1957  
 [ 1956 ]     [ ]     [ ]     [ 1958 ][  ‹ ]
57.001 Elfes
 
  1. BVerfG,     U, 16.01.57,     – 1_BvR_253/56 –

  2. BVerfGE_6,32 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.11

 

1) Art.11 GG betrifft nicht die Ausreisefreiheit.

 

2) Die Ausreisefreiheit ist als Ausfluß der allgemeinen Handlungsfreiheit durch Art.2 Abs.1 GG innerhalb der Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet.

 

3) Verfassungsmäßige Ordnung im Sinne des Art.2 Abs.1 GG ist die verfassungsmäßige Rechtsordnung, dh die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind.

 

4) Jedermann kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, eine seine Handlungsfreiheit beschränkende Rechtsnorm gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung.

§§§

57.002 Fiskus
 
  1. BVerfG,     U, 16.01.57,     – 1_BvR_134/56 –

  2. BVerfGE_6,45 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.101 Abs.1 S.2; EGZPO_§_7

 

1) Der als Fiskus an einem Prozeß beteiligte Staat kann im Wege der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung von Art.101 GG rügen.

 

2) Hat der Gesetzgeber wie im Falle des § 7 EGZPO die Entscheidung über die Zuständigkeitskonkurrenz zweier höchster Gerichte einem dieser Gerichte nach bestimmten Richtlinien übertragen und ihm damit zugleich die Feststellung des gesetzlichen Richters für das weitere Verfahren überlassen, so hat er dem Grundgedanken des Art.101 GG entsprochen.

Die Entscheidung des Gerichts stellt den gesetzlichen Richter fest, soweit sie nicht offensichtlich unhaltbar oder gar sachlich ohne Bezug auf den in den Richtlinien gegebenen Maßstab ist.

§§§

57.003 Steuersplitting
 
  1. BVerfG,     B, 17.01.57,     – 1_BvL_4/54 –

  2. BVerfGE_6,55 = www.dfr/BVerfGE

  3. BVerfGG_§:80 Abs.1, BVerfGG_§_80 Abs.4; GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.6 Abs.1, GG_Art.100 Abs.1; EStG_§_26

 

1) Die Vorschrift des § 80 Abs.4 BVerfGG ist nicht anzuwenden, wenn die Vorlage eines Gerichtes gemäß Art.100 Abs.1 GG, § 80 Abs.1 BVerfGG vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 21.Juli 1956 dem Bundesverfassungsgericht in einer Weise zugegangen ist, die den damaligen Verfahrensbestimmungen genügte.

 

2) Die Befugnis und Verpflichtung zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art.100 Abs.1 GG bezieht sich auf alle Spruchstellen, die sachlich unabhängig, in einem formell gültigen Gesetz mit den Aufgaben eines Gerichtes betraut und als Gerichte bezeichnet sind.

 

3) Die unverändert gebliebene Norm eines nach Verkündung des Grundgesetzes im übrigen geänderten Gesetzes kann dann nicht als vorkonstitutionelles Recht im Sinne der Entscheidung vom 24.Februar 1953 (BVerfGE_2,124 <128 ff.>) angesehen werden, wenn ein an das Grundgesetz gebundener Gesetzgeber auch jene Bestimmung in seinen Willen aufgenommen hat.

 

4) Das Ermessen des Gesetzgebers wird auch durch Grundsatznormen begrenzt, in denen für bestimmte Bereiche der Rechts- und Sozialordnung Wertentscheidungen des Verfassungsgebers ausgedrückt sind. Wird die Unvereinbarkeit einer gesetzlichen Bestimmung mit einer solchen speziellen Grundsatznorm festgestellt, ist für eine verfassungsrechtliche Prüfung derselben Vorschrift unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art.3 Abs.1 GG) kein Raum mehr.

 

5) Art.6 Abs.1 GG ist nicht nur ein "klassisches Grundrecht" zum Schutze der spezifischen Privatsphäre von Ehe und Familie sowie Institutsgarantie, sondern darüber hinaus zugleich eine Grundsatznorm, das heißt eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts.

Er ist mindestens insoweit den Gesetzgeber aktuell bindendes Verfassungsrecht, als er eine Beeinträchtigung von Ehe und Familie durch störende Eingriffe des Staates selbst verbietet. Die Schlechterstellung der Ehegatten durch die Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer - § 26 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung vom 17.Januar 1952 - EStG 1951 - (BGBl.I S.33) - stellt einen solchen störenden Eingriff dar.

 

6) Zur Gleichberechtigung der Frau gehört, daß sie die Möglichkeit hat, mit gleichen rechtlichen Chancen marktwirtschaftliches Einkommen zu erzielen wie jeder männliche Staatsbürger.

§§§

57.004 5% Sperrklausel
 
  1. BVerfG,     U, 23.01.57,     – 2_BvE_2/56 –

  2. BVerfGE_6,84 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.21

 

1) Der Grundsatz der gleichen Wahl ist ein Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes, der als Grundrecht des einzelnen in Art.3 Abs.1 GG garantiert ist, aber darüber hinaus als selbstverständlicher ungeschriebener Verfassungsgrundsatz in allen Bereichen und für alle Personengemeinschaften gilt.

 

2) Ob und in welchem Ausmaß der Gleichheitssatz bei der Ordnung bestimmter Materien dem Gesetzgeber Differenzierungen erlaubt, richtet sich nach der Natur des jeweils in Frage stehenden Sachbereichs.

 

3) Die Bevorzugung der Parteien mit drei Direktmandaten beim Verhältnisausgleich ist aus den Grundlagen des Wahlsystems des Bundeswahlgesetzes - der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl - heraus zu rechtfertigen und verstößt darum nicht gegen den Grundsatz der gleichen Wahl.

 

4) Dadurch, daß der Bundesgesetzgeber diesen Sonderstatus nur den "Schwerpunktparteien", die drei Direktmandate gewonnen haben, und den Parteien nationaler Minderheiten gewährt hat, nicht aber "Landesparteien", hat er nicht den Gleichheitssatz verletzt. Der Bundesgesetzgeber ist nicht verpflichtet, bei der Gestaltung des Wahlrechts zum Bundestag föderative Gesichtspunkte zu berücksichtigen. 4) Dadurch, daß der Bundesgesetzgeber diesen Sonderstatus nur den "Schwerpunktparteien", die drei Direktmandate gewonnen haben, und den Parteien nationaler Minderheiten gewährt hat, nicht aber "Landesparteien", hat er nicht den

§§§

57.005 KWG-Sperrklausel
 
  1. BVerfG,     U, 23.01.57,     – 2_BvF_3/56 –

  2. BVerfGE_6,104 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1

 

Auch im Kommunalwahlrecht kann eine 5 vH-Sperrklausel gegen Splitterparteien unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung eines störungsfreien Funktionierens der Selbstverwaltung gerechtfertigt sein.

§§§

57.006 Unterschriftenquorum
 
  1. BVerfG,     U, 23.01.57,     – 2_BvR_6/56 –

  2. BVerfGE_6,121 = www.dfr/BVerfGE

  3. KWG_§_16 Abs.2 S.3, KWG_§_30 Abs.6; GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.28 Abs.1 S.2, GG_Art.38; BVerfGG_§_93

 

LB 1) Soweit mit der Verfassungsbeschwerde die Bestimmung des § 30 Abs. 6 KWG angegriffen wird, ist sie unbegründet, da die hierdurch vorgenommene Differenzierung der Wahlrechtsgleichheit auf einem zureichenden Grund beruht.

 

LB 2) Eine Differenzierung zwischen Wahlvorschlägen politischer Parteien, die mit drei Abgeordneten im Landtag vertreten sind, einerseits, und dem Wahlvorschlag eines Einzelbewerbers andererseits, dh also zwischen Parteibewerber und Einzelbewerber, behandelt nicht Gleiches ungleich, denn der Einzelbewerber kann nur mit einem anderen Einzelbewerber verglichen werden, nicht aber mit einem Bewerber, der von einer politischen Partei aufgestellt ist.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.

§§§

57.007 Gestapo-Angehöriger
 
  1. BVerfG,     B, 19.02.57,     – 1_BvR_357/52 –

  2. BVerfGE_6,132 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.131; G-131_§_3 Nr.4

 

1) Das Bundesverfassungsgericht hält an seiner in BVerfGE_3,58 ff vertretenen Rechtsauffassung fest, daß alle Beamtenverhältnisse zum Deutschen Reich mit dem 8.Mai 1945 erloschen sind.

 

2) Die generelle Nichtgewährung neuer Rechtsansprüche an die früheren Angehörigen der Gestapo nach dem Ausführungsgesetz zu Art.131 GG ist mit dem Grundgesetz vereinbar; sie ist keine Kollektivstrafe.

 

3) § 3 Nr.4 des Ausführungsgesetzes zu Art.131 GG wäre nur dann verfassungswidrig, wenn die Beamtenverhältnisse der Gestapo über den 8.Mai 1945 hinaus bestehen geblieben wären.

§§§

57.008 Gesetzgeber-Unterlassen
 
  1. BVerfG,     B, 20.02.57,     – 1_BvR_441/53 –

  2. BVerfGE_6,257 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.131, GG_Art.3, GG_Art.14; BVerfG_§_93

T-57-01

1) Führt der Gesetzgeber den Verfassungsauftrag zum Erlaß eines bestimmten Gesetzes infolge unrichtiger Auslegung des Grundgesetzes nur teilweise aus und verletzt er durch die Nichtberücksichtigung eines bestimmten Bevölkerungskreises Grundrechte aus Art.3 GG, so kann auch gegen sein teilweises Unterlassen eine Verfassungsbeschwerde erhoben werden. Eine solche Verfassungsbeschwerde kann nur zu der Feststellung führen, daß der Gesetzgeber durch sein Unterlassen Grundrechte verletzt habe. Eine deshalb ergänzungsbedürftige Teilregelung ist dann nicht verfassungswidrig, wenn das Grundgesetz zeitlich aufeinander folgende Teilregelungen zuläßt und eine dem Art.3 GG entsprechende Ergänzung des Gesetzes noch möglich ist.

Abs.16

2) § 93 BVerfGG setzt Fristen zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde nur für den Fall, daß die öffentliche Gewalt durch positive Handlungen Grundrechte verletzt hat.

 

3) Art.131 GG will denjenigen Personen eine besondere staatliche Fürsorge zuteil werden lassen, die im Dienste des öffentlichen Gemeinwesens gestanden hatten, nicht jedoch denjenigen, die bei privaten Arbeitgebern tätig gewesen waren.

Abs.16

LB 4) Zur Fristwahrung bei einer Verfassungsbeschwede gegen ein gesetzgeberisches Unterlassen.

* * *

T-57-01Verfassungsbeschwerde - Unterlassen des Gesetzgebers

13

"Der Beschwerdeführer wendet sich mithin gegen ein "Unterlassen" des Gesetzgebers. Von dem in BVerfGE_1,97 ff behandelten Fall unterscheidet sich der vorliegende dadurch, daß der Beschwerdeführer sich auf einen ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes beruft, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im wesentlichen umgrenzt hat. Wenn bei dieser Voraussetzung der Gesetzgeber den Verfassungsauftrag unrichtig auslegt, demzufolge seiner Gesetzgebungspflicht nur unvollständig nachkommt und durch das Unterlassen einer erschöpfenden Regelung zugleich ein Grundrecht verletzt, ist die Verfassungsbeschwerde auch gegen dieses Unterlassen des Gesetzgebers zulässig. Aus der Fassung des § 95 BVerfGG lassen sich keine durchschlagenden Bedenken gegen diese Auffassung herleiten. Nach Sinn und Zweck der Bestimmungen der §§ 90 bis 95 BVerfGG, insbesondere aus § 92 und § 95 Abs.1 BVerfGG ergibt sich, daß Gesetze als "Handlungen" eines Verfassungsorgans, nämlich des Gesetzgebers, angesehen werden sollen (vgl auch BVerfGE_1,208 ff [220

14

Bedenken gegen die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen ein solches (teilweises) Unterlassen lassen sich auch nicht daraus herleiten, daß Gesetze in einer parlamentarischen Demokratie nur durch das Zusammenwirken mehrerer Verfassungsorgane zustande kommen und daß der Gesetzgeber wegen der Notwendigkeit freier Abstimmung und des weiten Spielraums parlamentarischen Ermessens wohl zum Erlaß bestimmter Gesetze, nicht aber zum Erlaß von Gesetzen eines ganz bestimmten Inhalts verpflichtet werden könne. Wenn der Gesetzgeber auch bei seiner politischen Entscheidung über den Inhalt der Gesetze grundsätzlich frei ist, so hat er doch stets das Grundgesetz, im besonderen die Grundrechte, zu beachten. Wenn daher der von einer gesetzlichen Regelung zu erfassende Personenkreis unmittelbar durch die Verfassung bestimmt ist, muß der Gesetzgeber dem bei seiner politischen Entscheidung unter dem Gesichtspunkt des Art.3 Abs.1 GG Rechnung tragen. Die ihn hinsichtlich des gesamten Personenkreises unmittelbar bindende Verpflichtung folgt dann aus Art.3 Abs.1 GG und damit gerade aus einem der tragenden Konstitutionsprinzipien der freiheitlich-demokratischen Verfassung selbst. ]3) 15 ]3[ Eine auf Art.3 GG gestützte Verfassungsbeschwerde, die bei einem entsprechenden Verfassungsauftrag gegen ein teilweises Unterlassen des Gesetzgebers zulässig ist, kann jedoch ihrer Natur nach gemäß § 95 Abs.1 Satz 1 BVerfGG nur zu der Feststellung führen, daß das Grundrecht aus Art.3 Abs.1 GG verletzt worden ist. Dem Gesetzgeber bleibt es als dann überlassen, innerhalb angemessener Frist seine bisherige Regelung auf den unter Verletzung des Art.3 Abs.1 GG übergangenen Personenkreis zu erstrecken oder aber den gesamten von dem Verfassungsauftrag ergriffenen Bereich neu zu regeln, sofern ihm das ohne Verletzung anderer Grundrechte oder Verfassungsbestimmungen noch möglich ist. Weitere Einwirkungsmöglichkeiten auf den Gesetzgeber stehen dem Bundesverfassungsgericht nicht zu. Seine Entscheidung in derartigen Fällen bleibt deshalb gleichwohl nicht eine rein theoretische Deklaration. Von jeher hat man auch bei Feststellungsklagen im Zivilprozeßverfahren gegen den Staat das Feststellungsinteresse in besonders weitgehendem Maße bejaht in der

15

Eine auf Art.3 GG gestützte Verfassungsbeschwerde, die bei einem entsprechenden Verfassungsauftrag gegen ein teilweises Unterlassen des Gesetzgebers zulässig ist, kann jedoch ihrer Natur nach gemäß § 95 Abs.1 Satz 1 BVerfGG nur zu der Feststellung führen, daß das Grundrecht aus Art.3 Abs.1 GG verletzt worden ist. Dem Gesetzgeber bleibt es als dann überlassen, innerhalb angemessener Frist seine bisherige Regelung auf den unter Verletzung des Art.3 Abs.1 GG übergangenen Personenkreis zu erstrecken oder aber den gesamten von dem Verfassungsauftrag ergriffenen Bereich neu zu regeln, sofern ihm das ohne Verletzung anderer Grundrechte oder Verfassungsbestimmungen noch möglich ist. Weitere Einwirkungsmöglichkeiten auf den Gesetzgeber stehen dem Bundesverfassungsgericht nicht zu. Seine Entscheidung in derartigen Fällen bleibt deshalb gleichwohl nicht eine rein theoretische Deklaration. Von jeher hat man auch bei Feststellungsklagen im Zivilprozeßverfahren gegen den Staat das Feststellungsinteresse in besonders weitgehendem Maße bejaht in der Erkenntnis, daß der Staat sich einer von seinen Gerichten festgestellten Rechtspflicht nicht entziehen werde (vgl Stein-Jonas, 18.Aufl 1953, § 256 Anm.III 5 b). Im verfassungsgerichtlichen Verfahren, das ohnehin wegen der beschränkten Vollstreckungsmöglichkeiten die loyale Zusammenarbeit der verschiedenen staatlichen Gewalten geradezu voraussetzt, darf angenommen werden, daß diese "moralische" Wirkung auf den Gesetzgeber dem Spruch des höchsten und gerade zur Auslegung der Verfassung berufenen Gerichts in erhöhtem Maße zukommen wird. Die Frage, ob dann, wenn der Gesetzgeber die verfassungsmäßigen Folgerungen aus einer solchen verfassungsgerichtlichen Feststellung in angemessener Frist nicht ziehen sollte, eine "endgültige" Ablehnung jeder Ergänzungsregelung anzunehmen sei, die dann zur Nichtigkeit auch der positiven Teilregelung gemäß Art.3 Abs.1 GG führen müsse, braucht daher nicht erörtert zu werden."

16

"...Die Verfassungsbeschwerde ist rechtzeitig erhoben worden, da § 93 BVerfGG besondere Fristen nur bei Verfassungsbeschwerden gegen positive Akte der öffentlichen Gewalt vorsieht. Das erklärt sich daraus, daß ein verfassungswidriges Unterlassen fortwirkt, so daß es hier kaum möglich wäre, einen Zeitpunkt für den Beginn einer Rechtsmittelfrist festzulegen. Im vorliegenden Falle wäre übrigens die Beschwerdefrist selbst dann gewahrt, wenn man annehmen wollte, daß sie mit Verkündung der ergänzungsbedürftigen Teilregelung begonnen habe."

 

Auszug aus BVerfG B, 20.02.57, - 1_BvR_441/53 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.13 ff

§§§

57.009 Washingtoner Abkommen
 
  1. BVerfG,     B, 21.03.57,     – 1_BvR_65/54 –

  2. BVerfGE_6,290 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.14; BVerfGG_§_90 Abs.1

 

1) Auch Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen können mit der Verfassungsbeschwerde angefochten werden.

 

2) Durch das Gesetz über die drei Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die deutschen Vermögenswerte in der Schweiz, über die Regelung der Forderungen der Schweizer Eidgenossenschaft gegen das ehemalige Deutsche Reich und zum deutschen Lastenausgleich vom 7.März 1953 (BGBl.II S.15) und das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die deutschen Vermögenswerte in der Schweiz vom 26.August 1952 (BGBl.1953 Il S.17) werden Art.3 und 14 GG nicht verletzt.

§§§

57.010 Reichskonkordat
 
  1. BVerfG,     U, 26.03.57,     – 2_BvG_1/55 –

  2. BVerfGE_6,309 = www.dfr/BVerfGE

  3. BVerfGG_§_64, BVerfGG_§_64 Abs.2; GG_Art.7, GG_Art.20 ABs.1, GG_Art.93 Abs.1 Nr.3, GG_Art.30, GG_Art.70, GG_Art.84, GG_Art.85, GG_Art.123 Abs.3, GG_Art.141

 

1) Die nach § 65 BVerfGG Beteiligten sind zwar befugt, selbständige Anträge zu stellen, und zwar auch dann, wenn hierdurch der Streigegenstand erweitert wird. Immer aber müssen solche Anträge mit dem Antrag des Antragstellers in einem inneren Zusammenhang stehen.

 

2) Das Bundesverfassungsgericht kann zwar über die Gültigkeit eines internationalen Vertrages nicht mit Wirkung zwischen den Vertragschließenden entscheiden; es ist aber nicht gehindert, mit Wirkung für die Beteiligten am Verfassungsrechtsstreit, dh mit innerstaatlicher Wirkung, über die Gültigkeit eines solchen Vertrages zu befinden, wenn dies als Vorfrage für die Entscheidung eines Verfassungsrechtsstreits von Bedeutung ist.

 

3) Auch eine Verletzung von ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Pflichten kann im Verfassungsrechtsstreit gerügt werden. In einem solchen Falle tritt an Stelle der Bezeichnung eines Artikels des Grundgesetzes gemäß § 64 Abs.2 BVerfGG die Bezugnahme auf die ungeschriebene verfassungsrechtliche Pflicht, deren Verletzung geltend gemacht wird.

 

4) a) Das föderalistische Prinzip des Grundgesetzes verlangt nicht stets die Anrufung des Bundesrats, bevor beim Bundesverfassungsgericht die Feststellung der Verletzung einer verfassungsrechtlichen Pflicht eines Landes beantragt werden kann.

b) Der Bundesrat ist nur für die Rüge von Mängeln bei der verwaltungsmäßigen Ausführung eines Bundesgesetzes zwischengeschaltet. Im übrigen ist die unmittelbare Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zulässig.

 

5) Das Grundgesetz kennt nur die in Art.84 und 85 geregeltes ogenannte abhängige Bundesaufsicht, dh die Rüge von Mängeln bei der verwaltungsmäßigen Ausführung von Bundesgesetzen. Art.93 Abs.1 Nr.3 GG macht das Bundesverfassungsgericht allgemein zur Entscheidung von Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder zuständig, wobei nur als eine Gruppe von Meinungsverschiedenheiten diejenigen hervorgehoben werden ("insbesondere"), die sich bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und bei der Ausübung der Bundesaufsicht ergeben können.

 

6) Art.123 Abs.2 GG bedeutet nicht, daß der Landesgesetzgeber verfassungsrechtlich an die Schulbestimmungen des Reichskonkordats gebunden ist, also kein entgegenstehendes Recht setzen darf. Art.123 Abs.2 GG sagt für die Schulbestimmungen des Reichskonkordats vielmehr nur aus, daß sie, sofern sie beim Inkrafttreten des Grundgesetzes noch galten, in Kraft bleiben, obwohl sie einem Vertrag entstammen, der nicht von den nunmehr zur Verfügung über den Gegenstand ausschließlich befugten Ländern geschlossen worden ist.

 

7) Der Annahme einer Pflicht der Länder dem Bund gegenüber, die Schulbestimmungen des Reichskonkordats bei ihrer Gesetzgebung zu beachten, stehen Grundentscheidungen des Grundgesetzes entgegen, die das Verhältnis von Bund und Ländern gerade in diesem Sachzusammenhang gestalten. Diese Grundentscheidungen sind in Art.7, 30, 70 ff GG getroffen. Sie erklären - im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung - die Länder zu ausschließlichen Trägern der Kulturhoheit, die für den Bereich der bekenntnismäßigen Gestaltung des Schulwesens nur durch die Bestimmungen der Art.7, 141 GG begrenzt ist.

§§§

57.011 Kommunalwahlgesetz
 
  1. BVerfG,     B, 07.05.57,     – 2_BvR_2/56 –

  2. BVerfGE_6,376 = www.dfr/BVerfGE

  3. BVerfGG_§_14 Abs.1; GG_Art.38, GG_Art.28

 

1) Wird mit der Verfassungsbeschwerde die Verletzung einer Grundgesetzbestimmung gerügt, die einen für den herkömmlichen Begriff des Wahlrechts typischen Inhalt hat, so handelt es sich um eine Verfassungsbeschwerde aus dem Bereich des Wahlrechts nach § 14 Abs.1 BVerfGG. Wird die Verletzung anderer Normen gerügt, kann eine Verfassungsbeschwerde aus dem Bereich des Wahlrechts dann vorliegen, wenn der angefochtene Hoheitsakt typische Wahlrechtsfragen betrifft.

 

2) Eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Kommunalwahlgesetz mit der Behauptung, das Gesetz verletze die Art.38 und 28 GG, ist nicht zulässig.

§§§

57.012 Haushaltsbesteuerung
 
  1. BVerfG,     B, 07.05.57,     – 1_BvR_289/56 –

  2. BVerfGE_6,386 = www.dfr/BVerfGE

  3. BVerfGG_§_95 Abs.2; GG_Art.6 Abs.1; EStG_§_26

T-57-02

1) Der Einzelne kann aus Art.6 Abs.1 GG ein Abwehrrecht gegen störende und schädigende Eingriffe des Staates in seine Ehe und seine Familie herleiten.

 

2) Zur Auslegung des § 95 Abs.2 BVerfGG.

* * *

T-57-02Aufhebung der Entscheidung iSd § 95 Abs.2 BVerfGG

]1[

"...Muß daher die Verfassungsbeschwerde Erfolg haben, so sind sämtliche Hoheitsakte aufzuheben, die das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art.6 Abs.1 GG verletzt haben. Dies ergibt sich für das Urteil des Finanzgerichtes und des Bundesfinanzhofes eindeutig aus § 95 Abs.2 BVerfGG. Entscheidungen im Sinne dieser Vorschrift sind aber auch Verwaltungsakte. Nach dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht kann sich eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz, eine gerichtliche Entscheidung oder einen Verwaltungsakt richten. Die Vorschrift des § 95 BVerfGG regelt abschließend, was zu geschehen hat, wenn einer Verfassungsbeschwerde gegen eine "Entscheidung" oder gegen ein Gesetz stattgegeben wird. Müßte man § 95 Abs.2 BVerfGG dahin verstehen, daß er nur Gerichtsentscheidungen meint, so würde das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht keine ausdrückliche Bestimmung über eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen einen Verwaltungsakt enthalten. Es sind jedoch keine überzeugenden Gründe ersichtlich, die es sinnvoll erscheinen ließen, daß in diesen Fällen das Bundesverfassungsgericht nach § 95 Abs.1 BVerfGG auf die Feststellung einer Verletzung des Grundgesetzes beschränkt wäre. Eine solche Beschränkung kann nur ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn nämlich ein zur Aufhebung geeigneter Akt der öffentlichen Gewalt überhaupt nicht oder nicht mehr vorliegt. Grundsätzlich muß das Bundesverfassungsgericht nach dem Sinn des § 95 BVerfGG den ein Grundrecht des Beschwerdeführers verletzenden Akt der öffentlichen Gewalt beseitigen.

9

Die Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs.2 BVerfGG, wonach das Bundesverfassungsgericht die Sache an ein zuständiges Gericht zurückverweist, wenn es einer Verfassungsbeschwerde nach Erschöpfung des Rechtsweges stattgibt. Es kann dahingestellt bleiben, ob auch dann zurückverwiesen werden muß, wenn das Bundesverfassungsgericht selbst alle Akte der öffentlichen Gewalt aufgehoben hat, gegen die sich die Verfassungsbeschwerde richtet. Im vorliegenden Falle erscheint es angebracht, die Sache zurückzuverweisen, und zwar an den Bundesfinanzhof, damit dieser Gelegenheit hat, eine etwa notwendige Entscheidung zur Kostenfrage zu treffen."

 

Auszug aus BVerfG B, 07.05.57, - 1_BvR_289/56 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.8 f

§§§

57.013 Homosexuelle
 
  1. BVerfG,     U, 10.05.57,     – 1_BvR_550/52 –

  2. BVerfGE_6,389 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.3 Abs.2, GG_Art.3 Abs.3; StGB_§_175

 

1) Die Strafvorschriften gegen die männliche Homosexualität (§§ 175 f StGB) verstoßen nicht gegen den speziellen Gleichheitssatz der Abs.2 und 3 des Art.3 GG, weil der biologische Geschlechtsunterschied den Sachverhalt hier so entscheidend prägt, daß etwa vergleichbare Elemente daneben vollkommen zurücktreten.

 

2) Die §§ 175 f StGB verstoßen auch nicht gegen das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art.2 Abs.1 GG), da homosexuelle Betätigung gegen das Sittengesetz verstößt und nicht eindeutig festgestellt werden kann, daß jedes öffentliche Interesse an ihrer Bestrafung fehlt.

 

3) Welche Folgen der Tod des Beschwerdeführers für ein anhängiges Verfassungsbeschwerdeverfahren hat, läßt sich nur im Einzelfall unter Berücksichtigung der Art des angegriffenen Hoheitsaktes und des Standes des Verfassungsbeschwerdeverfahrens entscheiden.

§§§

57.014 Abgeordneter
 
  1. BVerfG,     B, 14.05.57,     – 2_BvR_1/57 –

  2. BVerfGE_6,445 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.38, GG_Art.33; BVerfGG_§_90

 

1) Die Anführung der Art.38 und 33 GG in § 90 BVerfGG meint diese Artikel nicht in ihrem ganzen Umfang, sondern nur soweit sie in ähnlicher Weise wie die übrigen Artikel des Grundgesetzes, in die sie hier eingereiht sind, Individualrechte garantieren.

 

2) Die Frage, ob ein Abgeordneter infolge des Verbots seiner Partei sein Mandat verloren hat, betrifft seinen verfassungsrechtlichen Status; sie kann daher nicht Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein.

§§§

57.015 Berlin-Vorbehalt
 
  1. BVerfG,     B, 21.05.57,     – 2_BvL_7/56 –

  2. BVerfGE_7,1 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.23 S.1, GG_Art.127, GG_Art.144 Abs.2; StGB_§_175

 

1) Berlin ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland.

 

2) Das Grundgesetz gilt in und für Berlin, soweit nicht aus der Besatzungszeit stammende und noch heute aufrecht erhaltene Maßnahmen der Drei Mächte seine Anwendung beschränken.

 

3) Durch den Vorbehalt der Militärgouverneure bei der Genehmigung des Grundgesetzes ist ausgeschlossen, daß Bundesorgane unmittelbar Staatsgewalt im weitesten Sinne, einschließlich Gerichtsbarkeit, über Berlin ausüben, soweit die Drei Mächte dies nicht inzwischen für einzelne Bereiche zugelassen haben.

 

4) Da eine solche Ausnahme bisher für das Bundesverfassungsgericht nicht gemacht worden ist, ist das Bundesverfassungsgericht derzeit noch nicht zuständig, auf Vorlage eines Gerichts über die Vereinbarkeit von Berliner Gesetzen mit dem Grundgesetz zu entscheiden.

§§§

57.016 Bayerisches Ärztegesetz
 
  1. BVerfG,     B, 28.05.57,     – 2_BvO_5/56 –

  2. BVerfGE_7,18 = www.dfr/BVerfGE

  3. BVerfGG_§_86 Abs.2; GG_Art.125 Nr.2

 

1) Kann ein Gericht über die Fortgeltung einer Rechtsnorm als Bundesrecht nur entscheiden, indem es sich entweder zu einer beachtlichen in der Literatur vertretenen Auffassung oder zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichts eines Landes in Gegensatz setzt, so ist die zu entscheidende Frage streitig im Sinne des § 86 Abs.2 BVerfGG und muß, wenn sie für die Entscheidung erheblich ist, dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden.

 

2) Als Abänderung von Reichsrecht im Sinne des Art.125 Nr.2 GG ist jede Verfügung des Landesgesetzgebers über früheres Reichsrecht anzusehen, dessen Gegenstand zur konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes gehört. Auch die Ersetzung einer reichsrechtlichen Gesamtregelung durch eine landesrechtliche Gesamtregelung stellt sich demnach als "Abänderung" von Reichsrecht im Sinne des Art.125 Nr.2 GG dar.

§§§

57.017 Verjährung-Pressedelikte
 
  1. BVerfG,     B, 04.06.57,     – 2_BvL_17/56 –

  2. BVerfGE_7,29 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.75 Nr.2, GG_Art.74 Nr.1; RPresseG_§_22; StGB_§_67 Abs.1; EGStGB_§_2

 

1) Die Regelung der Verjährung für Pressedelikte gehört im Sinne der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung zum Gebiet der "allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse" (Art.75 Nr.2 GG), nicht zum Gebiet des Strafrechts oder des gerichtlichen Verfahrens (Art.74 Nr.1 GG).

 

2) Einzelne Vorschriften aus einer reichsgesetzlichen, erschöpfenden Regelung eines Rechtsgebiets, für das dem Bundesgesetzgeber nur eine Rahmenkompetenz zusteht, gelten nicht als Bundesrecht fort, selbst wenn sie vom Bundesgesetzgeber im Zusammenhang eines Rahmengesetzes erlassen werden könnten.

 

3) § 22 des Reichsgesetzes über die Presse vom 7.Mai 1874 (RGBI.S.65) in der Fassung des Gesetzes vom 28.Juni 1935 (RGBI.I S.839) ist Landesrecht geworden.

 

4) Soweit § 67 Abs.1 StGB seit dem Gesetz vom 28.Juni 1935 (RGBI.I S.839) auch die Verjährung der durch die Presse begangenen Verbrechen regelt, enthält er eine Norm des Presserechts, die Landesrecht geworden ist. 4) Soweit § 67 Abs.1 StGB seit dem Gesetz vom 28.Juni 1935 (RGBI.I S.839) auch die Verjährung der durch die Presse begangenen Verbrechen regelt, enthält er eine Norm des

 

5) § 2 EGStGB setzt die in einer bundesstaatlichen Verfassung vorgenommene Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeit zwischen Bund und Gliedstaaten und die dort festgelegte Rangfolge der Rechtsquellen voraus. Sein Anwendungsbereich ist also wandelbar und muß auf die jeweils geltende bundesstaatliche Verfassung bezogen werden.

§§§

57.018 Listenwahl
 
  1. BVerfG,     B, 03.07.57,     – 2_BvR_9/56 –

  2. BVerfGE_7,63 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.38; BWahlG_§_48 Abs.1 S.2

 

1) Das System der starren Liste im Bundeswahlgesetz vom 7.Mai 1956 ist mit den in Art.38 GG enthaltenenWahlrechtsgrundsätzen der Unmittelbarkeit, der freien Wahl und der Wahlrechtsgleichheit vereinbar.

 

2) Der Grundsatz der unmittelbaren Wahl ist gewahrt, wenn das Wahlverfahren so geregelt ist, daß jede abgegebene Stimme bestimmten oder bestimmbaren Wahlbewerbern zugerechnet wird, ohne daß nach der Stimmabgabe noch eine Zwischeninstanz nach ihrem Ermessen die Abgeordneten auswählt.

 

3) § 48 Abs.1 Satz 2 des Bundeswahlgesetzes, nach dem bei der Nachfolge für Ausgeschiedene Abgeordnete diejenigen Listenbewerber unberücksichtigt bleiben, die nach Aufstellung der Landesliste aus ihrer Partei ausgeschieden sind, verstößt nicht gegen den Grundsatz der unmittelbaren Wahl.

§§§

57.019 Nachrücker
 
  1. BVerfG,     B, 09.07.57,     – 2_BvL_30/56 –

  2. BVerfGE_7,77 = www.dfr/BVerfGE

  3. (SH) KWG_§_41; LS_Art.3

 

§ 41 Abs.2 des schleswig-holsteinischen Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes vom 29.Januar 1955, nach dem die Parteien oder Parteiengruppen für den Fall, daß ein gewählter Vertreter die Wahl ablehnt oder durch Tod oder Verlust seines Sitzes ausscheidet, die Reihenfolge des Nachrückens der Ersatzmänner aus der von ihnen eingereichten Gemeinde- oder Kreisliste nach der Stimmabgabe der Wähler ändern können, ist mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht vereinbar.

§§§

57.020 Hundesteuergesetz
 
  1. BVerfG,     B, 24.07.57,     – 1_BvL_23/52 –

  2. BVerfGE_7,89 = www.dfr/BVerfGE

  3. (Hb) HundStG_§_27, HundeStG_§_28 Abs.2; GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.3 Abs.1

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§§ 27 und 28 Abs.2 des hamburgischen Hundesteuergesetzes vom 9.November 1950 (GVBl.I S.203) sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

57.021 Sendezeit
 
  1. BVerfG,     B, 03.09.57,     – 2_BvR_7/57 –

  2. BVerfGE_7,99 = www.dfr/BVerfGE

  3. BVerfGG_§_90 Abs.1, BVerfGG_§_95 Abs.1 S.1, BVerfGG_§_95 Abs.2; GG_Art.3

 

1) Einer politischen Partei steht der Weg der Verfassungsbeschwerde offen, wenn sie behauptet, durch eine Verwaltungsmaßnahme in ihrem Recht auf gleichberechtigte Benutzung einer Anstalt des öffentlichen Rechts verletzt zu sein.

 

2) Rundfunkanstalten des öffentlichen Rechts können als Träger öffentlicher Gewalt hoheitlich tätig werden; bei der Zuteilung und Verweigerung von Sendezeiten an politische Parteien übt die Rundfunkanstalt öffentliche Gewalt im Sinne des § 90 Absatz 1 BVerfGG aus.

 

3) Wenn das Bundesverfassungsgericht einer Verfassungsbeschwerde stattgibt, so kann es nicht über die Beseitigung der Beschwer hinaus ( § 95 Absatz 1 Satz 1, Absatz 2 BVerfGG) dem Träger der öffentlichen Gewalt ein bestimmte s Verhalten aufgeben.

 

4) Artikel 3 GG wird verletzt, wenn Rundfunkanstalten des öffentlichen Rechts, die politischen Parteien Sendezeit für die Wahlpropaganda einräumen, einzelne Parteien davon ausschließen, obwohl Landeslisten für diese Parteien im Sendebereich zugelassen sind. 4) Artikel 3 GG wird verletzt, wenn Rundfunkanstalten des öffentlichen

 

5) Die Anwendung des Grundsatzes der gleichen Wettbewerbschancen der Parteien im Bereich der Wahlpropaganda durch den Rundfunk erfordert nicht, daß alle Parteien in gleichem Umfange zu Wort kommen müssen; die den einzelnen Parteien zuzuteilenden Sendezeiten können nach der Bedeutung der Parteien verschieden bemessen werden.

§§§

57.022 Bayerische Flugblätter
 
  1. BVerfG,     B, 03.09.57,     – 1_BvR_194/52 –

  2. BVerfGE_7,111 = www.dfr/BVerfGE

  3. StGB_§_366 Nr.10; (By) PolStGB_§_2 Nr.6; GG_Art.2 Abs.1

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Das Urteil des Amtsgerichts Straubing vom 26.Juli 1951 - Csc 1924 a - d/51 - und der Beschluß des 1.Strafsenats des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 11. März 1952 - RevReg Nr.III 915/1951 - verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art.2 Abs.1 GG und werden insoweit aufgehoben.

Die Sache wird an das Bayerische Oberste Landesgericht zurückverwiesen.

Die §§ 1 und 2 der bayerischen Oberpolizeilichen Vorschriften über die öffentliche Verbreitung von Plakaten, Flugblättern und Flugschriften in der Fassung vom 8.Mai 1929 (GVBl.S.58) waren vom 7. September 1949 an unwirksam, soweit sie sich auf das Verhalten von Teilnehmern am Straßenverkehr bezogen.

§§§

57.023 Personalvertretung
 
  1. BVerfG,     B, 03.10.57,     – 2_BvL_7/56 –

  2. BVerfGE_7,120 = www.dfr/BVerfGE

  3. BetrVG_§_88 Abs.2

 

1) Durch § 88 Abs.2 des Betriebsverfassungsgesetzes des Bundes wurde ein Land vor Erlaß des Personalvertretungsgesetzes des Bundes nicht gehindert, sein Recht über die Personalvertretungen in den öffentlichen Verwaltungen und Betrieben des Landes zu ändern.

 

2) Das Recht der Personalvertretung bildet einen Teil des öffentlichen Dienstrechtes. Der Bund kann also die Personalvertretung im öffentlichen Dienst der Länder nur durch Rahmenvorschriften regeln.

§§§

57.024 Dienstvergehen
 
  1. BVerfG,     B, 16.10.57,     – 1_BvL_13/56 –

  2. BVerfGE_7,129 = www.dfr/BVerfGE

  3. G_131_§_9 Abs.1 S.1; BBG_§_12, BBG_§_13

 

1) Soweit das förmliche Disziplinarverfahren nach § 9 Abs.1 Satz 1 G 131 "Dienstvergehen" aus der Zeit vor Inkrafttreten des G 131 betrifft , die von Beamten zur Wiederverwendung und ihnen gleichstehenden Berufssoldaten begangen worden sind, handelt es sich um ein nachträgliches individuelles Ausleseverfahren. Die Rechtsstellung eines Betroffenen in diesem Verfahren entspricht sachlich derjenigen eines Beamten, dessen Ernennung nach §§ 12, 13 BBG zurückzunehmen ist.

 

2) Die Rechte und Chancen aus dem G 131 sind von vornherein mit dem in § 9 Abs.1 Satz 1 G 131 liegenden Vorbehalt gewährt, daß sie in einem mit besonderen Garantien versehenen gerichtlichen Verfahren im Einzelfalle nachträglich aberkannt werden können.

 

3) Das Gesetz vom 5.August 1955 (BGBI.I S.497) ist weder ein "Einzelfall"- noch ein "Einzelperson"-Gesetz.

 

4) Ergänzende gesetzliche Regelungen, die Irrtümer des Gesetzgebers mit Rückwirkung beseitigen und Lücken schließen wollen, sind unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Grundgesetz auch dann vereinbar, wenn sie in Rechts positionen eingreifen, die durch das ergänzte Gesetz gewährt waren.

§§§

57.025 Hauptamtlicher Bürgermeister
 
  1. BVerfG,     B, 17.10.57,     – 1_BvL_1/57 –

  2. BVerfGE_7,155 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1 + 3, GG_Art.33 Abs.5; (SH) GemO_§_54

T-57-03

1) Für den Typus des Beamten auf Zeit gibt es besondere hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums im Sinne von Art.33 Abs.5 GG.

Abs.36

2) Die besondere Stellung der leitenden Kommunalbeamten (Bürgermeister) war von jeher vom Gemeindeverfassungsrecht mit geprägt.

Abs.48

3) Die vorzeitige Abwahl des hauptamtlichen Bürgermeisters erklärt sich aus einer Entwicklung des Gemeindeverfassungsrechts und seiner Einwirkung auf das Dienstrecht des Bürgermeisters. Sie ist in der Ausgestaltung, die sie in der Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein vom 24.Januar 1950 gefunden hat, mit Art.33 Abs.5 GG vereinbar.

Abs.39

LB 4) Zur besonderen Stellung des Bürgermeisters als kommunalem Zeitbeamten.

Abs.43

LB 5) Zur Tendenz des Kommunalverfassungsrechts unter unter Zurückdrängung des bürokratisch-autoritativen Elementes dem Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Gemeindebürger wieder erhöhte Geltung zu verschaffen.

Abs.45

LB 6) Zur wachsenden Bedeutung der Gleichgestimmtheit zwischen dem Gemeindeparlament und dem kommunalen Hauptverwaltungsbeamten.

Abs.52

LB 7) § 54 Abs.1 und 2 SchlHGO verstoßen weder gegen Art.3 Abs.1 noch gegen Art.3 Abs.3 GG.

* * *

T-57-01Zulässigkeit der Abwahl

25

"Die Bedenken des Landesverwaltungsgerichts gegen die Grundgesetzmäßigkeit des § 54 Abs.1 und 2 SchlHGO sind nicht begründet.

26

1. Das Land Schleswig-Holstein hatte zur Zeit der Verkündung der Schleswig-Holsteinischen Gemeindeordnung die Befugnis zur Gesetzgebung nicht nur für das Gemeinderecht, sondern auch für das Beamtenrecht.

27

Der Bund darf für die Rechtsverhältnisse der Landes- und Kommunalbeamten lediglich Rahmenvorschriften erlassen (Art.75 Nr.1 GG); von diesem Recht hat er erst durch das Beamtenrechtsrahmengesetz vom 1.Juli 1957 (BGBl I S.667) Gebrauch gemacht. Das Deutsche Beamtengesetz von 1937 kann nicht zum Bundesrahmenrecht für Landesbeamte geworden sein, weil es eine Vollregelung der Rechtsverhältnisse für alle deutschen Beamten gab (BVerfGE_4,115 <129, 331>; BVerfGE_4,219 <238>). Dann aber konnten auch einzelne Vorschriften des Deutschen Beamtengesetzes, wie etwa § 29 (Beamte auf Zeit) oder § 44 (politische Beamte), weder ihrem Wortlaut noch ihrem grundsätzlichen Gehalt nach als Bundesrahmenrecht fortgelten, selbst wenn sie -- für sich genommen -- Grundsatzcharakter trugen, also in einem Rahmengesetz gemäß Art.75 GG hätten getroffen werden dürfen (BVerfG, Beschl vom 4.Juni 1957 -- 2 BvL 17/56 -)

28

Die Zuständigkeit des Landes, Bestimmungen wie § 54 Abs.1 und 2 SchlHGO zu erlassen, war daher in dem hier maßgebenden Zeitraum durch bundesrechtliche Vorschriften außerhalb des Grundgesetzes nicht beschränkt. Ob das Beamtenrechtsrahmengesetz die Bestimmungen berührt hat und berühren durfte, ist nicht zu prüfen.

29

2. § 54 Abs.1 und 2 SchlHGO ist inhaltlich mit Art.33 Abs.5 und Art.3 GG vereinbar.

30

a) Art.33 Abs.5 GG gebietet nicht, die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums unter allen Umständen zu beachten, sondern nur, sie bei der Regelung des Rechts des öffentlichen Dienstes zu "berücksichtigen". Diese zurückhaltende Fassung läßt dem Gesetzgeber einen weiten Raum zur Fortentwicklung des Beamtenrechts im Rahmen des gegenwärtigen Staatslebens (vgl BVerfGE_3,58 <137>). Ob die verfassungsrechtlichen Grenzen durch eine neue beamtenrechtliche Norm überschritten sind, kann sich daher weder allein aus dem Vorhandensein oder Fehlen von Parallelbestimmungen im bisherigen Beamtenrecht noch aus der Verbesserung oder Verschlechterung der Stellung einer Beamtengruppe ergeben.

31

Die Antwort auf diese Frage läßt sich nur gewinnen, wenn man erwägt, welche Funktion dem öffentlichen Dienst nach dem Grundgesetz zukommt. In Art.33 Abs. 2 wird zunächst jedem Deutschen nach "Eignung, Befähigung und fachlichen Leistungen" gleicher Zugang zu jedem öffentlichen Amt gewährleistet; nach Absatz 3 soll, was schon aus der allgemeinen Regel des Art.3 Abs.3 folgen würde, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein, und in Absatz 4 wird bestimmt, daß die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen sei, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. Diese Grundsätze ergeben im Zusammenhang mit Absatz 5, daß das Grundgesetz in Anknüpfung an die deutsche Verwaltungstradition im Berufsbeamtentum eine Institution sieht, die, gegründet auf Sachwissen, fachliche Leistung und loyale Pflichterfüllung, eine stabile Verwaltung sichern und damit einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatsleben gestaltenden politischen Kräften darstellen soll.

32

Die Beratungen im Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzung, aus denen die grundgesetzliche Gewährleistung des Berufsbeamtentums hervorgegangen ist, bestätigen das. So begründete Dr Strauß (12.Sitzung des Ausschusses für Zuständigkeitsabgrenzung, Wortprotokoll S.24) die Institutionalisierung des Berufsbeamtentums damit, daß anders Legalität und Neutralisierung der Verwaltung nicht erreicht werden könnten und die Gefahr bestehe, daß Parteipolitik zu weitgehend auch in solche Verwaltungszweige getragen werde, wo sie nicht hingehöre. Der Vorsitzende des Ausschusses, Wagner, betonte die Bedeutung des Berufsbeamtentums "im Interesse der Stabilisierung des Staates" (aaO S.23), und Dr Reif rechtfertigte die besondere verfassungsrechtliche Stellung der Beamten mit der staatlichen Notwendigkeit "ihrer inneren Neutralität gegenüber den widerstreitenden Interessen" (aaO S.28).

33

Das Berufsbeamtentum kann die ihm zufallende Funktion im Staatsleben nur erfüllen, wenn es rechtlich und wirtschaftlich gesichert ist. Dazu gehört auch und vor allem, daß der Beamte nicht nach freiem Ermessen politischer Gremien aus seinem Amt entfernt werden kann, denn damit entfiele die Grundlage für seine Unabhängigkeit. Dem tragen die geltenden Beamtengesetze Rechnung, indem sie gerade die Beendigung des Beamtenverhältnisses nur unter genau geregelten rechtlichen Voraussetzungen zulassen.

34

b) Die Sicherung gegen vorzeitige Beendigung des Beamtenverhältnisses kann jedoch nicht für alle Beamtengruppen gleich sein .

35

Nach Art.33 Abs.4 GG sollen hoheitliche Befugnisse in der Regel Personen übertragen werden, die in einem öffentlich- rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen, also Beamte sind; ihr Dienstrecht ist gemäß Absatz 5 unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu ordnen. Innerhalb des Beamtentums hat es seit je auch den Typus des "Beamten auf Zeit" gegeben, der in der Regel zugleich Wahlbeamter ist; auch die neuesten Beamtengesetze behalten ihn bei (§ 5 Abs.4 BBG, §§ 95 ff BRRG). Auch für die Rechtsverhältnisse dieser Beamten gibt es "hergebrachte Grundsätze". Da aber Beamte dieses Typs in der staatlichen Verwaltung nur ausnahmsweise verwendet werden, beschränken sich die Beamtengesetze regelmäßig auf wenige Vorschriften und verweisen im übrigen auf die jeweils geltende Einzelgesetzgebung. Zeitbeamte gibt es vor allem in der Kommunalverwaltung und bei Körperschaften des öffentlichen Rechts. Das Recht dieses Verwaltungsbereichs hat sich in den deutschen Ländern sehr verschieden entwickelt, war häufig nicht einmal innerhalb des einzelnen Landes gleich. So findet sich im Beamtenrecht dieser Korporationen eine größere Zahl von Varianten als im staatlichen Beamtenrecht. Daraus folgt, daß auch der an Art.33 Abs.5 GG gebundene Gesetzgeber hier eine noch größere Gestaltungsfreiheit besitzt, als sie ihm nach dem oben Gesagten bereits für das allgemeine Beamtenrecht zukommt. Zu fordern ist nur, daß die für die Zeitbeamten im Einzelfall getroffene Regelung nach der Art der Dienstleistung, den von der Regel abweichenden tatsächlichen und rechtlichen Elementen des Dienstes sachgerecht erscheint, sich also nicht grundsätzlich und ohne vernünftigen Grund von allgemeinen Regeln des Beamtenrechts löst.

36

c) Innerhalb der Gruppe der Beamten auf Zeit nehmen die hauptamtlichen Bürgermeister der Gemeinden eine besondere Stellung ein. Sie beruht auf der Grenzposition dieser Amtsträger zwischen Beamtenrecht und Kommunalrecht. Ihre Stellung in der Gemeinde wird in erster Linie durch das Gemeindeverfassungsrecht bestimmt, und dieses beeinflußt damit notwendig auch ihr Dienstrecht. Der Bürgermeister vertritt die Gemeinde in einem ganz anderen, viel unmittelbareren Sinn als je ein anderer Beamter seinen "Dienstherrn": durch ihn tritt die Gemeinde handelnd erst in Erscheinung. Bei Erfüllung der kommunalen Aufgaben kann er weitgehend frei und schöpferisch gestalten und so der ganzen Gemeindeverwaltung sein persönliches Gepräge geben. Aber gerade das kann er nur, wenn er in stetem Einvernehmen mit dem gemeindlichen Willensbildungsorgan, der Gemeindevertretung, bleibt; auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit ihr ist er angewiesen. So ähnelt seine Stellung in der Gemeinde der der Regierung im parlamentarischen System; wie sie bedarf er der Vertrauensgrundlage in der Volksvertretung.

37

d) Diese besondere Stellung der hauptamtlichen Bürgermeister hat seit jeher die Gestaltung ihres Dienstrechts beeinflußt.

38

Bereits das Preußische Kommunalbeamtengesetz vom 30.Juli 1899 (GS S.141), das im allgemeinen bestrebt war, die Rechtsverhältnisse der Kommunalbeamten denen der Staatsbeamten anzugleichen, nahm die leitenden Kommunalbeamten weitgehend von seinen Regelungen aus (zB § 14). Bis in die Gegenwart ist es dabei geblieben, daß das Dienstrecht dieser Beamten nur zum Teil in den Beamtengesetzen, zu einem erheblichen Teil aber in den Kommunalverfassungsgesetzen geregelt wird.

39

Am stärksten äußert sich die Einwirkung des Gemeindeverfassungsrechts auf das Dienstrecht der hauptamtlichen Bürgermeister in gewissen traditionellen inhaltlichen Abweichungen von hergebrachten Grundsätzen des allgemeinen Beamtenrechts: Zunächst gibt es für sie keine Laufbahnvorschriften (vgl zB die Ausnahme von § 28 Abs.2 Ziff.2 DBG bei der Verweisung in § 29 Abs.1 Satz 2 DBG); weder bestimmte Vorbildung noch die Ableistung eines bestimmten Vorbereitungsdienstes oder das Bestehen bestimmter Prüfungen ist vorgeschrieben, vielmehr begnügen sich die Gesetze, soweit sie überhaupt persönliche Voraussetzungen für das Amt des Bürgermeisters aufstellen -- ähnlich wie § 51 Abs.2 SchlHGO --, mit allgemein gehaltenen Klauseln, etwa der, daß der Bewerber die für sein Amt "erforderliche Eignung besitzen" oder über die für sein Amt "erforderliche Eignung, Befähigung und Sachkunde" und eine "ausreichende Erfahrung" verfügen müsse. Das Amt des hauptamtlichen Bürgermeisters soll den Angehörigen aller Schichten der Bevölkerung offenstehen, sofern sie das Vertrauen der Gemeinde genießen (vgl zB § 42 Abs.3 der Hessischen Gemeindeordnung vom 5.Februar 1952, GVBL S.11; § 81 Abs.3 Satz 1 der Niedersächsischen Gemeindeordnung vom 4.März 1955, GVBL S.55 ; § 49 Abs.1 Satz 2 der Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28.Oktober 1952, GVBl S.283). Entscheidend für seine Berufung ist dementsprechend die Wahl durch die Gemeindevertretung oder durch das Gemeindevolk selbst, also ein Akt demokratischer Willensbildung, der erneuert werden muß, wenn der Bürgermeister nach Ablauf seiner Amtsperiode im Amt bleiben soll.

40

Es liegt auf der Hand, daß der hauptamtliche Bürgermeister niemals in gleicher Weise und in gleichem Maße unabhängig sein kann wie der Beamte im allgemeinen; sowohl die sachliche Notwendigkeit guter Zusammenarbeit wie auch der Wunsch, wiedergewählt zu werden, bringen ihn notwendig in eine gewisse Abhängigkeit von der Gemeindevertretung. Mag auch die Rechtsfigur des Abwählens vor Ablauf der Wahlzeit dem älteren Recht fremd gewesen sein l, so bedeutet doch schon die Berufung ins Amt durch Wahl und die zeitliche Begrenzung des Amtes eine Schmälerung der Unabhängigkeit, die sich im übrigen auch für den Zeitbeamten aus der grundsätzlichen Anwendung der für die Beamten auf Lebenszeit geltenden Vorschriften ergibt.

41

Ein verwandtes Problem stellte sich für den Gesetzgeber bei der Ordnung des Dienstrechts für die sogenannten "politischen Beamten" (§ 44 DBG, § 36 BBG), die nach der Art ihrer Aufgaben in besonderer Weise des politischen Vertrauens der Staatsführung bedürfen, in fortwährender Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung stehen müssen. Ihr Kreis ist zwar im wesentlichen gleichbleibend, aber doch im einzelnen nicht ein für allemal gegeben, sondern wird jeweils vom Gesetzgeber bestimmt (vgl § 44 DBG und § 36 BBG, § 31 BRRG). Hier ist es "hergebrachter Grundsatz", daß sie im Gegensatz zu anderen Beamten ohne Angabe von Gründen jederzeit unter erheblicher Verkürzung ihrer Bezüge in den "Wartestand" ("einstweiligen Ruhestand") versetzt, dh aus ihrer Amtsstellung abberufen werden können, wobei ihre Versorgung jedoch günstiger gestaltet ist als beim endgültigen Ruhestand.

42

e) In welchem Maße auch die im bisherigen Dienstrecht wirksamen Grundsätze des Berufsbeamtentums für solche besonderen Beamtengruppen im Laufe der Entwicklung modifiziert werden dürfen, kann von den verschiedensten Umständen abhängen für das Dienstrecht der hauptamtlichen Bürgermeister ist naturgemäß die Entwicklung des Kommunalverfassungsrechts und die Wirklichkeit der gemeindlichen Selbstverwaltung von entscheidender Bedeutung.

43

Kommunalverfassungsrecht und -wirklichkeit sind seit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes von der Tendenz bestimmt, unter Zurückdrängung des bürokratisch-autoritativen Elementes dem Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Gemeindebürger wieder erhöhte Geltung zu verschaffen. In den neuen Gemeindeordnungen hat diese Tendenz ihren Niederschlag vor allem in der erweiterten Zuständigkeit der Gemeindevertretung gefunden (vgl zB die grundsätzliche Allzuständigkeit der Gemeindevertretung in § 9 Abs.1 der Hessischen Gemeindeordnung; § 44 Abs.1 der Niedersächsischen Gemeindeordnung; §§ 7, 28 Abs.1 der Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen; §§ 7 Abs.1, 27 Abs.1 der Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein).

44

Zugleich wächst in der Verfassungswirklichkeit der kommunalen Körperschaften Bedeutung und Einfluß der politischen Parteien, und die Arbeit in den Gemeindeparlamenten wird -- obwohl dort nicht große Politik getrieben, sondern im wesentlichen verwaltet wird -- im allgemeinen Bewußtsein als echte politische Tätigkeit gewertet (vgl BVerfGE_6,367 <373>).

45

Die Verstärkung des demokratisch-parlamentarischen Momentes in der Selbstverwaltung bringt es mit sich, daß die Gleichgestimmtheit zwischen der Gemeindevertretung und dem leitenden Kommunalbeamten an Bedeutung gewinnt. § 54 Abs.1 und 2 SchlHGO ist Ausdruck dieser Entwicklung. Er eröffnet der Gemeindevertretung die Möglichkeit, den Bürgermeister abzuberufen, wenn sie -- sei es infolge einer Änderung der politischen Zusammensetzung, sei es aus anderen Gründen -- das Vertrauen zu ihm verliert, ohne daß es anderer Gründe als eben dieses Verlustes des Vertrauens bedarf. Die Stellung des Bürgermeisters ist also im Sinne der Stellung eines politischen Beamten geregelt, der stets vom Vertrauen der maßgebenden politischen Macht abhängt, oder im Sinne der Stellung eines Regierungschefs, der durch Mißtrauensvotum des Parlaments abberufen werden kann.

46

Die vorgelegte Bestimmung -- der übrigens eine inhaltlich gleiche Regelung für die leitenden hauptamtlichen Kommunalbeamten der Städte (§ 72 SchlHGO) und für den Landrat (§ 54 der Landkreisordnung für Schleswig-Holstein vom 27.Februar 1950, GVBl S.49) entspricht -- ist nicht ohne verwandte Bestimmungen in neueren Gesetzen anderer Länder. So trifft § 46 Abs.3 der Verfassung für die Stadt Bremerhaven vom 4.November 1947 (GVBL Bremen S.291) eine gleiche Regelung; ferner sehen § 76 der Hessischen Gemeindeordnung vom 25. Februar 1952 (GVBl S.11), § 49 der Hessischen Landkreisordnung vom gleichen Tage (GVBl S.37) sowie § 74 der Niedersächsischen Gemeindeordnung vom 4.März 1955 (GVBl S.55) ebenfalls für den leitenden Kommunalbeamten den Verlust des Amtes durch Abwahl während der Amtsperiode vor, ohne allerdings eine Kürzung der Bezüge damit zu verbinden. Die Einführung einer gleichen Bestimmung für das Amt des Oberkreisdirektors wird zur Zeit in Niedersachsen erörtert (Entwurf einer Niedersächsischen Landkreisordnung, § 54/1 in der Fassung des Ausschusses für innere Verwaltung, Niedersächsischer Landtag, Dritte Wahlperiode, Drucks Nr.659; StenBer 46.Sitzung des Niedersächsischen Landtages vom 27.Juni 1957, S.2691 bis 2718).

47

f) Die Länder sind in der Kommunalgesetzgebung autonom. Es steht ihnen also frei, die Gemeindeverfassung in dem vom Grundgesetz gesteckten Rahmen nach demokratisch- parlamentarischen Prinzipien zu organisieren, und ebenso konnten sie darüber entscheiden, wie weit sie die "Politisierung" der Gemeindeverwaltung bei der Gestaltung des Dienstrechts der hauptamtlichen Bürgermeister berücksichtigen wollten. Die Einführung des Instituts der vorzeitigen Abwahl des Bürgermeisters, des Gegenstücks zu seiner Berufung durch den politischen Willensakt der Wahl, stellt nur eine Fortentwicklung des Hergebrachten dar, wie sie Art.33 Abs.5 GG zuläßt. Die grundgesetzliche Gewährleistung des Berufsbeamtentums steht ihr nicht entgegen.

48

Aber auch dadurch, daß der Abgewählte zugleich in den Ruhestand -- nicht wie die politischen Beamten in den wirtschaftlich etwas günstigeren Wartestand -- versetzt wird, ist Art.33 Abs.5 GG nicht verletzt. Abgesehen davon, daß die versorgungsrechtliche Behandlung der vorzeitig aus dem Amt entfernten politischen Beamten allgemein im Fluß ist, muß in Betracht gezogen werden, daß der hauptamtliche Bürgermeister -- im Gegensatz zur großen Mehrzahl der traditionellen politischen Beamten nicht vielseitig verwendbarer Laufbahnbeamter ist; er hat seine Vorbildung und Lebensarbeit nicht von Anfang an auf die Stellung als Beamter ausgerichtet, so daß es für ihn keine Wiederverwendung gibt, auf die er "warten" könnte. Auch erreicht er, da er vom ersten Tage seiner Amtszeit an ruhegehaltsberechtigt ist, in verhältnismäßig kurzer Zeit -- der Beschwerdeführer zB nach etwa zweijährigem Dienst -- eine lebenslängliche Versorgung. Daß diese Versorgung, selbst wenn sie nur den Mindestsatz von 35 Prozent der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge ausmacht, der Fürsorgepflicht des Dienstherrn nicht genügt, kann schon deshalb nicht anerkannt werden, weil jeder Beamte- etwa durch Krankheit -- in die Lage kommen kann, mit der Mindestpension in den Ruhestand zu gehen, und diese Mindestpension hergebrachtermaßen als ausreichende Erfüllung der Alimentationspflicht angesehen wird.

49

Verfassungsrechtlich entscheidend ist allein die Frage, ob bei dem Versuch, zwischen der Gewährleistung persönlicher Unabhängigkeit einerseits und der Sicherung der Gleichgestimmtheit mit der Gemeindevertretung andererseits einen Mittelweg zu finden, die Grenze so weit zugunsten des politischen Postulats verschoben ist, daß der auch für politische Beamte hergebrachte Grundsatz eines Mindestmaßes an Unabhängigkeit durch wirtschaftliche Sicherung im Wesensgehalt verletzt ist. Das muß verneint werden.

50

Die Erfordernisse wiederholter Abstimmung und qualifizierter Mehrheiten verhüten übereilte, von "Stimmungen" diktierte Entscheidungen. Auch die finanzielle Belastung der Gemeinde mit der lebenslänglichen Pensionszahlung erschwert die Abwahl. So ist die Gewähr gegeben, daß eine solche Maßnahme wohl überlegt und nur beschlossen wird, wenn die Gemeindevertretung überzeugt ist, daß die finanzielle Belastung, die sie den Bürgern aufbürdet, aufgewogen wird durch die Befreiung von der Zusammenarbeit mit einem Bürgermeister, dem sie nicht mehr vertraut.

51

Die derart für die Gemeindevertretung errichteten gesetzlichen Hemmnisse einer Abwahl in Verbindung mit der Sicherung des Beamten durch ein Ruhegeld gewährleisten dem hauptamtlichen Bürgermeister ein solches Mindestmaß an Unabhängigkeit von politischen Instanzen, daß -- angesichts seiner Grenzposition zwischen Beamten- und Kommunalrecht -- die Unvereinbarkeit der zu prüfenden Vorschriften mit Art.33 Abs.5 GG nicht festgestellt werden kann.

52

g) Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich ohne weiteres, daß § 54 Abs.1 und 2 SchlHGO auch weder gegen Art.3 Abs.1 noch gegen Art.3 Abs.3 GG verstößt.

53

Wenn nach schleswig-holsteinischem Landesbeamtenrecht nicht bei allen Zeitbeamten eine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand durch Abwahl vorgesehen ist, so findet die abweichende Behandlung der Bürgermeister in der Verknüpfung ihres Dienstrechts mit dem Gemeindeverfassungsrecht ihre Rechtfertigung. Es wird nicht Gleiches ungleich behandelt (Art.3 Abs.1 GG).

54

Neben der Sache würde auch der Einwand liegen, Art.3 Abs.3 GG sei verletzt, weil § 54 Abs.1 und 2 SchlHGO die Möglichkeit eröffne, daß ein Bürgermeister um seiner politischen Überzeugung willen abgewählt, also "benachteiligt" werde; denn das Verbot von Differenzierung nach politischen Anschauungen gibt für den vorliegenden Tatbestand keinen Maßstab her. Wenn, wie hier, auch das aus unterschiedlicher politischer Überzeugung resultierende Mißtrauen des Dienstherrn in gedeihliche Zusammenarbeit mit einem Beamten das konstituierende Element des zu regelnden Lebenssachverhalts bildet, dann muß die politische Überzeugung notwendig eine entscheidende Rolle spielen (vgl dazu BVerfGE_6,389 <422 ff>)." Neben der Sache würde auch der Einwand liegen, Art.3 Abs.3 GG sei verletzt, weil § 54 Abs.1 und 2 SchlHGO die Möglichkeit eröffne, daß ein Bürgermeister um seiner politischen Überzeugung willen abgewählt, also "benachteiligt" werde; denn das Verbot von Differenzierung nach politischen Anschauungen gibt für den vorliegenden

 

Auszug aus BVerfG B, 17.10.57, - 1_BvL_1/57 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.25 ff

§§§

57.026 Dieselsubventionierung
 
  1. BVerfG,     B, 06.11.57,     – 2_BvL_12/56 –

  2. BVerfGE_7,171 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.100 Abs.1 S.1; BVerfGG_§_80 Abs.2

 

Eine Vorlage zur Normenkontrolle nach Art.100 Abs.1 GG ist unzulässig, wenn der Vorlagebeschluß entgegen § 80 Abs.2 Satz 1 BVerfGG nicht mit hinreichender Deutlichkeit erkennen läßt, daß das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der in Frage gestellten Vorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit, und wie es dieses Ergebnis begründen würde.

§§§

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