1976 | ||
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1975 1977 | [ ] |
76.001 | Reparationsschäden | |
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1) Gesetzliche Regelungen zur Bewältigung der außergewöhnlichen Probleme, die ihren Ursprung in historischen Vorgängen aus der Zeit vor der Entstehung der Bundesrepublik haben, können nicht an GG Art.14 gemessen werden. Das Grundgesetz hat den Ausgleich der wirtschaftlichen und politischen Lasten, die aus dem Krieg und dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches herrühren, weitgehend der eigenverantwortlichen Gestaltung des Gesetzgebers überlassen. | ||
2) Die Reparationsschäden gehören zu dem großen Komplex der Kriegslasten und Kriegsfolgelasten, die nach den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Grundsätzen über die Bereinigung des Staatsbankrotts des Deutschen Reiches abgewickelt werden durften. Die Bundesrepublik war nur zu einem innerstaatlichen sozialen Ausgleich dieser Schäden verpflichtet (Anschluß BVerfG, 1962-11-14, 1_BvR_987/58, BVerfGE_15,126; Anschluß BVerfG, 1969-12-03, 1_BvR_624/56, BVerfGE_27,253 ). | ||
3) Den von den Reparationsmaßnahmen Betroffenen standen weder unter dem Gesichtspunkt der Tilgung einer deutschen Reparationsschuld noch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten Entschädigungsansprüche gegen die Bundesrepublik zu, die außerhalb des Staatsbankrotts zu erfüllen wären und über die Beteiligung am sozialen Ausgleich der Kriegslasten und Kriegsfolgelasten hinausreichten. | ||
4) Der Gesetzgeber durfte die Entschädigung für Reparationsschäden nach dem Vorbild der sozialen Konzeption des Lastenausgleichsgesetzes regeln. Ebenso wie in diesem Gesetz durfte er im Reparationsschädengesetz die verfügbaren begrenzten Mittel auf eine wirksame Hilfe für die betroffenen Menschen beschränken und die Kapitalgesellschaften oder andere juristische Personen von Entschädigungsleistungen ausschließen. | ||
§§§ |
76.002 | Gebäudeversicherungsmonopol | |
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Mit der Beschränkung der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes auf das privatrechtliche Versicherungswesen (Art.74 Nr.11 GG) anerkennt das Grundgesetz die bestehenden landesrechtlichen Gebäudeversicherungsmonopole. | ||
§§§ |
76.003 | Baader-Meinhof | |
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LB 2) Soweit sich aus diesen Grundrechten die Befugnis des Angeklagten ergibt, bei der Hauptverhandlung anwesend zu sein und sich selbst zu verteidigen, wird ihm dies Anwesenheitsrecht durch § 231a StPO nicht genommen. Wer seine Verhandlungsunfähigkeit vorsätzlich und schuldhaft herbeiführt, steht demjenigen gleich, der - obwohl er anwesend sein könnte - zur Hauptverhandlung nicht erscheint oder sich eigenmächtig aus ihr entfernt (vgl § 231 Abs.2 StPO). | ||
§§§ |
76.004 | Vertretungsverbot | |
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Ein Rechtsanwalt ist durch seine Mitgliedschaft im Kreistag und Kreisausschuß in Nordrhein-Westfalen nicht gehindert, Dritte in Bußgeldsachen vor der Kreisordnungsbehörde zu vertreten. | ||
§§§ |
76.005 | Speyer-Kolleg | |
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1) Der als Ordnungsmaßnahme verhängte Ausschluß von einer Einrichtung des zweiten Bildungswegs greift in das Grundrecht des Art.12 Abs.1 GG ein und bedarf daher einer gesetzlichen Grundlage. | ||
2) Ist das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage ausnahmsweise für eine Übergangszeit hinzunehmen, beschränkt sich für deren Dauer die Befugnis zu Eingriffen in verfassungsrechtlich geschützte Positionen auf das, was im konkreten Fall unter Berücksichtigung der jeweiligen Verhältnisse für die geordnete Weiterführung eines funktionsfähigen Anstaltsbetriebs unerläßlich ist. | ||
§§§ |
76.006 | Strukturförderung | |
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1) Das Nähere im Sinne des Art.104a Abs.4 Satz 2 GG kann nicht auf andere Weise als durch zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz oder Verwaltungsvereinbarung geregelt werden; denn die verfassungsrechtlich gewährleistete Mitwirkung der Länder bei der Entscheidung über die Grundlagen der Finanzzuweisungen nach Art.104a Abs.4 GG ist nur in diesen beiden Beteiligungsformen ausreichend gesichert. | ||
2) Verwaltungsvereinbarungen nach Art.104a Abs.4 GG haben dieselbe - in der Entscheidung des Senats vom 4.März 1975 ( BVerfGE_39,96) näher dargelegte - Funktion und Bedeutung wie das in dieser Bestimmung vorgesehene Zustimmungsgesetz und bedürfen deshalb einschließlich der auf ihren Abschluß gerichteten direkten Willenserklärungen der Schriftform. Sie müssen in einem gehörigen Verfahren so zwischen Bund und Ländern ausgehandelt werden, daß alles, worüber Einigkeit erzielt worden ist, in ihrem Text festgehalten wird. | ||
§§§ |
76.007 | Nachtbackverbot | |
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1) Das Nachtbackverbot ist auch angesichts der rechtlichen und tatsächlichen Entwicklung seit 1968 mit dem Grundgesetz vereinbar. | ||
2) Das Verbot des Ausfahrens von Backwaren zur Nachtzeit verletzt weder Art.12 Abs.1 GG noch Art.14 GG. | ||
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Beschuss | Entscheidungsformel: | |
§§§ |
76.008 | Sicherungsverwahrung | |
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Es verletzt nicht das Grundrecht der persönlichen Freiheit (Art.2 Abs.2, Art.104 Abs.1 und Abs.2 GG), §§ 66, 67c Abs.1 StGB dahin auszulegen, daß der Vollzug der im Strafurteil angeordneten Sicherungsverwahrung auch dann zulässig ist, wenn die Strafvollstreckungskammer über die Erforderlichkeit des Maßregelvollzuges bei Strafende noch nicht entschieden, aber mit der ihr obliegenden Prüfung begonnen hat und dieses Prüfungsverfahren ohne vermeidbare Verzögerungen binnen angemessener Frist zum Abschluß bringt. | ||
LB 2) Zur abweichenden Meinung des Richters Hirsch, siehe BVerfGE_42,11 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs.31 ff. | ||
§§§ |
76.009 | Wahlkampfkostenpauschale | |
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1) Zur Wahlfreiheit gehört auch ein grundsätzlich freies Wahlvorschlagsrecht für alle Wahlbeteiligten. Eine Monopolisierung des Wahlvorschlagsrechts bei den politischen Parteien verstieße gegen die Grundsätze der allgemeinen, gleichen und freien Wahl. | ||
2) Das in Art.21 GG anerkannte Mitwirkungsrecht der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes steht dem grundsätzlichen Anspruch des unabhängigen Bewerbers auf Chancengleichheit nicht entgegen. | ||
3) Ein Ausschluß der unabhängigen Bewerber von der Wahlkampfkostenerstattung ist mit dem in Art.38 Abs.1 Satz 1 GG enthaltenen Grundsatz der Chancengleichheit aller Wahlbewerber nicht vereinbar. | ||
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Beschuss | Entscheidungsformel: | |
§§§ |
76.010 | Öffentliches Wegeeigentum | |
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Die Gesetzgebungskompetenz der Länder zur Regelung der Rechtsverhältnisse an den öffentlichen Straßen und Wegen umfaßt auch den Erlaß von Vorschriften über "öffentliches Eigentum" und die Haftung für dessen Beschädigung. | ||
LB 2) Zum Begriff des Bürgerlichen Rechts iSd Art.74 Nr.1 GG. | ||
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T-76-01 | Zur Gesetzgebungskompetenz von Bund und Ländern | |
"Der hamburgische Landesgesetzgeber hat seine Gesetzgebungsbefugnis nicht überschritten. | ||
1. Das Grundgesetz geht bei der Ordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern vom Grundsatz der Länderkompetenz aus. Der Bund hat Gesetzgebungsbefugnisse nur, soweit das Grundgesetz sie ihm verleiht (Art.70 Abs.1 GG). Aber auch im Rahmen der dem Bund zustehenden konkurrierenden Gesetzgebung (Art.74 GG) haben die Länder das Recht zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Befugnis keinen Gebrauch gemacht hat (Art.72 Abs.1 GG; BVerfGE_32,319 <327>). | ||
Das Recht des Bundes zur konkurrierenden Gesetzgebung in Art.74 GG ist auf die dort umschriebenen "Sachbereiche" beschränkt; sie bedürfen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einer strikten Interpretation ( BVerfGE_12,205 <228 f>; BVerfGE_15,1 <17>; BVerfGE_26,281 <298>). Nach der Systematik des Grundgesetzes streitet bei Zweifeln zwar eine Vermutung zugunsten der Zuständigkeit der Länder, nicht aber zugunsten einer Bundeskompetenz ( BVerfGE_26,281 <297>; BVerfGE_15,1 <17>). Es muß gewissermaßen der "Nachweis" geführt werden, daß die geregelte Materie einem der in Art.74 GG aufgeführten Sachbereiche zugeordnet ist. | ||
2. Die Gesetzgebungszuständigkeit für das Straßenwesen ist nach dem Grundgesetz aufgeteilt zwischen Bund und Ländern. Nach Art.74 Nr.22 GG besitzt der Bund die Zuständigkeit der konkurrierenden Gesetzgebung für den Sachbereich Bau und Unterhaltung von Landstraßen für den Fernverkehr. Im übrigen steht gemäß Art.30, Art.70 Abs.1 GG den Ländern die Befugnis zur Regelung der Rechtsverhältnisse an den öffentlichen Straßen und Wegen zu (vgl BVerfGE_34,139 <152>). Entgegen der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts kann die Regelung der Eigentums- und Haftungsverhältnisse an den öffentlichen Straßen der Länder nicht dem Sachbereich bürgerliches Recht im Sinne des Art.74 Nr.1 GG zugerechnet werden. | ||
a) Welche Rechtsgebiete hierzu gehören, läßt sich dem Wortlaut allein nicht entnehmen. Deshalb ist bei der Bestimmung des Umfangs der historische Zusammenhang in der deutschen Gesetzgebung zu beachten; dem Merkmal des "Traditionellen" und "Herkömmlichen" kommt hierbei wesentliche Bedeutung zu. Entstehungsgeschichte und Staatspraxis gewinnen deshalb für die Auslegung besonderes Gewicht (BVerfGE_33,125 <152 f>). Der Gesetzgebungskatalog des Grundgesetzes ist weitgehend im Hinblick auf die Weimarer Reichsverfassung formuliert worden. Soweit das Grundgesetz Materien aus dieser übernommen hat, kann daher grundsätzlich angenommen werden, daß sie in demselben Sinn zu verstehen sind, wie dies dort der Fall war BVerfGE_33,52 <61>). | ||
Zwar gibt auch die Weimarer Reichsverfassung keine Begriffsbestimmung; sie hat ihrerseits auf Art.4 Nr.13 der Verfassung von 1871 zurückgegriffen, der dem Reich die "gemeinsame Gesetzgebung über das gesamte bürgerliche Recht" einräumte. Ursprünglich gab Art.4 Nr.13 dem Reich allerdings nur die Kompetenz für das Obligationen-, Handels- und Wechselrecht. Im Hinblick auf das alte Ziel der nationalen Bewegung des 19.Jahrhunderts, neben der politischen auch die Rechtseinheit zu erreichen und in diesem Rahmen das Privatrecht zu vereinheitlichen, wurde die Vorschrift durch verfassungsänderndes Gesetz vom 20.Dezember 1873 (RGBl S.379) erweitert. Erst hierdurch waren die verfassungsmäßigen Voraussetzungen für ein Nationalgesetzbuch geschaffen. Damit wurde einer Forderung entsprochen, die in § 64 der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 ihren Niederschlag gefunden hatte: "Der Reichsgewalt liegt es ob, durch die Erlassung allgemeiner Gesetzbücher über bürgerliches Recht, Handels- und Wechselrecht, Strafrecht und gerichtliches Verfahren die Rechtseinheit im deutschen Volke zu begründen". | ||
Der Begriff des bürgerlichen Rechts im Sinne des Art.74 Nr.1 GG steht in dieser Rechtstradition. | ||
Der in dieser Kompetenznorm verwendete Begriff des bürgerlichen Rechts ist das Ergebnis einer langen rechtsgeschichtlichen Entwicklung. Ihm liegt ursprünglich eine rechtliche Qualifikation zugrunde, die auf der Einteilung des Stoffes in privates und öffentliches Recht in der Rechtslehre beruht. Im Rahmen dieser Zweckschöpfung bedeutete das Privatrecht das "Recht des Privaten", das allerdings - wie die dem Bürgerlichen Gesetzbuch vorausgegangenen Kodifikationen zeigen - noch am Modell einer umfassenden Sozialordnung orientiert war, in dem Öffentliches und Privates miteinander verwoben waren. Bedingt durch die Vorstellungen der Zivilrechtsdogmatik und die staatsrechtliche Struktur des Reiches entwickelte sich die ursprünglich der theoretischen Ordnung dienende Unterscheidung zur positiv-rechtlichen Grundlage für die Gesetzgebung und zu einem Kompetenzbegriff. Dies führte zu einer Systematisierung des bürgerlichen Rechts, die auf dem grundsätzlichen Ausschluß des öffentlichen Rechts aus der dem Reich zukommenden Kodifikationsbefugnis beruhte, weil das öffentliche Recht als Attribut der verfassungsrechtlich vorgegebenen Landessouveränität verstanden wurde. Diese systematische Entwicklung des Begriffs und die staatsrechtliche Situation kommen deutlich in den Vorarbeiten zum Bürgerlichen Gesetzbuch zum Ausdruck. In den Motiven (Bd I, S.1) heißt es: "Das bürgerliche Recht läßt sich im allgemeinen als der Inbegriff derjenigen Normen bezeichnen, welche die den Personen als Privatpersonen zukommende rechtliche Stellung und die Verhältnisse, in welchen die Personen als Privatpersonen untereinander stehen, zu regeln bestimmt sind". Das öffentliche Recht ist - wie vielfach betont wird - grundsätzlich ausgeklammert; seine Regelung obliegt nach der bundesstaatlichen Ordnung grundsätzlich den Ländern. | ||
Das ursprünglich umfassend verstandene Privatrecht als das "Recht der Privatperson" wurde hierbei eingegrenzt auf die subjektiv-privatrechtlichen Rechtspositionen im Sinne der typisch auf das bürgerliche Leben zugeschnittenen Verhältnisse - ohne die zum staatlichen oder kommunalen Gemeinwesen bestehenden Beziehungen einzuschließen. Die durch das öffentliche Recht umschriebene Stellung des einzelnen und der öffentlichen Einrichtungen ist in dieser Definition ausgeklammert. Das bürgerliche Recht ist in seinen Wirkungen auf den Mitbürger ausgerichtet. | ||
Der reichseinheitlich geltende § 13 GVG aF bringt die Vorstellung von Inhalt und Wesen des bürgerlichen Rechts im Sinne des damaligen Kompetenzverständnisses zum Ausdruck. Die Vorschrift ist die verfahrensrechtliche Ergänzung zur sachlich-rechtlichen Unterscheidung von bürgerlichem und öffentlichem Recht. Die Kompetenz zur Regelung des Verfahrens deckt sich mit der Zuständigkeit zur sachlich-rechtlichen Gesetzgebung. Im Rahmen des Prozesses gewann die Vorstellung, privates und öffentliches Recht seien zwei sich prinzipiell ausschließende Rechtsgebiete, praktische und entscheidungserhebliche Bedeutung. | ||
Nach der rechtsgeschichtlichen Entwicklung sowie der geschilderten Staatspraxis kann man davon ausgehen, daß die oben wiedergegebene Umschreibung des bürgerlichen Rechts auch sachlich dem Kompetenzbegriff im Sinne des damals geltenden Verfassungsverständnisses grundsätzlich entspricht. Bürgerliches Recht wurde wesentlich als die Ordnung der Individualrechtsverhältnisse verstanden. Die Beziehungen des einzelnen zu den öffentlichen Einrichtungen bewegten sich prinzipiell außerhalb des bürgerlichen Rechts; ebenso rechnet die rechtliche Ordnung der Exekutive nicht zu diesem Sachbereich. | ||
Wenn hiernach das bürgerliche Recht auch nicht auf die Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs beschränkt ist, sondern auch die vielfältigen Nebengesetze des Privatrechts umfaßt, kann man für die Auslegung des Kompetenzbegriffs davon ausgehen, daß die dem Bürgerlichen Gesetzbuch und seinem Einführungsgesetz zugrunde liegende Auffassung den Ausgangspunkt für die Zuständigkeitsregelung in Art.7 Abs.1 WRV bildet. Bei der Orientierung des Grundgesetzes an den Sachgebietsumgrenzungen der Weimarer Reichsverfassung ist es deshalb gerechtfertigt, den Gesetzgebungsgegenstand bürgerliches Recht in Art.74 Nr.1 GG grundsätzlich in gleicher Weise wie in der Weimarer Reichsverfassung zu interpretieren. Das Grundgesetz hat allerdings gewisse Gesetzgebungsmaterien ausgeklammert, die nunmehr in anderen Bestimmungen normiert sind, beispielsweise das Bodenrecht in Art.74 Nr.18 GG. Dies führt zwar zu einer sachlichen Eingrenzung, nicht aber zu einer prinzipiell anderen Auslegung. | ||
b) Diese grundsätzlichen Überlegungen zum Begriff und Gegenstand des bürgerlichen Rechts im Sinne des Art.74 Nr.1 GG zeigen ohne weiteres, daß die Rechtsverhältnisse an den öffentlichen Straßen sich in dieses Konzept nicht einordnen lassen. Die für den allgemeinen Verkehr geschaffene und hierfür gewidmete sowie für seine Zwecke unterhaltene Verkehrsfläche ist in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch Besonderheiten geprägt, die mit dem Wesen und der Funktion des bürgerlichen Rechts kaum noch einen Zusammenhang aufweisen. Die öffentliche Straße kann als eine Verwaltungsleistung weder mit dem für das Privatrecht und keineswegs allgemein geltenden Sachbegriff des § 90 BGB noch mit dem Eigentumsbegriff des Bürgerlichen Gesetzbuchs sachgerecht erfaßt werden, sondern fordert ihrer Funktion nach eine vom bürgerlichen Recht abweichende Regelung der "Sachherrschaft". Ihr Inhalt wird durch das öffentlich-rechtliche, auf die Allgemeinheit ausgerichtete Element bestimmt. | ||
Die Beschreibung der Sachherrschaft über die Straße als "Eigentum" - das im übrigen durch seine Fremdnützigkeit gekennzeichnet ist - läßt nicht den Schluß zu, daß es sich hier um bürgerliches Recht im Sinne der Kompetenzzuteilung handelt. Dem Bund kommt demgemäß eine Gesetzgebungszuständigkeit für die Straßen der Länder nicht zu. | ||
c) Bei dieser Rechtslage bedarf es keiner Auseinandersetzung mit dem aus den Artikeln 3, 55 und 218 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch zu entnehmenden Kodifikationsprinzip, auf das die Parlamentarischen Beratungen (vgl. Anlage zum Protokoll der 17.Sitzung des Wegegesetz-Ausschusses der Hamburger Bürgerschaft vom 22.Februar 1960) und die angefochtene Entscheidung maßgeblich abstellen; denn dieses Prinzip verbietet seinem Inhalt nach privatrechtliche Normen, die dem Bürgerlichen Gesetzbuch widersprechen, es wiederholen oder ergänzen (vgl BVerfGE_24,367 <386>). Es kann nur im Sachbereich des bürgerlichen Rechts im Sinne des Art.74 Nr.1 GG Anwendung finden. | ||
3. Die hier in Frage stehenden gesetzlichen Regelungen der Freien und Hansestadt Hamburg halten sich in gleicher Weise im Rahmen der Landeszuständigkeit nach Art.70 Abs.1 GG, wie die entsprechenden Vorschriften derjenigen Länder, die ein "öffentliches Eigentum" an Straßen nicht kennen. | ||
Das öffentliche Eigentum des § 4 Abs.1 HWG muß im Gesamtzusammenhang gesehen werden: Nach § 2 Abs.1 HWG sind öffentliche Wege im Sinne dieses Gesetzes alle Wege, Straßen und Plätze, die dem Gemeingebrauch gewidmet sind. Die Widmung, die durch das Zusammenwirken der Wegeaufsichtsbehörde, des Grundeigentümers und der Straßenbehörde vorgenommen wird (§ 6 Abs.1 HWG), ist ein öffentlich-rechtlicher Vorgang, der vor allem dem Ziel dient, den verwaltungsrechtlichen Status der Straße zu begründen; sie bestimmt den Zweck, dem die Grundstücke fortan dienen sollen - nämlich dem Gemeingebrauch. Das bedeutet: Jedermann kann die Straße ohne besondere Erlaubnis im Rahmen der Widmung zum Verkehr benutzen. Durch die Widmung wird der ursprünglich dem bürgerlichen Recht unterliegende Straßengrund für die Zukunft einer öffentlichen Aufgabe zugeführt. Öffentliches Eigentum werden die öffentlichen Wege, wenn die Freie und Hansestadt Hamburg durch freihändigen Erwerb oder durch Enteignung lastenfreies Eigentum im Sinne des bürgerlichen Rechts erworben hat (§ 4 Abs.2 Satz 2 HWG). Das öffentliche Eigentum begründet eine "hoheitliche Sachherrschaft". Erlischt diese, weil die Zugehörigkeit der Grundfläche zum öffentlichen Weg endet, so lebt das Eigentum nach bürgerlichem Recht wieder auf. | ||
Mit dieser Regelung des öffentlichen Status weicht das Land Hamburg nur unwesentlich vom gemeindeutschen Wegerecht ab, das nach herrschender Auffassung von einem dualistischen Rechtsstatus ausgeht: Das bürgerlich-rechtliche Eigentum am Straßengrund bleibt zwar formell bestehen, wird aber durch Vorschriften des öffentlichen Rechts überlagert und beschränkt. Trotz des theoretischen Unterschieds ist beiden Systemen gemeinsam, daß der Straßengrund in der Wirklichkeit einer allgemeinen Aufgabe dient und einer öffentlich-rechtlichen Ordnung unterstellt wird, um eine sachgerechte Nutzung der Straße durch die Allgemeinheit zu ermöglichen. Die Zuständigkeit des Landesgesetzgebers für die dualistische Regelung ist aber nie zweifelhaft gewesen. | ||
4. Diese Beurteilung gilt grundsätzlich auch für die haftungsrechtlichen Vorschriften der §§ 23 Abs.1, 55 Abs.1 HWG aF; sie finden ebenfalls in Art.70 Abs.1 GG ihre kompetenzmäßige Grundlage. | ||
Der hamburgische Gesetzgeber hat die Schadenshaftung im Wegegesetz als eine Konsequenz der öffentlich-rechtlichen Sachherrschaft angesehen. Die Haftung ist objektbezogen; sie ist die Kehrseite davon, daß die öffentliche Hand eine für die Allgemeinheit bestimmte Verwaltungsleistung zur Verfügung stellt. Ist das Schutzgut bei der Sachbeschädigung nach Bürgerlichem Gesetzbuch die Erhaltung des subjektiven Eigentumsrechts des Geschädigten, so steht hier die Aufrechterhaltung und Sicherung der öffentlichen Zweckbestimmung im Vordergrund, der die Verkehrsanlage dient. Die Beschädigung eines öffentlichen Verkehrswegs ist geeignet, seine Funktion zu beeinträchtigen. Die Legitimation für die Haftung des Schädigers liegt hier zunächst nicht darin, daß er in unzulässiger Weise in den "Rechtskreis des Eigentümers" eingedrungen ist, sondern beruht auf der Überlegung, daß derjenige, der eine Verwaltungsleistung in Anspruch nimmt, damit zugleich die Pflicht übernimmt, einen etwa hierbei entstandenen Schaden auszugleichen. Nach §§ 823 ff BGB ist die einem Dritten gegenüber begangene "unerlaubte Handlung" der Rechtsgrund für die Schadenshaftung; dagegen steht im Straßenrecht die Tatsache der Beschädigung einer öffentlichen Einrichtung als solche im Vordergrund. Entsprechendes gilt für die Regelung der Haftung für Sachbeschädigungen, die beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstehen (§ 7 StVG). Die Regelung der Haftung für die Beschädigung einer öffentlichen Straße kann hiernach wegen des funktionalen Zusammenhangs auch kompetenzmäßig nur als Teil der landesrechtlichen Gesetzgebungsbefugnis angesehen werden. | ||
Im Hinblick auf diese Rechtslage bestehen auch keine Bedenken dagegen, daß der Landesgesetzgeber die Durchsetzung eines Anspruchs in einem besonderen Verwaltungsverfahren geregelt hat. Daß demgemäß die gerichtliche Überprüfung durch die Verwaltungsgerichte erfolgt, kann schon im Hinblick auf die Gleichwertigkeit aller von der Verfassung zugelassenen Gerichtszweige nicht beanstandet werden." | ||
Auszug aus BVerfG B, 10.03.76, - 1_BvR_355/67 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.29 ff | ||
§§§ |
76.011 | Zwangsversteigerung I | |
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1) Auch die richterliche Auslegung und Anwendung von Verfahrensrecht kann - wenn sie willkürlich gehandhabt wird - gegen Art.3 Abs.1 GG verstoßen. Beruht eine Entscheidung darauf, daß die Ausübung der in § 139 ZPO statuierten Fragepflicht und Aufklärungspflicht aus Erwägungen verneint worden ist, die bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sind, so ist Art.3 Abs.1 GG verletzt. | ||
2) Die richterliche Unparteilichkeit ist kein wertfreies Prinzip, sondern an den Grundwerten der Verfassung orientiert, insbesondere am Gebot sachgerechter Entscheidung im Rahmen der Gesetze unter dem Blickpunkt materialer Gerechtigkeit. | ||
LB 3) Zur abweichenden Meinung des Richters Dr Geiger, siehe BVerfGE_42,79 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs.44 ff. | ||
§§§ |
76.012 | Vergabe von Studienplätzen | |
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1) Der Staatsvertrag über die Vergabe von Studienplätzen ist nicht ein verfassungsrechtlicher, sondern ein verwaltungsrechtlicher Vertrag. | ||
2) Daran ändert sich nichts dadurch, daß er eine verfassungsrechtliche Pflicht der Länder erfüllt, gemeinsam ein angemessenes Verfahren für die Zulassung zum Studium in den Studiengängen mit numerus clausus zu entwickeln, und daß die Ausführung des Vertrages durch die Länder unter dem Verfassungsrechtssatz über die Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten steht. | ||
3) Im Verfahren über öffentich-rechtliche Streitigkeiten zwischen verschiedenen Ländern ( Art.93 Abs.1 Nr.4 GG, §§ 71 f BVerfGG) können auf der Seite der Antragsteller oder Antragsgegner weiteres Länder als Beteiligte beitreten, wenn sie in gleicher Lages dasselbe rechtliche Interessen an rechtskräftigen Feststellung und Klärung einer bestimmten Rechtrsposition haben. | ||
§§§ |
76.013 | Wahlwerbung | |
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1) Zur Frage der Einwirkung des Grundrechts nach Art.5 Abs.1 GG auf die Auslegung von Gesetzen, die das Grundrecht auf Meinungsfreiheit im Betrieb einschränken. | ||
2) Art.9 Abs.3 GG schützt nicht die Wahlwerbung einer Koalition im Betrieb vor einer allgemeinen politischen Wahl. | ||
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T-76-02 | Gewerkschaftlicher Aufruf zur Kommunalwahl | |
"Die Verteilung des gewerkschaftlichen Aufrufs zur Kommunalwahl wird von dem besonderen verfassungsrechtlichen Schutz der Koalitionstätigkeit (Art.9 Abs.3 GG), auf den der Beschwerdeführer sich in erster Linie beruft, nicht umfaßt. | ||
Die Koalitionen sind zwar im Rahmen der geltenden Gesetze frei, selbst zu bestimmen, in welcher Weise sie die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder fördern wollen. Dem besonders stark ausgeprägten verfassungsrechtlichen Schutz des Art.9 Abs.3 Satz 1 GG unterliegt eine darauf gerichtete Tätigkeit jedoch nur, soweit sie eine spezifisch koalitionsgemäße ist (vgl BVerfGE_17,319 <333>; BVerfGE_18,18 <26>). Dabei umfaßt der Schutz der Verfassung auch Aktivitäten, die über die Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Tarifverträge hinausgehen (vgl BVerfGE_19,303 <313 f>). Ob und inwieweit dies, wie der Beschwerdeführer annimmt, auch für die politische Tätigkeit von Koalitionen gilt, ist hier jedoch nicht zu entscheiden. Denn jedenfalls wird die Wahlwerbung einer Koalition vor allgemeinen politischen Wahlen durch Art.9 Abs.3 GG nicht geschützt. | ||
Mit dem Charakter der Wahlen zu den Volksvertretungen im Bund, in den Ländern, Kreisen und Gemeinden (Art.38 Abs.1 Satz 1, Art.28 Abs.1 Satz 2 GG) wäre die Annahme eines besonderen verfassungsrechtlichen Schutzes der Wahlwerbung einzelner Gruppen unvereinbar. Zur parlamentarischen Demokratie, wie das Grundgesetz sie konstituiert, gehört die prinzipielle Gleichheit aller politischen Kräfte, die auf die Willensbildung des Volkes in Wahlen Einfluß zu nehmen suchen, seien sie von Gruppen oder von einzelnen getragen. Diese prinzipielle Gleichheit findet ihren verfassungsrechtlichen Ausdruck im gleichen Schutz der Werbung vor allgemeinen politischen Wahlen, wie er durch Art.38 Abs.1 Satz 1, Art. 28 Abs.1 Satz 1, Art.28 Art.5 GG garantiert ist. Die Annahme eines darüber hinausgehenden, etwa kraft eines "Öffentlichkeitsauftrags" gewährleisteten verfassungsrechtlichen Schutzes der Wahlwerbung einzelner Gruppen würde auf eine Privilegierung solcher Gruppen hinauslaufen, die in Widerspruch zum Grundprinzip parlamentarischer Demokratie stünde. Der durch Art.9 Abs.3 GG gewährleistete Schutz spezifisch koalitionsgemäßer Betätigung kann sich infolgedessen nicht auf die Werbung von Koalitionen vor allgemeinen Wahlen beziehen. Vollends gehört diese nicht zum "Kernbereich" der geschützten Koalitionstätigkeit (vgl BVerfGE_4,96 <108>; BVerfGE_19,303 <321>; BVerfGE_28,295 <303>). Die Wahlwerbung von Koalitionen vor allgemeinen politischen Wahlen ist verfassungsrechtlich weder stärker noch schwächer geschützt als die Wahlwerbung aller anderen Gruppen. | ||
Das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art.5 Abs.1 GG ist verletzt. Die Anwendung dieser Verfassungsnorm kann durch Art.9 Abs.3 GG (vgl BVerfGE_28,295 <310>) schon deshalb nicht ausgeschlossen sein, weil dieses Grundrecht in Fällen der vorliegenden Art nicht eingreift. | ||
Das Landesarbeitsgericht hat die Auswirkung des Grundrechts der Meinungsfreiheit auf die Auslegung der anzuwendenden Vorschriften verkannt. | ||
1. Dieses Grundrecht ist für die freiheitliche demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend und gewährleistet zugleich eine der wesentlichen Äußerungsformen der menschlichen Persönlichkeit. Bei seiner großen Bedeutung ist seine Berücksichtigung jeweils im Rahmen des Möglichen geboten (vgl BVerfGE_7,198 <208 f>; BVerfGE_15,288 <295>). Es umfaßt auch das Recht auf freie politische Meinungsäußerung bei der Vorbereitung allgemeiner politischer Wahlen einschließlich der Werbung für die Stimmabgabe. Mit der elementaren Bedeutung des Grundrechts aus Art.5 GG wäre es unvereinbar, wollte der Gesetzgeber die Freiheit der politischen Meinungsäußerung dem Bereich der betrieblichen Arbeitswelt, die die Lebensgestaltung zahlreicher Staatsbürger wesentlich bestimmt, schlechthin fernhalten. Allerdings findet dieses Grundrecht auch in den Betrieben seine Schranke in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. | ||
Zu den Gesetzen, die die Meinungsfreiheit im Betrieb begrenzen, gehört auch die Bestimmung des § 74 Abs.2 BetrVG 72. Diese Vorschrift wendet sich sowohl an die Arbeitgeber als auch an solche Arbeitnehmer, die als Betriebsratsangehörige besondere Funktionen im Betrieb wahrnehmen, und untersagt beiden bestimmte Betätigungen im Betrieb. Sie unterscheidet ausdrücklich zwischen parteipolitischen und anderen Betätigungen. Parteipolitische Betätigungen untersagt sie schlechthin ohne Rücksicht darauf, ob eine Gefährdung des Betriebsfriedens zu besorgen ist. Diese nicht unerhebliche Beschränkung des Grundrechts war schon im Betriebsverfassungsgesetz 1952 enthalten. Sie ist entgegen den Vorstellungen des Regierungsentwurfs zum Betriebsverfassungsgesetz 1972 vom Gesetzgeber ausdrücklich aufrechterhalten worden, nachdem sich der federführende Bundestagsausschuß für Arbeit und Sozialordnung aufgrund von Sachverständigenanhörungen von der Notwendigkeit einer solchen weitreichenden Beschränkung überzeugt hatte (zu BTDrucks.VI/2729, S.10). Andere Tätigkeiten als parteipolitische Betätigungen unterwirft der Gesetzgeber demgegenüber ausdrücklich geringeren Beschränkungen. So bestimmt § 74 Abs.2 Satz 2 BetrVG 72, daß Arbeitgeber und Betriebsratsangehörige andere Betätigungen nur zu unterlassen haben, wenn sie den Arbeitsablauf oder den Frieden im Betrieb beeinträchtigen. Hier wird also kein absolutes Verbot gesetzt, sondern es werden nur Betätigungen verboten, die den Betriebsfrieden konkret gefährden. | ||
Verfassungsrechtlich bestehen gegen diese Norm keine Bedenken. Sie richtet sich nicht gegen die Äußerung von Meinungen als solchen. Vielmehr dient sie vornehmlich der Gewährleistung des Betriebsfriedens, eines Rechtsguts, dem der Gesetzgeber Meinungsfreiheit Vorrang einräumen kann. | ||
2. Bei der Anwendung dieser Norm muß jedoch der besondere Wertgehalt des Art.5 GG, der zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Meinungsäußerung führt, gewahrt bleiben. Zwar setzt die Norm des § 74 Abs.2 BetrVG 72 der Freiheit der Meinungsäußerung Schranken, jedoch muß die Norm ihrerseits aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden ( BVerfGE_7,198 <208 f>, st Rechtsprechung). Bei der Auslegung ist insbesondere zu beachten, daß der Gesetzgeber im Hinblick auf das Grundrecht des Art.5 GG in § 74 Abs.2 BetrVG 72 die Rechte von Arbeitgebern und Betriebsratsangehörigen in differenzierter Weise beschränkt hat. Parteipolitische Betätigung ist schlechthin, dh schon bei abstrakter Gefährdung, jede andere Betätigung nur dann verboten, wenn der Betriebsfrieden konkret beeinträchtigt wird. Ob eine derartige Differenzierung nach Art.5 Abs.1 GG von Verfassungs wegen geboten war, bedarf hier nicht der Prüfung. Denn unabhängig davon, ob die Verteilung der Handzettel "parteipolitische Betätigung" war oder nicht, durfte die Anwendung der einschlägigen Bestimmungen im Hinblick auf die dargelegte Einwirkung des Art.5 GG nicht zum Ausschluß des Beschwerdeführers aus dem Betriebsrat führen. | ||
a) Bei dem sachlich gehaltenen Wortlaut des Aufrufs, den der Beschwerdeführer verteilte, hätte es nahegelegen, in dieser Wahlwerbung keine "parteipolitische Betätigung" zu sehen. Der Umstand, daß in dem Aufruf die Namen von Kandidaten mehrerer Parteien standen, deutet mehr auf gewerkschaftliche Informationstätigkeit als auf parteipolitische Aktionen hin. Geht man hiervon aus, so wäre das Verhalten des Beschwerdeführers nicht als parteipolitische Betätigung, sondern nach § 74 Abs.2 Satz 2 BetrVG 72 zu beurteilen gewesen. Ein Verstoß des Beschwerdeführers gegen diese Bestimmung hätte aber nur dann festgestellt werden können, wenn sein Verhalten den Arbeitsablauf oder den Betriebsfrieden beeinträchtigt hätte. Der angefochtene Beschluß läßt jedoch erkennen, daß die Aktivität des Beschwerdeführers keine derartigen Folgen hatte oder besorgen ließ. Dafür fehlt auch jeder Anhaltspunkt. | ||
b) Geht man demgegenüber davon aus, daß die Interpretation des Begriffs der parteipolitischen Betätigung, wie sie der angefochtene Beschluß dem Ausschluß des Beschwerdeführers zugrunde legt, noch hinnehmbar wäre, so wäre der Beschluß dennoch verfassungsrechtlich als unverhältnismäßig zu beanstanden. Bei der gebotenen zurückhaltenden Auslegung derjenigen Bestimmungen, die im Interesse anderer Rechtsgüter wie der Gewährleistung des Betriebsfriedens das Grundrecht aus Art.5 Abs.1 GG beschränken, sind auch die Sanktion des § 23 Abs.1 Satz 1 BetrVG 72 und ihre Voraussetzungen im Licht des eingeschränkten Grundrechts zu sehen. Die gesetzliche Norm gibt diese Möglichkeit schon dadurch, daß sie nur bei grober Verletzung gesetzlicher Pflichten den Ausschluß eines Mitglieds aus dem Betriebsrat zuläßt. Bei Abwägung aller Umstände scheidet die Annahme einer groben Pflichtverletzung im vorliegenden Fall aus. Der Beschwerdeführer war langjähriger Betriebsratsvorsitzender. Nach der Begründung des angefochtenen Beschlusses beruht sein Ausschluß aus dem Betriebsrat allein darauf, daß er einmalig einen gewerkschaftlichen Wahlaufruf verteilt hat. Das geschah zeitlich vor Beginn der Arbeitszeit. Der Aufruf selbst enthält keine Diffamierungen. Eine tatsächliche Unruhe ist im Betrieb durch die Verteilung des Aufrufs nicht entstanden. Auch wenn der Beschwerdeführer gegen das Verbot parteipolitischer Betätigung verstoßen hätte, hätte dieser Verstoß ersichtlich nur geringe Bedeutung gehabt. Von hier aus liegt in dem Ausschluß des Beschwerdeführers aus dem Betriebsrat eine übermäßige Reaktion, die in keinem vernünftigen Verhältnis zu seinem tatsächlichen Verhalten steht." | ||
Auszug aus BVerfG B, 28.04.76, - 1_BvR_71/73 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.20 ff | ||
§§§ |
76.014 | Herabsentzende Werturteile | |
---|---|---|
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Zur Zulässigkeit herabsetzender Werturteile im Rahmen politischer Auseinandersetzungen. | ||
* * * | ||
T-76-03 | Meinungsfreiheit und herabsetzende Werturteile | |
"1. Die Grundrechte der freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit finden zwar nach Art.5 Abs.2 GG ihre Schranken unter anderem in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze und in dem Recht der persönlichen Ehre. Doch müssen diese Schranken im Lichte der Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit gesehen werden; sie sind ihrerseits aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat auszulegen und so in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung selbst wieder einzuschränken ( BVerfGE_7,198 <208 f> - Lüth -, st.Rspr.). Diese Rückwirkung des Art.5 Abs.1 GG auf die hier in Betracht kommenden "allgemeinen Gesetze" der §§ 823, 1004 BGB hat das Oberlandesgericht verkannt. | ||
a) Bei der Beurteilung der beiden ersten Behauptungen: die Deutschland-Stiftung mißbrauche den Namen Adenauers für rechte Sektierer und sie sei ein nationalistisches Unternehmen mit einem demokratischen Deckmantel, hat das Oberlandesgericht zwar nicht übersehen, daß es sich um wertende Äußerungen handelt und daß diese grundsätzlich durch Art.5 GG geschützt werden. Beide Äußerungen hat es jedoch für unzulässig gehalten, weil es an Bezugspunkten tatsächlicher Art fehle, die den Durchschnittsleser "die Auseinandersetzung und die Bedeutung des dahinterstehenden Anliegens" erkennen ließen. Dem kann nicht gefolgt werden. | ||
Das Urteil verbietet dem Beschwerdeführer die freie Äußerung und Verbreitung von Gedanken eines bestimmten Inhalts im Rahmen einer öffentlichen politischen Auseinandersetzung; es betrifft die Meinungsfreiheit also in ihrer Kernbedeutung als Voraussetzung eines freien und offenen politischen Prozesses. Wegen der mit einer Einengung dieses Prozesses verbundenen besonderen Gefahr für die Funktion der Meinungsfreiheit hat es das Bundesverfassungsgericht seit dem Lüth-Urteil bei der Bestimmung der Reichweite der Meinungsfreiheit als wesentlichen Faktor angesehen, wenn es sich bei der zu beurteilenden Äußerung um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelte L ( BVerfGE_7,198 <212> - Lüth -; BVerfGE_12,113 <127> - Schmid-Spiegel -; BVerfGE_24,278 <282 f> - Tonjäger -). Sofern das der Fall ist, ist eine Auslegung der das Grundrecht des Art.5 Abs.1 GG beschränkenden Gesetze, die an die Zulässigkeit öffentlicher Kritik im politischen Meinungskampf überhöhte Anforderungen stellt, mit Art.5 GG nicht vereinbar. | ||
Eine solche überhöhte Anforderung ist es, wenn die Zulässigkeit ehrverletzender wertender Äußerungen im politischen Meinungskampf ohne Rücksicht auf die dargelegten Umstände schlechthin an die Voraussetzung gebunden wird, daß dem Leser gleichzeitig Tatsachen mitgeteilt werden, die ihm eine kritische Beurteilung der Wertung ermöglichen (vgl BGH, NJW_74,1762 <1763>). Es würde dem Grundgedanken und der Funktion der Meinungsfreiheit in der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes widersprechen, wenn öffentliche, auch scharfe Kritik in der Presse undifferenziert davon abhängig gemacht würde, daß sie jeweils durch Tatsachen belegt und für den Durchschnittsleser überprüfbar gemacht werden müßte. Denn das Grundrecht der Meinungsfreiheit will nicht nur der Ermittlung der Wahrheit dienen; es will auch gewährleisten, daß jeder frei sagen kann, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe für sein Urteil angibt oder angeben kann. | ||
Der Beschwerdeführer hat durch seine Kritik einen Beitrag zum öffentlichen politischen Meinungskampf leisten wollen, ohne private oder eigennützige Ziele zu verfolgen. Dafür, daß es ihm nicht um die Sache, sondern nur um vorsätzliche Kränkung des Gegners gegangen sei (vgl BGH aaO), bieten sich keine Anhaltspunkte; es handelte sich vielmehr um Äußerungen, die im politischen Tageskampf üblich sind und normalerweise auch ohne Beanstandung hingenommen werden. Die Zulässigkeit der Kritik durfte mithin nicht von der erwähnten Voraussetzung abhängig gemacht werden, selbst wenn diese nach der nicht näher begründeten Auffassung des Oberlandesgerichts die Nebenwirkung einer Ehrverletzung enthalten haben sollte. Die damit verfassungsrechtlich gebotene Auslegung der die Meinungsfreiheit einschränkenden Gesetze hat das Oberlandesgericht verfehlt und wegen dieses Fehlers den Schutzbereich der Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit im konkreten Falle unzutreffend bestimmt. Insofern verletzt die Entscheidung diese Grundrechte. | ||
b) Nichts anderes kann auch für die dritte Behauptung gelten: Ziesel bemühe sich, sein Deutschland-Magazin der von ihm so verehrten Deutschen National- und Soldaten-Zeitung anzugleichen, zumal der Artikel des Beschwerdeführers und die in ihm enthaltenen Äußerungen im wesentlichen eine Einheit darstellen. Die Äußerung entzieht sich den Maßstäben für die Beurteilung einer Tatsachenbehauptung. Sie stellt sich als ironisch-spöttische Polemik dar, die einer Prüfung auf ihren Wahrheitsgehalt nicht zugänglich ist und ohne Rücksicht auf ihre "Richtigkeit" dem Schutz des Art.5 GG unterliegt. | ||
Der Eingriff in die Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit, den das Verbot der Äußerung enthält, ist zwar weniger gravierend als das Verbot der beiden ersten Behauptungen. Auch hier ist jedoch dem Beschwerdeführer nicht nur die wörtliche, sondern auch die sinngemäße Behauptung untersagt worden. Das Verbot enthält mithin eine inhaltliche Beschränkung der Meinungsfreiheit, die nach denselben Gesichtspunkten zu beurteilen ist wie die zuvor erörterten Beschränkungen. Auch insoweit hält die Auslegung der einschränkenden allgemeinen Gesetze durch das Oberlandesgericht einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand, mit der Folge, daß die Untersagung jener Äußerung ebenfalls gegen Art.5 GG verstößt." | ||
Auszug aus BVerfG B, 11.05.76, - 1_BvR_163/72 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.19 ff | ||
§§§ |
76.015 | Herabsetzende Werturteile | |
---|---|---|
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Zur Zulässigkeit herabsetzender Werturteile im Rahmen politischer Auseinandersetzungen. | ||
* * * | ||
T-76-04 | Meinungsfreiheit und herabsetzende Werturteile | |
"1. Die Grundrechte der freien Meinungsäußerung und der Pressefreiheit finden zwar nach Art.5 Abs.2 GG ihre Schranken unter anderem in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze und in dem Recht der persönlichen Ehre. Doch müssen diese Schranken im Lichte der Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit gesehen werden; sie sind ihrerseits aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat auszulegen und so in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung selbst wieder einzuschränken ( BVerfGE_7,198 <208 f> - Lüth -, st.Rspr.). Diese Rückwirkung des Art.5 Abs.1 GG auf die hier in Betracht kommenden "allgemeinen Gesetze" der §§ 823, 1004 BGB hat das Oberlandesgericht verkannt. | ||
a) Bei der Beurteilung der beiden ersten Behauptungen: die Deutschland-Stiftung mißbrauche den Namen Adenauers für rechte Sektierer und sie sei ein nationalistisches Unternehmen mit einem demokratischen Deckmantel, hat das Oberlandesgericht zwar nicht übersehen, daß es sich um wertende Äußerungen handelt und daß diese grundsätzlich durch Art.5 GG geschützt werden. Beide Äußerungen hat es jedoch für unzulässig gehalten, weil es an Bezugspunkten tatsächlicher Art fehle, die den Durchschnittsleser "die Auseinandersetzung und die Bedeutung des dahinterstehenden Anliegens" erkennen ließen. Dem kann nicht gefolgt werden. | ||
Das Urteil verbietet dem Beschwerdeführer die freie Äußerung und Verbreitung von Gedanken eines bestimmten Inhalts im Rahmen einer öffentlichen politischen Auseinandersetzung; es betrifft die Meinungsfreiheit also in ihrer Kernbedeutung als Voraussetzung eines freien und offenen politischen Prozesses. Wegen der mit einer Einengung dieses Prozesses verbundenen besonderen Gefahr für die Funktion der Meinungsfreiheit hat es das Bundesverfassungsgericht seit dem Lüth-Urteil bei der Bestimmung der Reichweite der Meinungsfreiheit als wesentlichen Faktor angesehen, wenn es sich bei der zu beurteilenden Äußerung um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelte L ( BVerfGE_7,198 <212> - Lüth -; BVerfGE_12,113 <127> - Schmid-Spiegel -; BVerfGE_24,278 <282 f> - Tonjäger -). Sofern das der Fall ist, ist eine Auslegung der das Grundrecht des Art.5 Abs.1 GG beschränkenden Gesetze, die an die Zulässigkeit öffentlicher Kritik im politischen Meinungskampf überhöhte Anforderungen stellt, mit Art.5 GG nicht vereinbar. | ||
Eine solche überhöhte Anforderung ist es, wenn die Zulässigkeit ehrverletzender wertender Äußerungen im politischen Meinungskampf ohne Rücksicht auf die dargelegten Umstände schlechthin an die Voraussetzung gebunden wird, daß dem Leser gleichzeitig Tatsachen mitgeteilt werden, die ihm eine kritische Beurteilung der Wertung ermöglichen (vgl BGH, NJW_74,1762 <1763>). Es würde dem Grundgedanken und der Funktion der Meinungsfreiheit in der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes widersprechen, wenn öffentliche, auch scharfe Kritik in der Presse undifferenziert davon abhängig gemacht würde, daß sie jeweils durch Tatsachen belegt und für den Durchschnittsleser überprüfbar gemacht werden müßte. Denn das Grundrecht der Meinungsfreiheit will nicht nur der Ermittlung der Wahrheit dienen; es will auch gewährleisten, daß jeder frei sagen kann, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe für sein Urteil angibt oder angeben kann. | ||
Der Beschwerdeführer hat durch seine Kritik einen Beitrag zum öffentlichen politischen Meinungskampf leisten wollen, ohne private oder eigennützige Ziele zu verfolgen. Dafür, daß es ihm nicht um die Sache, sondern nur um vorsätzliche Kränkung des Gegners gegangen sei (vgl BGH aaO), bieten sich keine Anhaltspunkte; es handelte sich vielmehr um Äußerungen, die im politischen Tageskampf üblich sind und normalerweise auch ohne Beanstandung hingenommen werden. Die Zulässigkeit der Kritik durfte mithin nicht von der erwähnten Voraussetzung abhängig gemacht werden, selbst wenn diese nach der nicht näher begründeten Auffassung des Oberlandesgerichts die Nebenwirkung einer Ehrverletzung enthalten haben sollte. Die damit verfassungsrechtlich gebotene Auslegung der die Meinungsfreiheit einschränkenden Gesetze hat das Oberlandesgericht verfehlt und wegen dieses Fehlers den Schutzbereich der Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit im konkreten Falle unzutreffend bestimmt. Insofern verletzt die Entscheidung diese Grundrechte. | ||
b) Nichts anderes kann auch für die dritte Behauptung gelten: Ziesel bemühe sich, sein Deutschland-Magazin der von ihm so verehrten Deutschen National- und Soldaten-Zeitung anzugleichen, zumal der Artikel des Beschwerdeführers und die in ihm enthaltenen Äußerungen im wesentlichen eine Einheit darstellen. Die Äußerung entzieht sich den Maßstäben für die Beurteilung einer Tatsachenbehauptung. Sie stellt sich als ironisch-spöttische Polemik dar, die einer Prüfung auf ihren Wahrheitsgehalt nicht zugänglich ist und ohne Rücksicht auf ihre "Richtigkeit" dem Schutz des Art.5 GG unterliegt. | ||
Der Eingriff in die Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit, den das Verbot der Äußerung enthält, ist zwar weniger gravierend als das Verbot der beiden ersten Behauptungen. Auch hier ist jedoch dem Beschwerdeführer nicht nur die wörtliche, sondern auch die sinngemäße Behauptung untersagt worden. Das Verbot enthält mithin eine inhaltliche Beschränkung der Meinungsfreiheit, die nach denselben Gesichtspunkten zu beurteilen ist wie die zuvor erörterten Beschränkungen. Auch insoweit hält die Auslegung der einschränkenden allgemeinen Gesetze durch das Oberlandesgericht einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand, mit der Folge, daß die Untersagung jener Äußerung ebenfalls gegen Art.5 GG verstößt." | ||
Auszug aus BVerfG B, 11.05.76, - 1_BvR_163/72 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.19 ff | ||
§§§ |
76.016 | Deutschland-Magazin | |
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Zu den Grenzen verfassungsgerichtlicher Nachprüfung von Entscheidungen der ordentlichen Gerichte in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten. | ||
LB 2) Zur abweichenden Meinung der Richterin Rupp-v Brünneck, siehe BVerfGE_42,154 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs.23 ff | ||
LB 3) Zur abweichenden Meinung des Richters Dr Simon, siehe BVerfGE_42,162 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs.44. | ||
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T-76-05 | Verfassungsrechtliche Überprüfung von Zivilurteilen | |
"Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine zivilgerichtliche Entscheidung über einen bürgerlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch nach §§ 823, 1004 BGB in Verbindung mit §§ 185, 186 StGB. Diese Bestimmungen auszulegen und anzuwenden ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte, die bei ihrer Entscheidung dem Einfluß der Grundrechte auf die Vorschriften des bürgerlichen Rechts Rechnung tragen müssen (BVerfGE_7,198 <204 ff> - Lüth -, stRspr). Die auf diesem Wege einwandfrei getroffene Feststellung eines Verstoßes gegen die Bestimmungen zum Schutz der Ehre aktualisiert die verfassungsungsrechtliche Grenze der Meinungsfreiheit im Einzelfall (BVerfGE_19,73 <74>)." | ||
"Auch wenn die ordentlichen Gerichte grundrechtlich verbürgte Positionen Privater gegeneinander abzugrenzen haben und dabei - vor allem bei der Interpretation von Generalklauseln und anderer "Einbruchstellen" der Grundrechte in das bürgerliche Recht - grundrechtsbezogen argumentieren, wenden sie Privatrecht an (BVerfGE_7,198 <205 f> - Lüth -). Wie die "richtige" Lösung einer bürgerlich-rechtlichen Streitigkeit konkret auszusehen hat, ist im Grundgesetz nicht vorgeschrieben. Es enthält vielmehr in seinem Grundrechtsabschnitt verfassungsrechtliche Grundentscheidungen für alle Bereiche des Rechts, die sich erst durch das Medium der das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften entfalten (BVerfGE_7,198 <205> - Lüth -)." | ||
"Das Bundesverfassungsgericht hat daher die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts als solche nicht nachzuprüfen. Ihm obliegt es lediglich, die Beachtung der grundrechtlichen Normen und Maßstäbe durch die ordentlichen Gerichte sicherzustellen (BVerfGE_7,198 <205 ff> - Lüth -; BVerfGE_18,85 <92 f>; BVerfGE_30,1 73 <187 f, 196 f> - Mephisto -; BVerfGE_32,311 <316>; nicht kann es seine Aufgabe sein, in jedem Einzelfall nach Art einer Superinstanz seine V orstellung von der zutreffenden Entscheidung an die Stelle derjenigen der ordentlichen Gerichte zu setzen." | ||
(Abs.13) "Allerdings lassen sich die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts nicht starr und gleichbleibend ziehen; ihm muß ein gewisser Spielraum bleiben, der die Berücksichtigung der besonderen Lage des Einzelfalles ermöglicht (BVerfGE_18,85 <93>). Von B edeutung ist namentlich die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung: das Bundesverfassungsgericht kann einer rechtskräftigen zivilgerichtlichen Entscheidung nicht schon dann entgegentreten, wenn es selbst bei der Beurteilung widerstreitender Grundrechtspositionen die Akzente anders gesetzt und daher anders entschieden hätte. Die Schwelle eines Verstoßes gegen objektives Verfassungsrecht, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, ist vielmehr erreicht, wenn die Entscheidung der Zivilgerichte Auslegungsfehler erkennen läßt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung vond er Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (BVerfGE_18,85 <93>). Je nachhaltiger ferner ein zivilgerichtliches Urteil im Ergebnis die Grundrechtssphäre des Unterlegenen trifft, desto strengere Anforderungen sind an die Begründungd ieses Eingriffs zu stellen und desto weiterreichend sind folglich die Nachprüfungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts; in F ällen höchster Eingriffsintensität (vgl etwa BVerfGE_35,202 - Lebach -) ist es durchaus befugt, die von den Zivilgerichten vorgenommene Wertung durch seine eigene zu ersetzen." | ||
Auszug aus BVerfG B, 11.05.76, - 1_BvR_671/70 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.10 | ||
§§§ |
76.017 | Quick/Durchsuchungsbefehl | |
---|---|---|
| ||
Ein auf § 102 StPO gestützter schriftlicher Durchsuchungsbefehl der keinerlei tatsächliche Angaben über den Inhalt des Tatvorwurfs enthält und der zudem weder die Art noch den denkbaren Inhalt der Beweismittel, denen die Durchsuchung gilt, erkennen läßt, wird rechtsstaatlichen Anforderungen jedenfalls dann nicht gerecht, wenn solche Kennzeichnungen nach dem Ergebnis der Ermittlungen ohne weiteres möglich und den Zwecken der Strafverfolgung nicht abträglich sind. | ||
§§§ |
76.018 | Hinweispflicht | |
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| ||
1) Es verstößt gegen Art.103 Abs.1 GG, wenn ein Gericht -- auch versehentlich -- vor Ablauf einer einem Beteiligten gesetzten Äußerungsfrist entscheidet. | ||
2) Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist im Verfassungsrecht verankert. | ||
3) § 33a StPO gehört zum Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs.2 BVerfGG ( BVerfGE_33,192 [194 | ||
§§§ |
76.019 | Contergan | |
---|---|---|
| ||
1) Weder der Wortlaut noch der Sinn des Art.82 Abs.2 Satz 1 GG fordern, daß der maßgebliche Zeitpunkt des Inkrafttretens eines Gesetzes unter allen Umständen wörtlich und unter genauer Bestimmung eines Termins im Gesetz angeführt wird. | ||
2) Ein Gesetz kann jedenfalls dann, wenn das mit ihm verfolgte rechtliche und soziale Ziel sonst nicht sachgerecht verwirklicht werden könnte, auch in der Weise in Kraft gesetzt werden, daß hierfür ein hinreichend bestimmtes Ereignis maßgebend sein soll. | ||
3) Die der Gewährleistung des Eigentums zukommende "sichernde und abwehrende Bedeutung" gilt auch für Ansprüche, die den Charakter eines Äquivalentes für Einbußen an Lebenstüchtigkeit besitzen und für die weitere Lebensgestaltung der Betroffenen von hervorragender Bedeutung sind. | ||
4) Die Gewährleistung dieser Ansprüche bedeutet nicht schlechthin ihre Unantastbarkeit; Art.14 Abs.1 Satz 3 GG ermächtigt den Gesetzgeber unter bestimmten Voraussetzungen, bereits begründeten Rechten einen neuen Inhalt zu geben. | ||
5) Hierzu genügt nicht jedes öffentliche Interesse. Es müssen vielmehr solche Gründe des gemeinen Wohls vorliegen, denen auch bei Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit der Vorrang vor dem grundsätzlichen Freiheitsanspruchs des Bürgers zukommt; das Zuordnungsverhältnis muß erhalten und die Substanz des Rechtes gewährleistet bleiben. | ||
§§§ |
76.020 | Kirchliches Amt | |
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1) Durch Art.140 GG sind die Länder gehindert, die Kirchen in ihrer Freiheit stärker zu beschränken, als es nach Bundesverfassungsrecht zulässig ist. | ||
2) Das Bundesverfassungsgericht ist an die Auslegung einer Vorschrift der Landesverfassung durch den Landesstaatsgerichtshof gebunden. Das Bundesverfassungsgericht kann jedoch eine Entscheidung des Landesstaatsgerichtshofs, die auf einer in der Auslegung des Landesstaatsgerichtshofs mit dem Grundgesetz unvereinbaren Bestimmung der Landesverfassung beruht, aufheben. | ||
3) Art.48 Abs.2 GG verbietet unter anderem weder einschränkende Regelungen hinsichtlich der Übernahme und Ausübung des Abgeordnetenmandats, die ihren Ursprung außerhalb des Rechtskreises der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland haben, noch sozialadäquate Behinderungen. Der Anwendungsbereich des Art.48 Abs.2 GG wird insbesondere nur durch eine Regelung berührt, die die Übernahme oder Ausübung des Abgeordnetenmandats erschweren oder unmöglich machen soll, nicht aber durch eine Regelung, die in eine andere Richtung zielt und nur unvermeidlicherweise die tatsächliche Folge oder Wirkung einer Beeinträchtigung der Freiheit der Mandatsübernahme und Mandatsausübung hat. | ||
4) § 1 BremKG regelt eine innere Angelegenheit der Kirche, die jedenfalls keine unmittelbare Rechtswirkung im staatlichen Zuständigkeitsbereich entfaltet. Ihr steht deshalb eine Schranke des für alle geltenden Gesetze (Art.140 GG iVm Art.137 Abs.3 WRV) nicht entgegen. | ||
5) Was innerhalb der staatlichen Verfassung die Rücksicht auf das Gewaltenteilungsprinzip an Einschränkungen der Abgeordnetenfreiheit rechtfertigt (Art.48 Abs.2 GG iVm Art.137 Abs. 1 GG), erscheint auch gerechtfertigt in Rücksicht auf die Integrität des kirchlichen Amtes. Die Regelung in § 1 BremKG läßt sich also rechtfertigen mit einem Analogiebeschluß aus Art.137 Abs.1 GG. | ||
6) Auch soweit § 1 BremKG sich auf Kirchenbeamte bezieht, begegnet er keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. | ||
§§§ |
76.021 | Bad Pyrmont | |
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LB 2) Auch staatsvertraglich vereinbarte Bestandsgarantien unterliegen der "clausula rebus sic stantibus. | ||
LB 3) Die Rechtsfolge des Eintritts der clausula rebus sic stantibus ist zunächst nicht der Wegfall der vertraglichen Verpflichtung, sondern die Pflicht der Beteiligten, nach einer Anpassung der vertraglichen Vereinbarung an die veränderten Verhältnisse zu suchen. | ||
LB 4) Daraus hat das BVerfG die Folgerung gezogen, daß der sich auf die clausula rebus sic stantibus Berufende grundsätzlich verpflichtet ist, mit dem aus dem Vertrag Berechtigten in ernsthafte Verhandlungen einzutreten, die die Anpassung der Vereinbarung an die neuen Verhältnisse zum Ziel haben ( BVerfGE_34,216 <236 f>). | ||
LB 5) Ist eine Anpassung an die veränderten Verhältnisse - wie hier - nicht möglich, so kommt zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen den vertraglichen Leistungen und Gegenleistungen nur ein angemessener Ausgleich in Gestalt einer Geldleistung in Betracht, der weder einen Schadensersatz noch eine Entschädigung darstellt (vgl BVerfGE_34,216 <237>). | ||
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Beschuss | Entscheidungsformel: | |
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T-76-06 | Staatsvertrag + clausula rebus sic stantibus | |
"1. Art.1 Abs.e des Schlußprotokolls enthält eine Bestandsgarantie für das Amtsgericht Bad Pyrmont. Die Existenz eines Amtsgerichts in Bad Pyrmont ist jedenfalls über den hier in Frage stehenden Zeitpunkt seiner Auflösung (1974) hinaus garantiert worden. Wenn eine unbeschränkte Bestandsgarantie hinsichtlich der staatlichen Behördenorganisation innerhalb eines Staatsvertrages auch etwas Außergewöhnliches darstellt, so kann sie im Einzelfall doch gewollt sein, wenn sich dies aus besonders gewichtigen Umständen ergibt. So liegen die Dinge hier: Dem Wortlaut nach ist Art.1 Abs.e Satz 1 weder befristet noch in sonstiger Weise beschränkt. Mit diesem Wortlaut wäre eine Auslegung der Klausel nicht vereinbar, die dahin ginge, daß das Amtsgericht Bad Pyrmont nur im Zusammenhang mit der Eingliederung Pyrmonts nach Preußen nicht aufgehoben werden durfte, und es danach lediglich bis zu einer sachlich begründeten Neuordnung, die alle Gerichte in gleicher Weise träfe, zu erhalten sei. Eine solche Auslegung würde auch dem Zweck der Klausel widersprechen: Das Amtsgericht sollte als Ausgleich für die durch die Eingliederung des Landesteils Pyrmont bedingte Einbuße an Gewicht der Stadt Pyrmont erhalten bleiben; die Bedeutung Pyrmonts innerhalb des kleinen Landes war relativ größer als sie nun innerhalb Preußens wurde. Um dieses Ausgleichs willen verzichtete Preußen insoweit sogar auf die ihm durch die vorausgegangenen Staatsverträge eingeräumte und in sein Ermessen gestellte Befugnis zur anderweitigen Organisation der Justizbehörden. Eine zeitliche Einschränkung der Garantie läßt sich auch nicht aus dem Gesamtinhalt des Vertrages herleiten. Im Gegenteil zeigt besonders § 9 Abs. 1 des Staatsvertrages, wonach einer noch zu gründenden Gesellschaft der Nießbrauch am Bade Pyrmont für 60 Jahre übertragen werden sollte, daß die Parteien mit längerfristigen Verpflichtungen, die über das Jahr 1980 hinausgehen, rechneten. Die Existenz so weitgehender ausdrücklicher Verpflichtungen verbietet eine diesen Zeitpunkt unterschreitende Auslegung anderer Vertragsklauseln mit der Begründung, daß die Vertragspartner eine Bindung bis in das Jahr 1974 nicht gewollt haben konnten. | ||
2. Eine vertraglich unbeschränkt und vorbehaltlos gegebene Garantie steht jedoch unter dem Vorbehalt der clausula rebus sic stantibus, die ungeschriebener Bestandteil des Bundesverfassungsrechts ist (vgl BVerfGE_34,216 <231>). Ihre Anwendung auf den vorliegenden Fall führt dazu, daß die Aufhebung des Amtsgerichts Bad Pyrmont nicht in Widerspruch mit Art.1 Abs.e des Schlußprotokolls steht. | ||
Nach den vom Senat in der Entscheidung zum Coburger Staatsvertrag (BVerfGE_34,216 ff) entwickelten Grundsätzen, an denen festzuhalten ist, findet die clausula rebus sic stantibus Anwendung, "wenn sich die Verhältnisse, die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestanden haben, mittlerweile grundlegend geändert haben und angesichts dieser Veränderung das Festhalten am Vertrag oder an einer Einzelvereinbarung innerhalb des Vertrags für den Verpflichteten unzumutbar geworden ist" (BVerfGE_34,216 <232>). | ||
a) Die für die Gerichtsorganisation eines Landes erheblichen Verhältnisse haben sich seit Abschluß des Staatsvertrages grundlegend geändert. Mit dem Ausbau des Rechtsstaates und der fortschreitenden Verrechtlichung aller Lebensbereiche sind die Anforderungen an die Qualität der Rechtsprechung gestiegen. Die richterliche Entscheidung bedarf heute mehr denn je der sachlichen Überzeugungskraft. Zugleich haben die Zahl der Gesetze, die Kompliziertheit der Regelungen und der Umfang der höchstrichterlichen Rechtsprechung zugenommen. Den unter diesen Umständen heute an eine leistungsfähige Rechtsprechung zu stellenden Anforderungen vermögen kleine Amtsgerichte mit nur ein oder zwei Richterplanstellen schwerlich zu genügen. Die Erhaltung und Steigerung der Qualität der Rechtsprechung verlangt im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit eine weitgehende Spezialisierung des Richters. Spezialisierung setzt eine Arbeitsteilung unter den Richtern eines Gerichts voraus; sie ist nur möglich an einem größeren Amtsgericht mit mehreren Richtern. Hinzu kommt, daß eine den modernen Bedürfnissen entsprechende Ausstattung der Gerichte mit Literatur und erst recht der Einsatz moderner bürotechnischer Hilfsmittel - einschließlich elektronischer Datenverarbeitungsanlagen - wirtschaftlich sinnvoll nur an größeren Gerichten möglich ist. | ||
Die Zentralisierung des Gerichtswesens in größeren Gerichtseinheiten wird - heute anders als vor 50 Jahren - ermöglicht und erleichtert durch die Verbesserung der Verkehrs- und Postwege, die Einrichtung eines dichten Fernsprechnetzes und die zunehmende Motorisierung der Bevölkerung; der rechtssuchende Bürger überwindet heute die weiteren Entfernungen zum größeren Gericht leichter und rascher als 1922 den Weg zum ortsnahen Gericht. Schließlich sind die tatsächlichen Verhältnisse auch durch die kommunale Neugliederung teilweise einschneidend verändert worden. Das grundsätzlich anzuerkennende Prinzip der Einräumigkeit der Verwaltung (vgl BVerfGE_34,216 <233>) fordert aber wegen der häufig erforderlichen Zusammenarbeit und des erstrebenswerten Informationsaustausches besonders auf dem Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit nach Möglichkeit eine Anpassung der Bezirke der Gerichte erster Instanz an die Bezirke der Unterstufe der inneren Verwaltung (BVerfGE_34,216 <233 f>). | ||
b) Angesichts dieser grundlegenden Veränderungen ist das Festhalten an der Pflicht des Art.1 Abs.e für das Land Niedersachsen auch unzumutbar geworden. Schon eine Ausnahme vom Prinzip der Einräumigkeit der Verwaltung würde - selbst wenn zwei Amtsgerichte innerhalb der Grenzen eines Kreises errichtet würden - auf Grund unterschiedlicher örtlicher Zuständigkeiten und der Dislozierung der Amtssitze die Zusammenarbeit zwischen Amtsgerichten und den verschiedenen Verwaltungsbehörden erschweren. | ||
Vor allem aber: Wenn sich das Land Niedersachsen aus schwerwiegenden politischen Erwägungen, denen das Bundesverfassungsgericht nicht mit eigenen politischen Erwägungen entgegentreten kann, entschlossen hat, die kleinen Amtsgerichte mit nur ein oder zwei Richterplanstellen aufzulösen, so ist grundsätzlich auch das Interesse an der vollständigen Durchführung dieses Konzepts anzuerkennen. Ebenso wie die Neugliederung der Staatsverwaltung (BVerfGE_34,216 <234>) verträgt auch eine Neugliederung der Bezirke der erstinstanzlichen Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit vernünftigerweise keine Ausnahme, die erkennbar dem mit der Reform verfolgten Zweck zuwiderläuft. Demgegenüber kann nicht eingewandt werden, daß das Land selbst sein Konzept noch nicht "lupenrein" verwirklicht habe, weil noch Amtsgerichte mit ein oder zwei Richterplanstellen existieren. Das Land hat versichert, daß auch diese Gerichte aufgehoben werden sollen. Es liegt auf der Hand, daß ein umfassendes Reformkonzept nur schrittweise verwirklicht werden kann. Das Land ist auf Grund des Staatsvertrages auch nicht verpflichtet, mit der Auflösung des Amtsgerichts Bad Pyrmont bis zum "letzten Akt" der Reform zuzuwarten und das Amtsgericht Bad Pyrmont als letztes aufzulösen. | ||
Eine mit dem Reformkonzept Niedersachsens vereinbare Möglichkeit, das Amtsgericht Bad Pyrmont aufrechtzuerhalten, ist nicht ersichtlich. | ||
Die ständige Einrichtung einer Nebenstelle des Amtsgerichts Hameln in Bad Pyrmont, sei es auch nur beschränkt auf einige wenige Rechtsgebiete, steht unter Berücksichtigung der für die Bildung größerer Gerichtseinheiten maßgeblichen Gesichtspunkte der Erhaltung eines kleinen Amtsgerichts gleich, und kommt daher als zumutbare Alternative nicht in Betracht. | ||
Die regelmäßige Abhaltung von Gerichtstagen in Bad Pyrmont könnte zwar die mit der Aufhebung des Amtsgerichts für die Bevölkerung von Bad Pyrmont uU verbundenen Schwierigkeiten mildern, stellt aber ebenfalls keine ausreichende Alternative zur Aufhebung des Amtsgerichts dar. | ||
Die Verlegung des Amtsgerichts Hameln nach Bad Pyrmont ist ausgeschlossen, weil damit der Sitz des Gerichts an den Rand seines Sprengels verlegt würde, - ein bei den ungünstigen Verkehrsverbindungen gänzlich unzumutbares Ergebnis für die große Mehrheit der Gerichtseingesessenen. | ||
Auch die Vergrößerung des Sprengels des Amtsgerichts Bad Pyrmont um die nördlich angrenzenden Teile des Kreises, die Gemeinden Aerzen und Emmertal, kommt nicht in Betracht. Zunächst würde durch die Zuschlagung der Gemeinden Aerzen und Emmertal zum Sprengel des Amtsgerichts Bad Pyrmont noch nicht der vom Land angestrebte Richtwert von 60.000 Einwohnern für jedes Amtsgericht erreicht, da in diesen Gebieten nur je etwa 11.000 Einwohner leben. Die in Frage stehenden Gebiete sind seit je entsprechend den geographischen Verhältnissen raumordnerisch, insbesondere auch verkehrsmäßig eng der Stadt Hameln zugeordnet - sie sind insbesondere dem städtischen Verkehrsnetz angeschlossen -, so daß eine Zuschlagung dieser Gebiete zum Amtsgerichtsbezirk Bad Pyrmont in Widerspruch zur sonstigen Orientierung der dort ansässigen Bevölkerung nach Hameln stünde. Eine Lösung, die zwar den Interessen der Bevölkerung Bad Pyrmonts entgegenkäme, dafür aber zu erheblichen Nachteilen für die benachbarten Bevölkerungsteile führen würde, stellt keine Alternative zur Auflösung des Amtsgerichts dar; der Sinn der staatsvertraglichen Garantie ist die Erhaltung des Amtsgerichts zum Vorteil der Stadt und ihrer Bevölkerung, - aber nicht auf Kosten der Nachbarbevölkerung, dh nicht unter Inkaufnahme ganz erheblicher Nachteile für die fast gleichgroße Zahl von Bürgern zweier angrenzender Gemeinden. | ||
In Ermangelung einer sinnvollen Alternative zur Aufhebung des Amtsgerichts Bad Pyrmont ist die Garantie des Art.1 Abs. e des Schlußprotokolls infolge der grundlegenden Änderung der Verhältnisse heute für das Land Niedersachsen unzumutbar geworden. Unter diesen Umständen ist das Land Niedersachsen nicht mehr durch Art.1 Abs.e des Schlußprotokolls gehindert, im Zuge der Neugliederung der Gerichte auch das Amtsgericht Bad Pyrmont aufzulösen. | ||
3. Die Rechtsfolge des Eintritts der clausula rebus sic stantibus ist zunächst nicht der Wegfall der vertraglichen Verpflichtung, sondern die Pflicht der Beteiligten, nach einer Anpassung der vertraglichen Vereinbarung an die veränderten Verhältnisse zu suchen. Daraus hat das Bundesverfassungsgericht die Folgerung gezogen, daß der sich auf die clausula rebus sic stantibus Berufende grundsätzlich verpflichtet ist, mit dem aus dem Vertrag Berechtigten in ernsthafte Verhandlungen einzutreten, die die Anpassung der Vereinbarung an die neuen Verhältnisse zum Ziel haben (BVerfGE_34,216 <236 f>). Diese Pflicht hat das Land verletzt. Die Stadt hat sich zwar wiederholt unter Darlegung ihrer Auffassung schriftlich gegen die geplante Aufhebung des Amtsgerichts an die Landesregierung und die Landtagsabgeordneten gewandt, ihre Vertreter wurden auch einmal zu einer Aussprache im Ministerium empfangen, zu keiner Zeit ließ das Land jedoch ernsthaft über die Belassung des Amtsgerichts in Bad Pyrmont, über mögliche Alternativen zur geplanten Aufhebung und über die Folgen einer Aufhebung mit sich reden. Daraus läßt sich indessen hier keine die Auflösung des Gerichts in Frage stellende Folgerung ziehen, weil, wie dargelegt, auch das verfassungsrechtlich geforderte, aber unterbliebene Prozedere zu keinem anderen Ergebnis als der Aufhebung des Amtsgerichts Bad Pyrmont hätte führen können. | ||
Ist eine Anpassung an die veränderten Verhältnisse - wie hier - nicht möglich, so kommt zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen den vertraglichen Leistungen und Gegenleistungen nur ein angemessener Ausgleich in Gestalt einer Geldleistung in Betracht, der weder einen Schadensersatz noch eine Entschädigung darstellt (vgl BVerfGE_34,216 <237>). Der Senat hält hier die Zuerkennung eines Ausgleichs in Geld für geboten, weil die staatsvertragliche Bestandsgarantie für das Amtsgericht Bad Pyrmont gerade dem durch die Eingliederung nach Preußen bedingten Bedeutungsverlust, den die Stadt Bad Pyrmont erlitten hat, entgegenwirken sollte. | ||
Für die Höhe der Geldleistung waren folgende Gesichtspunkte von Bedeutung: Die Antragstellerin wird durch die Auflösung des Amtsgerichts finanzielle Einbußen hinzunehmen haben. Zum einen werden die bisher am Gericht Beschäftigten ihren Wohnsitz an den neuen Beschäftigungsort verlegen. Zum anderen ist ein Rückgang an Besuchern der Stadt, die bisher zu den Gerichtsterminen angereist sind, zu erwarten. Die Bürger der Stadt müssen nunmehr zur Wahrnehmung ihrer Gerichtstermine nach Hameln reisen. Schließlich verliert die Stadt ihre besondere Bedeutung als "Gerichtsstätte". Der damit verbundene "Verlust an Zentralität" kann nicht nur die weitere Entwicklung der Stadt beeinträchtigen, sondern auch zur Folge haben, daß die Stadt bei zukünftigen, von der Bedeutung der Gemeinde abhängig gemachten Förderungsmaßnahmen des Bundes oder des Landes weniger berücksichtigt wird oder unberücksichtigt bleibt. Darnach erscheint als Ausgleich für den Wegfall der Verpflichtung aus Art. 1 Abs. e des Schlußprotokolls eine Geldleistung in Höhe von einer Million Deutsche Mark angemessen. Eine solche Ablösung der vertraglichen Garantie ist andererseits auch unter den gegenwärtigen finanziellen Verhältnissen dem Lande Niedersachsen zumutbar." | ||
Auszug aus BVerfG U, 22.09.76, - 2_BvH_1/74 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.41 ff | ||
§§§ |
76.022 | Parkstudium | |
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Beschuss | Entscheidungsformel: | |
§§§ |
76.023 | Quereinstieg | |
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Studienbewerber, die für das angestrebte Studium anrechenbare Leistungen nachweisen und die Zuteilung eines freien Studienplatzes in dem entsprechenden höheren Semester begehren ("Quereinstieg"), dürfen nicht mit der Begründung abgewiesen werden, in dem betreffenden Semester bestehe keine "erhebliche Unterbesetzung". | ||
§§§ |
76.024 | Kinderfreibeträge | |
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1) Die wirtschaftliche Belastung der Eltern durch Unterhaltsverpflichtungen gegenüber ihren Kindern gehört zu den die Leistungsfähigkeit beeinträchtigenden Umständen, die im Einkommenssteuerrecht nicht außer acht bleiben dürfen, sofern nicht ein anderweitiger Ausgleich gewährt wird. | ||
2) Der Gesetzgeber ist jedoch nicht verpflichtet, die nach der sozialen Stellung verschiedenen Aufwendungen für den Unterhalt der Kinder in vollem Umfang als steuerliche Entlastung zu berücksichtigen. Insbesondere kann er den Familienlastenausgleich so gestalten, daß die an sich schon bestehende Ungleichheit der Startchancen von Kindern mit verschiedenen Einkommensverhältnissen der Eltern nicht noch verstärkt wird. | ||
LB 3) Zur Neubekanntmachung von Gesetzen und Verfassungsbeschwerde. | ||
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T-76-07 | Zur Neubekanntmachung von Gesetzen | |
"Das Einkommensteuergesetz 1975 ist die Bekanntmachung der Neufassung des Einkommensteuergesetzes durch den Bundesminister der Finanzen unter Berücksichtigung des Einkommensteuerreformgesetzes. Diese Neubekanntmachung ist kein Akt der Rechtsetzung, der Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein könnte ( BVerfGE_17,364 <368 f>). Sie schafft kein neues Recht, sondern stellt rein deklaratorisch den nunmehr geltenden Wortlaut in übersichtlicher Form und ohne inhaltliche Änderung dar. | ||
Das Einkommensteuerreformgesetz selbst hat auch die Ausschlußfrist des § 93 Abs.2 BVerfGG zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen § 12 Nr.1 EStG nicht neu eröffnet, obwohl der Gesetzgeber des Einkommensteuerreformgesetzes diese seit dem Einkommensteuergesetz vom 16.Oktober 1934 (RGBl.I S.1005) unverändert gebliebene Norm offensichtlich in seinen Willen aufgenommen hat; denn ob der Gesetzgeber die beanstandete Norm tatsächlich in seinen Willen aufgenommen hat, ist für die Frist des § 93 Abs 2 BVerfGG unwesentlich ( BVerfGE_17,364 <369>; BVerfGE_18,1 <9>). § 12 Nr.1 EStG hat auch durch den Wegfall der Kinderfreibeträge (§ 32 Abs 2 EStG aF) bei unverändertem Wortlaut keinen neuen oder erweiterten Inhalt erlangt (vgl BVerfGE_11,351 <359 f>; BVerfGE_12,10 [24 | ||
Auszug aus BVerfG B, 23.11.76, - 1_BvR_150/75 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.18 f | ||
§§§ |
76.025 | Flugblatt | |
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1) Bei der Feststellung des Inhalts einer der Verurteilung nach §§ 186, 187a StGB zugrunde gelegten Äußerung im politischen Meinungskampf müssen die Gesichtspunkte und Maßstäbe, mit deren Hilfe der Inhalt der Äußerung ermittelt wird, mit Art.5 Abs.1 GG vereinbar sein. | ||
2) Die Frage, ob dies der Fall ist, unterliegt bei hoher Intensität des mit der Verurteilung verbundenen Eingriffs der vollen verfassungsgerichtlichen Nachprüfung. | ||
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T-76-08 | Beitrag zum geistigen Meinungskampf | |
"Das Flugblatt des Beschwerdeführers enthielt Tatsachenbehauptungen und Wertungen, die bestimmt und geeignet waren, meinungsbildend zu wirken. Es handelte sich um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage, also eine Sachlage, die für die Bestimmung des Verhältnisses von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz von besonderer Bedeutung ist (BVerfGE_7,198 <212> - Lüth -; 12,113 <127> - Schmid-Spiegel -; 24,278 <282 f> - Tonjäger; 42,163 <170> - Echternach -). Gleichwohl fehlt im Urteil des Landgerichts jede Auseinandersetzung mit der Frage, welche Bedeutung dem Grundrecht für die zu treffende Entscheidung zukommt. Das Landgericht hat die Reichweite des Art.5 GG im konkreten Falle nicht etwa nur unrichtig bestimmt, es hat das Grundrecht der Meinungsfreiheit bei seiner Entscheidung nicht beachtet. ...." | ||
"Nichts anderes gilt für den zweiten Maßstab, den das Landgericht bei der Auslegung des Flugblatts des Beschwerdeführers herangezogen hat, den Eindruck des "flüchtigen Lesers". Es ist hier nicht zu entscheiden, ob dieser Maßstab vor Art.5 GG Bestand haben kann, weil er - wie der Beschwerdeführer geltend macht - die Bestimmung des Inhalts einer Meinungsäußerung von der Deutung eines abstrakten, unklaren und dehnbaren Begriffs abhängig macht und damit möglicherweise zum Kunstgriff werden kann, der es erlaubt, Feststellungen über den Inhalt als Meinungsäußerung geschützter Informationen zu treffen, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Jedenfalls verbietet es Art.5 GG, den Inhalt einer Information dann mit Hilfe des Maßstabs des "flüchtigen Lesers" zu bestimmen, wenn die Information im konkreten Fall ersichtlich politisch interessierte und aufmerksame Leser voraussetzt und sich an diese richtet. Denn in solchen Fällen wird der Begriff des flüchtigen Lesers zumu nangemessenen Interpretationsmaßstab; er ist nicht nur ungeeignet, das Ergebnis der Interpretation zu begründen, sondern seine Anwendung muß auch zu einem unzulässigen Eingriff in den verfassungsrechtlich geschützten Prozeß freier Kommunikation führen. ..." | ||
Auszug aus BVerfG B, 07.12.76, - 1_BvR_460/72 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.21 | ||
§§§ |
76.026 | Nichtehelichen Erbrecht | |
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Es ist mit Art.6 Abs.5 GG und Art.3 Abs.1 GG vereinbar, daß sich in Erbfällen nach Inkrafttreten des Nichtehelichengesetzes vom 1.Juli 19 70 die erbrechtlichen Verhältnisse eines vor dem 1.Juli 1949 geborenen nichtehelichen Kindes zu seinem Vater und zur väterlichen Familie weiter nach dem alten, vor der Reform geltenden Recht richten (Art.12 § 10 Abs.2 Satz 1 des Nichtehelichengesetzes vom 19.August 1969 - BGBl.I S.1243). | ||
§§§ |
76.027 | Parlamentsfraktion | |
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Zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde einer Parlamentsfraktion. | ||
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T-76-09 | Parlamentsfraktion + Verfassungsbeschwerde | |
"1. Die Verfassungsbeschwerde ist ein Rechtsbehelf zur Verteidigung eigener subjektiver Rechte (vgl BVerfGE_15,298 <301>). Sie ist nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer, der sich gegen eine Norm des materiellen Rechts wendet, nach seiner Behauptung durch die Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht verletzt ist (ständige Rechtsprechung, vgl BVerfGE_1,97 <101 ff>; BVerfGE_40,187 <193>). | ||
2. Die Parlamentsfraktionen sind notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens ( BVerfGE_10,4 <14>). Sie haben als Teile und ständige Gliederungen einer parlamentarischen Körperschaft den technischen Ablauf der Meinungsbildung und Beschlußfassung in gewissem Grade zu steuern und damit zu erleichtern (vgl BVerfGE_20,56 <104> mit Nachweisen). Sie sind von der Verfassung anerkannte Teile eines Verfassungsorgans. Rechtsbeziehungen bestehen für sie grundsätzlich nur innerhalb des Parlaments, nicht aber gegenüber dem Bürger. Sollte sich, wie die Beschwerdeführer vortragen, die Vorenthaltung des Fraktionsstatus negativ auf die Arbeit und Wirkungsmöglichkeiten der FDP-Abgeordneten im Bayerischen Landtag auswirken, so kann das allenfalls eine Reflexwirkung auf das gleiche Wahlrecht der Bürger haben. Eine Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten kann hierin aber nicht gesehen werden. | ||
Schon nach den Behauptungen der Beschwerdeführer fehlt es somit, soweit sie die Verfassungsbeschwerde "in ihrer Eigenschaft als Wähler" erhoben haben, an der Zulässigkeitsvoraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit durch die angegriffene Norm. II. | ||
Soweit die Beschwerdeführer die Verletzung von Rechten geltend machen, die ihnen als Abgeordneten im Bayerischen Landtag zustehen, ist die von ihnen mit der Verfassungsbeschwerde gewählte Verfahrensart vor dem Bundesverfassungsgericht nicht zulässig. | ||
Die Verfassungsbeschwerde ist dem einzelnen Bürger zur Verfolgung seiner Rechte gegen den Staat gegeben, sie ist kein Mittel zur Austragung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Staatsorganen (BVerfGE_15,298 <302>). Das Bundesverfassungsgericht hat seit jeher die Auffassung vertreten, daß die Anerkennung der politischen Parteien als verfassungsrechtliche Institutionen durch Art.21 GG und die damit verbundene Anerkennung auch der Parlamentsfraktionen als notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens nichts daran geändert hat, daß auch dem einzelnen Abgeordneten selbst gemäß Art.38 Abs.1 GG ein eigener verfassungsrechtlicher Status zukommt. Die mit diesem Status verfassungsrechtlich verbundenen Rechte kann der Abgeordnete in dem dafür vorgesehenen Organstreitverfahren gemäß Art.93 Abs.1 Nr.1 GG vor dem Bundesverfassungsgericht, oder nach dem entsprechenden Landesverfassungsrecht vor dem Landesverfassungsgericht geltend machen (vgl für Bundestagsabgeordnete BVerfGE_10,4 <10 f>; für Landtagsabgeordnete BVerfGE_4,144 <148 f>; BVerfGE_6,445 <448 ff>; BVerfGE_32,157 <162>; vgl ferner BVerfGE_40,296 <308 f>). Das bedeutet zugleich, daß dann, wenn der Abgeordnete in diesem Sinne um die ihm als Abgeordneten verfassungsrechtlich zukommenden Rechte mit einem anderen Staatsorgan, regelmäßig dem Parlament selbst, streitet, er dem Staat nicht als "jedermann" gegenübersteht, der sich gegen eine Verletzung jenes rechtlichen Raumes wehrt, der durch die Grundrechte gegenüber dem Staat gesichert ist. Daraus folgt, daß ihm in einem derartigen Streit der Weg der Verfassungsbeschwerde nach Art.93 Abs.1 Nr.4a GG, §§ 90 ff BVerfGG auch dann verschlossen ist, wenn er als Verfassungsverstoß auch eine Grundrechtsverletzung, zum Beispiel des allgemeinen Gleichheitssatzes, behauptet. Verfassungsprozeßrechtlich steht der Abgeordnete, der -- wie hier -- eine Verletzung von Statusrechten durch das Parlamentsrecht rügt, insoweit den politischen Parteien gleich (vgl BVerfGE_6,445 <448>), die eine Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status durch die rechtliche Gestaltung des Wahlverfahrens nur im Wege des Organstreits geltend machen können (ständige Rechtsprechung, vgl BVerfGE_4,27 ). | ||
Die Frage, ob und inwieweit sich Abgeordnete eines Parlaments nach dessen Geschäftsordnung zu einer Fraktion zusammenschließen können, betrifft -- auch nach bayerischem Verfassungsrecht -- unmittelbar den verfassungsrechtlichen Abgeordnetenstatus. | ||
In den Parlamentsfraktionen vollzieht sich ein erheblicher Teil der Meinungs- und Willensbildung der Abgeordneten und dadurch des Parlaments im ganzen. Die Fraktionen nehmen entscheidenden Einfluß auf den technischen Ablauf der täglichen Parlamentsarbeit. Während einerseits der einzelne Abgeordnete durch die Fraktionen in gewissem Umfang "mediatisiert" wird, so kann andererseits nicht bezweifelt werden, daß die rechtliche Möglichkeit, überhaupt eine Fraktion zu bilden, die Wirkungsmöglichkeiten des einzelnen wie einer Gruppe von Abgeordneten nicht unerheblich verändert. Diese, durch das Parlamentsrecht näher auszugestaltende Chance auf den verfassungsrechtlich anerkannten Fraktionsstatus gehört damit zugleich zum verfassungsrechtlichen Status derjenigen Abgeordneten, die sich -- wie hier -- zu einer Fraktion zusammenschließen wollen." | ||
Auszug aus BVerfG B, 14.12.76, - 2_BvR_802/75 -, www.dfr/BVerfGE, Abs.16 f | ||
§§§ |
76.028 | Entlassungsbescheid |
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LB 1) Zur Entstehungsgeschichte des Art.33 Abs.5 GG. | |
LB 2) Zum Verhältnis der verschiedenen Rechtsgarantien des Art.33 Abs.5 GG. | |
LB 3) Das Beamtenverhältnis auf Probe ist geschaffen, um dem Dienstherrn die Möglichkeit zu geben, Eignung, Fähigkeiten, Leistung des Beschäftigten zu erproben und sich von ihm ohne Schwierigkeiten zu trennen, wenn er den Ansprüchen und Erwartungen des Dienstherrn nicht genügt. Bei der Entscheidung dieser Frage steht ihm überdies ein Beurteilungspielraum zu. | |
LB 4) Dieser Ausgangspunkt entbindet jedoch den Dienstherrn nicht von seiner Fürsorgepflicht im Einzelfall. | |
LB 5) Die Fürsorgepflicht kann verletzt sein, wenn der Dienstherr die besonderen Umstände des Falls nicht würdige und des deshalb unterläßt, verfahrensmäßig sicherzustellen, daß die Prämissen für eine Entlassung sorgfältig erhoben und mit dem Betroffenen im einzelnen erörtert werden sowie daß das kollegiale Organ, das über die Entlassung zu entscheiden hat - im Rahmen des Möglichen-, einen unmittelbaren Eindruck der für und gegen den Beamten sprechenden Gesichtspunkte erhält, der ihm ein eigenes, von dem Vorschlag eines Dritten unabhängiges Urteil erlaubt. | |
LB 6) Die so - also im Hinblick auf die Garantie eines Mindeststandards an ordentlicher und fairer Gestaltung des verwaltungsmäßigem Prozedere- konkretisierte Fürsorgepflicht des Dienstherrn ergibt sich, unbeschadet der aus dem Fürsorgegrundsatz abegeleiteten einfachrechtlichen Regelungen, unmittelbar aus dem in Art.33 Abs.5 GG enthaltenen Grundsatz der Verpflichtung des Dienstherrn zur Fürsorge für den Beamten und ergänzt jene Vorschriften des einfachen Beamtenrechts, wie er sie auch bei ihrer Auslegung durchdringt. | |
LB 7) Je undurchsichtiger eine Situation ist, je schwieriger es ist, die Motive eine Entlassung zu ergründen, je deutlicher parteiliche Interessen hervortreten, die bei der Entscheidung eine Rolle gespielt haben könnten, um so genauer detaillierter und sorgfältiger muß - in Rücksicht auf die Fürsorgepflicht des Dienstherrn gegenüber seinem Beamten - den Einzelheiten nachgegangen werden, auf denen die Entscheidung über die Entlassung fußt, und um so stärkeres Gewicht gewinnen bei Fragen, ob die Entlassung bestand haben kann, die Umstände des Verfahrens. | |
LB 8) In einem Fall der vorliegenden Art gebietet die Fürsorgepflicht eine besondere Zurückhaltung im Urteil, daß gerade der Beschwerdeführer die vertrauensvolle Zusammenarbeit im Dreiervorstand gestört oder zerstört habe. Es bedarf insbesondere der Prüfung, ob der behauptete Mangel ein nicht mehr behebbarer Mangel ist oder die Verhältnisse durch zusätzliche Anstrengungen, möglicherweise auch durch organisatorische Veränderungen innerhalb des Vorstandes behoben werden können. | |
LB 9) Folgende zwei Gesichtspunkte haben im vorliegenden Fall in Rücksicht auf das Verfassungsgebot der Fürsorgepflicht zu einer mündlichen Erörterung des Für und Wider vor dem Verwaltungsrat genötigt. | |
LB 10) Ein Dienstherr, der - wie hier - ein telefonisches Blitzverfahren initiiert, verstößt unter den dargestellten Umständen gegen seine Pflicht zur Fürsorge für den Beamten. | |
§§§ |
[ 1975 ] | RS-BVerfG - 1976 | [ 1977 ] [ ] |
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§§§