das Bundesverfassungsgericht bislang nach einem strengen Maßstab beurteilt. Ein wesentlicher Grund hierfür lag darin, daß mangels entsprechender gesetzlicher Regelung im verfassungsgerichtlichen Verfahren kein neuer Richter an die Stelle des Abgelehnten treten konnte. Jede begründete Ablehnung hatte somit eine Verkleinerung der Richterbank zur Folge, und schon wenige erfolgreiche Ablehnungen konnten zur Beschlußunfähigkeit des zuständigen Senats führen (vgl BVerfGE_43,126 <128> mwN).

6

Diese Rechtslage hat das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht und zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes vom 12.Dezember 1985 (BGBl.I S.2226) mit Wirkung vom 1.Januar 1986 geändert. Hat das Bundesverfassungsgericht die Ablehnung oder Selbstablehnung eines Richters für begründet erklärt, wird nunmehr durch Los ein Richter des anderen Senates als Vertreter bestimmt (§ 19 Abs.4 Satz 1 BVerfGG nF). Die Gefahr der Beschlußunfähigkeit des zuständigen Senats ist damit weitgehend gebannt. Es ist daher fraglich, ob die bisherige, vielfach kritisierte Rechtsprechung aufrechterhalten werden kann. Dies bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung; denn auch bei Anwendung eines strengen Maßstabs liegt ein Ablehnungsgrund im Sinne des § 19 Abs.3 BVerfGG vor.

7

2. Der Kabinettsbeschluß vom 19.Dezember 1979 hat gegenüber den vorangegangenen Entscheidungen der Landesregierung zum Bau des Prüfgeländes selbständige Bedeutung. Er begründet eine Art "Einstandspflicht" des Landes Baden-Württemberg; der Firma Daimler-Benz AG soll ein Teil des wirtschaftlichen Risikos abgenommen werden, das mit dem Projekt "Prüfgelände" in Boxberg/Assamstadt verbunden ist.

8

Mit Unsicherheiten ist die Verwirklichung des Projekts aber auch durch das Verfassungsbeschwerdeverfahren belastet. Unter dem -- hier allein wesentlichen -- Blickwinkel eines verständigen Beschwerdeführers könnte die Mitwirkung von Vizepräsident Professor Dr. Herzog an dem Kabinettsbeschluß Zweifel an seiner Unvoreingenommenheit aufkommen lassen. Auf die von ihm weiter vorgetragenen Umstände kommt es hiernach nicht an."

 

Auszug aus BVerfG B, 04.06.86, - 1_BvR_1046/85 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.1 ff

§§§

86.010 Wackersdorf
 
  1. BVerfG,     B, 07.06.86,     – 1_BvR_647/86 –

  2. BVerfGE_72,299 = www.dfr/BVerfGE

  3. BVerfGG_§_32 Abs.6

T-86-04

LB 1) Bei der Frage, ob eine einstweilige Anordnung zu erlassen ist, muß nach ständiger Rechtsprechung eine Abwägung der Folgen vorgenommen werden, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (BVerfGE_34,211 <215>; BVerfGE_56,244 <246>).

Abs.9

LB 2) Eine verantwortliche Abwägung wäre dabei nur in voller Kenntnis der hierfür maßgeblichen Umstände und unter Anhörung der Beteiligten möglich. Da die angegriffenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts erst zwei Tage und die Beschwerdeentscheidung erst am Tage vor der beabsichtigten Demonstration ergangen sind, besteht hierzu keine Gelegenheit.

 

LB 3) Nach dem Lagebild, wie es sich im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus der Begründung des angegriffenen Bescheides und des Verwaltungsgerichts ergibt, muß im Falle der Durchführung der Demonstration in der Nähe des Bauplatzes mit unmittelbaren Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gerechnet werden. Unter solchen Umständen sieht sich das Bundesverfassungsgericht zu einer von den angegriffenen Entscheidungen abweichenden Beurteilung nicht in der Lage.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

* * *

T-86-04Einstweilige Anordnung

1

" 1. Die Beschwerdeführerin zeigte Mitte Mai 1986 dem Landratsamt Schwandorf an, sie beabsichtige eine Großdemonstration gegen die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf durchzuführen. Mit Bescheid des Landratsamts vom 28.Mai 1986 wurde die am 7.Juni 1986 geplante Demonstration für die Veranstaltungsorte "Rotes Kreuz" und "Bandtrasse" verboten, die etwa 50 m ("Rotes Kreuz") und etwa 650 m ("Bandtrasse") vom Bauplatz entfernt liegen. Die sofortige Vollziehung des Bescheides wurde angeordnet. In den Gründen des Bescheides heißt es, daß die Demonstrationen an den vorgesehenen Standorten mit hoher Wahrscheinlichkeit zu schwerwiegenden Gefahren für Leben, Gesundheit und Eigentum Einzelner führen könnten.

2

Gegen diesen Bescheid wandte sich die Beschwerdeführerin an das Verwaltungsgericht mit dem Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Landratsamts Schwandorf in vollem Umfang wieder herzustellen, hilfsweise die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bezüglich des Versammlungsortes "Bandtrasse" wieder herzustellen.

3

Dieser Antrag wurde durch Beschluß vom 5.Juni 1986 zurückgewiesen. Er sei zulässig, jedoch nicht begründet. Unter Bezugnahme auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 14.Mai 1985 (BVerfGE_69,315 -- Brokdorf) wurde ausgeführt, daß nur überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen könnten, den Rechtsschutzanspruch einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Auch bei Zugrundelegung dieses Gebotes des effektiven Rechtsschutzes erweise sich das Versammlungsverbot für beide beantragte Versammlungsorte als berechtigt. Dieses wurde unter Hinweis auf die besonderen Gefährdungen im einzelnen ausgeführt. Gegenüber solchen Gefahren erschienen die von der Beschwerdeführerin gemachten Vorschläge zur Abminderung der Gefahr nicht hinreichend. Daher sei der angegriffene Beschluß des Landratsamtes und die Entscheidung, ihn wegen der erkennbaren Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung für vollziehbar zu erklären, rechtmäßig.

4

Gegen diesen Beschluß hat die Beschwerdeführerin Beschwerde eingelegt. Diese ist vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof im wesentlichen aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses vom 5.Juni 1986 zurückgewiesen worden.

5

Gegen diesen Beschluß und die vorangegangenen Entscheidungen wendet sich die Beschwerdeführerin mit der auf die Verletzung des Art.8 GG gestützten Verfassungsbeschwerde. Die Verfassungsbeschwerde ist am 6.Juni 1986 um 21.00 Uhr beim Bundesverfassungsgericht eingegangen. Mit ihr ist der Antrag verbunden, im Wege der einstweiligen Anordnung die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid des Landratsamtes wieder herzustellen.

6

2. Nach § 32 Abs.6 BVerfGG könnte die beantragte einstweilige Anordnung wegen ihrer offensichtlich besonderen Dringlichkeit erlassen werden, obschon nur drei Richter des Ersten Senats anwesend sind. Dabei kann es offenbleiben, ob die Beschwerdeführerin als eingetragener Verein in zulässiger Weise einen Antrag auf Erlaß der begehrten Entscheidung stellen könnte. Ihr Anliegen ist jedenfalls unbegründet.

7

Trotz der bisher nur kursorischen Begründung der Verfassungsbeschwerde ist davon auszugehen, daß diese weder unzulässig noch offensichtlich aussichtslos ist. Ob das beanstandete Demonstrationsverbot und seine sofortige Vollziehung mit der Verfassung in Einklang stehen, bedarf der näheren Prüfung im Hauptsacheverfahren.

8

Bei der Frage, ob eine einstweilige Anordnung zu erlassen ist, muß nach ständiger Rechtsprechung eine Abwägung der Folgen vorgenommen werden, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (BVerfGE_34,211 <215>; BVerfGE_56,244 <246>).

9

Eine verantwortliche Abwägung wäre dabei nur in voller Kenntnis der hierfür maßgeblichen Umstände und unter Anhörung der Beteiligten möglich. Da die angegriffenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts erst zwei Tage und die Beschwerdeentscheidung erst am Tage vor der beabsichtigten Demonstration ergangen sind, besteht hierzu keine Gelegenheit. Das Bundesverfassungsgericht hat angesichts des unmittelbar bevorstehenden Demonstrationsbeginnes auch nicht die Möglichkeit gehabt, die Akten, aufgrund derer die angegriffenen Entscheidungen ergangen sind, beizuziehen, ohne dadurch eine rechtzeitige Entscheidung unmöglich zu machen. Nach dem Lagebild, wie es sich im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus der Begründung des angegriffenen Bescheides und des Verwaltungsgerichts ergibt, muß im Falle der Durchführung der Demonstration in der Nähe des Bauplatzes mit unmittelbaren Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gerechnet werden. Unter solchen Umständen sieht sich das Bundesverfassungsgericht zu einer von den angegriffenen Entscheidungen abweichenden Beurteilung nicht in der Lage. Dies gilt vornehmlich, weil die angegriffenen Entscheidungen es wahrscheinlich machen, daß sie die verfassungsrechtlichen Grundsätze beachtet haben, welche das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 14.Mai 1985 (BVerfGE_69,315 -- Brokdorf) entwickelt hat."

 

Auszug aus BVerfG B, 07.06.86, - 1_BvR_647/86 -, www.BVerfG.de,  Abs.1 ff

§§§

86.011 Notarstelle
 
  1. BVerfG,     B, 18.06.86,     – 1_BvR_787/80 –

  2. DVBl_87,292

  3. GG_Art.12 Abs.1 S.2, GG_Art.33; BNotO_§_1

 

1) Der Staat setzt die Zahl der Notarstellen in Ausübung seiner Organisationsgewalt fest; Grundrechte der Notarbewerber stehen dem nicht entgegen.

 

2) Die Auswahlmaßstäbe und das Auswahlverfahren für die Vergabe von Notarstellen bedürfen gemäß Art.12 Abs.1 S.2 GG einer gesetzlichen Grundlage.

§§§

86.012 Finanzausgleich
 
  1. BVerfG,     U, 24.06.86,     – 2_BvF_1/84 –

  2. BVerfGE_72,330 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.107 Abs.1, GG_Art.107 Abs.2 S.1 +3; ZerlegungsG_§_5 Abs.1; (83) FAG_§_7 Abs.2, FAG_§_11a Abs.2, FAG_§_9 Abs.2

 

1) Art.107 Abs.1 GG bestimmt als Teil eines mehrstufigen Systems zur Verteilung des Finanzaufkommens im Bundesstaat, was den einzelnen Ländern als eigene Finanzausstattung zusteht. Art.107 Abs.2 GG korrigiert die Ergebnisse dieser primären Steuerverteilung, soweit sie auch unter Berücksichtigung der Eigenstaatlichkeit der Länder aus dem Bundesstaatlichen Gedanken der Solidargemeinschaft heraus unangemessen sind.

 

2) Die grundsätzliche Bindung an die Steuerverteilung gemäß Art.107 Abs.1 GG gilt auch für die in Art.107 Abs.2 Satz 3 GG vorgesehenen Bundesergänzungszuweisungen. Dort, wo diese Steuerverteilung für einzelne Bundesländer eine Finanzausstattung erbringt, die aus dem bündischen Prinzip des Einstehens füreinander korrekturbedürftig ist, wird der Weg für den Bund eröffnet, die Stellung eines oder mehrerer seiner Glieder finanziell zu verbessern.

 

3) Art.107 Abs.1 Satz 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber, die Lohnsteuer und Körperschaftsteuer so zu zerlegen, daß vereinnahmungsbedingte Verzerrungen, die einer Verteilung des Steueraufkommens nach der wirklichen Steuerkraft entgegenwirken, in relevanter Weise vermindert werden. Innerhalb dieses normativen Rahmens darf er verschiedene Gestaltungen wählen.

 

4) Art.107 Abs.2 GG entzieht den horizontalen Finanzausgleich und die Bundesergänzungszuweisungen dem freien Aushandeln der Beteiligten, unterstellt sie gewissen normativen Vorgaben und gibt sie in die Verantwortung des Bundesgesetzgebers.

 

5) Der Begriff der Finanzkraft in Art.107 Abs.2 Satz 1 GG ist umfassend zu verstehen; er darf nicht allein auf die Steuerkraft reduziert werden.

 

6) Der Gesetzgeber kann die Finanzkraft anhand von Indikatoren bestimmen, sofern diese verläßlich sind und auch das Volumen der Finanzkraft zuverlässig erfassen. Er darf Einnahmen unberücksichtigt lassen, die ihrem Volumen nach nicht ausgleichsrelevant sind, in allen Ländern verhältnismäßig gleich anfallen oder bei denen der Aufwand für die Ermittlung der auszugleichenden Einnahmen zu dem möglichen Ausgleichseffekt außer Verhältnis steht.

 

7) Bei der Ermittlung der Finanzkraft müssen Sonderbedarfe einzelner Länder unberücksichtigt bleiben. Finanzkraft ist als Finanzaufkommen bezogen auf die Zahl der Einwohner des Landes zu verstehen. Nur wo die Angemessenheit dieses Kriteriums für den Mittelbedarf der Länder aus vorgegebener struktureller Eigenart, wie bei den Stadtstaaten, von vornherein entfällt, ist es gerechtfertigt, diesen Bezugspunkt -- nach objektiven Indikatoren -- zu modifizieren. Die Berücksichtigung von Sonderbelastungen aus der Unterhaltung und Erneuerung der Seehäfen ist traditioneller Bestandteil der Regelung des Finanzausgleichs zwischen den Ländern im deutschen Finanzverfassungsrecht.

 

8) Für die Vergabe der Bundesergänzungszuweisungen enthält das Grundgesetz keine volumenmäßige Begrenzung; diese Zuweisungen sind jedoch als Ergänzung, nicht als Ersatz des horizontalen Finanzausgleichs angelegt.

 

9) Bei der Verteilung der Bundesergänzungszuweisungen steht es dem Bundesgesetzgeber frei, entweder die Finanzkraft der leistungsschwachen Länder allgemein anzuheben oder Sonderlasten von Ländern zu berücksichtigen oder beides miteinander zu verbinden.

 

10) Aus dem Bundesstaatsprinzip und dem allgemeinen Gleichheitssatz folgt ein föderatives Gleichbehandlungsgebot für den Bund im Verhältnis zu den Ländern. Der Bund ist zur Gleichbehandlung der leistungsschwachen Länder verpflichtet, wenn die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen das Ziel hat, deren Finanzkraft allgemein anzuheben. Berücksichtigt der Finanzausgleichsgesetzgeber Sonderlasten, so muß er diese benennen und begründen; sie müssen bei allen Ländern berücksichtigt werden, bei denen sie vorliegen. Diese Entscheidung hat Gesetzeskraft.

 

LB 11) Zur abweichenden Meinung des Richters Prof Dr Dr hc Niebler, siehe BVerfGE_72,424 = www.dfr/BVerfGE, Abs.265 ff.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. § 5 Abs.1 des Gesetzes über die Steuerberechtigung und die Zerlegung bei der Einkommensteuer und Körperschaftssteuer vom 25.Februar 1971 (BGBl.I Seite 145), zuletzt geändert durch Steuerbereinigungsgesetz 1985 vom 14.Dezember 1984 (BGBl.I S.1493) ist mit dem Grundgesetz vereinbar, insoweit er im Rahmen der gegenwärtigen Zerlegungsregelungen für die Lohnsteuerzerlegung an das Wohnsitzprinzip anknüpft. § 5 Abs.2 Satz 4 dieses Gesetzes ist mit Art.107 Abs.1 Satz 2 in Verbindung mit Art.3 Abs.1 GG unvereinbar und mit Wirkung ab 1.Januar 1986 nicht mehr anzuwenden.

2. Die Vorschriften des Zweiten Abschnitts des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern vom 28.August 1969 (BGBl.I Seite 1432), zuletzt geändert durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern vom 19.Dezember 1985 (BGBl.I Seite 2354) sind mit Art.107 Abs 2 GG unvereinbar. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, mit Wirkung spätestens für das Haushaltsjahr 1988 eine Neuregelung zu treffen. Bis zum Inkrafttreten dieser Neuregelung sind die geltenden Vorschriften des Zweiten Abschnitts des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern weiter anzuwenden.

§§§

86.013 Politische Stiftungen
 
  1. BVerfG,     U, 14.07.86,     – 2_BvE_5/83 –

  2. BVerfGE_73,1

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.21 Abs.1; EStG_§_10b Abs.1; KStG_§_9 Nr.3; AO_§_55 Abs.1 Nr.1 S.3; PartG_§_25 Abs.1 Nr.1

 

Die Vergabe öffentlicher Mittel zur Förderung politischer Bildungsarbeit an parteinahe Stiftungen setzt von den Parteien rechtlich und tatsächlich unabhängige Institutionen voraus, die sich selbständig, eigenverantwortlich und in geistiger Offenheit dieser Aufgabe annehmen. Diese müssen auch in der Praxis die gebotene Distanz zu den jeweiligen Parteien wahren.

§§§

86.014 3.Parteispenden-Urteil
 
  1. BVerfG,     U, 14.07.86,     – 2_BvE_2/84 –

  2. BVerfGE_73,40 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.21; EStG_§_10; KStG_§_9 Nr.3; PartG_§_18 Abs.6, PartG_§_21a

T-86-05

1) Das Recht des Bürgers, im Rahmen seiner Teilhabe an der politische Willensbildung frei zu entscheiden, welche Partei er finanziell unterstützen will, wird durch eine Chancenausgleichsregelung, die den Vorteil ausgleichen soll, der Parteien mit relativ hohem Spendenaufkommen und Beitragsaufkommen aus der Steuerbegünstigung erwächst, nicht verfassungswidriger Weise beeinträchtigt. Die Freiheit der politischen Betätigung der Bürger umfaßt nicht einen Anspruch darauf, daß vom Staat gewährte Steuervergünstigungen für Beiträge und Spenden an politische Parteien unter Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit nur der Partei - mittelbar - zugute kommen, die der Bürger unterstützt.

 

2) Eine steuerliche Regelung, die Steuerpflichtigen durch den ihnen zugute kommenden staatlichen Steuerverzicht in die Lage versetzt, einen bestimmenden Einfluß auf politische Entscheidungen einer Partei auszuüben, ist mit dem Recht der Bürger auf gleiche Teilhabe an der politischen Willensbildung nicht vereinbar.

 

3) Die durch § 10 EStG und § 9 Nr.3 KStG erweiterte steuerliche Abzugsfähigkeit von Beiträgen und Spenden an politische Parteien und der in § 22a PartG statuierte Chancenausgleich sind zwei wesentliche Bestandteile einer aufeinander abgestimmten Gesamtregelung. So gesehen erweist sich der Chancenausgleich als eine verfassungsrechtlich gebotene Ergänzung der angegriffenen steuerlichen Regelung.

 

4) Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, daß Parteien, die nach dem endgültigen Wahlergebnis der letzten vor dem Stichtag liegenden Bundestagswahl weniger als 0,5 vH der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erreicht haben, nicht in den Chancenausgleich einbezogen werden (§ 22a Abs.1 PartG).

 

5) Die in § 18 Abs.6 PartG vorgeschriebene Begrenzung der Wahlkampfkostenerstattung auf die Höhe der eigenen Einnahmen der Parteien wahrt den in diesem Zusammenhang gegenüber dem Grundsatz der Chancengleichheit vorrangigen Grundsatz der Staatsfreiheit der politischen Parteien.

 

LB 6) Zur abweichenden Meinung des Richters Böckenförde siehe BVerfGE_73,103 = www.dfr/BVerfGE, Abs.203 ff.

 

LB 7) Zur abweichenden Meinung des Richters Mahrenholz siehe BVerfGE_73,117 = www.dfr/BVerfGE, Abs.228.

* * *

T-86-05Grundsatz der Staatsfreiheit

157

"Gegen die direkten Zahlungen aus dem Staatshaushalt an die ausgleichsberechtigten Parteien im Rahmen des Chancenausgleichs lassen sich aus dem Grundsatz der Staatsfreiheit der politischen Parteien durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken nicht herleiten. 157

158

1. In der freiheitlichen Demokratie, die das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verfaßt hat, geht alle Staatsgewalt vom Volke aus und wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art.20 Abs.1 und Abs.2 GG). Wahlen vermögen demokratische Legitimation im Sinne des Art.20 Abs.2 GG nur zu verleihen, wenn sie frei sind. Dies erfordert nicht nur einen von Zwang und unzulässigem Druck freibleibenden Akt der Stimmabgabe, sondern ebensosehr, daß die Wähler ihr Urteil in einem freien, offenen Prozeß der Meinungsbildung gewinnen und fällen können (vgl BVerfGE_20,56 [97

159

Unbeschadet dieser im Grundgesetz normierten und in § 1 PartG im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umschriebenen verfassungsrechtlichen Stellung der politischen Parteien sind diese jedoch keine Staatsorgane, sondern Gruppierungen, die sich im offenen Mehrparteiensystem frei bilden, aus eigener Kraft entwickeln und im Rahmen der freiheitlichen Grundordnung an der politischen Willensbildung d es Volkes mitwirken (vgl BVerfGE_20,56 <101 f>; 52,63 <85>). Als frei gebildete Gruppen von Bürgern, die sich zusammengeschlossen haben, um auf die politische Willensbildung mit eigenen Zielvorstellungen und Programmen Einfluß zu nehmen und in den Bereich der institutionalisierten Staatlichkeit hineinzuwirken, gehören sie selbst nicht zu diesem Bereich. Eine völlige oder auch nur vorwiegende Deckung des Finanzbedarfs der Parteien aus öffentlichen Mitteln für ihreg esamte Tätigkeit würde sie zwar dem organschaftlichen Bereich nicht einfügen, sie jedoch der staatlichen Vorsorge überantworten. Das wäre mit der Funktion und der Stellung der politischen Parteien, wie sie Art.21 GG umschreibt, nicht vereinbar. Das Grundgesetz hat den Parteien das Risiko des Fehlschlagens eigener Bemühungen um ihre Finanzierung nicht abgenommen. Es nimmt prinzipiell die Risiken in Kauf, die darin liegen, daß es die politische Willensbildung der Urteilskraft und Aktivität der Bürger anvertraut (BVerfGE_20,56 <102 f>; 52,63 <85 f>.

160

Ist nach alledem der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nichtv erpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß den politischen Parteien die zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen finanziellen Mittel zurV erfügung stehen, so ist er andererseits an deren finanzieller Förderung auch nicht gehindert, sofern hierdurch die politischen Parteien nicht der staatlichen Vorsorge überantwortet werden, und diev om Grundgesetz gewährleistete Offenheit des Prozesses der politischen Willensbildung des Volkes nicht beeinträchtigt wird (vgl BVerfGE_20,56 <99, 102>)."

 

Auszug aus BVerfG U, 14.07.86, - 2_BvE_2/84 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.157 ff

§§§

86.015 Solange II
 
  1. BVerfG,     B, 22.10.86,     – 2_BvR_197/83 –

  2. BVerfGE_73,339 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.24 Abs.1, GG_Art.59 Abs.2 S.1, GG_Art.101 Abs.1 S.2; EGV_Art.177 Abs.3

 

1) a) Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG. Er ist ein durch die Gemeinschaftsverträge errichtetes hoheitliches Rechtspflegeorgan, das auf der Grundlage und im Rahmen normativ festgelegter Kompetenzen und Verfahren Rechtsfragen nach Maßgabe von Rechtsnormen und rechtlichen Maßstäben in richterlicher Unabhängigkeit grundsätzlich endgültig entscheidet.

b) Das Verfahrensrecht des Gerichtshofs genügt rechtsstaatlichen Anforderungen an ein gehöriges Verfahren; es gewährleistet insbesondere das Recht auf Gehör, dem Verfahrensgegenstand angemessene prozessuale Angriffsmöglichkeiten und Verteidigungsmöglichkeiten und frei gewählten, kundigen Beistand.

 

2) Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen; entsprechende Vorlagen nach Art.100 Abs.1 GG sind somit unzulässig.

§§§

86.016 Kirchgeld
 
  1. BVerfG,     B, 23.10.86,     – 2_BvL_7/84 –

  2. BVerfGE_73,388 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.140; WRV_Art.137 Abs.6; .(Hb) KiStG_§_3 Abs.1 Buchst.b, KiStG_§_4 Abs.1;

 

Zur Ermächtigung der Kirchen, Kirchgeld zu erheben.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1. § 4 Abs 1 des hamburgischen Kirchensteuergesetzes vom 1973-10-15 (Gesetzblatt und Verordnungsblatt Seite 431) ist insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar, als die steuerberechtigten Körperschaften ermächtigt werden, durch Steuervorschriften Art und Höhe des Kirchgeldes im Sinne des § 3 Abs 1 Buchst b des hamburgischen Kirchensteuergesetzes zu bestimmen.

§§§

86.017 4.Rundfunkentscheidung
 
  1. BVerfG,     U, 04.11.86,     – 1_BvF_1/84 –

  2. BVerfGE_73,118 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.5 Abs.1 S.2; (Ns) LRundfG_§_3 Abs.3 S.1, +3 +4, LRundfG_§_5 Abs.2 LRundfG_§_6 Abs.3 +4, LRundfG_§_8 bis 10, LRundfG_§_13, LRundfG_§_15, S.1, LRundfG_§_28 Abs.2 S.4, LRundfG_§_44 Abs.3, LRundfG_§_46 Abs.2 +3

 

1) a) In der dualen Ordnung des Rundfunks, wie sie sich gegenwärtig in der Mehrzahl der deutschen Länder auf der Grundlage der neuen Mediengesetze herausbildet, ist die unerläßliche "Grundversorgung" Sache der durch die zur Sicherung der Vielfalt geschaffenen (externen) Gremien und die Gerichte maßgebend ist ein Grundstandard, der die wesentlichen Voraussetzungen von Meinungsvielfalt umfaßt: die Möglichkeit für alle Meinungsrichtungen - auch diejenige von Minderheiten -, im privaten Rundfunk zum Ausdruck zu gelangen, und den Ausschluß einseitigen, in hohem Maße ungleichgewichtigen Einflusses einzelner Veranstalter oder Programme auf die Bildung der öffentlichen Meinung, namentlich die Verhinderung des Entstehens vorherrschender Meinungsmacht. Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die strikte Durchsetzung dieses Grundstandards durch materielle, organisatorische und Verfahrensregelungen sicherzustellen.

 

2) Grundsätzlich genügt diesen und den übrigen Anforderungen der Rundfunkfreiheit eine Konzeption der Ordnung privaten, durch Werbeeinnahmen finanzierten Rundfunks, welche neben allgemeinen Mindestanforderungen die Voraussetzungen der gebotenen Sicherung von Vielfalt und Ausgewogenheit der Programme klar bestimmt, die Sorge für deren Einhaltung sowie alle für den Inhalt der Programme bedeutsamen Entscheidungen einem externen, vom Staat unabhängigen, unter dem Einfluß der maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte und Richtungen stehende Organ überträgt und wirksame gesetzliche Vorkehrungen gegen eine Konzentration von Meinungsmacht trifft.

 

3) Das Niedersächsische Landesrundfunkgesetz vom 23.Mai 1984 ist in seinen Grundlinien mit dem Grundgesetz vereinbar. Doch vermag eine Reihe seiner Vorschriften die Freiheit des Rundfunks nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise zu gewährleisten; diese Vorschriften sind mit dem Grundgesetz ganz oder zum Teil unvereinbar. Darüber hinaus bedarf es zur Sicherung der Rundfunkfreiheit ergänzender gesetzlicher Regelungen.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

I. 1. § 3 Absatz 3 Satz 4 des Niedersächsischen Landesrundfunkgesetzes vom 23.Mai 1984 (Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsbl. S.147) ist mit Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig. § 3 Absatz 3 Satz 3 des Gesetzes wird damit gegenstandslos. 2. Mit Art.5 Abs.1 S.2 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig sind ferner

a) § 3 Absatz 1 und Absatz 3 Satz 1 in Verbindung mit § 5 Absatz 4 sowie § 3 Absatz 1 in Verbindung mit § 6 Absatz 3 Satz 1 des Niedersächsischen Landesrundfunkgesetzes, soweit danach für die Prüfung und Entscheidung die staatliche Erlaubnisbehörde zuständig ist,

b) § 6 Absatz 3 Satz 4 des Niedersächsischen landesrundfunkgesetzes, soweit danach für die Zuweisung von Sendezeiten die Erlaubnisbehörde zuständig ist,

c) § 28 Absatz 2 Satz 2 des Niedersächsischen Landesrundfunkgesetzes, soweit er in Niedersachsen veranstaltete Programme betrifft. 3. Mit Art.5 Abs.1 S. 2 des Grundgesetzes unvereinbar sind

a) § 5 Absatz 2 des Niedersächsischen Landesrundfunkgesetzes, soweit die in der Vorschrift getroffene Regelung auf die im Lande veranstalteten Vollprogramme beschränkt ist,

b) § 15 des Niedersächsischen Landesrundfunkgesetzes, soweit er keine nähere Bestimmung der Voraussetzungen enthält, unter denen die Ausgewogenheit der nach § 2 zugelassenen Programme in Verbindung mit anderen Programmen gewährleistet ist,

c) § 44 Absatz 3 Satz 1 des Niedersächsischen Landesrundfunkgesetzes, soweit er für die Programme nach Absatz 1 keine Verpflichtung zu sachgemäßer, umfassender und wahrheitsgemäßer Information begründet.

4. § 44 Absatz 3 des Niedersächsischen Landesrundfunkgesetzes ist mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit er keine Sicherung des Rechts auf Gegendarstellung bei ausländischen, in Niedersachsen verbreiteten Sendungen vorsieht.

II. Im übrigen sind § 2, § 3 Absatz 1, 3 und 4, § 5, § 6, §§ 8 bis 10, § 13, § 15, §§ 23 bis 26, § 27 Absatz 1, § 28 Absatz 1 bis 4 und Absatz 5 Satz 1, § 44 Absatz 1 bis 4 und Absatz 5 Satz 1 sowie § 46 Absatz 2 und 3 des Niedersächsischen LandesrundBVerfGE 73, 118 (120)BVerfGE 73, 118 (121)funkgesetzes - § 6 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 und § 23 in der verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung - mit dem Grundgesetz vereinbar.

Der Gesetzgeber hat jedoch zur Verhinderung der Entstehung vorherrschender Meinungsmacht im Rundfunk nach Maßgabe der Gründe für ergänzende Regelungen Sorge zu tragen.

§§§

86.018 Sitzblockaden I
 
  1. BVerfG,     U, 11.11.86,     – 1_BvR_713/83 –

  2. BVerfGE_73,206 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.20 Abs.3, GG_Art.103 Abs.2; StGB_§_240, StGB_§_240 Abs.2

 

1) Soweit in § 240 StGB Nötigungen mit dem Mittel der Gewalt unter Strafe gestellt werden, genügt die Normierung durch den Gesetzgeber dem aus Art.103 Abs.2 GG folgenden Bestimmtheitsgebot.

Infolge Stimmengleichheit kann nicht festgestellt werden, daß das aus Art.103 Abs.2 GG herleitbare Analogieverbot verletzt wird, wenn Gerichte die Gewaltalternative des StGB § 240 auf Sitzdemonstrationen erstrecken, bei denen die Teilnehmer Zufahrten zu militärischen Einrichtungen ohne gewalttätiges Verhalten durch Verweilen auf der Fahrbahn versperren.

 

2) Die Verfassung gebietet nicht, die Teilnahme an derartigen Sitzdemonstrationen sanktionslos zu lassen. § 240 StGB ist jedoch in dem Sinne verfassungskonform auszulegen und anzuwenden, daß die Bejahung nötigender Gewalt im Falle einer Erstreckung dieses Begriffs auf solche Sitzdemonstrationen nicht schon zugleich die Rechtswidrigkeit der Tat indiziert. Infolge Stimmengleichheit kann nicht festgestellt werden, daß es von Verfassungs wegen in der Regel zu beanstanden ist, wenn Strafgerichte Sitzdemonstrationen der genannten Art unter Würdigung der jeweiligen Umstände als verwerflich im Sinne von § 240 Abs.2 StGB beurteilen.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

I. Das Urteil des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 18. Juli 1984 - 2 Cs 14 Js 23383/83 - und der Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 28. Januar 1985 - 5 St 373/84 - verletzen den Beschwerdeführer zu 6) in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Neu-Ulm zurückverwiesen. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer zu 6) die notwendigen Auslagen zu erstatten.

II. Die Verfassungsbeschwerden der übrigen Beschwerdeführer werden zurückgewiesen.

§§§

86.019 Arbeitsförderungsgesetz 1979
 
  1. BVerfG,     B, 18.11.86,     – 1_BvL_29/83 –

  2. BVerfGE_74,1 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1; AFG_§_118a Abs.1

 

1. Es ist mit dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar, daß Studenten vom Bezug des Arbeitslosengeldes generell ausgeschlossen werden (§ 118a Abs.1 des Arbeitsförderungsgesetzes). 2. Dieser Ausschluß wird auch durch das Leistungssystem des Bundesausbildungsförderungsgesetzes nicht ausgeglichen.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 118a Absatz 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG), eingefügt durch Artikel 1 Nummer 40 des Fünften Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (5.AFG-ÄndG) von 1979-07-23 (Bundesgesetzblatt I S 1189) ist mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig, soweit diese Vorschrift für Studenten einer Hochschule oder sonstigen Ausbildungsstätte das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld anordnet.

§§§

86.020 Nachfluchttatbestände
 
  1. BVerfG,     B, 26.11.86,     – 2_BvR_1058/85 –

  2. BVerfGE_74,51 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.16 Abs.2 S.2; (By) LVerf_Art.105; (He) LVerf_Art.7 S.2

 

1) Das Asylgrundrecht des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG setzt von seinem Tatbestand her grundsätzlich den kausalen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht voraus. Eine Erstreckung auf Nachfluchttatbestände kann nur insoweit in Frage kommen, als sie nach dem Sinn und Zweck der Asylverbürgung, wie sie dem Normierungswillen des Verfassungsgebers entspricht, gefordert ist.

 

2) Bei subjektiven Nachfluchttatbeständen, die der Asylbewerber nach Verlassen des Heimatstaates aus eigenem Entschluß geschaffen hat (sogenannte selbstgeschaffene Nachfluchttatbestände), kann eine Asylberechtigung in aller Regel nur dann in Betracht gezogen werden, wenn sie sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthalts im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigten festen Überzeugung darstellen.

§§§

86.021 Gesetzesverfassungsbeschwerde
 
  1. BVerfG,     B, 02.12.86,     – 1_BvR_1509/83 –

  2. BVerfGE_74,69 = www.dfr/BVerfGE

  3. BVerfGG_§_93 Abs.2

 

Zur Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz.

* * *

T-86-06Subsidiarität

15

" Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Zwar ist die Jahresfrist des § 93 Abs.2 BVerfGG gewahrt. Doch steht der Zulässigkeit der Grundsatz der Subsidiarität entgegen. I.

16

Es kann offenbleiben, ob der Beschwerdeführer zu den landesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu zählen ist und daher bereits nach § 111 Absatz 1 der Landeshaushaltsordnung in der Fassung vom 19.Oktober 1971 der Prüfung durch den Rechnungshof unterlag. Denn die Frist des § 93 Abs.2 BVerfGG hat in jedem Falle erst mit dem Inkrafttreten des § 111 Abs.3 LHO begonnen.

17

Diese Frist wird erneut in Lauf gesetzt, wenn der Gesetzgeber den Anwendungsbereich einer Norm eindeutiger als bisher bestimmt und ihr damit einen neuen Inhalt gibt (vgl BVerfGE_11,351 <359 f>). Das ist mit der Einfügung der angegriffenen Vorschrift in die Landeshaushaltsordnung geschehen. Der Form nach liegt eine neue Norm vor, weil Artikel 1 des Änderungsgesetzes vom 18.Oktober 1982 den § 111 LHO ergänzt hat. Inhaltlich handelt es sich ebenfalls um eine Neuregelung. § 111 Abs.3 Satz 2 LHO enthält eine dem früheren Recht unbekannte Sondervorschrift gerade für den Beschwerdeführer, die den Inhalt der in Absatz 1 in Bezug genommenen Vorschriften partiell modifiziert. Aber auch § 111 Abs. 3 Satz 1 enthält materiell eine Neuregelung: Durch diese Bestimmung hat der Gesetzgeber verbindlich festgelegt, daß der Beschwerdeführer wie eine landesunmittelbare juristische Person des öffentlichen Rechts der Prüfung durch den Rechnungshof unterliegt. Die Landtagsmehrheit hat mit der Vorschrift den Zweck verfolgt, in dem Streit über die Auslegung des § 111 Abs.1 LHO und damit über dessen Reichweite eine Entscheidung zugunsten der Auffassung des Rechnungshofes herbeizuführen. Wenn der Gesetzgeber selbst es für geboten hielt, den Anwendungsbereich des § 111 Abs. 1 LHO durch eine ergänzende gesetzliche Regelung zu präzisieren, so kann dem Beschwerdeführer nicht entgegengehalten werden, er hätte bereits die Bestimmung des § 111 Abs.1 LHO mit der Verfassungsbeschwerde angreifen müssen. II.

18

1. Der Beschwerdeführer ist durch die angegriffene Bestimmung selbst und gegenwärtig betroffen. Zweifelhaft könnte sein, ob auch das Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit erfüllt ist. Dies ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls dann zu verneinen, wenn es zur Durchführung der angegriffenen Vorschrift eines besonderen Vollzugsaktes bedarf (vgl BVerfGE_68,319 <325> mwN). Als ein solcher Vollzugsakt käme hier die Aufforderung des Rechnungshofes in Betracht, ihm Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die er zur Erfüllung seiner Aufgaben für erforderlich hält, oder Auskünfte zu erteilen (§ 95 LHO).

19

2. Auch eine unmittelbare Grundrechtsbetroffenheit läßt indessen nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht stets eine abschließende Feststellung der Zulässigkeit der gegen eine Rechtsnorm gerichteten Verfassungsbeschwerde zu (vgl BVerfGE_68,319 <325>; BVerfGE_70,35 <53 f>; BVerfGE_71,305 <335>). Die Unzulässigkeit einer solchen Verfassungsbeschwerde kann sich daraus ergeben, daß der Beschwerdeführer, obwohl gegen die Norm selbst kein fachgerichtlicher Rechtsweg eröffnet ist, in zumutbarer Weise einen wirkungsvollen Rechtsschutz zunächst durch Anrufung der Fachgerichte erlangen kann. Dann steht der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die Rechtsnorm der Grundsatz der Subsidiarität entgegen (vgl BVerfGE_71,305 <336>). So verhält es sich hier.

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a) Es gehört zu den Aufgaben eines jeden Gerichts, im Rahmen seiner Zuständigkeit bei Verfassungsverletzungen Rechtsschutz zu gewähren (vgl BVerfGE_47,144 <145>; BVerfGE_68,376 <380>). Handelt es sich um ein förmliches Gesetz und teilt das Fachgericht die geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken, so setzt es das Verfahren nach Art.100 Abs.1 GG aus und führt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herbei. Im anderen Fall ist gegen die letztinstanzliche Entscheidung die Verfassungsbeschwerde gegeben. Dadurch ist gewährleistet, daß dem Bundesverfassungsgericht nicht nur die abstrakte Rechtsfrage, sondern auch die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch ein für die Materie speziell zuständiges Gericht unterbreitet wird. Insoweit enthält der Grundsatz der Subsidiarität eine generelle Aussage über die Aufgabenverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten (vgl BVerfGE_49,252 <258>; BVerfGE_55,244 <247>). Er trägt auf diese Weise dazu bei, den Rechtsschutz den besonderen Funktionen von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten entsprechend auszugestalten (vgl BVerfGE_51,130 <139>; BVerfGE_69,122 <125 f>).

21

Diese Gesichtspunkte fallen vor allem dann ins Gewicht, wenn das angegriffene Gesetz der Verwaltung oder den Gerichten einen Auslegungs- oder Entscheidungsspielraum läßt; sie gelten aber grundsätzlich auch dann, wenn ein solcher Spielraum fehlt (BVerfGE_58,81 <104 f>; BVerfGE_71,25 <35>; BVerfGE_72,39 <43 f>). Auch in diesem Fall fordert der Grundsatz der Subsidiarität, daß zunächst die für das jeweilige Rechtsgebiet zuständigen Fachgerichte eine Klärung darüber herbeiführen, ob und in welchem Ausmaß ein Beschwerdeführer durch die beanstandete Regelung in seinen Rechten betroffen ist und ob die Regelung mit der Verfassung vereinbar ist. Kommen die Fachgerichte hierbei zur Auffassung, die angegriffene Regelung sei verfassungswidrig, so ist hierzu nach Art.100 Abs.1 GG zwar die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Dann ist aber auch gewährleistet, daß sich die verfassungsgerichtliche Beurteilung auf umfassend geklärte Tatsachen und auf die Beurteilung der Fachgerichte stützen kann.

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b) Dem Beschwerdeführer steht der verwaltungsgerichtliche Rechtsweg offen, der zu einer verfassungsrechtlichen Überprüfung des § 111 Abs.3 LHO führt.

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Auseinandersetzungen darüber, ob und in welchem Umfang ein Rechnungshof zur Prüfung berechtigt ist, sind nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art, für die nach § 40 Abs.1 VwGO der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist (vgl OVG Münster, NJW 1980, S.137; OVG Lüneburg, DVBl.1984, S.837 ferner BVerwG, DÖV 1986, S.518). Gegen die Aufforderung des Rechnungshofes, ihm Unterlagen zu übersenden oder Auskünfte zu erteilen, kann der Beschwerdeführer daher die Verwaltungsgerichte anrufen. Sollte in einer solchen Aufforderung kein Verwaltungsakt zu sehen sein, so wäre jedenfalls eine verwaltungsgerichtliche Unterlassungsklage zulässig. In Betracht käme auch eine Klage nach § 43 Abs. 1 VwGO auf Feststellung, daß ein Prüfungsrecht des Rechnungshofes nicht besteht. Der Zulässigkeit einer solchen Klage stünde nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (NJW 1983, S.2208) nicht entgegen, daß die Entscheidung des Rechtsstreits im wesentlichen von der Gültigkeit des § 111 Abs.3 LHO abhängt. Da der Rechnungshof gegenüber dem Beschwerdeführer ein Prüfungsrecht behauptet, dürfte der Beschwerdeführer auch ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung haben.

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Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit hätten in diesen Verfahren auch zu prüfen, ob und gegebenenfalls in welcher Auslegung § 111 Abs.3 LHO mit höherrangigem Recht, namentlich mit Art.5 Abs.1 Satz 2 GG vereinbar ist. Soweit die Voraussetzungen des Art.100 Abs.1 GG vorliegen, wäre die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Anderenfalls bliebe es dem Beschwerdeführer unbenommen, nach Erschöpfung des Rechtswegs Verfassungsbeschwerde zu erheben. 24

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c) Allerdings darf die Anwendung des Grundsatzes der Subsidiarität nicht dazu führen, daß ein effektiver Grundrechtsschutz nicht mehr gewährleistet ist. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht ein Rechtsschutzbedürfnis für eine unmittelbar gegen ein Gesetz gerichtete Verfassungsbeschwerde ausnahmsweise vor Erlaß des Vollzugsaktes bejaht, wenn das Gesetz die Normadressaten bereits gegenwärtig zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder schon jetzt zu Dispositionen veranlaßt, die sie nach dem späteren Gesetzesvollzug nicht mehr korrigieren können, oder wenn der mit dem Grundsatz der Subsidiarität verfolgte Zweck, eine fachgerichtliche Klärung der Sach- und Rechtsfragen herbeizuführen, nicht erreichbar ist (vgl BVerfGE_72,39 <44> mwN).

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Eine derartige Situation ist hier weder vorgetragen noch erkennbar. Vor einer Aufforderung des Rechnungshofes, ihm Auskünfte zu erteilen oder Prüfungsunterlagen vorzulegen, ist der Beschwerdeführer zu keinerlei Maßnahmen gezwungen. Auswirkungen treten für ihn zunächst nur insoweit ein, als er bei seiner Haushalts- und Wirtschaftsführung die vom Rechnungshof zugrunde gelegten Maßstäbe berücksichtigen wird. Daß ihm bereits hierdurch irreparable Nachteile entstehen könnten, ist nicht anzunehmen.

27

Bei dieser Sachlage erscheint eine Verweisung auf den Verwaltungsrechtsweg nicht unzumutbar, um so weniger, als der Beschwerdeführer sich vor allem gegen eine pauschale Gleichsetzung mit den landesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts wendet. Die Frage, ob und inwieweit eine Prüfung der Haushalts- und Wirtschaftsführung einer Landesrundfunkanstalt durch den Rechnungshof mit der Freiheit des Rundfunks vereinbar ist, bedarf einer umfassenden Klärung durch geeignete fachgerichtliche Ermittlungen und Bewertungen des Sachverhalts; dabei sind Fragen des einfachen Rechts zu beantworten. Es ist nicht auszuschließen, daß einzelne Maßnahmen des Rechnungshofes bereits gegen die Landeshaushaltsordnung oder sonstiges einfaches Recht verstoßen. Auch wenn dies nicht der Fall ist, können doch die verfassungsrechtlichen Fragen im Verwaltungsgerichtsverfahren deutlichere Konturen gewinnen und können sich Anhaltspunkte für das Ausmaß und die Wirkungen eines etwaigen Eingriffs in die Freiheit des Rundfunks ergeben, die Voraussetzung einer abschließenden verfassungsrechtlichen Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht sind."

 

Auszug aus BVerfG B, 02.12.86, - 1_BvR_1509/83 -, www.BVerfG.de,  Abs.15 ff

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