1975  
  1974                   1976 [ ‹ ]
75.001 Leitende Angestellte
 
  1. BVerfG,     BT, 21.01.75,     – 2_BvR_193/74 –

  2. BVerfGE_38,326 = www.dfr/BVerfGE = SKZ_75,220 -221

  3. GG_Art.137 Abs.1; (SL) LtG_§_3 Abs.1 Buchst.c

 

1) Außerhalb der Ermächtigung in Art.137 Abs.1 GG ist eine Beschränkung des passiven Wahlrechts in Anknüpfung an ein Dienstverhältnis durch ein einfaches Gesetz nicht zulässig.

 

2) Art.137 Abs.1 GG betrifft nicht nur die Wählbarkeit der dort genannten Personengruppen im engeren Sinn - die Möglichkeit, sich um ein Mandat zu bewerben, sich als Kandidat aufstellen zu lassen -, sondern auch die Wählbarkeit im weiteren Sinn - insbesondere die Möglichkeit, das Mandat während der Legislaturperiode innezuhaben und auszuüben.

 

3) Zu den Angestellten des öffentlichen Dienstes im Sinn des Art.137 Abs.1 GG gehören auch die leitenden Angestellten eines privaten Unternehmens - gleichgültig, ob Versorgungsbetrieb oder nicht -, das von der öffentlichen Hand beherrscht wird.

T-75-01

LB 4) Zur abweichenden Meinung des Richters Seuffert, siehe BVerfGE_38,321 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs. LB 4) Zur abweichenden Meinung des Richters Wand, siehe BVerfGE_38,343 ff.

* * *

Beschuss

Entscheidungsformel:

Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen § 3 Absatz 1 Buchstabe c des Gesetzes Nr.970 über den Landtag des Saarlandes vom 20.Juni 1973 (Amtsbl.des Saarlandes S.517) richtet.

* * *

T-75-01Abweichende Meinung Richter Wand

58

"§ 3 Abs.1 Buchst.c des Gesetzes Nr.970 über den Landtag des Saarlandes vom 20.Juni 1973 ist nur teilweise mit dem Grundgesetz vereinbar.

59

Soweit die in dieser Vorschrift bezeichneten Unternehmen im Rahmen der Daseinsvorsorge öffentliche Aufgaben wahrnehmen, ist die gesetzliche Beschränkung der Wählbarkeit ihrer leitenden Angestellten durch Art.137 Abs.1 GG gerechtfertigt.

60

Sind solche Unternehmen hingegen ausschließlich im erwerbswirtschaftlichen Bereich tätig, ist es verfassungswidrig, das passive Wahlrecht ihrer leitenden Angestellten zu beschränken.

II.

61

1. Es gibt keinen allgemeingültigen Begriff des öffentlichen Dienstes (BVerfGE 15, 46 [61

62

Art.137 Abs.1 GG will die organisatorische Gewaltenteilung gegen Gefahren sichern, die durch die Personalunion zwischen Exekutivamt und Abgeordnetenmandat entstehen können (BVerfGE_12,73 (77); BVerfGE_18,172 (183)). Diesem Normzweck wird eine Auslegung nicht gerecht, die den Begriff des öffentlichen Dienstes ausschließlich am öffentlich-rechtlichen Charakter des Dienstherrn ausrichtet. Dies zeigt besonders das Beispiel der "leitenden Angestellten" von Daseinsvorsorgeeinrichtungen der öffentlichen Hand, die privatrechtlich organisiert sind. In neuerer Zeit gehen insbesondere "die Kommunen immer mehr dazu über, ihre bisher unselbständigen gemeindlichen Einrichtungen der Daseinsvorsorge ... in juristische Personen des bürgerlichen Rechts (Stadtwerke AG uä) dergestalt umgemünzt, daß die betreffenden Einrichtungen der Daseinsvorsorge rechtstechnisch mit den Mitteln des Zivilrechts als juristische Personen des privaten Rechts förmlich verselbständigt, jedoch nach wie vor von der Kommune bestimmend beeinflußt wird" (Ulsamer, Zur Geltung der Grundrechte für juristische Personen des öffentlichen Rechts, in: Festschrift für Willi Geiger, 1974, S.199 (204)). Dieser Entwicklung kann sich die Auslegung des Art.137 Abs.1 GG nicht verschließen. Die öffentliche Hand hat die Freiheit der Wahl, Aufgaben der Daseinsvorsorge entweder selbst zu erfüllen, einer juristischen Person des öffentlichen Rechts zu übertragen oder einer von ihr beherrschten juristischen Person des Privatrechts anzuvertrauen. Welchen dieser Wege sie beschreibt, hängt ausschließlich davon ab, auf welche Weise die sich heute zwangsläufig in das wirtschafltich Produktionsleben hinein erstreckende moderne Verwaltung die ihr gestellten "öffentlichen Aufgaben" am besten zu bewältigen vermag. Die beliebige Wahl der Rechtsform ist also vor dem Zweck des Art.137 Abs.1 GG ersichtlich unerheblich. Wird der leitende Angestellte eines mit öffentlichen Aufgaben betrauten und von der öffentlichen Hand bestimmend beeinflußten Unternehmens in eine Vertretungskörperschaft gewählt, so besteht die Gefahr einer Interessenkollision im Bereich von "Amt" und Mandat unabhängig davon, ob das Unternehmen öffentlichrechtlich oder privatrechtlich organisiert ist.

63

2. Dagegen ermächtigt Art.137 Abs.1 GG - innerhalb der Grenzen seines möglichen Wortsinnes - den Gesetzgeber nicht, leitenden Angestellten solcher privatrechtlich organisierter Unternehmen in ihrer Wählbarkeit zu beschränken, an denen die öffentliche Hand zwar mehrheitlich beteiligt ist, die aber keinerlei öffentliche Aufgaben wahrnehmen, sondern jenseits der Daseinsvorsorge erwerbswirtschaftlich tätig sind.

64

Diese Personengruppe kann dem "öffentlichen Dienst" nicht mehr zugerechnet werden; ihre Aufgaben und Tätigkeit haben, selbst wenn man den Begriff "öffentlicher Dienst" im weitestens Sinne versteht, keinerlei Bezug zur "Exekutive".

65

Daran ändert sich nichts, wenn der Fiskus die Anteilsrechte am erwerbswirtschaflichen Unternehmen mit Rücksicht auf öffentliche Interessen erwirbt; denn die Erwägung, aus denen die öffentliche Hand sich zu einer Beteiligung an einem Wirtschaftsunternehmen entschließt, sind nicht geeignet, den Charakter des Unternehmens zu bestimmen. Beteiligt sich der Staat zB an einer Automobilfabrik, um ihre Veräußerung an das Ausland zu verhindern, so mag er darin zwar die Erfüllung einer "öffentlichen Verpflichtung" sehen; der rein erwerbswirtschaftliche Charakter der von dem Unternehmen und seinen Angestellten wahrgenommen Aufgabe wird hiervon jedoch nicht berührt.

66

§ 3 Abs.1 Buchst.c Landtagsgesetz hätte teilweise für nichtig erklärt werden müssen.

67

1. Die Norm ist teilbar: Der gültige und der nichtige Teil der Norm lassen sich mit hinreichender Bestimmtheit voneinander abgrenzen. Der Kreis der öffentlichen Aufgaben, die ein privatrechtlich organisiertes, mehrheitlich im Besitz der öffentlichen Hand befindliches Unternehmen wahrnehmen kann, deckt sich mit dem unter dem Begriff der Daseinsvorsorge zusammengefaßten Aufgabenbereich. Tragendes Motiv der Daseinsvorsorge ist die Befriedigung allgemeiner Bedürfnisse zu sozial angemessenen Bedingungen, nicht dagegen die Gewinnerzielung (Forsthoff, Verwaltungsrecht, 10.Auflage 1973, S.567). Ein Unternehmen dient der Daseinsvorsorge, wenn es unmittelbar dem Einzelnen Leistungen und Vorteile gewährt (Forsthoff, aaO, S.372; BVerwG, DVBl 1958, S.869 [870

68

2. Der saarländische Gesetzgeber hätte bei zutreffender Würdigung der Rechtslage die beanstandete Vorschrift mit Sicherheit in ihrem auf den verfassungsmäßigen Teil eingeschränkten Inhalt erlassen. Bereits bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs am 22.März 1972 (S.1039 der Sitzungsniederschrift) war im Zusammenhang mit der geplanten Wählbarkeitsbeschränkung von den "leitenden Angestellten eines privatrechtlich organisierten gemeindlichen oder staatlichen Versorgungsunternehmens" die Rede, während andere Beispiele - wie übrigens auch in den Ausschußsitzungen - nicht genannt wurden. Dementsprechend erwähnt auch der Saarländische Minister des Innern in seiner Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde als Beispiel für die sachliche Tragweite der Regelung lediglich den "leitenden Angestellten der privatrechtlich organisierten Nahverkehrs- und Versorgungsbetriebe"; er verteidigt die angegriffene Inkompatibilitätsregelung aus dem Sinn und Zweck des Art.137 Abs.1 GG, der es erfordere, auch die leitenden Angestellten privatrechtlich organisierter, von der öffentlichen Hand maßgeblich beeinflußter Unternehmen in die Beschränkung der Wählbarkeit einzubeziehen, sofern diese Unternehmen "hoheitlich" tätig würden. Selbst wenn man unterstellt, daß der Gesetzgeber mit der beanstandeten Norm die leitenden Angestellten auch solcher Unternehmen erfassen wollte, die sich ausschließlich erwerbswirtschaftlich betätigen, so zeigen diese Äußerungen doch deutlich, daß es ihm entscheidend darauf ankam, eine Wählbarkeitsbeschränkung für leitende Angestellte im Bereich der Daseinsvorsorge zu schaffen."

 

Auszug aus BVerfG BT, 21.01.75, - 2_BvR_193/74 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.58 ff

§§§

75.002 Wohnraum-Zweckentfremdung
 
  1. BVerfG,     B, 04.02.75,     – 2_BvL_5/74 –

  2. BVerfGE_38,348 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.80 Abs.1; MRVerbG_Art.6 § 1; BGB_§_556a

 

LB 1) Art.6 § 1 Abs.1 Satz 1 MRVerbG verstößt nicht gegen Art.80 Abs.1 Satz 1 und 2 GG. Inhalt, Zweck und Ausmaß der den Landesregierungen erteilten Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen sind im Gesetz hinreichend deutlich bestimmt.

 

LB 2) "Ausreichende Versorgung" bedeutet daher nur ein annäherndes Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage, nicht aber ein -- kurzfristig vielleicht erstrebenswertes -- preisdrückendes Überangebot; sie bedeutet ferner nicht ein Angebot von Wohnungen besonders gehobener oder besonders einfacher Größe und Ausstattung, sondern von Wohnungen, wie sie dem allgemein für Wohnungen der entsprechenden Gegend und Lage anzutreffenden Standard entsprechen.

 

LB 3) "Angemessene Bedingungen" bedeutet nicht außergewöhnlich niedrige Mieten, sondern Mieten, die, für Wohnungen der entsprechenden Art, von einem durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmerhaushalt allgemein, dh auch außerhalb der besonders gefährdeten Gebiete, tatsächlich aufgebracht werden, und zwar einschließlich der vom Staat gewährten finanziellen Hilfen; denn diese entbehrlich zu machen, ist nicht das Ziel des Gesetzes.

* * *

Beschuss

Entscheidungsformel:

Artikel 6 § 1 Absatz 1 Satz 1 und § 2 des Gesetzes zur Verbesserung des Mietrechts und zur Begrenzung des Mietanstiegs sowie zur Regelung von Ingenieur- und Architektenleistungen vom 4. November 1971 (Bundesgesetzbl.I S.1745) sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

75.003 Auslieferung II
 
  1. BVerfG,     B, 19.02.75,     – 2_BvR_449/74 –

  2. BVerfGE_38,398 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.16 Abs.2 S.2,

T-75-02

LB 1) Ein kann politisch Verfolgter kann auch sein, wer erst während seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik die Tatsachen schafft, die eine politische Verfolgung in dem Land befürchten lassen, das die Auslieferung begehrt.

Abs.14

LB 2) Hierbei handelt es sich um Ausnahmefälle, an die ein besonders strenger Maßstab anzulegen ist; denn es muß vor allem verhindert werden, daß Ausländer nachträglich die Voraussetzungen des Asylrechts nur schaffen, um den Schutz dieses Rechts für eine kriminelle Tat zu erschleichen (BVerfGE_9,174 <181>).

 

LB 3) Politisches Asylrecht nach Art.16 Abs.2 Satz 2 GG kann nicht verlangen, wer nach der Auslieferung wirksamen Schutz vor politischer Verfolgung durch den Grundsatz der Spezialität genießt (BVerfGE_15,249 <251>).

* * *

T-75-02Nachträgliche politische Verfolgung

13

"2. Eine gewisse politische Aktivität hat der der Beschwerdeführer offenbar erst nach seiner Flucht in die Bundesrepublik entfaltet, als er befürchten mußte, wegen illegaler Einreise wieder nach Jugoslawien abgeschoben zu werden.

14

Zwar kann politisch Verfolgter auch sein, wer erst während seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik die Tatsachen schafft, die eine politische Verfolgung in dem Land befürchten lassen, das die Auslieferung begehrt. Jedoch kann es sich hierbei nur um Ausnahmefälle handeln, an die ein besonders strenger Maßstab anzulegen ist; denn es muß vor allem verhindert werden, daß Ausländer nachträglich die Voraussetzungen des Asylrechts nur schaffen, um den Schutz dieses Rechts für eine kriminelle Tat zu erschleichen (BVerfGE_9,174 <181>). Politisches Asylrecht nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG kann nicht verlangen, wer nach der Auslieferung wirksamen Schutz vor politischer Verfolgung durch den Grundsatz der Spezialität genießt (BVerfGE_15,249 <251>). Nach diesem Prinzip läßt § 6 DAG die Auslieferung nur zu, "wenn Gewähr dafür besteht, daß der Ausgelieferte in dem Staate, an den er ausgeliefert worden ist, ohne deutsche Zustimmung weder wegen einer vor der Auslieferung begangenen Tat, für welche die Auslieferung nicht bewilligt ist, zur Untersuchung gezogen, bestraft oder an einen dritten Staat weitergeliefert noch aus einem anderen, vor der Auslieferung eingetretenen Rechtsgrund in seiner persönlichen Freiheit beschränkt wird, es sei denn, daß er das Gebiet der ausländischen Regierung innerhalb eines Monats nach dem Tage seiner Freilassung nicht verläßt oder daß er, nachdem er es verlassen hat, zurückkehrt oder von einer dritten Regierung von neuem ausgeliefert wird".

15

Das jugoslawische Bundessekretariat für Gerichtsbarkeit und Organisation der Bundesverwaltung hat in seinem Ersuchen um Auslieferung des Beschwerdeführers die Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität ausdrücklich zugesichert. Zusätzlich wird die Bundesregierung die Auslieferung an die Bedingung knüpfen, daß dem Beschwerdeführer nach seiner endgültigen Freilassung aus dem Strafvollzug ohne Rücksicht auf entgegenstehende innerstaatliche Bestimmungen die Ausreise aus Jugoslawien gestattet wird, es sei denn, er würde nach seiner Auslieferung neue strafbare Handlungen begehen."

 

Auszug aus BVerfG B, 19.02.75, - 2_BvR_449/74 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.13 ff

§§§

75.004 Aussperrung
 
  1. BVerfG,     B, 19.02.75,     – 1_BvR_418/71 –

  2. BVerfGE_38,386 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.9 Abs.3 S.1, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.20 Abs.1;

 

Die Änderung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Wirkung der Aussperrung von Betriebsratsmitgliedern verletzt keine Grundrechte der Arbeitgeber.

§§§

75.005 Schwangerschaftsabbruch I
 
  1. BVerfG,     U, 25.02.75,     – 1_BvF_1/74 –

  2. BVerfGE_39,1 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.2 S.1, GG_Art.1 Abs.1; 5.StrRG; StGB_§_218 ff

 

1) Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art.2 Abs.2 Satz 1, Art.1 Abs.1 GG). Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen.

 

2) Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht auch gegenüber der Mutter.

 

3) Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.

 

4) Der Gesetzgeber kann die grundgesetzlich gebotene rechtliche Mitbilligung des Schwangerschaftsabbruchs auch auf andere Weise zum Ausdruck bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung. Entscheidend ist, ob die Gesamtheit der dem Schutz des ungeborenen Lebens dienenden Maßnahmen einen der Bedeutung des zu sichernden Rechtsgutes entsprechenden tatsächlichen Schutz gewährleistet. Im äußersten Falle, wenn der von der Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise erreicht werden kann, ist der Gesetzgeber verpflichtet, zur Sicherung des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen.

 

5) Eine Fortsetzung der Schwangerschaft ist unzumutbar, wennd er Abbruch erforderlich ist, um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden. Darüber hinaus steht es dem Gesetzgeber frei, andere außergewöhnliche Belastungen für die Schwangere, die ähnlich schwer wiegen, als unzumutbar zu werten und in diesen Fällen den Schwangerschaftsabbruch straffrei zu lassen.

 

6) Das Fünfte Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 18.Juni 1974 (BGBl.I S.1297) ist der verfassungsrechtlichen Verpflichtung, das werdende Leben zu schützen, nicht in dem gebotenen Umfang gerecht geworden.

 

LB 7) Zur abweichenden Meinung der Richterin Rupp-v Brünneck und des Richters Dr Simon, siehe BVerfGE_39,68 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs.296 ff.

§§§

75.006 Städtebauförderungsgesetz
 
  1. BVerfG,     U, 04.03.75,     – 2_BvF_1/72 –

  2. BVerfGE_39,96 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.104a Abs.4 S.1, GG_Art.104a Abs.1, GG_Art.109 Abs.1; StBauFG_§_71, StBauFG_§_72;

 

1) Eine bundesstaatliche Ordnung muß prinzipiell sicherstellen, daß Finanzhilfen aus dem Bundeshaushalt an die Länder die Ausnahme bleiben und ihre Gewährung rechtlich so geregelt wird, daß sie nicht zum Mittel der Einflußnahme auf die Entscheidungsfreiheit der Gliedstaaten bei der Erfüllung der ihnen obliegenden Aufgaben werden.

 

2) Die Befugnis aus Art.104a Abs.4 Satz 1 GG ist kein Instrument direkter oder indirekter Investitionssteuerung zur Durchsetzung allgemeiner wirtschafts-, währungs-, raumordnungs-, oder strukturpolitischer Ziele des Bundes in den Ländern. Außerhalb der Förderungsziele des Art.104a Abs.4 Satz 1 GG lassen diese Bundeszuschüsse eine Einflußnahme aus bundespolitischer Sicht auf die Aufgabenerfüllung durch die Länder nicht zu.

 

3) Das Zustimmungsgesetz nach Art.104a Abs.4 Satz 2 GG muß alles Wesentliche enthalten und darf dies weder Verwaltungsvorschriften noch Ermessensentscheidungen eines Bundesministeriums noch gar einer bloßen Verwaltungspraxis überlassen.

 

4) Bedingungen (Einvernehmens-, Zustimmungs- und Genehmigungsvorbehalte, Einspruchsrechte) und Dotationsauflagen finanzieller oder sachlicher Art seitens des Bundes bei dem Einsatz der Finanzhilfe, die unmittelbar oder mittelbar darauf abzielen, die Planungs- und Gestaltungsfreiheit der Länder außerhalb der Grenzen des Art.104a Abs.4 Satz 1 GG und ohne Grundlage im Gesetz nach Art.104a Abs.4 Satz 2 GG an bundespolitische Interessen und Absichten zu binden, sind nicht möglich.

§§§

75.007 Beamtenpension
 
  1. BVerfG,     B, 12.03.75,     – 2_BvL_10/74 –

  2. BVerfGE_39,196 = www.dfr/BVerfGE

  3. (NW) LBG_§_141; GG_Art.33 Abs.5; GG_Art.3 Abs.2 u.3

T-75-03

Zur Versorgung des Witwers einer Beamtin.

* * *

Beschuss

Entscheidungsformel:

§ 141 des Beamtengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen in der Fassung vom 1. Juni 1962 (Gesetz- und Verordnungsblatt S.272) verletzt Artikel 3 Abs.2 und 3 des Grundgesetzes und war deshalb nichtig, soweit er den Anspruch des beim Tod der Beamtin in ehehlicher Gemeinschaft lebenden Witwers auf Witwergeld dem Grunde und der Höhe nach vom Bestehen eines gesetzlichen Unterhaltsanspruchs des Witwers gegen seine verstorbene Ehefrau abhängig machte.

* * *

T-75-03Witwerpension

14

"§ 141 BG aF war verfassungswidrig.

15

Das Bundesverfassungsgericht hält an seiner Rechtsauffassung in der Begründung zum Beschluß vom 11.April 1967 (BVerfGE_21,329) fest. Es genügt hier, dazu folgendes zu wiederholen:

16

1. § 141 BG aF behandelt den Witwer einer Beamtin schlechter als die Witwe eines Beamten, insofern er die beamtenrechtliche Versorgung des in ehelicher Gemeinschaft lebenden Witwers - im Gegensatz zur Versorgung der Beamtenwitwe - dem Grund und der Höhe nach vom Bestehen eines gesetzlichen Unterhaltsanspruchs des Witwers gegen seine verstorbene Ehefrau abhängig macht.

17

2. Diese vom Gesetzgeber ersichtlich gewollte Ungleichheit verstößt im Hinblick auf einen bei der Regelung der beamtenrechtlichen Versorgung zu beachtenden hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums (Art.33 Abs.5 GG) gegen das Gebot der Gleichberechtigung.

18

a) Besoldung und Versorgung des Beamten und seiner Familie haben ihre gemeinsame Wurzel im Beamtenverhältnis und müssen immer im Zusammenhang mit der Dienstverpflichtung und der Dienstleistung des Beamten gesehen werden. Sie sind zwar kein Entgelt im Sinne einer Entlohnung für konkrete Dienste; dem Beamten steht aber, "wenn auch nicht hinsichtlich der ziffernmäßigen Höhe und der sonstigen Modalitäten, so doch hinsichtlich des Kernbestandes seines Anspruchs auf standesgemäßen Unterhalt ein durch seine Dienstleistung erworbenes Recht" zu, das durch Art.33 Abs.5 GG ebenso gesichert ist wie das Eigentum durch Art.14 GG (BVerfGE_16,94 <112 f, 115>). Grundlage dieses Anspruchs und der entsprechenden Alimentationsverpflichtung des Dienstherrn ist die mit der Berufung in das Beamtenverhältnis verbundene Pflicht des Beamten, seine ganze Persönlichkeit für den Dienstherrn einzusetzen und diesem - grundsätzlich auf Lebenszeit - seine volle Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen (BVerfGE aaO, § 36 Satz 1 BRRG). Als Korrelat hat der Dienstherr dem Beamten und seiner Familie in Form von Dienstbezügen sowie einer Alters- und Hinterbliebenenversorgung nach Dienstrang, Bedeutung des Amtes und entsprechender Entwicklung der allgemeinen Verhältnisse angemessenen Lebensunterhalt zu gewähren. Dienstbezüge, Ruhegehalt und Hinterbliebenenversorgung bilden also einerseits die Voraussetzung dafür, daß sich der Beamte ganz dem öffentlichen Dienst als Lebensberuf widmen und in rechtlicher und wirtschaftlicher Unabhängigkeit zur Erfüllung der dem Berufsbeamtentum vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgabe, im politischen Kräftespiel eine stabile, gesetzestreue Verwaltung zu sichern, beitragen kann (§ 35 BRRG; BVerfGE_8,1 <14, 16>; BVerfGE_11,203 <210, 216 f>). Sie sind aber auch gleichzeitig die vom Staat festzusetzende Gegenleistung des Dienstherrn dafür, daß sich ihm der Beamte mit seiner ganzen Persönlichkeit zur Verfügung stellt und gemäß den jeweiligen Anforderungen seine Dienstpflichten nach Kräften erfüllt. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn der Gesetzgeber selbst vom "erdienten" Ruhegehalt des Beamten spricht (vgl § 140 Abs.2 BBG). Für die Versorgung der Hinterbliebenen gilt nichts anderes (BVerfGE_3,58 <153, 160>). Auch hier wird das Leistungsprinzip durch die Bemessung der Versorgungsbezüge nach dem in Betracht kommenden Ruhegehalt, dessen Höhe wiederum vom letzten Diensteinkommen und der ruhegehaltfähigen Dienstzeit abhängig ist, berücksichtigt.

19

Besoldung und Versorgung sind demnach in ihrer Ausgestaltung als eigenständige unverzichtbare Unterhaltsrechte - die Versorgungsansprüche zunächst in der Form unverzichtbarer Anwartschaft (§ 50 Abs.3 BRRG) - die einheitliche, schon bei Begründung des lebenslangen Beamtenverhältnisses im Interesse des Dienstherrn selbst garantierte Gegenleistung, um den Beamten von der der Ehe und Familiengemeinschaft entspringenden natürlichen Sorge um das wirtschaftliche Wohl seiner Angehörigen auch für die Zeit nach seinem Tod freizustellen und so die von ihm geforderte gewissenhafte Hingabe im Dienst und eine loyale Pflichterfüllung zu sichern (vgl hierzu Gerber, AöR NF 18, S.68 ff). Nur so läßt sich auch rechtfertigen, daß sich der Dienstherr zu Lebzeiten des Beamten auf die Alimentation der Beamtenfamilie beschränkt, also lediglich die für eine standesgemäße Lebenshaltung hinreichenden Mittel zur Verfügung stellt und damit dem Beamten keine Möglichkeit bietet, selbst seine und seiner Hinterbliebenen Altersversorgung zu veranlassen (vgl hierzu die Ausführungen des Bundesministers des Innern zur Begründung der versorgungsrechtlichen Vorschriften des Bundesbeamtengesetzes in der 185.Sitzung des Bundestages am 16.Januar 1952 (StenProt S.7843) und die entsprechenden Ausführungen im Regierungsentwurf (BR-Drucks 562/51 S.60). Diese öffentlich-rechtliche Unterhaltspflicht des Dienstherrn erstreckt sich über den Tod des Beamten hinaus auf die versorgungsberechtigten Hinterbliebenen, denen insoweit aus dem gleichen Rechtsgrund, nicht etwa kraft eines Erb- oder privaten Unterhaltsrechts, ein eigener selbständiger Anspruch erwächst (RG in JW 1937 S.2531 Nr.27; RGZ_171,193). Der Dienstherr tritt also nicht in die unterhaltsrechtliche Position des verstorbenen Beamten ein. Er hat vielmehr die schon zu dessen Lebzeiten gewährte öffentlich-rechtliche Alimentation der Beamtenfamilie gegenüber den hinterbliebenen Familienangehörigen - nur diese sind Hinterbliebene im Sinne des Beamtenrechts - fortzusetzen. Für die Versorgungsbezüge der Witwen und Waisen sind deshalb auch seit jeher die gleichen Gesichtspunkte bestimmend, die auch bei der Besoldung und Versorgung des Beamten selbst zu beachten sind (BVerfGE_3,58 <160>; BVerFGE_8,1 <14 f>; BVerfGE_11,203 <209, 214 f>). Eine Verknüpfung dieser "amtsgemäßen" Versorgung mit dem bürgerlichen Unterhaltsrecht war in der Vergangenheit ebensowenig vorgesehen wie eine Bemessung der Besoldung und des Ruhegehalts nach den Bedürfnissen und , Vermögensverhältnissen des Beamten und seiner Familie die die privatrechtliche Unterhaltsverpflichtung beeinflussen (BGH in NDBZ 1956,153; BGHZ_21,248 <250>).

20

Ersichtlich in Rücksicht auf diese Grundzüge des überkommenen Beamtenversorgungsrecht geht der Gesetzgeber davon aus, daß die versorgungsberechtigten Waisen und die Witwe eines Beamten im Zeitpunkt seines Todes eigenes, möglicherweise dessen Bezüge übersteigendes Einkommen haben können. Er verzichtet jedoch grundsätzlich auf eine Anrechnung dieses Einkommens, wenn es nicht aus öffentlichen Mitteln fließt, und beläßt selbst in diesem Fall die Versorgungsbezüge ungekürzt, solange nicht eine bestimmte Höhe des Gesamteinkommens erreicht wird. Der Dienstherr schuldet also Witwen- und Waisengeld nicht nur unabhängig davon, ob und in welcher Höhe der Familienunterhalt dieser Versorgungsberechtigten durch den Tod des Beamten eine Einbuße erlitten hat, sondern grundsätzlich auch ohne Rücksicht darauf, ob und inwieweit dessen Hinterbliebene in der Lage sind, ihren "standesgemäßen Unterhalt" aus eigenen Mitteln zu bestreiten.

21

b) Ist aber danach die in der Regel vom Dienstherrn selbst zu gewährende standesgemäße Alimentation der Hinterbliebenen des Beamten in ihrer Verknüpfung mit dem Ruhegehalt und damit auch mit dem letzten Amtsgehalt des Verstorbenen ebenso wie die Besoldung des Beamten und die Versorgung des Ruhestandsbeamten die nach Befähigung, Eignung und fachlichen Verdiensten bemessene Gegenleistung aus dem Beamtenverhältnis, die die ganze Persönlichkeit und Arbeitskraft des Bediensteten dem Aufgabenbereich des Berufsbeamtentums sichern soll, so können für die Versorgung des Witwers der Beamtin keine andere Grundsätze gelten.

22

c) Ausschlaggebend allein ist die Amtsstellung der Beamtin, die heute ganz der des Beamten angeglichen ist. Auch die verheiratete Beamtin ist im Unterschied zum früheren Recht nunmehr grundsätzlich lebenslang in das seitens des Dienstherrn unkündbare Beamtenverhältnis einbezogen. Sie hat die gleichen Voraussetzungen zu erfüllen (Art.33 Abs.2 GG), die gleichen hoheitlichen Funktionen auszuüben und die gleiche Verantwortung zu tragen wie der männliche Bedienstete in entsprechender Amtsstellung. Beider Pflichtenkreise decken sich vollständig und diese Übereinstimmung der Anforderungen an eine gefestigte, den berufsethischen Grundsätzen des Beamtentums entsprechende persönliche Einstellung zur Amtsführung verlangt andererseits für die Beamtin den gleichen Schutz und die gleiche beamtenrechtliche Sicherung des Familienunterhalts, wie sie seit jeher dem Beamten gewährt werden.

23

Entscheidend ist, daß aus beamtenrechtlicher Sicht die Versorgung des Bediensteten und seiner Familie in untrennbarem Zusammenhang mit seiner Besoldung und dem Dienstverhältnis steht, insoweit aber keinerlei Unterschiede zwischen der Situation des Beamten und der der Beamtin zu erkennen sind, mit denen sich die gesetzliche Differenzierung der Witwen- und Witwerversorgung rechtfertigen ließe. Der gleichen, auf den Familienstand zugeschnittenen Alimentation zu Lebzeiten der Beamtin entspricht allein die gleiche, in bestimmter Relation zum Ruhegehalt stehende Versorgung ihrer Hinterbliebenen, mithin auch des Witwers.

24

3. Art.3 Abs.2 und 3 GG gebietet also, daß die Beamtin auch hinsichtlich der Versorgung ihrer nächsten Familienangehörigen dem Beamten gleichzustellen ist, daß also dem bei ihrem Tod in ehelicher Gemeinschaft lebenden Witwer ebenso wie der Beamtenwitwe der angemessene Unterhalt vom Dienstherrn selbst zu gewähren ist. Dieser Sicherung der Gleichstellung der durch § 141 BG aF benachteiligten Beamtin kann nicht durch Angleichung (= Einschränkung) der Witwenversorgung an die des Witwers Rechnung getragen werden. Bei dieser Gesetzeslage hat sich der Senat nicht damit zu begnügen, die Unvereinbarkeit des die Versorgung des Witwers beschränkenden Teils der zur Prüfung vorgelegten Norm mit dem Grundgesetz festzustellen, sondern er hat gemäß §§ 82 Abs.1, 78 BVerfGG auch dessen Nichtigkeit auszusprechen."

 

Auszug aus BVerfG B, 12.03.75, - 2_BvL_10/74 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.14 ff

§§§

75.008 Hinterbliebenenrente
 
  1. BVerfG,     U, 12.03.75,     – 1_BvL_15/71 –

  2. BVerfGE_39,169 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.2 +3, GG_Art.100 Abs.1 S.1; AVG_§_43 Abs.1; RVO_§_1266;

 

1) Zu den Anforderungen an die Zulässigkeit der erneuten Vorlage einer Norm (Art.100 Abs.1 Satz 1 GG), die vom Bundesverfassungsgericht früher für vereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist (im Anschluß an BVerfGE_33,199 ).

 

2) Eine Entscheidung, daß die erschwerende Voraussetzung der Witwerrente gegenüber der Witwenrente in der Sozialversicherung (§ 43 Abs.1 AVG und § 1266 Abs.1 RVO: überwiegendes Bestreiten des Unterhalts der Familie durch die verstorbene Ehefrau) mit dem Grundgesetz unvereinbar sei, kann gegenwärtig nicht getroffen werden.

 

3) Der Gesetzgeber ist jedoch verpflichtet, sich um eine sachgerechtere Lösung zu bemühen, die einen Verstoß gegen Art.3 Abs.2 und 3 GG für die weitere Zukunft ausschließt.

§§§

75.009 Mühlenstrukturgesetz
 
  1. BVerfG,     B, 19.03.75,     – 1_BvL_20/73 –

  2. BVerfGE_39,210 = www.dfr/BVerfGE

  3. MStG_§_8 Abs.4; GG_Art.12 Abs.1; GG_Art.3 Abs.2 u.3

 

Die Vermahlungsregelung des Mühlenstrukturgesetzes ist, soweit sie die Freiheit der Berufsausübung für Groß- und Mittelmühlen beschränkt, mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

75.010 Kapazitätsausnutzung
 
  1. BVerfG,     B, 09.04.75,     – 1_BvR_344/73 –

  2. BVerfGE_39,258 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.1; GG_Art.3 Abs.1

 

Klagen auf Zuteilung von Studienplätzen, die in einem Studienfach mit Zulassungsbeschränkung infolge unzureichender Kapazitätsausnutzung frei geblieben sind, dürfen nicht schon wegen der ungünstigen Rangziffer des klagenden Bewerbers abgewiesen werden (Ergänzung zu BVerfGE_33,303 - numerus clausus).

§§§

75.011 ZVS
 
  1. BVerfG,     B, 09.04.75,     – 1_BvR_344/74 –

  2. BVerfGE_39,276 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.1; GG_Art.3 Abs.1

 

Grundsätzlich hat der Gesetzgeber zu bestimmen, wer für die Vergabe von Studienplätzen, die in einem Studienfach mit Zulassungsbeschränkung infolge unzureichender Kapazitätsausnutzung frei geblieben sind, zuständig und in einem Rechtsstreit zu verklagen ist. Art.12 Abs.1 in Verbindung mit Art.3 Abs.1 GG gebieten nicht, eine insoweit bestehende Regelungslücke im Wege der Auslegung in dem Sinne zu schließen, daß die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) als zuständig anzusehen ist (Ergänzung zu BVerfGE_33,303 -- numerus clausus).

§§§

75.012 AOK
 
  1. BVerfG,     B, 09.04.75,     – 2_BvR_879/73 –

  2. BVerfGE_39,302 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.19 Abs.3; GG_Art.20 Abs.1; RVO_§_226 Abs.4

 

LB 1) Eine Verfassungsgarantie des bestehenden Systems der Sozialversicherung oder doch seiner tragenden Organisationsprinzipien ist dem Grundgesetz nicht zu entnehmen.

 

LB 2) Das Gebot des sozialen Rechtsstaats (Art.20 Abs.1 GG) enthält für den Einzelnen keinen Anspruch auf soziale Leistungen im Bereich der Krankenversicherung durch ein so und nicht anders aufgebautes Sozialversicherungssystem. Damit können die Beschwerdeführerinnen ihr Verlangen auf Bestandsschutz auch nicht von einem -- entsprechend ausgestalteten -- sozialen Grundrecht natürlicher Personen -- hier die Krankenkassenmitglieder -- ableiten.

 

LB 3) Organisatorische Veränderungen, wie sie die Verordnung der Landesregierung Baden-Württemberg mit sich bringt, haben die hiervon betroffenen Krankenkassen hinzunehmen, ohne daß sie sich auf Grundrechte im Wege einer Verfassungsbeschwerde berufen können.

§§§

75.013 Extremisten-Beschluss
 
  1. BVerfG,     B, 22.05.75,     – 2_BvR_13/73 –

  2. BVerfGE_39,334 = www.dfr/BVerfGE = E-StA_91,466 -468 = DÖV_75,670 -673

  3. GG_Art.5 Abs.2, GG_Art.12 Abs.1, GG_Art.33 Abs.5; (SH) LBG_§_9 Abs.1 Nr.2

 

1) Es ist ein hergebrachter und zu beachtender Grundsatz des Berufsbeamtentums (Art.33 Abs.5 GG), daß den Beamten eine besondere politische Treuepflicht gegenüber dem Staat und seiner Verfassung obliegt.

 

2) Die Treuepflicht gebietet, den Staat und seine Verfassungsordnung, auch soweit sie im Wege einer Verfassungsänderung veränderbar ist, zu bejahen und dies nicht bloß verbal, sondern insbesondere in der beruflichen Tätigkeit dadurch, daß der Beamte die bestehende verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorschriften beachtet und erfüllt und sein Amt aus dem Geist dieser Vorschriften heraus führt. Die politische Treuepflicht fordert mehr als nur eine formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung; sie fordert vom Beamten insbesondere , daß er sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren. Vom Beamten wird erwartet, daß er diesen Staat und seine Verfassung als einen hohen positiven Wert erkennt und anerkennt, für den einzutreten sich lohnt. Politische Treuepflicht bewährt sich in Krisenzeiten und in ernsthaften Konfliktsituationen, in denen der Staat darauf angewiesen ist, daß der Beamte Partei für ihn ergreift.

 

3) Bei Beamten auf Probe und bei Beamten auf Widerruf rechtfertigt die Verletzung der Treuepflicht regelmäßig die Entlassung aus dem Amt. Bei Beamten auf Lebenszeit kann wegen dieser Dienstpflichtverletzung im förmlichen Disziplinarverfahren auf Entfernung aus dem Dienst erkannt werden.

 

4) Es ist eine von der Verfassung (Art.33 Abs.5) geforderte und durch das einfache Gesetz konkretisierte rechtliche Voraussetzung für den Eintritt in das Beamtenverhältnis, daß der Bewerber die Gewähr bietet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten.

 

5) Der Überzeugung, daß der Bewerber die geforderte Gewähr nicht bietet, liegt eine Urteil über die Persönlichkeit des Bewerbers zugrunde, das zugeleich eine Prognose enthält und sich jeweils auf eine von Fall zu Fall wechselnde Vielzahl von Elementen und deren Bewertung gründet.

 

6) Die sich aus Art.33 Abs.5 GG ergebende Rechtslage gilt für jedes Beamtenverhältnis, für das Beamtenverhältnis auf Zeit, für das Beamtenverhältnis auf Probe und für das Beamtenverhältnis auf Widerruf ebenso wie für das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit.

 

7) Wenn auch an die Angestellten im öffentlichen Dienst weniger hohe Anforderungen als an die Beamten zu stellen sind, schulden sie geichwohl dem Dienstherrn Loyalität und die gewissenhafte Erfüllung ihrer dienstlichen Obliegenheiten; auch sie dürfen nicht den Staat, in dessen Dienst sie stehen, und seine Verfassungsordnung angreifen; auch sie können wegen grober Verletzung dieser Dienstpflichten fristlos entlassen werden; und auch ihre Einstellung kann abgelehnt werden, wenn damit zu rechnen ist, daß sie ihre mit der Einstellung verbundenen Pflichten nicht werden erfüllen können oder wollen.

 

8) Ein Teil des Verhaltens, das für die Beurteilung der Persönlichkeit eines Beamtenanwärters erheblich sein kann, kann auch der Beitritt oder die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei sein, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt - unabhängig davon, ob ihre Verfassungswidrigkeit durch Urteil des BVerG festgestellt ist oder nicht.

 

9) Die durch Art.33 Abs.5 GG gedeckte Regelung des Beamten- und Disziplinarrechts sind allgemeine Gesetze um Sinne von Art.5 Abs.2 GG.

 

10) Es steht nicht im Widerspruch zu Art.12 GG, wenn der hergebrachte Grundsatz des Berufsbeamtentums im Beamtenrecht verwirklicht wird, vom Bewerber für ein Amt zu verlangen, daß er die Gewähr bietet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten.

 

11) Dem Staat steht frei, einen Vorbereitungsdienst, dessen erfolgreiche Absolvierung Voraussetzung sowohl für den Staatsdienst im Beamtenverhältnis als auch für einen freien Beruf ist, allgemein so zu organisieren, daß er ein einem zivilrechtlichen Anstellungsverhältnis oder in einem besonderen öffentlichrechtlichen Verhältnis außerhalb des Beamtenverhältnisses abzuleisten ist. Entscheidet er sich für einen Vorbereitungsdienst, der im Beamtenverhältnis zurückzulegen ist, so muß er für denjenigen, für die ein Beruf außerhalb des Staatsdienstes in Betracht kommt, entweder einen gleichwertigen, nicht diskriminierenden Vorbereitungsdienst anbieten, der ohne Berufung ins Beamtenverhältnisses geleistet werden kann, oder innerhalb seiner beamtenrechtlichen Regelung eine Ausnahmevorschrift vorsehen, die es gestattet, den Vorbereitungsdienst auf Wunsch außerhalb eines Beamtenverhältnisses abzuleisten. Im Hinblick darauf, daß in zunehmendem Maße neben die zweistufige juristische Ausbildung eine einstufige Ausbildung tritt, mag es zur rechtlichen Vereinheitlichung des juristischen Vorbereitungsdienstes naheliegen, künftig für alle Juristen die praktische Ausbildung vor der zweiten juristischen Staatsprüfung innerhalb eines öffentlichrechtlichen Rechtspraktikanten-Verhältnisses vorzusehen, das kein Beamtenverhältnis ist.

 

LB 12) Zur abweichenden Meinung des Richters Seuffert, siehe BVerfGE_39,375 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs.111 ff.

 

LB 13) Zur abweichenden Meinung des Richters Dr Rupp, siehe BVerfGE_39,378 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs.117 ff.

 

LB 14) Zur abweichenden Meinung des Richters Wand, siehe BVerfGE_39,386 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs.142 ff.

* * *

Beschuss

Entscheidungsformel:

§ 9 Absatz 1 Nummer 2 des Schleswig-Holsteinischen Landesbeamtengesetzes in der Fassung vom 10.Mai 1971 (Gesetz- und Verordnungsbl. S.254) ist mit dem Grundgestz und dem übrigen Bundesrecht vereinbar.

§§§

75.014 Wahlprüfung
 
  1. BVerfG,     B, 03.06.75,     – 2_BvC_1/74 –

  2. BVerfGE_40,11 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.41 Abs.2; BVerfGG_§_48; WPrüfG_§_2 Abs.2

 

Zur Wahlprüfung unter dem Gesichtspunkt von Scheinwohnsitzen berliner Bürger in NRW.

* * *

Beschuss

Entscheidungsformel:

Die Beschwerde ist offensichtlich unbegründet.

§§§

75.015 Vergnügungssteuer
 
  1. BVerfG,     B, 04.06.75,     – 2_BvR_824/74 –

  2. BVerfGE_40,56 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.105 Abs.2a;

 

1) Art.105 Abs.2a GG begründet eine ausschließliche Landeszuständigkeit für die dort bezeichneten Steuern.

 

2) Der vom Bundesverfassungsgericht zur Abgrenzung der Kompetenzen von Bund und Ländern im Bereich der konkurrierenden Steuergesetzgebung verwendete Begriff der Gleichartigkeit stimmt mit dem in Art.105 Abs.2a GG aufgenommenen Begriff inhaltlich nicht überein.

§§§

75.016 Krankenversicherung
 
  1. BVerfG,     B, 09.06.75,     – 1_BvR_2261/73 –

  2. BVerfGE_40,65 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.3 Abs.1; RVO_§_205 Abs.1, RKG_§_15, RKG_§_20, RVO_§_257a Abs.3

 

1) Es ist mit Art.2 Abs.1 GG in Verbindung mit dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip und mit Art.3 Abs.1 GG nicht vereinbar, § 205 Abs.1 RVO dahin auszulegen, daß die eigene gesetzliche Krankenversicherung eines Rentners auch die im Rahmen der Familienhilfe gewährten wesentlich günstigeren Leistungen aus einer zusätzlichen freiwilligen Versicherung seines Ehegatten bei der Knappschaft verdrängt.

 

2) Es ist mit Art.3 Abs.1 GG nicht vereinbar, § 15 RKG, § 20 RKG und § 257a Abs.3 RVO dahin auszulegen, daß die in § 257a Abs.3 RVO neu versicherten Rentnern eingeräumte Möglichkeit, ihre eigene Krankenversicherung beim Versicherungsträger ihres Ehegatten durchzuführen, für die Ehegatten von knappschaftlich Krankenversicherten nicht gelte.

* * *

Beschuss

Entscheidungsformel:

1. Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 30. August 1973 -- 5 RKn 20/71 -- verletzt die Grundrechte der Beschwerdeführer zu 1) aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechts- und Sozialstaatsprinz ip (Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes) und aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes.

2. Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 30. August 1973 -- 5 RKn 22/71 -- verletzt die Grundrechte der Beschwerdeführer zu 2) aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechts- und Sozialstaatsprinz ip (Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes) und aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes.

3. Die Urteile werden aufgehoben. Die Sachen werden zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bundessozialgericht zurückverwiesen.

4. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

75.017 Führerschein
 
  1. BVerfG,     B, 10.06.75,     – 2_BvR_1018/74 –

  2. BVerfGE_40,88 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.103 Abs.1; BVerfGG_§_31; StPO_§_45 Abs.1 S.1

 

1) Die Auslegung und Anwendung einfacher Gesetze ist Sache der sachnäheren Fachgerichte. Dagegen hat das Bundesverfassungsgericht die aus dem Verfassungsrecht sich ergebenden Maßstäbe oder Grenzen für die Auslegung eines einfachen Gesetzes verbindlich zu bestimmen.

 

2) Spricht das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer "verfassungskonformen Auslegung" einer Norm des einfachen Rechts aus, daß gewisse an sich mögliche Interpretationen dieser Norm mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind, so kann kein anderes Gericht diese Interpretationsmöglichkeiten für verfassungsgemäß halten.

 

3) Nichts anderes gilt, wenn auf Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen hin festgestellt worden ist, daß gewisse, sonst vertretbare und mögliche Interpretationen des einfachen Rechts zu einer Grundrechtsverletzung führen.

§§§

75.018 Waisenrente II
 
  1. BVerfG,     B, 18.06.75,     – 1_BvL_4/74 –

  2. BVerfGE_40,121 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.6 Abs.1; AVG_§_44 S.2

 

Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, daß Waisen, die sich infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen nicht selbst unterhalten können, Waisenrente aus der Angestelltenversicherung nur bis zur Vollendung des 25.Lebensjahres erhalten (§ 44 Satz 2 AVG).

§§§

75.019 Ostverträge
 
  1. BVerfG,     B, 07.07.75,     – 1_BvR_274/72 –

  2. BVerfGE_40,141 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.14, GG_Art.6 Abs.1; BVerfGG_§_90 Abs.1 BVerfGG_§_92 ,

 

1) Die Verträge von Moskau und Warschau (Ostverträge) haben hochpolitischen Charakter; sie regeln die allgemeinen politischen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur Sowjetunion und zu Polen. Verfassungsbeschwerden gegen die Zustimmungsgesetze zu diesen Verträgen, die auf die Verletzung der Art.14 GG, Art.16 GG, Art.6 GG gestützt werden, sind unzulässig.

 

2) Die Zustimmungsgesetze zu den Ostverträgen, ebenso wie diese Verträge selbst, begründen keine unmittelbaren Verhaltenspflichten Einzelner. Sie sind auch nicht geeignet, in anderer Weise grundrechtlich geschützte individuelle Rechtspositionen unmittelbar zu verschlechtern. Sie schmälern keine Vermögensrechte; sie bewirken keinen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit; sie beeinträchtigen nicht die Bemühungen um Zusammenführung getrennter Familien.

 

3) Verfassungsbeschwerden gegen Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen mit allgemeinem politischen Inhalt wie den Ostverträgen sind unzulässig, wenn mit ihnen die verfassungsgerichtliche Feststellung erstrebt wird, bei den Vertragsverhandlungen hätte eine bestimmte sachliche Regelung zugunsten der Beschwerdeführer erreicht werden müssen und der Abschluß des Vertrages ohne diese Regelung habe die Unwirksamkeit des ganzen Vertrages zur Folge.

§§§

75.020 Justizverwaltungsakt
 
  1. BVerfG,     B, 28.10.75,     – 2_BvR_883/73 –

  2. BVerfGE_40,237 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.19 Abs.4, GG_Art.103 Abs.1, GG_Art.74 Nr.1; EGGVG_§_23, EGGVG_§_24 Abs2, EGGVG_§_27; VwGO_§_179;

T-75-05

LB 1) Zur Regelungsbefugnis durch Verwaltungsvorschriften.

Abs.43

LB 2) Verwaltungsvorschriften und Vorrang des Gesetzes.

Abs.46

LB 3) Verwaltungsvorschriften und Vorbehalt des Gesetzes.

 

LB 4) Zur abweichenden Meinung des Richtes Seuffert, siehe BVerfGE_40,260 f = www.dfr/BVerfGE, Abs.66 ff.

* * *

T-75-05Zur Regelungsbefugnis durch Verwaltungsvorschriften

39

"Die Beschwerdeführer wenden sich übereinstimmend dagegen, daß in Nordrhein-Westfalen das in § 24 Abs.2 EGGVG genannte verwaltungsrechtliche Vorverfahren lediglich durch eine Verwaltungsvorschrift, die Allgemeinverfügung vom 28.April 1971, geregelt worden ist. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher offengelassen, ob das verfassungsgemäß ist ( BVerfGE_37,150 <152>). Verfassungswidrig wäre es dann, wenn die Regelung des Vorverfahrens durch förmliches Gesetz oder durch Rechtsverordnung verfassungsrechtlich geboten wäre, sei es durch die -- nach geltendem Verfassungsrecht zu bestimmenden -- Grundsätze des Vorrangs oder des "allgemeinen" Vorbehalts des Gesetzes, oder sei es unmittelbar durch Art.19 Abs.4 und Art.103 Abs.1 GG. Das ist nicht der Fall.

40

1. Ein Gesetz kann nicht durch eine allgemeine Verwaltungsvorschrift außer Kraft gesetzt oder abgeändert werden, ebenso wie es nicht durch einen Verwaltungsakt durchbrochen und nicht durch eine Rechtsnorm, die im Vergleich zum Gesetz von niedrigerem Range ist, verdrängt werden kann. Diese dem Gesetz kraft Verfassungsrechts innewohnende Eigenschaft, staatliche Willensäußerungen niedrigeren Ranges, insbesondere Verwaltungsakte und Allgemeinverfügungen, rechtlich zu hindern oder zu zerstören, kann sich aber naturgemäß nur auswirken, wo ein Widerspruch zwischen dem Gesetz und der Willensäußerung niedrigeren Ranges besteht. Daher kann eine Allgemeinverfügung, die, wie hier, das Gesetz befolgt und mit ihm in Einklang steht, nicht am Vorrang des Gesetzes scheitern (vgl BVerfGE_8,155 <169 f>).

41

Der Bund hat in Ausübung seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz (Art.74 Nr.1 GG: gerichtliches Verfahren) in § 24 Abs.2 EGGVG abschließend bestimmt, daß dann, wenn ein verwaltungsrechtliches Vorverfahren eröffnet ist, der Antrag auf gerichtliche Entscheidung erst nach vorausgegangenem Beschwerdeverfahren gestellt werden kann. § 24 Abs.2 EGGVG statuiert mithin von Bundes wegen selbst eine Zulässigkeitsvoraussetzung für das Verfahren nach § 23 EGGVG, indem er die Unzulässigkeit des Antrags für den Fall ausspricht, daß ein Vorverfahren vom Antragsteller nicht oder nicht frist- und formgerecht betrieben worden ist. Das Ob und das Wie eines solchen Vorverfahrens hat der Bund dagegen den Ländern vorbehalten. Soweit nicht andere Vorschriften des Gesetzes, insbesondere § 27 EGGVG, den Ländern Grenzen setzen, sind sie frei, ob und in welcher Form sie ein Vorverfahren einführen wollen.

42

Dem in § 24 Abs.2 EGGVG umschriebenen Vorbehalt zugunsten der Länder läßt sich nicht entnehmen, daß die Regelung des Vorverfahrens nur durch Gesetz erfolgen könne. Die Formulierung "... der Beschwerde oder einem anderen förmlichen Rechtsbehelf im Verwaltungsverfahren unterliegen ..." nötigt nicht zu diesem Schluß. Sie läßt vielmehr auch für eine Regelung durch Verwaltungsanordnung Raum. Das bestätigt die Entstehungsgeschichte. Die Einführung der §§ 23 ff EGGVG durch § 179 VwGO geht auf eine Anregung des Bundesrates zurück (BRDrucks.432/57 -- Beschluß zu Nr.85a). Unter Rückgriff auf Vorarbeiten des Bundesministeriums der Justiz und der Landesjustizverwaltungen war für den späteren § 24 Abs.2 EGGVG zunächst die Formulierung "... Beschwerde oder einem ähnlichen Rechtsbehelf..." vorgeschlagen worden. Zur Klarstellung, daß sich die Vorschrift lediglich auf in den bereits bestehenden Vollzugsordnungen mit dem Charakter von Verwaltungsanordnungen besonderes zugelassene "Verwaltungsbeschwerden" und nicht auch auf -- die ohnehin jederzeit und formlos zulässigen -- Gegenvorstellungen und Dienstaufsichtsbeschwerden beziehen sollte, wurden dann für die endgültige Fassung die Worte "... oder einem anderen förmlichen Rechtsbehelf im Verwaltungsverfahren ..." gewählt. Der Bundesgesetzgeber hatte dabei die damals vorhandenen Regelungen des verwaltungsrechtlichen Vorverfahrens in den Verwaltungsvorschriften der Länder vor Augen und wollte an deren Bestand nichts ändern."

43

"Steht somit die Allgemeinverfügung des nordrhein-westfälischen Justizministers vom 28.April 1971 nicht in Widerspruch zu Wortlaut und Sinn des § 24 Abs.2 EGGVG, so lassen sich aus dem "Vorrang des Gesetzes" verfassungsrechtliche Bedenken nicht herleiten.

44

2. Weder Art.19 Abs.4 noch Art.103 Abs.1 GG schreiben ausdrücklich vor, daß eine Regelung der hier in Rede stehenden Art nur durch Gesetz oder Rechtsverordnung getroffen werden kann. Aus dem "Vorbehalt des Gesetzes" ergibt sich nichts anderes."

45

a) Der Grundsatz des Vorbehalts des (allgemeinen) Gesetzes wird im Grundgesetz nicht expressis verbis erwähnt. Seine Geltung ergibt sich jedoch aus Art.20 Abs.3 GG. Die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, der Vorrang des Gesetzes also, würden ihren Sinn verlieren, wenn nicht schon die Verfassung selbst verlangen würde, daß staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen nur Rechtens ist, wenn es durch das förmliche Gesetz legitimiert wird. Welche Bereiche das im einzelnen sind, läßt sich indessen aus Art.20 Abs.3 GG nicht mehr unmittelbar erschließen. Insoweit ist vielmehr auf die jeweils betroffenen Lebensbereiche und Rechtspositionen des Bürgers und die Eigenart der Regelungsgegenstände insgesamt abzustellen. Die Grundrechte mit ihren speziellen Gesetzesvorbehalten und mit den in ihnen enthaltenen objektiven Wertentscheidungen geben dabei konkretisierende, weiterführende Anhaltspunkte. Die von der konstitutionellen, bürgerlich-liberalen Staatsauffassung des 19.Jahrhunderts geprägte Formel, ein Gesetz sei nur dort erforderlich, wo "Eingriffe in Freiheit und Eigentum" in Rede stehen, wird dem heutigen Verfassungsverständnis nicht mehr voll gerecht (vgl BVerfGE_8,155 <167>). Im Rahmen einer demokratisch-parlamentarischen Staatsverfassung, wie sie das Grundgesetz ist, liegt es näher anzunehmen, daß die Entscheidung aller grundsätzlichen Fragen, die den Bürger unmittelbar betreffen, durch Gesetz erfolgen muß, und zwar losgelöst von dem in der Praxis fließenden Abgrenzungsmerkmal des "Eingriffs". Staatliches Handeln, durch das dem Einzelnen Leistungen und Chancen gewährt und angeboten werden, ist für eine Existenz in Freiheit oft nicht weniger bedeutungsvoll als das Unterbleiben eines "Eingriffs". Hier wie dort kommt dem vom Parlament beschlossenen Gesetz gegenüber dem bloßen Verwaltungshandeln die unmittelbarere demokratische Legitimation zu, und das parlamentarische Verfahren gewährleistet ein höheres Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche und damit auch größere Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender Interessen. All das spricht für eine Ausdehnung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts über die überkommenen Grenzen hinaus. Auch außerhalb des Bereichs des Art.80 GG (dazu BVerfGE_7,282 <301> und ständige Rechtsprechung) hat der Gesetzgeber die grundlegenden Entscheidungen selbst zu treffen und zu verantworten (vgl BVerfGE_33,125 <158>; BVerfGE_33,301 <346>).

46

Aber auch wenn man aus diesen Erwägungen eine Ausdehnung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts auf weitere Bereiche annimmt, so folgt daraus noch nicht, daß vom Grundgesetz die Regelung der Behördenzuständigkeiten und des Verwaltungsverfahrens bis in alle Einzelheiten dem Gesetz vorbehalten sei. Insbesondere läßt sich aus der Tatsache, daß in den letzten Jahrzehnten die Organisation und das Verfahren der Verwaltungsbehörden in zunehmendem Maße durch Gesetze oder Rechtsverordnungen geordnet worden sind und daß das Grundgesetz den Rechtsschutz erheblich verstärkt hat, nicht ableiten, daß auf dem Gebiete des Verwaltungsverfahrens und der Verwaltungszuständigkeit eine solche Regelung verfassungsrechtlich ausnahmslos geboten sei. Der Gesichtspunkt des Rechtsschutzes für den Staatsbürger zwingt ebensowenig dazu, einen Gesetzesvorbehalt für die in der Allgemeinverfügung vom 28.April 1971 getroffene Regelung anzunehmen. Zwar hat das Grundgesetz den Rechtsschutz erheblich verstärkt (Art.19 Abs.4, 101, 103, 104 GG). Dies rechtfertigt aber noch nicht den Schluß, daß Verwaltungsverfahren und Verwaltungszuständigkeiten durchgehend gesetzlich normiert werden müßten, um den Betroffenen die (etwaigen) größeren Sicherungen zu geben, die mit einer gesetzlichen Normierung im Vergleich zu einer Normierung durch allgemeine Verwaltungsvorschriften verbunden sein können. Da das Verwaltungshandeln heute insbesondere durch den Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit nahezu vollständig einer gerichtlichen Nachprüfung -- meist in mehreren Instanzen -- unterliegt, haben die Rechtsschutzerwägungen, die früher in diesem Zusammenhang ins Feld geführt werden konnten, an Gewicht und Bedeutung verloren (vgl BVerfGE_8,155 <167 f>).

47

Die grundlegende Entscheidung, daß ein verwaltungsrechtliches Vorverfahren vorgesehen werden kann und daß die Sanktion der nicht ordnungsgemäßen Durchführung des Vorverfahrens die Unzulässigkeit des Antrags auf gerichtliche Entscheidung ist, hat der Gesetzgeber in § 24 Abs.2 EGGVG getroffen. Soweit in diesem Zusammenhang überhaupt von einem "Eingriff" die Rede sein kann, liegt dieser also bereits im Gesetz selbst. Demgegenüber erweist sich die Allgemeinverfügung als eine untergeordnete Regelung, die sich auf die nähere Ausgestaltung von Fristen und Formen und die Bezeichnung zuständiger Behörden beschränkt. Die Maßstäbe hierfür ergeben sich zwanglos aus der Natur der zu regelnden Materie. Die möglichen Lösungen sind durch Vorbilder in den Prozeßordnungen weitgehend vorgeformt. Wegen des außerordentlich engen Spielraums, der bei dieser Sachlage für die Ausgestaltung des Vorverfahrens bleibt, steht der Vorbehalt des § 24 Abs. 2 EGGVG der Sache nach in der Nähe einer verwaltungsrechtlichen Ermächtigung. Die zu seiner Ausfüllung erlassene Allgemeinverfügung betrifft nicht unmittelbar das in den Prozeßordnungen abschließend geregelte gerichtliche Verfahren, sondern nur die Ausgestaltung von Modalitäten eines verwaltungsrechtlichen Vorverfahrens, das voll und ganz im Zuständigkeitsbereich der Verwaltung verbleibt. Daß auch die relativ untergeordnete Regelung dieser Modalitäten dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt unterliegt, kann dem Grundgesetz nicht entnommen werden (vgl dazu Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz <1968>, Seite 345 f, 509 ff).

48

b) Der besondere Regelungsbereich, der indirekt betroffen ist, der Zugang zum Gericht, nötigt nicht zu einer anderen Beurteilung. Zwar kann der hohe Rang, welcher der Rechtsweggarantie des Art.19 Abs.4 GG und dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art.103 Abs.1 GG zukommt, kaum überschätzt werden. Es ist von entscheidender Bedeutung für das "Einverstandensein" des Bürgers mit dem Staat, für die Chance zur Identifikation, ohne die eine Demokratie nicht dauerhaft bestehen kann, daß der Bürger im Falle des Konflikts mit der Staatsgewalt "seinen" Richter findet und von ihm in fairer Weise zur Sache gehört wird. Hiervon hat sich das Gericht leiten lassen, wenn es in einer Vielzahl von Entscheidungen ausgeführt hat, daß bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften der Strafprozeßordnung der Zugang zum Gericht nicht unzumutbar erschwert werden dürfe (vgl zuletzt die Beschlüsse vom 3.Juni 1975 -- 2 BvR 99/74 und 2 BvR 457/74 -- und vom 10.Juni 1975 -- 2 BvR 1018/74 und 2 BvR 1074/74 --, jeweils mit Nachweisen). Diese Entscheidungen betreffen indessen die inhaltlichen Anforderungen an die Regelung des Zugangs. Sie besagen über die Form der Regelung nichts. In ihnen ist als selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Rechte aus Art.19 Abs.4 und Art.103 Abs.1 GG ihrem Wesen nach darauf angelegt sind, durch Regelungen außerhalb der Verfassung ausgestaltet zu werden, daß sie ihre Wirksamkeit überhaupt erst aufgrund näherer Ausgestaltung durch das einfache Recht entfalten können (vgl BVerfGE_9,89 <95 f>). Zu dieser Ausgestaltung gehört die Regelung der grundsätzlichen Frage, welche Rechtsfolge eintreten soll, wenn die Zugangsbedingung eines Vorverfahrens nicht erfüllt, eine Frist oder ein Termin versäumt wird. Soll in derartigen Fällen ein prozessualer Rechtsverlust eintreten, der darin besteht, daß der Bürger keine richterliche Sachentscheidung mehr erhält, so hat dies der Gesetzgeber zu entscheiden. Das aber ist hier, wie dargelegt, bereits in § 24 Abs.2 EGGVG geschehen.

49

Wenn auch nach alledem die Art.19 Abs.4 und Art.103 Abs.1 GG keinen "Totalvorbehalt" des förmlichen Gesetzes für Regelungen, wie sie in der Allgemeinverfügung vom 28.April 1971 getroffen worden sind, enthalten, so bleibt unbeschadet dessen der Legislative die Möglichkeit, auch die Regelung der hier in Frage stehenden Formen und Fristen des verwaltungsrechtlichen Vorverfahrens an sich zu ziehen (vgl §§ 68 ff VwGO); die Möglichkeit einer Regelung durch die Legislative begründet aber noch keinen Gesetzesvorbehalt.

50

Gewährleistet sein muß allerdings in jedem Fall, daß eine abstrakt-generelle Bestimmung von Fristen und Formen für ein verwaltungsrechtliches Vorverfahren, wie sie die Allgemeinverfügung vom 28.April 1971 gegenüber einem bestimmten Personenkreis vornimmt, jedem, den es angeht, bekannt werden kann, und daß die getroffene Regelung für jeden gleich gehandhabt wird. Bestünde hier Rechtsunsicherheit, so würde in der Tat der Zugang zum Gericht, wie ihn Art.19 Abs.4 GG gewährleistet, unzumutbar erschwert; das folgt ohne weiteres aus der Schwere der Sanktion, die § 24 Abs.2 EGGVG anordnet.

51

3. Dieser Umstand mag dafür sprechen, daß in Zukunft das verwaltungsrechtliche Vorverfahren des § 24 Abs.2 EGGVG durch Gesetz geregelt wird; § 97 Abs.3 des Entwurfes eines Strafvollzugsgesetzes deutet darauf hin, daß diese Absicht besteht ("Das Landesrecht kann vorsehen, ..."). Im Zuge der Bestrebungen, durch ein Strafvollzugsgesetz den Schutz der Grundrechte der Gefangenen zu verbessern (vgl BVerfGE_33,1 <13>), wäre auch die Überlegung erwägenswert, das Vorverfahren bundeseinheitlich zu regeln, was durchaus durch gleichlautende Vorschriften der Länder geschehen könnte; Mißverständnissen und Falschinformationen bei den Gefangenen würde so vorgebeugt werden können.

52

4. Das alles ändert aber nichts daran, daß die in Nordrhein- Westfalen getroffene Regelung auch unter den eben genannten Gesichtspunkten der gleichmäßigen Geltung und ausreichenden Publikation verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden kann.

53

Unschädlich ist zunächst, daß das Oberlandesgericht Hamm seinerzeit -- im Beschluß vom 14.November 1960 -- sich zur Begründung des "Rechtssatzcharakters" von Vorläufern der Allgemeinverfügung vom 28.April 1971 auch auf das "besondere Gewaltverhältnis" berufen hat. Es folgte damit einer damals weit verbreiteten Rechtsmeinung. Erst in jüngerer Zeit ist klargestellt worden, daß aus einem besonderen Gewaltverhältnis Eingriffe in die Grundrechte von Gefangenen nicht mehr zu rechtfertigen sind und daß solche Eingriffe -- soweit sie unerläßlich sind -- ohne gesetzliche Grundlage nur noch für eine Übergangszeit bis zum Erlaß eines förmlichen Vollzugsgesetzes hin genommen werden können (vgl BVerfGE_33,1 <13>). Damit steht fest, daß ein -- wie immer definiertes -- "besonderes Gewaltverhältnis" nicht geeignet ist, eine Regelung durch förmliches Gesetz oder eine im Rahmen des Art.80 GG ergangene Rechtsverordnung dort entbehrlich zu machen, wo der Vorbehalt des Gesetzes gilt. Vorliegend handelt es sich aber, wie bereits dargetan, nur um die Ausformung von Modalitäten eines verwaltungsrechtlichen Vorverfahrens durch die Verwaltung in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich, die keinem Gesetzesvorbehalt unterliegt.

54

Die Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm, daß die Allgemeinverfügung vom 28. April 1971 jedem Beschwerdeführer in gleicher Weise ein subjektives Recht auf Prüfung seiner Beschwerde und auf Bescheidung in der Sache gewährt, läßt sich aber auch auf andere Weise begründen. Gleiches gilt für die Auffassung der Landesregierung, den Betroffenen werde eine Rechtsstellung eingeräumt, die hinter einem durch Gesetz oder Rechtsverordnung eingeführten Beschwerdeverfahren nicht zurückbleibe. Das Oberlandesgericht selbst hat sich bereits auf die Stimmen der Rechtsprechung und Lehre bezogen, die einer Verwaltungsvorschrift wie der in Rede stehenden Allgemeinverfügung die Eigenschaft beilegen, durch eine "Selbstbindung der Verwaltung" subjektive Rechtspositionen der Adressaten zu erzeugen, die denen auf Gesetz beruhenden gleichzuachten sind (vgl dazu auch Schäfer in Löwe-Rosenberg, aaO). Es kann offenbleiben, ob und inwieweit der Gedanke der "Selbstbindung", der zunächst für den "Bereich einer durch das objektive Recht eingeräumten Ermächtigung (der Verwaltung), bei Vorliegen bestimmter Tatbestandsmerkmale letztverbindlich nach ihrem Ermessen zu entscheiden" ( BVerwGE_34,278 <280f> mit Nachweisen), entwickelt worden ist, eine Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften rechtfertigen kann. Für den vorliegenden Fall, die Regelung des Verwaltungsverfahrens durch Verwaltungsvorschrift, führen schon folgende Überlegungen zu einer Bejahung des materiellen Rechtssatzcharakters der Allgemeinverfügung.

55

§ 24 Abs.2 EGGVG ist eine bewußt "unvollständige" Norm. Der Bundesgesetzgeber hat den Ländern die Regelung des Vorverfahrens vorbehalten und es ihnen überlassen, ob dies durch Gesetz oder, wie bis dahin üblich, durch Verwaltungsverordnung geschehen soll. Dabei ging er davon aus, daß der erstrebte Zweck auch durch eine Verwaltungsverordnung erreicht werden könne. Dieser Zweck ist ein doppelter. Einmal geht es darum, der Verwaltung in ihrem eigenen Interesse eine Selbstprüfung zu ermöglichen und dadurch auch die Gerichte zu entlasten. Mit diesem Zweck wäre wohl noch vereinbar, wenn es im Belieben oder auch nur im pflichtgemäßen Ermessen der übergeordneten Vollzugsbehörde liegen würde, ob sie auf eine Beschwerde förmlich und sachlich eingeht. Durch den "förmlichen Rechtsbehelf" des Vorverfahrens soll aber zum anderen den Gefangenen eine "zweite Instanz" im Rahmen der Verwaltung eröffnet werden, die im Falle einer Rechtsverletzung sofort einzuschreiten und die Ermessensausübung der nachgeordneten Vollzugsbehörde nicht nur in den Grenzen der gerichtlichen Prüfung nach § 28 Abs.3 EGGVG, sondern in vollem Umfange zu kontrollieren hat. Dieser Zweck wird nur erreicht, wenn die Regelung der Verwaltungsvorschrift auch für die Verwaltung verbindlich ist und wie eine Norm des objektiven Rechts angewendet wird (vgl dazu Ossenbühl, aaO S.509 ff). Der Allgemeinverfügung vom 28.April 1971 kommt also schon kraft ihrer gesetzlich intendierten Funktion, die Rechtmäßigkeit und Richtigkeit von Maßnahmen des Strafvollzugs gewährleisten zu helfen, Bindungswirkung gegenüber dem betroffenen Bürger zu. Sie ist damit Bestandteil der objektiven Rechtsordnung.

56

Dem Erfordernis der Publikation ist durch die Veröffentlichung der Allgemeinverfügung im Justizministerialblatt Genüge getan. Ob damit allein schon dem Bedürfnis der Unterrichtung der Gefangenen genügt ist, kann dahingestellt bleiben. Im Zusammenhang mit den "Verhaltensvorschriften" für die Gefangenen ist jedenfalls eine ausreichende Information über das Beschwerdeverfahren für alle, die es angeht, sichergestellt worden.

57

In diesem Zusammenhang ist allerdings anzumerken, daß die "Verhaltensvorschriften" die Rechtslage insofern unzutreffend darstellen, als sie den Eindruck erwecken, das Beschwerdeverfahren sei stets Voraussetzung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung. Das ist nach § 27 Abs.1 EGGVG nicht der Fall. Daran ändert, wegen des Vorrangs des Gesetzes, die Allgemeinverfügung vom 28.April 1971 nichts. Weil die "Verhaltensvorschriften" eine offizielle Äußerung der Vollzugsbehörde darstellen, dürfen sie Mißverständnisse nicht fördern. Unbeschadet dessen, daß die Entscheidung über die vorliegenden Verfassungsbeschwerden hiervon nicht berührt wird, weil die Voraussetzungen des § 27 Abs.1 EGGVG in den vorliegenden Fällen nicht gegeben waren, werden die zuständigen Behörden dafür Sorge zu tragen haben, daß in die "Verhaltensvorschriften" geeignete und vollständige Hinweise auf die gesetzliche Regelung aufgenommen werden."

 

Auszug aus BVerfG B, 28.10.75, - 2_BvR_883/73 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.39 ff

§§§

75.021 Teilung-Baugrundstück
 
  1. BVerfG,     U, 28.10.75,     – 2_BvL_9/74 –

  2. BVerfGE_40,261 = NJW_76,141 -42 = BGBl_I_75,3004

  3. (Ns) LBO_§_4 Abs.3 S.1; GG_Art.74 Nr.18

 

1) Die in § 4 Abs.3 S.1 BauO NS getroffene Bestimmung, daß die Teilung eines bebauten Grundstücks der Genehmigung durch die Bauaufsichtsbehörde bedarf, ist mit dem GG vereinbar.

 

2) Dem Bund ist vom GG nur für die in Art.74 Nr.18 GG aufgeführten Teile der Gesamtmaterie "Baurecht" die Gesetzgebungszuständigkeit zugewiesen worden. Hingegen ist ihm nicht - auch nicht unter dem Gesichtspunkt des "Sachzusammenhangs", des "Wandels der Verhältnisse" und der Natur der Sache" - die Kompetenz gewährt, Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des Bauordnungsrechts zu erlassen; dieses ist vielmehr eine eigenständige Rechtsmaterie (so auch BVerfG, E vom 16.06.54 - 1_PBvV_2/52 - BVerfGE_3,407 ).

 

3) Die hier vorgelegte Rechtsnorm ist eine Vorschrift des Bauordnungsrechts und reicht somit nicht in die dem Bund vorbehaltene Regelungsbefugnis hinein.

§§§

75.022 Vorgefaßter Richter
 
  1. BVerfG,     B, 28.10.75,     – 2_BvR_258/75 –

  2. BVerfGE_40,268 = www.dfr/BVerfGE

  3. WDO_§_40 Abs.3, WDO_§_41 Abs.5; GG_Art.101 Abs.1 S.2

T-75-04

LB 1) § 41 Abs.5 ist eine Vorschrift, die den gesetzlichen Richter iSd Art.101 Abs.1 S.2 GG definiert.

Abs.16

LB 2) § 41 Abs.5 WDO trägt dem verfassungsrechtlichen Gebot Rechnung, daß der Richter die Gewähr der Unparteilichkeit bieten muß und nicht die erforderliche Neutralität und Distanz gegenüber den Beteiligten vermissen lassen darf (BVerfGE_30,149 <153>).

* * *

T-75-04Befangenheit und gesetzlicher Richter

15

"1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, sie ist auch begründet. Der angefochtene Beschluß ist unter Verletzung des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG zustande gekommen. Denn Vorsitzender Richter am Truppendienstgericht Dr B... war in dem Antragsverfahren nach § 40 Abs.3 WDO von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen (§ 41 Abs.5 WDO). Art.101 Abs.1 Satz 2 GG verlangt, daß sich der für den Einzelfall zuständige Richter möglichst eindeutig aus einer allgemeinen Norm ergeben muß ( BVerfGE_22,254 <258>; BVerfGE_30,149 <152 f>). Zu den allgemeinen Normen gehören die gesetzlichen Vorschriften, die bestimmen, unter welchen Voraussetzungen ein Richter von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen ist. Eine solche Vorschrift ist § 41 Abs.5 WDO. Sie wurde erst durch Art.I Nr.37 des Gesetzes zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts vom 21.August 1972 (BGBl.I S.1481) in die Wehrdisziplinarordnung aufgenommen und ergänzt die bisherigen Vorschriften über die Ausschließung eines Richters kraft Gesetzes im disziplinargerichtlichen Verfahren (§ 71 WDO in Verbindung mit § 23 StPO) und Wiederaufnahmeverfahren (§ 126 Abs.4 WDO in Verbindung mit § 107 Bundesdisziplinarordnung - vgl BTDrucks.VI/1834 S.45 -).

16

Die Vorschrift des § 41 Abs.5 WDO trägt also dem verfassungsrechtlichen Gebot Rechnung, daß der Richter die Gewähr der Unparteilichkeit bieten muß und nicht die erforderliche Neutralität und Distanz gegenüber den Beteiligten vermissen lassen darf ( BVerfGE_30,149 <153>). Ziel der in § 41 Abs.5 WDO niedergelegten Ausschließungsgründe ist es daher, den - wenn auch möglicherweise objektiv unbegründeten - Verdacht der Parteilichkeit bei dem Betroffenen auszuräumen, wenn - wie im vorliegenden Fall - das Gericht zu prüfen hat, ob neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die zur Aufhebung der gegen den Beschwerdeführer verhängten Disziplinarmaßnahme führen können (§ 40 Abs.3 WDO). Da Vorsitzender Richter Dr. B... von der Mitwirkung an dieser Entscheidung kraft Gesetzes ausgeschlossen war, mußte sie wegen Verletzung des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG aufgehoben werden."

 

Auszug aus BVerfG B, 28.10.75, - 2_BvR_258/75 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.15

§§§

75.023 Effektiver Rechtsschutz
 
  1. BVerfG,     B, 29.10.75,     – 2_BvR_630/73 –

  2. NJW_76,141

  3. GG_Art.19 Abs.4

 

Art.19 Abs.4 GG garantiert auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von der Prozeßordnung zur Verfügung gestellten Instanzen.

§§§

75.024 Abgeordnetendiäten
 
  1. BVerfG,     SU, 05.11.75,     – 2_BvR_193/74 –

  2. BVerfGE_40,296 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.20, GG_Art.33 Abs.5, GG_Art.38 Abs.1, GG_Art.48 Abs.3; (SL) LTG_§_13 Abs.1; LTG_§_5, LTG_§_6, LTG_§_9, LTG:§_13 Abs.1, LTG_§_13 Abs.2, LTG_§_14, LTG_§_16 Abs.1 S.2

T-75-06

1) Aus der in Art.48 Abs.3 GG geforderten Entschädigung, die einmal eine Entschädigung für besonderen, mit dem Mandat verbunden Aufwand war, ist eine Alimentation des Abgeordneten und seiner Familie aus der Staatskasse geworden als Entgelt für die Inanspruchnahme des Abgordneten durch sein zur Hauptbeschäftigung gewordenes Mandat.

 

2) Der Abgeordnete, der dadurch nicht "Beamter" geworden, sondern vom Vertrauen der Wähler berufen - Inhaber eines öffentlichen Amtes, Träger des "freien Mandats" und "Vertreter des ganzen Volkes" geblieben ist, erhält nicht mehr bloß eine echte Aufwandsentschädigung, er bezieht aus der Staatskasse ein Einkommen.

 

3) a) Aus dem formalisierten Gleichheitssatz folgt, daß jedem Abgeordneten eine gleich hoch bemessene Entschädigung zusteht, unabhängig davon, ob die Inanspruchnahme durch die parlamtenarische Tätigkeit größer oder geringer ist, ob der individuelle finanzielle Aufwand oder das Berufseinkommen verschieden hoch ist.

b) Die Alimentation ist so zu bemessen, daß sie auch für den, der, aus welchen Gründen immer, kein Einkommen aus einem Beruf hat, aber auch für den, der infolge des Mandats Berufseinkommen ganz oder teilweise verliert, eine Lebensführung gestattet, die der Bedeutung des Amtes gemessen ist.

 

4) Die Alimentation der Abgeordneten mit dem Charakter von Einkommen muß nach Grundsätzen, die für alle gleich sind, der Besteurung unterworfen werden. Nur die Entschädigung für wirklich entstandenen, sachlich angemessenen, mit dem Mandat verbundenen besonderen Aufwand ist daneben noch echte Aufwandsentschädigung, die auch künftig steuerfrei bleiben kann.

Abs.42

5) a) Die die Beamten unter den Abgeordneten betreffenden Regelung gehören materiell zum Recht des Status des Abgeordneten, gleichgültig, ob sie in Rechtsstellungs-, Diäten- oder Beamtengesetzen enthalten sind.

b) Daß der ins Parlament gewählte Beamte sein Gehalt behält oder in den Ruhestand tritt und Ruhegehalt bezieht, war von Anfang an und ist bis zu den noch in Geltung stehenden Regelungen ein mit dem Mandat verbundenes Privileg geblieben.

c) Dieses Privileg hat seine Berechtigung innerhalb des Abgeordnetenrechts in dem Augenblick verloren, in dem der Abgeordnete angemessen alimentiert wird. Außerdem widerspricht das Privileg dem formalisierten Gleichheitssatz

 

6) Art.48 Abs.3 in Verbindung mit Art.38 Abs.1 GG verlangt gesetzliche Vorkehrungen dagegen, daß Abgeordnete Bezüge aus einem Angestelltenverhältnis, aus einem sogenannten Beratervertrag oder ähnlichem, ohne die danach geschuldeten Dienste zu leisten, nur deshalb erhalten, weil von ihnen im Hinblick auf ihr Mandat erwartet wird, sie würden im Parlament die Interessen des zahlenden Arbeitgebers, Unternehmers oder der zahlenden Großorganisation vertreten und nach Möglichkeit durchzusetzen versuchen. Einkünfte dieser Art sind mit dem unabhängigen Status der Abgeordneten und ihrem Anspruch auf gleichmäßgige finazielle Ausstattung in ihrem Mandat unvereinbar.

 

7) Das demokratische und rechtsstaatliche Prinzip (Art.20 GG) verlangt, daß der Willensbildungsprozeß im Parlament, der zur Festsetzung der Höhe der Entschädigung und zur näheren Ausgestaltung der mit dem Abgeordnetenstatus verbundenen finanziellen Regelungen führt, für den Bürger durchschaubar ist und das Ergebnis vor den Augen der Öffentlichkeit beschlossen wird.

Abs.42

LB 8) Zur privilegienfeindlichen Demokratie.

Abs.46

LB 9) Zur Entschädigungsfestlegung durch den Landtag.

Abs.61

LB 10) Zur Steuerfreiheit von Diäten.

Abs.64

LB 11) Zur Vereinbarkeit verschiedener Regelungen des LTG Saarland mit dem GG.

 

LB 12 In der abweichenden Meinung des Richters Vizepräsident Seuffert bemängelt dieser:

a) dass in der Entscheidungsformel die verletzten Grundrechtsnormen nicht angegeben sind

b) dass die Abgeordnetenentschädigung als Entgelt für Dienste angesehen wird

c) dass die Abgeordnetenentschädigung als Vollalimentation aus der Staatskasse angesehen wird,

d) und dass beamtenrechtliche Regelungen als "Annex der Besoldung des Abgeordneten angesehen werden. (vgl BVerfGE_40,330 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs.69 ff.)

Anm

Anmerkung zur befremdlichen Veröffentlichungspraxis im Saarland.

* * *

Schlussurteil

Entscheidungsformel:

1) Die Paragraphen 5, 6, 9 und 13 Absatz 1 Nummer 1 bis 4, 16 Absatz 1 Satz 2 des Saarländischen Gesetzes Nr.970 über den Landtag des Saarlandes vom 20.06.73 (Amtsbl.73,517) sind mit dem Grundgesetz unvereinbar.

2) Das Saarland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

* * *

T-75-06Demokratie: privilegienfeindliche

35

C.

"Die angegriffene Vorschrift des § 13 Abs.1 Nr.4 LTG ist mit dem Grundgesetz unvereinbar; sie verstößt sowohl gegen Art.48 Abs.3 Satz 1 GG als auch gegen den formalisierten Gleichheitssatz. Auch die §§ 5, 6, 9, 13 Abs.1 und 2, 14 und 16 Abs.1 Satz 2 LTG, die mit der angegriffenen Vorschrift in Zusammenhang stehen und deshalb zu prüfen sind, sind mit dem Grundgesetz unvereinbar.

I.

36

Die Regelungen im Landtagsgesetz gehen ebenso wie die entsprechenden Regelungen für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der übrigen Landesparlamente noch von der überkommenen Vorstellung über die Rechtsstellung des Abgeordneten und der ihm danach zukommenden finanziellen Ausstattung aus. Dieser Status der Abgeordneten hat sich zwar nicht im Kern, aber in mehrfacher Hinsicht erheblich geändert. Darauf hat das Bundesverfassungsgericht früher schon hingewiesen: "Im Zuge der in einer Reihe von Staaten zu beobachtenden Entwicklung von der liberal-repräsentativen zur parteienstaatlichen Demokratie scheint in der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit auch der Charakter der Aufwandsentschädigung sich allmählich zu wandeln. Je mehr nämlich die Abgeordneten von ihrem früheren repräsentativen Status einbüßen, um so weniger wird die Aufwandsentschädigung ihren ursprünglichen Sinn erfüllen können, die Unabhängigkeit des einzelnen Abgeordneten sicherzustellen. Es ist daher kein Zufall, daß die Aufwandsentschädigung in einigen Staaten sich mehr und mehr einem Entgelt für die im Parlament geleisteten Dienste annähert und den Charakter einer Besoldung oder eines Gehalts annimmt" (BVerfGE_4,144 <151>). "Die Tätigkeit des Abgeordneten ist im Bund zu einem den vollen Einsatz der Arbeitskraft fordernden Beruf geworden; der Abgeordnete kann daher unter diesem Aspekt heute legitimerweise ein Entgelt beanspruchen, mit dem er seinen und seiner Familie Lebensunterhalt zu bestreiten vermag... Bereits die nach einem bestimmten Prozentsatz des Amtsgehalts eines Bundesministers bemessene Höhe der 'Aufwandsentschädigung' ... zeigt eindrücklich, inwieweit aus der bloßen 'Entschädigung' in Wirklichkeit eine 'Bezahlung' für die parlamentarische Tätigkeit geworden ist. Noch deutlicher tritt der veränderte Charakter der Entschädigung bei der Einführung der Altersversorgung in Erscheinung. Mag man sie auch als einen 'zusätzlichen, auf die nachparlamentarische Zeit projektierten Unabhängigkeitsschutz' (Th. Eschenburg, Der Sold des Politikers, S.76 f) etikettieren und mit diesem Etikett ins Leben gerufen haben (...), in Wirklichkeit ist der Ruhegeldanspruch des Abgeordneten heute ein Annex seiner Besoldung" (BVerfGE_32,157 <164 >). Die Entwicklung läßt sich zur Zeit wie folgt zusammenfassen:

37

1. Heute hat jedermann die rechtliche Möglichkeit, mit Erreichung der Volljährigkeit, das ist ab Vollendung des 18.Lebensjahres, Abgeordneter zu werden. Im allgemeinen kann nicht mehr davon ausgegangen werden, daß ein Abgeordneter für die Zeit seiner Mitgliedschaft im Parlament den wirtschaftlichen Rückhalt für sich und seine Familie aus eigenem Vermögen oder eigenem Einkommen aus beruflicher Tätigkeit erzielen kann. Der Typ des unabhängigen, als Einzelpersönlichkeit gewählten Honoratioren-Abgeordneten, dessen wirtschaftliche Existenz durch das Mandat nicht beeinträchtigt wird und mit ihm nicht verbunden ist, ist immer seltener geworden. Der Umfang der Inanspruchnahme durch das Mandat ist so stark gewachsen, daß der Abgeordnete in keinem Fall mit der im Arbeitsleben sonst üblichen und allgemein als Fortschritt empfundenen wöchentlichen Regelarbeitszeit von 40 Stunden seine Verpflichtungen bewältigen kann. Er wird im Parlament durch Plenar- und Ausschußsitzungen, in der Fraktion und Partei durch Sitzungen und Arbeiten sowie im Wahlkreis durch Veranstaltungen der verschiedensten Art, nicht zuletzt durch Wahlvorbereitungen und Wahlversammlungen in Anspruch genommen. So sehr er theoretisch die Freiheit hat, seine Aktivitäten in diesen drei Bereichen nach eigenem Ermessen bis über die Grenze der Vernachlässigung seiner Aufgabe hinaus einzuschränken, in der Praxis kann er sich dies aus den verschiedensten Gründen nicht leisten. Deshalb sind nach den Bekundungen der Experten in der mündlichen Verhandlung für Bundestagsabgeordnete, die neben ihrer Abgeordnetentätigkeit noch versuchen, ihrem Beruf wenigstens teilweise nachzugehen, Wochenarbeitszeiten zwischen 80 und 120 Stunden und für Landtagsabgeordnete, die ihrem Beruf nachgehen, Wochenarbeitszeiten zwischen 60 und 100 Stunden typisch und unvermeidbar. Außerdem: Niemand bewirbt sich heute um einen Abgeordnetensitz, um ihn nach vier Jahren wieder aufzugeben. Regelmäßig faßt er den Entschluß, für den Bundestag oder einen Landtag zu kandidieren in der Absicht, alles zu tun, um das Mandat so lange zu behalten, wie ihm die Wiederwahl aufgrund des Vertrauens von Partei und Wählern gelingt. Das liegt in der Regel auch im Interesse der politischen Partei und des Parlaments. Dementsprechend ist die Zahl der Abgeordneten, die während mehrerer Legislaturperioden dem Parlament angehören, relativ groß. Die parlamentarische Demokratie einer höchst komplizierten Wirtschafts- und Industriegesellschaft, in der Rechtsstaat, Freiheit und Pluralismus entscheidend mit Hilfe der politischen Parteien aufrechterhalten werden sollen, verlangt vom Abgeordneten mehr als nur eine ehrenamtliche Nebentätigkeit, verlangt den ganzen Menschen, der allenfalls unter günstigen Umständen neben seiner Abgeordnetentätigkeit noch versuchen kann, seinem Beruf nachzugehen. Dem entspricht auch das Erscheinungsbild des heutigen Parlamentariers; für Abgeordnete mit besonderen Funktionen im Parlament oder in den Fraktionen tritt die berufliche Tätigkeit völlig in den Hintergrund. Schließlich: Die Gefahr einer Beeinträchtigung der Unabhängigkeit des Abgeordneten droht heute nicht mehr vom Staat, sondern eher von der politischen Partei, der er angehört, und vor allem von einflußreichen Gruppen der Gesellschaft.

38

Diese Veränderungen der Verhältnisse hatten ihre Auswirkungen auf die Gestaltung der Abgeordnetenentschädigung: Während zunächst die Abgeordnetendiäten nichts anderes und nicht mehr als ein Ausgleich des mit dem Abgeordnetenmandat verbundenen besonderen Aufwands waren - ursprünglich gehörte nicht einmal der Verdienstausfall dazu -, mehrten sich nach und nach, seit 1950 immer rascher, die Formen der verschiedenen Entschädigungen; ein Teil, die Grundentschädigung, wurde vielfach dynamisiert, indem man sie mittelbar mit der Beamtenbesoldung koppelte; in den meisten Ländern zogen die Ruhegehälter der Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst (das sog. Beamtenprivileg) die Verdienstausfallentschädigung für Abgeordnete nach sich, die einen privaten Beruf ausübten; in Bund und Ländern wuchsen nicht zuletzt infolge des Übergangs zum Pauschalierungsprinzip die Beträge der Entschädigungen beträchtlich )(zB Reisekosten-, Bürokosten-, Tagegeld-Pauschale); zu den "normalen" Abgeordnetendiäten traten besondere Entschädigungen für die Parlamentspräsidenten, die Vizepräsidenten, die Ausschußvorsitzenden, in einer Reihe von Landtagen für die Fraktionsvorsitzenden, für die Schriftführer und in einigen Ländern für die Oppositionsführer hinzu; dem Übergangsgeld für ausscheidende Abgeordnete, das zugleich die Übergangszeit zwischen den Wahlperioden überbrückt, folgte schließlich die Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversorgung. Das Ergebnis ist, daß aus der Entschädigung für einen besonderen, mit dem Mandat verbundenen Aufwand eine Alimentation des Abgeordneten und seiner Familie aus der Staatskasse geworden ist als Entgelt für die Inanspruchnahme des Abgeordneten durch sein zur Hauptbeschäftigung ("full-time-job") gewordenes Mandat. Aus der Entschädigung des Inhabers eines Ehrenamtes ist die Bezahlung für die im Parlament geleistete Tätigkeit geworden. Der Abgeordnete, der dadurch natürlich nicht "Beamter" geworden, sondern - vom Vertrauen der Wähler berufen - Inhaber eines öffentlichen Amtes, Träger des "freien Mandats" und "Vertreter des ganzen Volkes" geblieben ist, erhält nicht mehr bloß eine echte Aufwandsentschädigung, er bezieht aus der Staatskasse ein Einkommen. Das gilt jedenfalls für den Bundestagsabgeordneten. Ob es auch für alle Landesparlamente gilt, kann hier offenbleiben. Im folgenden genügt der Nachweis, daß das genannte Ergebnis nach dem Landtagsgesetz auch für den Abgeordneten des Saarländischen Landtags zutrifft.

39

2. Den Schwerpunkt der Entschädigung für den Abgeordneten des Saarländischen Landtags bilden die Entschädigung nach § 11 LTG, die im Januar 1975 nach Auskunft des Direktors des Landtages 2039,80 DM betrug und steuerfrei ist, und - für Beamte, die gemäß § 5 in den Ruhestand treten - mindestens 60 vH der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge (§ 6 Abs.2 LTG), - für Angestellte des öffentlichen Dienstes - ebenfalls mindestens 60 vH der Vergütung, die ihnen bei Verbleiben im Dienst in ihrer Vergütungsgruppe zugestanden hätte (§ 9 Abs.1 LTG), - für Berufstätige außerhalb des öffentlichen Dienstes - eine steuerfreie Verdienstausfallentschädigung gemäß § 13 LTG, für Angestellte und Selbständige höchstens 1000 DM. Der Abgeordnete ohne besondere parlamentarische Funktion erhält danach in der Regel monatlich über 3000 DM. Dazu kommen freie Benutzung des Telefons in den Räumen des Parlaments, freie Fahrkarte, 350 DM monatliche Bürokostenpauschale, für den Abgeordneten monatlich 50 DM, für die Schriftführer monatlich 250 DM, für die Vizepräsidenten und Fraktionsvorsitzenden monatlich 450 DM Kilometerpauschale sowie für jeden Abgeordneten 10 Fahrten vom Wohnsitz zum Landtag und zurück 0,40 DM je Kilometer, schließlich ein Sitzungsgeld von mindestens 40 DM pro Tag. Da bei der Größe und den Verkehrsverhältnissen des Saarlandes in der Regel ein doppelter Wohnsitz nicht erforderlich ist und die genannten zusätzlichen pauschalierten sonstigen Entschädigungen (§ 14 LTG) reichlich bemessen sind, steht das Einkommen von monatlich über 3000 DM netto für den Unterhalt des Abgeordneten und seiner Familie zur Verfügung. Das ist - ohne daß hier schon auf die Angemessenheit abgehoben wird - eine Vollalimentierung aus der Staatskasse für die Tätigkeit als saarländischer Landtagsabgeordneter.

II.

40

1. Im Lichte der dargelegten, nicht zufälligen, sondern notwendigen und innerlich folgerichtigen, schwerlich reversiblen Entwicklung gewinnt Art.48 Abs.3 GG eine neue Bedeutung. Die dort für die Abgeordneten geforderte "angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung" muß für sie und ihre Familien während der Dauer ihrer Zugehörigkeit zum Parlament eine ausreichende Existenzgrundlage abgeben können. Sie muß außerdem der Bedeutung des Amtes unter Berücksichtigung der damit verbundenen Verantwortung und Belastung und des diesem Amt im Verfassungsgefüge zukommenden Ranges gerecht werden. Die Bemessung des parlamentarischen Einkommens darf die Entscheidungsfreiheit des Abgeordneten und die praktische Möglichkeit, sich seiner eigentlichen parlamentarischen Tätigkeit auch um den Preis, Berufseinkommen ganz oder teilweise zu verlieren, widmen zu können, nicht gefährden. Die Alimentation ist also so zu bemessen, daß sie auch für den, der, aus welchen Gründen immer, kein Einkommen aus einem Beruf hat, aber auch für den, der infolge des Mandats Berufseinkommen ganz oder teilweise verliert, eine Lebensführung gestattet, die der Bedeutung des Amtes angemessen ist. Anderen Zwecken als dem der Unterhaltssicherung, beispielsweise einer Mitfinanzierung der Fraktion oder politischen Partei oder der Beteiligung an Wahlkosten, hat die Entschädigung nicht zu dienen. Die angemessene, die Unabhängigkeit sichernde Entschädigung im Sinne des Art.48 Abs.3 Satz 1 GG ist demnach heute eine Vollalimentation aus der Staatskasse.

41

2. Die Entschädigung wird damit keineswegs zu einem "arbeitsrechtlichen Anspruch, mit dem ein Anspruch auf Erfüllung dienstlicher Obliegenheiten korrespondieren würde - der Abgeordnete "schuldet" rechtlich keine Dienste, sondern nimmt in Unabhängigkeit sein Mandat war -; ebensowenig wird sie damit zu einem Gehalt im beamtenrechtlichen Sinn - der Abgeordnete ist, wie dargelegt, kein Beamter -, steht also nicht unter den verfassungsrechtlich gesicherten hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums (Art.33 Abs.5 GG); sie wird von diesen Grundsätzen überhaupt nicht berührt. Diese Entschädigung hat auch nichts mit den Regelungen des Gehalts in den Besoldungsgesetzen zu tun. Sie verträgt deshalb auch keine Annäherung an den herkömmlichen Aufbau eines Beamtengehalts und keine Abhängigkeit von der Gehaltsregelung, etwa in der Weise, daß sie unmittelbar oder mittelbar in Von-Hundert-Sätzen eines Beamtengehalts ausgedrückt wird. Denn dies letztere ist kein bloß "formal-technisches Mittel" zur Bemessung der Höhe der Entschädigung, sondern der Intention nach dazu bestimmt, das Parlament der Notwendigkeit zu entheben, jede Veränderung in der Höhe der Entschädigung im Plenum zu diskutieren und vor den Augen der Öffentlichkeit darüber als einer selbständigen politischen Frage zu entscheiden. Wertet man also die "technische" Kopplung der Entschädigung an eine besoldungsrechtliche Regelung materialiter, so führt sie zur Abhängigkeit jeder Erhöhung der Entschädigung von einer entsprechenden Erhöhung der Besoldung. Genau dies aber widerstreitet der verfassungsrechtlich gebotenen selbständigen (und nicht in die ganz andere Entscheidung über die angemessene Besoldung der Beamten eingeschlossene) Entscheidung des Parlaments über die Bestimmung dessen, was nach seiner Überzeugung "eine angemessene, die Unabhängigkeit sichernde Entschädigung" ist. Nicht einmal § 60 BBesG aF (jetzt § 14 in der Fassung des 2.BesVNG vom 23.Mai 1975 ) läßt sich auf die Abgeordnetenbezüge entsprechend anwenden.

42

Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine grundsätzlich privilegienfeindliche Demokratie. Zwar fordert der Gleichbehandlungssatz nicht, daß der Gesetzgeber die Einzelnen und ihre relevanten gesellschaftlichen Gruppen unbedingt gleichmäßig behandelt; er läßt Differenzierungen zu, die durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt sind. Ob und in welchem Ausmaß der Gleichheitssatz bei der Ordnung bestimmter Materien dem Gesetzgeber Differenzierungen erlaubt, richtet sich nach der Natur des jeweiligen Sachbereichs (BVerfGE_6,84 (91); BVerfGE_32,157 (167); ständige Rechtsprechung). Für den Sachbereich der Wahlen ist nach der historischen Entwicklung zum Demokratisch-Egalitären hin, die im Grundgesetz für das Bundestagswahlrecht in Art.38 Abs.1 Satz 1 und für das Wahlrecht in den Ländern, Kreisen und Gemeinden in Art.28 Abs.1 Satz 2 ihren verfassungsrechtlich verbindlichen Ausdruck gefunden hat, davon auszugehen, daß jedermann seine staatsbürgerlichen Rechte in formal möglichst gleicher Weise soll ausüben können (BVerfGE_11,266 (272); BVerfGE_34,81 (98) mit weiteren Hinweisen; ständige Rechtsprechung). Das gilt nicht nur für die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts im engeren Sinn, es gilt auch für die Ausübung des Mandats. Das Grundgesetz kennt im Wahlrecht und im Parlamentsrecht keine für den Status des Abgeordneten erheblichen besonderen in seiner Person liegenden Umstände, die eine Differenzierung innerhalb des Status rechtfertigen können. Alle Mitglieder des Parlaments sind einander formal gleichgestellt. Das Prinzip dieser formalisierten Gleichbehandlung ist verfassungsrechtlich im egalitären Gleichheitssatz ausgeprägt. Aus ihm folgt: Jedermann muß ohne Rücksicht auf soziale Unterschiede, insbesondere auf seine Abstammung, seine Herkunft, seine Ausbildung oder sein Vermögen die gleiche Chance haben, Mitglied des Parlaments zu werden. Aus ihm folgt weiter, daß jedem Abgeordneten eine gleich hoch bemessene Entschädigung zusteht, unabhängig davon, ob die Inanspruchnahme durch die parlamentarische Tätigkeit größer oder geringer ist, ob der individuelle finanzielle Aufwand oder das berufliche Einkommen verschieden hoch ist (vgl Maunz in Maunz-Dürig-Herzog, GG, 1973, Art.48, Randnote 17). Eine Ausnahme vom formalisierten Gleichheitssatz im Sinne eines zwingenden Grundes ist nur für den Parlamentspräsidenten und seine Stellvertreter anzuerkennen; ihre angemessene Entschädigung wird dadurch mitbestimmt, daß sie an der Spitze eines obersten Verfassungsorgans stehen.

43

Die so verstandene einheitliche Entschädigung mit Alimentationscharakter schließt aus den dargelegten Gründen alle weiteren, der Höhe nach differenzierten, individuellen oder pauschalierten finanziellen Leistungen an einzelne Abgeordnete aus öffentlichen Mitteln aus, die nicht einen Ausgleich für sachlich begründeten, besonderen, mit dem Mandat verbundenen finanziellen Aufwand darstellen. Danach werden also künftig zB eine Reihe von Pauschalen, Tage- und Sitzungsgeldern, Verdienstausfallentschädigungen und ähnlichen Zuwendungen aus der Parlamentskasse sowie gestaffelte Diäten für Abgeordnete mit besonderen parlamentarischen Funktionen entfallen.

44

b) Art.48 Abs.3 Satz 1 GG in Verbindung mit Art.38 Abs.1 Satz 2 GG und der formalisierte Gleichheitssatz, der bei der Ausgestaltung und Bemessung der Abgeordnetenentschädigung zu beachten ist, berühren die Frage der Begründung und Fortführung eines Berufes neben der Parlamentstätigkeit und das daraus erzielte Einkommen grundsätzlich nicht. Allerdings verlangen sie - unbeschadet des Art.48 Abs.1 und 2 GG - gesetzliche Vorkehrungen dagegen, daß Abgeordnete Bezüge aus einem Angestelltenverhältnis, aus einem sog Beratervertrag oder ähnlichem, ohne die danach geschuldeten Dienste zu leisten, nur deshalb erhalten, weil von ihnen im Hinblick auf ihr Mandat erwartet wird, sie würden im Parlament die Interessen des zahlenden Arbeitgebers, Unternehmers oder der zahlenden Großorganisation vertreten und nach Möglichkeit durchzusetzen versuchen. Einkünfte dieser Art sind mit dem unabhängigen Status der Abgeordneten und ihrem Anspruch auf gleichmäßige finanzielle Ausstattung in ihrem Mandat unvereinbar.

45

Die nähere Regelung entsprechend diesen aus Art.48 Abs.3 Satz 1 GG entwickelten Grundsätzen ist Sache des Gesetzgebers.

46

Die Verfassung des Saarlandes enthält keine Regelung über die Entschädigung für Abgeordnete. Für das Saarland gelten die aus Art.48 Abs.3 GG entwickelten Grundsätze über Art.28 Abs.1 Satz 1 GG. Denn Art.48 Abs.3 GG, der seinem Grundsatzcharakter entsprechend innerhalb der aus ihm entwickelten Grundsätze durch den Gesetzgeber näher konkretisiert werden kann, gehört zu den Essentialen des demokratischen Prinzips, das in Art.28 Abs.1 GG als ein für die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern wesentlicher Bestandteil gefordert wird; demgemäß muß eine landesrechtliche Regelung des Parlamentsrechts an jener Vorschrift des Grundgesetzes gemessen werden. Die Frage, wie sich dies auf die Interpretation von Landesverfassungsbestimmungen auswirkt, die eine Regelung über die Entschädigung von Landtagsabgeordneten enthalten, kann hier offenbleiben.

47

Auf der Grundlage des bisher Dargelegten ergibt sich für die Vorschriften des Landtagsgesetzes, deren Prüfung dieses Verfahren erforderlich macht, im einzelnen folgendes:

48

1. Gegen § 3 Abs.1 Buchst.a und b, von deren Verfassungsmäßigkeit die Bedeutung und die Reichweite der §§ 5 bis 9 LTG abhängen, bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Vorschrift enthält eine gesetzliche Beschränkung der Wählbarkeit von Richtern, Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes, die nach Art. 137 Abs.1 GG statthaft ist (vgl BVerfGE_12,73 <77>; BVerfGE_18,172 <183>). Sie schließt die genannten Personengruppen nicht von der Wählbarkeit aus, sondern untersagt nur, daß sie, solange sie Abgeordnete sind, in ihrem Amt als Richter oder Beamter oder in ihrem Dienst als Angestellter tätig sein dürfen. Diese Inkompatibilitätsregel erfaßt allerdings alle Richter, Beamte und Angestellte des Landes, einer Gemeinde, eines Gemeindeverbandes oder einer sonstigen, der Aufsicht des Landes unterstehenden Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts ohne Rücksicht auf den Rang oder die Bedeutung des Amtes oder die Art der Beschäftigung, obwohl sich innerhalb der genannten öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen Aufgaben denken lassen, bei denen schwerlich die Gefahr einer Vermischung, Verfilzung oder eines Interessenkonflikts zwischen Legislative und Exekutive angenommen werden kann. Abgesehen davon könnte der Wortlaut des Art.137 Abs.1 GG ("Die Wählbarkeit von Beamten ... im Bund, in den Ländern und den Gemeinden") die Auslegung nahelegen, daß der Gesetzgeber von der Ermächtigung nur in der Weise Gebrauch machen kann, daß er einen Teil der bezeichneten Angehörigen des öffentlichen Dienstes - nämlich den Kreis der Personen, bei denen die gleichzeitige Wahrnehmung amtlicher und parlamentarischer Aufgaben zu einer ernsthaften Gefährdung des Prinzips der Gewaltenteilung und zu Interessenkonflikten führen kann - der Wählbarkeitsbeschränkung unterwirft. In Anbetracht der Schwierigkeit, die Grenze innerhalb der im Gesetz genannten Gruppen zwischen denen zu ziehen, deren Tätigkeit sie in die bezeichnete Gefahr bringen kann, und denen, deren Tätigkeit sie nicht in diese Gefahr bringen kann, muß es dem Gesetzgeber überlassen bleiben, in seiner Regelung bis an die äußerste Grenze der Ermächtigung des Art.137 Abs.1 GG zu gehen. Sie ist hier jedenfalls nicht evidenterweise überschritten. Es läßt sich sogar fragen, ob das in Bund und Ländern zu beobachtende unverhältnismäßig starke Anwachsen der Zahl der aktiven und inaktiven Angehörigen des öffentlichen Dienstes unter den Abgeordneten ("Verbeamtung der Parlamente"), sollte es sich fortsetzen, noch mit den Anforderungen eines materiell verstandenen Gewaltenteilungsprinzips vereinbar ist.

49

2. Die von § 3 Abs.1a und b LTG betroffenen Richter und Beamten treten gemäß § 5 LTG mit der Annahme der Wahl in den Ruhestand. Sie erhalten nach § 6 Abs.1 LTG für den Monat, in dem sie in den Ruhestand treten, ihre bisherigen Dienstbezüge in unveränderter Höhe und vom anschließenden Monat ab auf die Dauer der Mitgliedschaft im Landtag Ruhegehalt. Solange dieses Ruhegehalt weniger als 60 vH der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge beträgt, wird den Richtern und Beamten eine Ausgleichszulage in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem Ruhegehalt und 60 vH der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge gewährt. Diese Regelung ist in die Prüfung einzubeziehen, weil von ihr nach der Systematik des Gesetzes die Regelung für Angestellte in § 9 LTG und die Regelung über die Verdienstausfallentschädigung in § 13 Abs.1 LTG abhängen.

50

Die die Beamten unter den Abgeordneten betreffenden Regelungen gehören materiell zum Recht des Status des Abgeordneten, gleichgültig, ob sie in Rechtsstellung-, Diäten- oder Beamtengesetzen enthalten sind. Daß der ins Parlament gewählte Beamte sein Gehalt behält oder in den Ruhestand tritt und Ruhegehalt bezieht, war von Anfang an und ist bis zu den noch in Geltung stehenden Regelungen ein mit dem Mandat verbundenes Privileg geblieben."

51

Dieses Privileg gehört nicht zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums (Art.33 Abs.5); es steht vielmehr mit dem überkommenen Beamtenrecht in Widerspruch. Das Beamtenverhältnis begründet für den Beamten die Pflicht, seine volle Arbeitskraft - grundsätzlich auf Lebenszeit - dem Dienstherrn zur Verfügung zu stellen. Als Korrelat gewährt der Dienstherr dem Beamten lebenslang die angemessene Alimentation für ihn und seine Familie (vgl BVerfGE_21,329 (345). Eine Alimentation des Beamten für die Zeit, in der er trotz Dienstfähigkeit seiner Dienstpflicht nicht nachkommt und die geschuldete Dienstleistung nicht erbringt, gibt es außerhalb der das Beamtenverhältnis mitgestaltenden Elemente des Erholungsurlaubs, der Fortbildung und der kurzfristigen Dienstbefreiung nicht. Deshalb ist im Gesetz bei jedem unentschuldigten Fernbleiben vom Dienst eine entsprechende Gehaltskürzung vorgesehen. Deshalb gibt es Beurlaubung in Sonderfällen nur in Form des unbezahlten Urlaubs. Und schließlich bindet das Beamtenrecht eine Nebenbeschäftigung an die Erlaubnis des Dienstherrn, um zu verhindern, daß der Beamte infolge dieser Nebenbeschäftigung nicht mehr die sich aus dem Beamtenverhältnis ergebenden Pflicht, seine ganze Kraft dem öffentlichen Dienst zu widmen, erfüllt. Der Ruhestand mit Ruhegehalt ist im Beamtenrecht an die Erreichung der Altersgrenze oder an die Dienstunfähigkeit geknüpft. Es gibt für den dienstfähigen Beamten bis zur Dienstaltersgrenze also keine Bezüge, weder volles Gehalt nocht Ruhegehalt, solange er seine geschuldete Leistung aus welchen Gründen auch immer, nicht erbringt. Die dem hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums gemäße Regelung ist also, daß der Beamte, der Mitglied des Parlaments wird und nicht mehr im öffentlichen Dienst tätig ist, für die Dauer dieser Mitgliedschaft ohne Bezüge beurlaubt wird oder daß für diese Zeit das Ruhen seiner Rechte und Pflichten aus dem Beamtenverhältnis angeordnet wird. Die nicht dem Beamtenrecht zugehörige "Ausnahme", in Wirklichkeit das Privileg zugunsten der Abgeordneten, die Beamte sind, hat ihre Berechtigung innerhalb des Abgeordnetenrechts in dem Augeblick verloren, in dem der Abgeordnete angemessen alimentiert wird. Außerdem widerspricht das Privileg dem formalisierten Gleichheitssatz, der sich auch im Abgeordentenrecht durchgesetzt hat. Das gilt auch für die aktiven Beamten, die nicht von der Inkompatibilitätsvorschrift betroffen werden und während ihrer Mitgliedschaft im Landtag, ohne Dienst zu tun, bisher ihr volles Gehalt weiterbezogen haben; im Saarland kann dies für Bundesbeamte und Soldaten in Betracht kommen, die von § 3 Abs.1b LTG nicht erfaßt sind.

52

b) § 6 Abs.2 und 3 LTG macht besonders deutlich, daß die Vorschriften der §§ 5 und 6 Abs.1 LTG der Sache nach nicht eine beamtenrechtliche Regelung enthalten, sondern auf die Alimentierung des Abgeordneten zielen. Denn § 6 Abs.2 und 3 LTG beläßt es nicht bei dem dem Beamten zukommenden Ruhegehalt, sondern garantiert ihm durch einen Unterschiedsbetrag, daß ihm mindestens 60 vH seiner ruhegehaltfähigen Bezüge ausgezahlt werden, und bestimmt ua, daß das Land dem Dienstherrn die Versorgungsbezüge erstattet, soweit nicht die Ruhegehaltskasse des Saarlandes Leistungen gewährt. Indem aber das Gesetz das Ruhegehalt zum Teil der Abgeordnetenalimentation macht, verstößt es wiederum gegen den formalisierten Gleichheitssatz. Denn dieser Teil der Alimentation ist nicht für alle gleich; er schwankt insbesondere der Höhe nach zwischen 60 vH und 75 vH der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge, die ihrerseits verschieden hoch sind, ganz abgesehen davon, daß für Bundesbeamte und Soldaten, die ihr volles Gehalt beziehen, die Abgeordnetenalimentierung noch vorteilhafter ist.

53

Demnach sind die §§ 5, 6 LTG mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

52

3. § 9 LTG, der die Rechtsstellung der Angestellten des öffentlichen Dienstes als Abgeordnete betrifft, kann, wie sich aus Absatz 1 Satz 1 ergibt - er verdankt seinen Inhalt dem Bestreben, die Angestellten des öffentlichen Dienstes den Beamten nach Möglichkeit gleichzustellen -, schon deshalb keinen Bestand haben, weil die §§ 5, 6 LTG, wie dargelegt, verfassungswidrig sind. Für ihn gilt außerdem das zu 2 b) Ausgeführte in gleicher Weise. Die Angestellten des öffentlichen Dienstes erhalten als Abgeordnete nach dieser Vorschrift vom Arbeitgeber in der Form eines Anteils der ihnen vertraglich zugesagten Vergütung etwas, was ihnen nach dem Anstellungsvertrag keineswegs zusteht: Entweder 60 vH oder mehr bis zu 75 vH der Vergütung, wenn sie einen vertraglichen Anspruch auf Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen - selbstverständlich für den Fall des Alters oder der Invalidität! - besitzen, oder wenn sie jenen Anspruch auf Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen nicht besitzen, 60 vH der Vergütung, die ihnen bei Verbleiben im Dienst in ihrer Vergütungsgruppe zugestanden hätte. Was danach der Arbeitgeber nicht kraft Anstellungsvertrag, sondern kraft § 9 LTG zu zahlen hat, wird ihm nach § 9 Abs.3 LTG vom Land erstattet. Es handelt sich also materiell wiederum um einen Teil der Abgeordnetenalimentation, der deshalb dem formalisierten Gleichheitssatz widerspricht und verfassungswidrig ist, weil er nicht für alle gleich hoch bemessen ist, sondern zwischen den dadurch begünstigten Abgeordneten je nach Vergütungsgruppe, Vom-Hundert-Satz und nach Bestehen oder Nichtbestehen eines vertraglichen Anspruchs auf Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen differenziert.

54

4. a) Der Ersatz des Verdienstausfalls nach § 13 Abs.1 LTG bildet nach der Systematik des Gesetzes ebenfalls einen Teil der Abgeordnetenalimentation. Das Bestreben des Gesetzgebers, in diesem Punkt die privaten Angestellten, Arbeiter und Selbständigen ähnlich zu behandeln wie die Angestellten des öffentlichen Dienstes, die ihrerseits annähernd gleich wie die Beamten behandelt werden, ist unverkennbar.

55

Gleichwohl gibt es in § 13 Abs.1 Nr.1 bis 3 LTG beträchtliche, sachlich nicht begründete Unterschiede sowohl innerhalb des dort genannten Personenkreises als auch zwischen diesem und den Angestellten des öffentlichen Dienstes: Abgeordnete, die als Arbeiter beschäftigt sind, erhalten vollen Ersatz des nachgewiesenen tatsächlichen Verdienstausfalls; Abgeordnete, die als Angestellte beschäftigt sind, erhalten Ersatz des - ebenfalls nachzuweisenden und nicht nur zu behauptenden - Lohn- oder Verdienstausfalls, jedoch nur bis zur Hälfte der Bruttobezüge, soweit nicht der gemäß § 13 Abs.2 LTG vom Präsidium festgesetzte Höchstbetrag überschritten wird, und Abgeordnete, die weder im öffentlichen Dienst noch in einem anderen Dienst- oder Arbeitsverhältnis stehen, erhalten schließlich als Verdienstausfall eine Pauschale, die ebenfalls gemäß § 13 Abs.2 LTG vom Präsidium festgesetzt wird. Der Höchstbetrag und die Pauschale betragen nach einer Auskunft der Landtagsverwaltung derzeit 1000 DM. Durch die Höchstbeträge des Verdienstausfallersatzes für die in § 13 Abs.1 Nr.2 und 3 LTG genannten Personen wird eine gewisse Egalisierung dieses Anteils der Alimentierung erreicht. Gänzlich ausgeräumt wird der Verstoß gegen den formalisierten Gleichheitssatz jedoch nicht.

56

b) Der saarländische Gesetzgeber sieht die Entschädigung der leitenden Angestellten im Sinne von § 3 Abs.1 Buchst.c LTG ebenfalls als Ersatz von Verdienstausfall an, der der Regelung der §§ 6 Abs.2, 9 Abs.1 LTG über das Ruhegehalt und die diesem entsprechende Vergütung angenähert ist. § 13 Abs.1 Nr.4 LTG limitiert aber die Entschädigung in doppelter Hinsicht, nämlich auf "60 vom Hundert des bisher bezogenen steuerpflichtigen Entgelts, höchstens jedoch 60 vom Hundert der BesGr.3 der Besoldungsordnung B des Bundesbesoldungsgesetzes einschließlich Ortszuschlag".

57

Es gibt weder einen sachlich vertretbaren noch gar einen zwingenden Grund, für die Privatangestellten (§ 13 Abs.1 Nr.2 LTG) von der "Hälfte der Bruttobezüge" und für die leitenden Angestellten (§ 13 Abs.1 Nr.4 LTG) von 60 vH des bisher bezogenen steuerpflichtigen Entgelts auszugehen und außerdem die danach errechneten Beträge abweichend von den Höchstbeträgen für die Entschädigungen nach § 13 Abs.1 Nr. 2 und 3 LTG auf höchstens 60 vH der BesGr.B 3 des Bundesbesoldungsgesetzes (jetzt Bundesbesoldungsordnung B) zu begrenzen. Der Einwand, daß diese Abgeordneten als Folge der Inkompatibilitätsregelung ihre Stellung aufgeben müssen, während andere Abgeordnete u. U. die Möglichkeit haben, neben dem Landtagsmandat ihre private Tätigkeit auszuüben, verschlägt gegenüber der nach den dargelegten Grundsätzen für alle Mitglieder des Landtages des Saarlandes prinzipiell einheitliche und volle Alimentierung gewährenden Abgeordnetenentschädigung nicht.

59

Die Bemessung der Entschädigung der von § 3 Abs.1 Buchst.c LTG betroffenen Abgeordneten läßt sich auch nicht im Hinblick auf die für Angestellte des öffentlichen Dienstes getroffene Regelung sachlich begründen. Einmal abgesehen von der Verfassungswidrigkeit des § 9 Abs.1 Satz 1 in Verbindung mit den ebenfalls verfassungswidrigen §§ 5, 6 Abs.2 und § 9 Abs.2 LTG, erfahren diese Abgeordneten weder eine Beschränkung auf 60 vH ihrer Aktivbezüge noch eine Beschränkung auf Bezüge höchstens aus der BesGr.3 der Besoldungsordnung B des Bundesbesoldungsgesetzes; für Angestellte im öffentlichen Dienst ohne vertraglichen Anspruch auf Versorgung nach beamtenrechtlichen Grundsätzen sind zwar 60 vH der ihnen im Zeitpunkt der Mandatsübernahme zustehenden Vergütung, aber sonst keine Begrenzung der Höhe nach vorgesehen. Demgegenüber lassen sich insbesondere für die absolute Begrenzung der Verdienstausfallentschädigung nach § 13 Abs.1 Nr.4 LTG auf einen der BesGr.B 3 zuzüglich Ortszuschlag entsprechenden Betrag keine vernünftigen Gründe anführen. Leitende Angestellte im Sinne von § 3 Abs.1 Buchst.c LTG erhalten in der Regel ein beträchtliches Gehalt, wie das Beispiel des Beschwerdeführers zeigt. Mit der etwaigen Absicht des Landesgesetzgebers, dieser Entwicklung bei der Entschädigung der Abgeordneten entgegenzutreten und gleichzeitig kurzfristige Gehaltserhöhungen vor der Mandatsübernahme auf Kosten der Parlamentskasse zu verhindern, kann die dargelegte Differenzierung des Gesetzes gegenüber dem Gebot der formalen Gleichbehandlung der Abgeordneten nicht gerechtfertigt werden. Da die Verfassungswidrigkeit des § 13 Abs.1 Nr.4 LTG feststeht, bedarf es keiner Entscheidung, soweit der Beschwerdeführer auch bemängelt, daß die Gewährung der Entschädigung nach dieser Vorschrift von der Aufgabe der Stellung abhängig gemacht sei und der Gesetzgeber es unterlassen habe, eine Regelung zur Sicherung des Arbeitsplatzes des Betroffenen für die Zeit nach Ablauf des Mandats zu schaffen.

60

c) Im übrigen ist verfassungsrechtlich zu beanstanden, daß § 13 Abs. 2 LTG die Festsetzung des Höchstbetrages für die Entschädigung nach Absatz 1 Nr. 2 und der Pauschale nach Absatz 1 Nr. 3 sowie daß § 14 LTG die Festsetzung der Höhe der "sonstigen Entschädigungen", die Abgeordneten gewährt werden, dem Präsidium des Landtages zuweisen. Damit werden für den Abgeordneten wesentliche Teile seiner finanziellen Ausstattung in einem Verfahren festgesetzt, das sich der Kontrolle der Öffentlichkeit entzieht. In einer parlamentarischen Demokratie läßt es sich nicht vermeiden, daß das Parlament in eigener Sache entscheidet, wenn es um die Festsetzung der Höhe und um die hähere Ausgestaltung, der mit dem Abgeordnetenstatus verbundenen finanziellen Regelungen geht. Gerade in einem solchen Fall verlangt aber das demokratische und rechtstaatliche Prinzip (Art.20 GG), daß der gesamte Willensbildungsprozeß für den Bürger durchschaubar ist und das Ergebnis vor den Augen der Öffentlichkeit beschlossen wird. Denn dies ist die einzige wirksame Kontrolle. Die parlamentarische Demokratie basiert auf dem Vertrauen des Volkes; Vertrauen ohne Transparenz, die erlaubt zu verfolgen, was politisch geschieht, ist nicht möglich."

61

5. Nach § 16 Abs.1 Satz 2 LTG sind die in den §§ 11 bis 14 vorgesehenen Entschädigungen der Abgeordneten steuerfrei. Das widerspricht dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung aller vor dem Gesetz (Art.3 Abs.1 GG).

62

a) Offenbleiben soll daher hier die Frage, ob der Landesgesetzgeber bestimmen kann, daß gewisse Einkünfte der Abgeordneten steuerfrei sein sollen. Auch wenn man die Regelung materiell als zum Abgeordnetenrecht gehörig auffaßte, bliebe noch zu entscheiden, ob einfaches Landesrecht, wenn es inhaltlich mit einfachem Bundesrecht (§ 3 Ziff.12 EStG 1975) übereinstimmt, als vereinbar mit Art.31 GG gültig ist - eine Frage, die in der Entscheidung vom 29.Januar 1974 (BVerfGE_36,342 <357, 367>) offengelassen worden ist. Dahinstehen kann auch, inwiefern der Ersatz des Ausfalls von Einkommen (§ 13 Abs.1 LTG), das seinerseits steuerpflichtig ist, steuerfrei bleiben konnte."

63

b) Die bisherige Steuerfreiheit der Diäten beruht auf der herkömmlichen Auffassung der Abgeordnetenentschädigung als Entschädigung für Mehraufwand und Verdienstausfall infolge der Mandatsausübung. Nachdem die Bezüge der Abgeordneten im wesentlichen den Charakter der Alimentation gewonnen haben, die den Abgeordneten aus der Staatskasse zur Sicherung ihrer Unabhängigkeit und z ur wirtschaftlichen Existenzgrundlage für sie und ihre Familie auf die Dauer ihrer Mitgliedschaft im Parlament gewährt wird, handelt es sich um Einkommen. Dieses Einkommen muß nach Grundsätzen, die für alle gleich sind, der Besteuerung unterworfen werden. Ein willkürliches Steuerprivileg hinsichtlich bestimmter Einkommen ist mit Art.3 Abs.1 GG unvereinbar. Es kann auch nicht mehr aus dem Zweck des Art.48 Abs.3 Satz 1 GG in Verbindung mit Art.38 Abs.1 Satz 2 GG hergeleitet werden. Nur die Entschädigung für wirklich entstandenen, sachlich angemessenen, mit dem Mandat verbundenen besonderen Aufwand ist daneben noch echte Aufwandsentschädigung, die auch künftig steuerfrei bleiben kann. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß diese Aufwandsentschädigung in Orientierung am tatsächlichen Aufwand pauschaliert wird. Die Entschädigungsregelungen für Abgeordnete und das Einkommensteuergesetz können sich über diese verfassungsrechtliche Schranke nicht hinwegsetzen. Es kommt also nicht darauf an, ob eine Einnahme nach dem Steuergesetz formal als steuerfreie Aufwandsentschädigung anzusehen ist; die einkommensteuerrechtliche Regelung wäre ihrerseits verfassungswidrig, wenn sie Abgeordneten in größerem Umfang als dargelegt steuerfreie Entschädigungen einräumte."

64

6.a) Demnach sind die §§ 5, 6, 9, 13 Abs.1 und 2, 14 und 16 Abs. 1 Satz 2 LTG mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Über die Vorschrift des § 13 Abs.1 Nr.4 LTG, die vom Beschwerdeführer angegriffen ist, muß in der Entscheidungsformel entschieden werden. Sie ist, wie dargelegt, ua mit dem formalisierten Gleichheitssatz unvereinbar. Da mit dem Gleichheitssatz auch die Vorschriften der §§ 5, 6, 9, 13 Abs.1 Nr.1 bis 3, 16 Abs.1 Satz 2 LTG unvereinbar sind, konnte auch über sie gemäß § 78 Satz 2 BVerfGG, der auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren, das sich gegen ein Gesetz richtet, anwendbar ist, in der Entscheidungsformel entschieden werden. (Dagegen fordert § 95 Abs.1 Satz 1 BVerfGG nicht, daß in der Entscheidungsformel auch angegeben wird, welche Vorschriften des Grundgesetzes durch die angegriffenen und geprüften Normen verletzt werden; es genügt vielmehr, dies in der "Entscheidung", also uU nur in den Entscheidungsgründen festzustellen.) Das Gericht hatte sich, soweit es in der Entscheidungsformel über die angegriffene Vorschrift und weitere Vorschriften des Landtagsgesetzes entschieden hat, auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieser Vorschriften zu beschränken. Es mußte davon absehen, die Vorschriften für nichtig zu erklären, weil damit den unter der Geltung des Landtagsgesetzes in den Landtag gewählten Abgeordneten teilweise die Rechtsgrundlage für ihren Status entzogen worden wäre. Sie sind aber zur Erhaltung ihrer Unabhängigkeit bis zur Neuregelung der Materie auf die im Gesetz festgelegten Einkünfte angewiesen. Der Landtag hat jedoch vordringlich die Neuregelung in Angriff zu nehmen, weil sie nur zum Beginn einer neuen Legislaturperiode in Kraft gesetzt werdenk ann und nicht vertretbar wäre, daß die festgestellten Verfassungswidrigkeiten über die laufende Legislaturperiode hinaus andauern. Welche Konsequenzen aus dieser Entscheidung für die übrigen Parlamente zu ziehen sind, werden diese zu entscheiden haben.

65

b) Bei der Neuregelung wird zu beachten sein, daß nun in einer Person zwei Bezüge aus öffentlichen Kassen mit Alimentationscharakter zusammentreffen können: die Abgeordnetenentschädigung und beispielsweise das Gehalt eines Hochschullehrers, eines Parlamentarischen Staatssekretärs, eines Ministers. Die Alimentationsverpflichtung der öffentlichen Hand geht in einem solchen Fall nicht notwendig auf eine doppelte Aufbringung des angemessenen Lebensunterhalts. Es fehlt jedenfalls an jedem sachlich zureichenden Grund, diesen Fall anders als entsprechend den gegenwärtig im Beamtenrecht geregelten Grundsätzen zu behandeln und den Abgeordneten zu privilegieren (vgl BVerfGE_32,157 <166>). Das wäre unvereinbar mit dem Gleichheitssatz."

66

c) Außerdem wird bei der Neuregelung zu überlegen sein, ob nicht im Hinblick auf die dargestellte Verfassungsrechtslagea uch die Regelung über das Übergangsgeld und über die Altersrente geändert oder e rgänzt werden muß (letzteres beispielsweise, wenn zwei Altersversorgungen aus der öffentlichen Kasse zusammentreffen) und ob Übergangsregelungen (beispielsweise zur Angleichung des Rechtsstandes ausgeschiedener Abgeordneter an den neuen Rechtsstand) oder Vorbehalte zugunsten eines erworbenen Rechtsstandes ausgeschiedener Abgeordneter nötig sind.

V.

67

Gemäß § 34 Abs.4 BVerfGG hat das Saarland, dem die festgestellten Verfassungswidrigkeiten zuzurechnen sind, dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

VI.

68

Diese Entscheidung ist mit sechs Stimmen gegen eine Stimme ergangen.

 

Auszug aus BVerfG SU, 05.11.75, - 2_BvR_193/74 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.42

* * *

A-75-01Befremdliche Veröffentlichungspraxis im Saarland

Tz-1   

Obwohl üblicherweise bedeutende Urteil des BVerfG in der Saarländischen Kommunalzeitung veröffentlich werden, wurde diese Entscheidung seltsamerweise nicht veröffentlicht. Lediglich soweit im Teilurteil vom 21.01.75 (BVerfGE_38,326 ff = Nr.75.001) das BVerfG, die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen hat, hat man den Text veröffentlicht (vgl SKZ 75,220-221). Das wesentlich bedeutungsvollere Schlussurteil in dieser Sache, das mehrere Normen des Saarländischen Landtagsgesetzes für nichtig erklärte, wurde tot geschwiegen.

Tz-2    Es wundert deshalb wenig, dass 15 Jahre später in der Pensionsaffaire-Lafontaine in Fernsehsendungen lautstark verkündet wurde, es sei alles mit rechten Dingen zugegangen. Wäre vorstehendes Urteil allgemein bekannt gewesen, wäre es mit Sicherheit nicht zu solchen Äußerungen hoher Regierungsvertreter gekommen.

Tz-3    Der Aufsatz des damaligen Staatsekretärs Dr Roland Rixecker "Der Versorgungstatus kommunaler Wahlbeamter mit Parlamentsmandat und Regierungsamt" (SKZ_92,186 ff) zitiert zwar vorstehendes Urteil, zieht aber eine an den Grundsatzentscheidungen dieses Urteils orientierte verfassungskonforme Auslegung des einfachrechtlichen Beamtenrechts nicht in Betracht. Im übrigen halte ich diesen Aufsatz für ein Meisterstück an Vernebelungstechnik. Obwohl ich ihn mehrfach gelesen habe, und als Dozent für Beamtenrecht auf diesem Gebiet nich unbedarft bin, habe ich ihn nicht verstanden.

Tz-4    Obwohl der damals amtierende Justizminister des Saarlandes den Beschwerdeführer in dieser Verfassunsbeschwerde anwaltlich vertreten hat, und damit in Regierungskreisen das Urteil mit Sicherheit bekannt war, ist es zu unberechtigten Pensionszahlungen gekommen, die zurückgezahlt werden mussten. Dieses Beispiel zeigt in aller Klarheit, welche Bedeutung die allgemeine Verbreitung verfassungsrechtlicher Grundsatzentscheidungen in der freiheitlich rechtsstaatlichen Demokratie zukommt. Auch heutzutage tut die politische Klasse sich schwer den verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG zu folgen, wenn Eigeninteressen im Spiel sind.

Tz-5    Nur wenn verfassungsrechtliche Grundsatzentscheidungen nicht nur in der juristischen Fachpresse veröffentlicht werden, sonder allgemein verbreitet werden, kann das Demokratieprinzip funktionieren. Erfährt das Volk nichts von dem verfassungswidrigen Handeln des Parlaments oder der Regierung, kann es dieses Wissen auch nicht in seine Wahlentscheidung einfließen lassen. Kann die Verbreitung schädlichen Wissens verhindert werden, besteht immer die Gefahr, dass das aus eigennützigen Gründen auch getan wird, wie das konkrete Beispiel zeigt.

Tz-6    Wie "verantwortungsvoll" die damalige Regierung mit der ihr auf Zeit verliehenen Macht umgegangen ist, zeigt auch die Tatsache, dass der Beamte der den Rückzahlungsbescheid unterschrieben hat, von seinem Ministerium mehrfach zur Beförderung vorgeschlagen wurde und seine Beförderung vom Kabinett jeweils ohne Begründung abgelehnt wurde. Der Kollege hat mit selbst diese Tatsache bestätigt und mir erlaubt, sie zu veröffentlichen.

Zitiervorschlag:     SaDaBa-RS-BVerfG-Anm zu Nr.75.024
Link zum Datensatz:     http://www.sadaba.de/Rsp/RST_BfG_75.01_30.html#Nr_75.024_A-75-01
 Saarlouis 23.04.1999     HG Schmolke

§§§



75.025 Werbefahrten
 
  1. BVerfG,     B, 10.12.75,     – 1_BvR_118/71 –

  2. BVerfGE_40,371 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.1, GG_Art.74 Nr.22; StVO_§_33 Abs.1 S.3, StVO_§_46 Abs.2

 

Zum Verbot von reinen Werbefahrten im Rahmen des Straßenverkehrsrechts.

* * *

Beschuss

Entscheidungsformel:

1. § 33 Absatz 1 Satz 3 der Straßenverkehrs-Ordnung - StVO - vom 16.November 1970 (Bundesgesetzbl.I S.1565, berichtigt 1971 I S.38) verstößt gegen Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes und ist nichtig.

2. Die Vorschrift verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes.

3. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

75.026 Breifbeförderung-Verzögerung
 
  1. BVerfG,     B, 16.12.75,     – 2_BvR_854/75 –

  2. BVerfGE_41,23

  3. GG_Art.19 Abs.4, GG_Art.103 Abs.1; StPO_§_44

 

Art.19 Abs.4 und Art.103 Abs.1 GG gebieten, § 44 StPO dahin auszulegen, daß dem Bürger bei der schriftlichen Einlegung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl Verzögerungen der Briefbeförderung oder der Briefzustellung durch die Deutsche Bundespost, die er nicht zu vertreten hat, nicht zugerechnet werden.

§§§

75.027 Simultanschule
 
  1. BVerfG,     B, 17.12.75,     – 1_BvR_63/68 –

  2. BVerfGE_41,29 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.4 Abs.1, GG_Art.4 Abs.2, GG_Art.7; (BW) Verf_Art.15 Abs.1

 

1) Art.7 GG überläßt es dem demokratischen Landesgesetzgeber,den religiös-weltanschaulichen Charakter der öffentlichen Schulen unter Berücksichtigung des Grundrechts aus Art.4 GG zu bestimmen.

 

2) Das Grundrecht aus Art.4 Abs.1 GG und Art.4 Abs.2 GG schließt das Re cht der Eltern ein, ihrem Kind die von ihnen für richtig gehaltene religiöse oder weltanschauliche Erziehung zu vermitteln.

 

3) Es ist Aufgabe des demokratischen Landesgesetzgebers, das im Schulwesen unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen "negativer" und "positiver" Religionsfreiheit nach dem Prinzip der "Konkordanz" zwischen den verschiedenen verfassun gsrechtlich geschützten Rechtsgütern zu lösen.

 

4) Eine Schulform, die weltanschaulich-religiöse Zwänge soweit wie irgend möglich ausschaltet sowie Raum für eine sachliche Auseinandersetzung mit allen re ligiösen und weltanschaulichen Auffassungen - wenn auch von einer christlich bestimmten Orientierungsbasis her - bietet und dabei das Toleranzgebot beachtet, führt Eltern und Kinder, die eine religiöse Erziehung ablehnen, nicht in einen verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubenskonflikt und Gewissenskonflikt.

 

5) Die christliche Gemeinschaftsschule badischer Überlieferung im Sinne von Art.15 Abs.1 VerfBW ist als Schulform mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

75.028 Gemeinschaftsschule
 
  1. BVerfG,     B, 17.12.75,     – 1_BvR_548/68 –

  2. BVerfGE_41,88 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.4 Abs.1, GG_Art.6 Abs.2; (NW) Verf_Art.12

 

1) Die Gemeinschaftsschule gemäß Art.12 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen ist als Schulform mit dem Grundgesetz vereinbar. Sie führt Eltern und Kinder, die eine bekenntnisgebundene religiöse Erziehung wünschen, nicht in einen verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubenskonflikt und Gewissenskonflikt (im Anschluß an den Beschluß vom 17. Dezember 1975 - 1_BvR_63/68, BVerfGE_41,29 ).

 

2) Die bevorzugte Einrichtung solcher Gemeinschaftsschulen neben oder anstelle von Bekenntnisschulen ist mit Art.6 Abs.2 GG (Elternrecht) und Art.4 Abs.1 GG (Glaubensfreiheit und Gewissensfreiheit) vereinbar.

 

3) Im Verfahren der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht kann eine Verletzung des Art.2 Abs.1 GG nicht darauf gestützt werden, daß Landesrecht mit der Landesverfassung unvereinbar sei und deshalb nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne dieses Grundgesetzartikels gehöre.

75.029 Gemeinsame Schule
 
  1. BVerfG,     B, 17.12.75,     – 1_BvR_428/69 –

  2. BVerfGE_41,65 = www.dfr/BVerfGE

  3. (By) Verf_Art.135 S.2; VolksschulG_§_7 Abs.1

 

1) Art.135 Satz 2 der Verfassung des Freistaates Bayern und Art.7 Abs.1 des bayerischen Volksschulgesetzes binden bei verfassungskonformer Auslegung den Unterricht in Klassen mit Schülern verschiedener Konfession und Weltanschauung nicht an die Glaubensinhalte einzelner christlicher Bekenntnisse. Unter den Grundsätzen im Sinne dieser Bestimmungen sind in Achtung der religiös-weltanschaulichen Gefühle andersdenkender die Werte und Normen zu verstehen, die, vom Christentum maßgeblich geprägt, auch weitgehend zum Gemeingut des abendländischen Kulturkreises geworden sind (im Anschluß an den Beschluß vom 17.Dezember 1975 - BVerfGE_41,29).

 

2) Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, in Gemeinschaftsschulen Klassen aus Schülern desselben Bekenntnisses auf freiwilliger Grundlage zu bilden, falls dadurch andere Schüler nicht benachteiligt werden.

T-75-07

LB 3) Zum Begriff der "Grundsätze der christlichen Bekenntnisse".

* * *

T-75-07Grundsätze der christlichen Bekenntnisse

89

"Was unter den "(gemeinsamen) Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse" zu verstehen ist, hat der bayerische Gesetz- und Verordnunggeber nirgends näher erläutert. Auch die Entstehungsgeschichte der beiden Vorschriften bietet keine näheren Anhaltspunkte für die Auslegung dieses Begriffs. Betrachtet man das Christentum nicht von einem bestimmten konfessionellen Standpunkt aus, so ergeben sich vielfache Meinungsverschiedenheiten darüber, was zu den gemeinsamen christlichen Grundsätzen zu zählen sei. Zweifellos ist das Christliche - als Ganzes gesehen - ein Stück abendländischer Tradition. Die Werte, die den christlichen Bekenntnissen gemeinsam sind, und die ethischen Normen, die daraus abgeleitet werden, äußern aus der gemeinsamen Vergangenheit des abendländischen Kulturkreises eine gewisse verpflichtende Kraft; denn die gesamte abendländische Kultur ist weitgehend vom Christentum geprägt worden. Dieses gemeinsam Christliche braucht aber mit den konkreten Glaubensinhalten der einzelnen christlichenB ekenntnisse nicht unbedingt identisch zu sein. Es wäre auch nicht Sache des religiös-weltanschaulich neutralen Staates, darüber zu befinden, welches die grundsätzlichen und übereinstimmenden Glaubensinhalte der verschiedenen christlichen Bekenntnisse sind. Man kann daher unter den Grundsätzen im Sinne von Art.135 Satz 2 BV und Art.7 Abs.1 VoSchG in Achtung der religiös-weltanschaulichen Gefühle Andersdenkender die Werte und Normen verstehen, die, vom Christentum maßgeblich geprägt, auch weitgehend zum Gemeingut des abendländischen Kulturkreises geworden sind. Nach diesen Prinzipien sollend ie Schüler zu den in Art.131 BV bezeichneten Bildungszielen hingeführt werden.D ie Sorge für die Einhaltung dieser Prinzipien in der Schulpraxis obliegt den zuständigen staatlichen Behörden."

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"Dieser Auslegung des Art.135 BV und des Art.7 Abs.1 VoSchG stehen die gemeinsamen Leitsätze der Kirchen nicht entgegen. Ihnen kommt, wovon sie selbst ausgehen, keine rechtsverbindliche Kraft zu; sie sind weder im Bayerischen Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlicht noch in sonstiger W eise vom Staat übernommen, sondern lediglich in kirchlichen Amtsblättern bekanntgemacht worden. Sie haben daher den Charakter einer unterstützendenH andreichung und Hilfe der Kirchen für die ihrem Bekenntnis zugehörigen Lehrer, ohne für den Unterricht staatlicherseits verbindlich zu sein. Im übrigen wird anerkannt, daß "die Toleranz, die beide Konfessionen zu üben haben, sich gegenüber Schülern bewähren muß, die weder der römisch-katholischen noch der evangelisch-lutherischen Kirche angehören". Die rechtliche Struktur der gemeinsamen Schule wird dadurch nicht berührt."

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dd) Entscheidendes Gewicht für die hiernach vorzunehmende Ausdeutung der zur Prüfung gestellten Normen gewinnt der Umstand, daß damit der verfassungsrechtlich gebotenen Abstimmung zwischen der "negativen" und der" positiven" Religionsfreiheit im Schulwesen Genüge getan wird (vgl hierzu im einzelnen den Beschluß 1_BvR_63/68 - BVerfGE_41,29 <48 ff>). Zwar werdena uch bei dieser Auslegung des Art. 135 BV und des Art.7 Abs.2 VoSchG die Beschwerdeführer, die jegliche religiöse Elemente in der Erziehung ablehnen, mit einem Weltbild konfrontiert, in dem die prägende Kraft christlichen Denkens bejaht wird. Dies führt jedoch solange zu keiner diskriminierenden Abwertung der dem Christentum nicht verbundenen Minderheiten und ihrer Weltanschauung, als es hierbei nicht um den Absolutheitsanspruch BVerfGE_41,65 (85) von Glaubenswahrheiten, sondern um das Bestreben nach Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit im weltanschaulichreligiösen Bereich gemäß der Grundentscheidung des Art.4 GG geht. Durch eine Schulform, in der nach soverstandenen Grundsätzen erzogen und unterrichtet wird, werden die beschwerdeführenden Eltern und Kinder nicht in einen verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt gebracht. Die Möglichkeit, daß bestimmte Gestaltungen der Schulpraxis mit diesen, die Schulform prägenden Grundsätzen nicht übereinstimmen, ist für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit dieser Schulform ohne Bedeutung."

92

(Abs.92) "Sind aber verschiedene Deutungen einer Norm möglich, so verdient diejeniged en Vorzug, die mit der Wertentscheidung des Grundgesetzes übereinstimmt (BVerfGE 35, 263 <280>). Von ihr muß daher ausgegangen werden. Im übrigen spricht vieles dafür, daß sich die Schulwirklichkeit in den letzten Jahren im Sinne dieser Auslegung entwickelt hat."

 

Auszug aus BVerfG B, 17.12.75, - 1_BvR_428/69 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.89 ff

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