1977  
  1976                   1978 [ ‹ ]
77.001 Kirchenaustritt
 
  1. BVerfG,     B, 08.02.77,     – 1_BvR_329/71 –

  2. BVerfGE_44,37

  3. GG_Art.4 Abs.1

 

1) Eine gesetzlichen Frist ("Überlegungsfrist"), auf Grund deren ein Kirchenaustritt erst einen Monat nach Eingang der Austrittserklärung bei der zuständigen Behörde rechtlich wirksam wird, ist mit dem Grundgesetz unvereinbar.

 

2) Ebenso ist es mit dem Grundgesetz unvereinbar, einen aus der Kirche Ausgetretenen noch bis zum Ende des laufenden Steuerjahres zur Kirchensteuer heanzuziehen ("Nachbesteuerung").

§§§

77.002 numerus clausus II
 
  1. BVerfG,     U, 08.02.77,     – 1_BvF_1/76 –

  2. BVerfGE_43,291 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.1, GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.20 Abs.1; HRG_§_32 Abs.3 Nr.1 S.6

 

1) a) Auswahlregelungen für zulassungsbeschränkte Studiengänge müssen jedem Zulassungsberechtigten eine Chance lassen (Vergleiche BVerfGE_33,303). Dieser Grundsatz stellt

 

b) Die im staatsvertraglichen Zulassungsrecht enthaltene Erschwerung eines Zweitstudiums für Wartezeitbewerber ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

 

c) Grundrechte von Studienbewerbern werden nicht schon dadurch verletzt, daß nach dem staatsvertraglichen Zulassungsrecht berufspraktische Ausbildungen und Tätigkeiten nicht generell eine Chancenverbesserung zur Folge haben. Diese Beurteilung entbindet nicht von der Aufgabe, eine Berücksichtigung solcher Ausbildungen und Tätigkeiten - etwa im Rahmen von Härtefallklauseln - zu ermöglichen, soweit sich schädliche Rückwirkungen ausschließen oder vertretbar begrenzen lassen.

 

d) Die Parkstudienregelung des Hochschulrahmengesetzes, wonach bei Zulassungsentscheidungen ab Wintersemester 1977/78 als Wartezeit keine Studienzeiten mehr angerechnet werden, die ab Sommersemester 1976 an einer Hochschule verbracht werden, verletzt als solche keine Grundrechte von Studienbewerbern.

 

Die Regelung ist jedoch unter dem Gesichtspunkt der unechten Rückwirkung verfassungsrechtlich zu beanstanden, soweit sie auch auf Parkstudenten anwendbar ist, die ihr Ausweichstudium bis spätestens Wintersemester 1974/75 begonnen hatten.

§§§

77.003 Universitätsgesetz Hamburg
 
  1. BVerfG,     B, 08.02.77,     – 1_BvR_79/70 –

  2. BVerfGE_43,242 = www.dfr/BVerfGE

  3. (Hb) UniG_§_7 Nr.1 Buchst.b, UniG_§_72 Abs.2; GG_Art.5 Ans.3 S.1, GG_Art.3 Abs.1

 

1) Die Dozenten gemäß § 7 Nr.1 Buchst.b in Verbindung mit § 72 Abs.2 des hamburgischen Universitätsgesetzes bilden keine Gruppe, die einheitlich dem materiellen Hochschullehrerbegriff im Sinne des Hochschulurteils vom 29.Mai 1973 (vgl BVerfGE_35,79 [126 f

 

2) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß der Gesetzgeber im Zuge einer Reform der Hochschulorganisation in eine auf Berufungsvereinbarungen beruhende Rechtsposition der Hochschullehrer aus sachlich gebotenen Gründen eingreift, wenn seine Ziele, die sich im Rahmen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit halten, nur auf diese Weise verwirklicht werden können.

 

3) Der Gesetzgeber muß jedoch bei der Aufhebung oder Beschränkung solcher Rechtspositionen -- auch dann, wenn der Eingriff an sich verfassungsrechtlich zulässig ist -- angemessene Übergangsregelungen schaffen.

§§§

77.004 Solidaritätsadresse
 
  1. BVerfG,     B, 02.03.77,     – 2_BvR_1319/76 –

  2. BVerfGE_44,197 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art_5, GG_Art.17a, GG_Art.19 Abs.1, GG_Art.103 Abs.1; SG_§_15 Abs.2

T-77-01

LB 1) Zur Einschränkung des Art.5 Abs.1 S.1 GG durch § 15 Abs.2 SG.

Abs.14

LB 2) § 15 Abs.2 SG und Zitiergebot des § 19 Abs.1 GG.

Abs.15

LB 3) Zur Einschränkung des Art.5 Abs.1 GG in der Bundeswehr.

 

LB 4) Zur abweichenden Meinung des Richters Dr Rottmann, siehe BVerfGE_44,205 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs.22 ff.

 

LB 5) Zur abweichenden Meinung des Richters Hirsch, siehe BVerfGE_44,209 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs.31 ff.

* * *

T-77-01Zur Einschränkung des Art.5 Abs.1 S.1 durch § 15 Abs.2 SG

11

"Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch unbegründet. Die disziplinare Bestrafung greift nicht unzulässig in das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art.5 Abs.1 Satz 1 GG ein. Auch andere Grundrechte sind nicht verletzt.

12

1. Die Disziplinarverfügung des Bataillonskommandeurs und der Beschluß des Truppendienstgerichts machen dem Beschwerdeführer zum Vorwurf gegen seine in § 15 Abs.2 SG normierte Pflicht verstoßen zu haben. Hiernach findet innerhalb der dienstlichen Unterkünfte und Anlagen während der Freizeit das Recht der freien Meinungsäußerung seine Schranken an den Grundregeln der Kameradschaft. Der Soldat hat sich so zu verhalten, daß die Gemeinsamkeit des Dienstes nicht ernstlich gestört wird; insbesondere darf er nicht als Werber für eine politische Gruppe wirken, indem er Ansprachen hält, Schriften verteilt oder als Vertreter einer politischen Organisation arbeitet. Die gegenseitige Achtung darf nicht gefährdet werden. ...."

14

"§ 15 Abs.2 SG verstößt nicht gegen das Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht hat bereist entschieden, daß für § 15 Abs.1 SG als allgemeines Gesetz im Sinne des Art.5 Abs.2 GG das Zitiergebot (Art.19 Abs.1 Satz 2 GG) nicht anzuwenden ist ( BVerfGE_28,282 <291 ff>; vgl auch BVerfGE_28,36 <46 f>). Die hierzu in den genannten Entscheidungen enthaltenen Ausführungen, an denen festzuhalten ist, gelten gleichermaßen auch für die Vorschrift des § 15 Abs.2 SG. Auch diese Bestimmung will nicht eine bestimmte Meinung wegen ihres Inhalts verbieten, sondern in Ausfüllung des Art.17a Abs.1 GG politische Auseinandersetzungen im räumlichen Bereich der Bundeswehr beschränken, um dadurch die Kameradschaft und die Gemeinsamkeit des Dienstes und die Erfüllung der der Bundeswehr gestellten Verteidigungsaufgabe zu gewährleisten. (Abs.13) 2. a) Die Anwendung des § 15 Abs.2 SG auf den vom Truppendienstgericht festgestellten Sachverhalt kann vom Bundesverfassungsgericht nicht allgemein auf Rechtsfehler nachgeprüft werden (vgl BVerfGE_18,85 <92 f>). Insbesondere ist es Sache des Truppendienstgerichts zu entscheiden, welches Verhalten dem Soldaten im Einzelfall durch die in § 15 Abs.2 SG normierte Pflicht untersagt ist. Auf Verfassungsbeschwerde hin hat das Bundesverfassungsgericht nur zu prüfen, ob das Truppendienstgericht die Vorschrift so ausgelegt und angewendet hat, daß der für die freiheitliche Ordnung schlechthin konstituierenden Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit angemessen Rechnung getragen wird (vgl BVerfGE_28,36 <47>; BVerfGE_28,55 <63>).

15

"Der besondere Wertgehalt des Grundrechts der freien Meinungsäußerung in der freiheitlichen Demokratie führt zwar zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich im öffentlichen Leben (vgl BVerfGE_7,198 <208>; BVerfGE_12,113 <124 f>). Für Soldaten darf jedoch gemäß Art.17a GG im Rahmen der Erfordernisse des militärischen Dienstes (vgl § 6 Satz 2 SG) und mit dem Ziel, die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr zu erhalten (vgl BVerfGE_28,282 <292>), neben anderen auch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung durch gesetzlich begründete Pflichten beschränkt werden.

16

b) Die angefochtene Disziplinarmaßnahme läßt keinen Verfassungsverstoß erkennen. Die dem Beschluß des Truppendienstgerichts zugrundeliegende Auslegung des § 15 Abs.2 SG schränkt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art.5 Abs.1 GG nicht über das nach der Verfassung zulässige Maß hinaus ein.

17

§ 15 Abs.2 SG regelt die politische Betätigung des Soldaten in seiner Freizeit, aber innerhalb der dienstlichen Unterkünfte und Anlagen. Zweck der Vorschrift ist es, die Kameradschaft und gegenseitige Achtung als unerläßliche Voraussetzungen für die Sicherung der Disziplin und Schlagkraft der Truppe - auch um den Preis einer Einschränkung der Meinungsfreiheit - unbedingt zu gewährleisten. § 15 Abs.2 Satz 3 SG zählt beispielhaft Verhaltensweisen auf, bei denen der Gesetzgeber davon ausgeht, daß sie typischerweise geeignet sind, die Gemeinsamkeit des Dienstes ernstlich zu stören, die auf gegenseitiger Achtung beruhende Kameradschaft (vgl auch § 12 SG) zu gefährden und damit letztlich die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr in Frage zu stellen. Die Aufzählung ist nicht erschöpfend; auch andere Betätigungen können unter das Verbot des § 15 Abs. 2 SG fallen, sofern sie geeignet sind, die genannten Gefahren für Kameradschaft und Disziplin nach sich zu ziehen.

18

§ 15 Abs.2 SG will jedes Verhalten ausschließen, das einen Kameraden in seiner dienstfreien Zeit gegen seinen Willen in eine politische Auseinandersetzung drängt. Bei der Anwendung der Vorschrift darf nicht außer Betracht bleiben, daß der Soldat in der Kaserne nicht abgeschlossen wohnt und deshalb seine Privatsphäre nur unter wesentlich erschwerten Bedingungen schützen kann. Politischen Aktivitäten anderer Soldaten ist er ausgesetzt, ohne ihnen ohne weiteres aus dem Wege gehen zu können. Sein Grundrecht auf unbedingte Achtung eines privaten Lebensbereichs (Art.1 Abs.1, 2 Abs.1 GG), sein Anspruch, "in Ruhe gelassen zu werden" (vgl BVerfGE_6,32 <41>; BVerfGE_27,1 <6 f>), sind in dieser besonderen Situation von vornherein besonders gefährdet und deshalb in besonderem Maße schützenswert. Diese Sachlage schließt es aus, § 15 Abs.2 SG allein im Lichte des Art.5 Abs.1 GG zu sehen und unter dem Blickpunkt nur des Interesses an einer "aktiven" Ausübung dieses Grundrechts restriktiv auszulegen. Vielmehr gebietet unter den besonderen Bedingungen des militärischen Lebensbereichs der Schutzanspruch der anderen, sich nicht gegen ihren Willen einer sie bedrängenden Inanspruchnahme oder Beeinflussung seitens ihrer Kameraden mit deren Gedankenwelt aussetzen lassen zu müssen, eine gleichrangige Berücksichtigung. Im Lichte aller berührten Grundrechte ist es danach zulässig, politische Betätigungen von Soldaten im räumlichen Bereich der Bundeswehr auch in der Freizeit generell so zu begrenzen, daß möglichen Auseinandersetzungen unter Kameraden von vornherein ein Riegel vorgeschoben wird. Dies umso mehr, als die Freiheit des Beschwerdeführers, sich während seiner dienstfreien Zeit außerhalb der dienstlichen Unterkünfte politisch zu betätigen und für seine politischen Meinungen zu werben, hierdurch unangetastet bleibt.

19

c) Nach dem festgestellten und der Disziplinarmaßnahme zugrundeliegenden Sachverhalt hat der Beschwerdeführer während der Freizeit versucht, einen Kameraden zu bestimmen, sich ebenfalls gegen den Bau eines Kernkraftwerks in W auszusprechen und dies durch Unterzeichnung einer Unterschriftenliste von Soldaten zu bekunden. Der Disziplinarvorgesetzte des Beschwerdeführers und das Truppendienstgericht haben dieses Verhalten in einer verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Weise als verbotene und disziplinarisch zu ahndende politische Betätigung angesehen. Dabei sind sie erkennbar davon ausgegangen, daß die Unterschriftensammlung für eine "Solidaritätsadresse von Soldaten der I.er Kaserne an die K.er Bevölkerung" darauf abzielte, die gegen den Bau eines Kernkraftwerks in W tätigen Bürgerinitiativen zu unterstützen. Diese Würdigung des festgestellten Sachverhalts kann verfassungsrechtlich ebensowenig beanstandet werden wie die der Bestrafung zugrundeliegende Annahme, Bürgerinitiativen stünden jedenfalls im hier zu beurteilenden Fall einer politischen Gruppe gleich und das Verhalten des Beschwerdeführers entspreche der Arbeit als Vertreter einer politischen Organisation. Dies trägt die in grundrechtskonformer Auslegung des § 15 Abs.2 SG gezogene Schlußfolgerung, das Verhalten des Beschwerdeführers sei geeignet gewesen, die Grundregeln der Kameradschaft und der gegenseitigen Achtung und die Gemeinsamkeit des Dienstes ernstlich zu gefährden. Art und Maß der verhängten Disziplinarmaßnahme stehen, auch im Hinblick auf die disziplinarrechtliche Vorbelastung des Beschwerdeführers, nicht außer Verhältnis zur Schwere des Pflichtverstoßes und zur Bedeutung des durch § 15 Abs.2 SG geschützten Rechtsguts."

 

Auszug aus BVerfG B, 02.03.77, - 2_BvR_1319/76 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.11

§§§

77.005 Öffentlichkeitsarbeit
 
  1. BVerfG,     U, 02.03.77,     – 2_BvE_1/76 –

  2. BVerfGE_44,125 = www.dfr/BVerfGE = BVerfGA Nr.40

  3. GG_Art_3, GG_Art.20 Abs.1, GG_Art.20 Abs.2 S.2, GG_Art.21 Abs.1, GG_Art.38 Abs.1, GG_Art.93 Abs.1 Nr.1; BVerfGG_§_13 Nr.5, BVerfGG_§_63 ff

 

1) Den Staatsorganen ist es von Verfassungs wegen versagt, sich in amtlicher Funktion im Hinblick auf Wahlen mit politischen Parteien oder Wahlbewerbern zu identifizieren und sie unter Einsatz staatlicher Mittel zu unterstützen oder zu bekämpfen, insbesondere durch Werbung die Entscheidung des Wählers zu beeinflussen.

 

2) Es ist mit dem Verfassungsprinzip, daß Bundestag und Bundesregierung nur einen zeitlich begrenzten Auftrag haben, unvereinbar, daß die im Amt befindliche Bundesregierung als Verfassungsorgan im Wahlkampf sich gleichsam zur Wiederwahl stellt und dafür wirbt, daß sie als "Regierung wiedergewählt" wird.

 

3) Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit wird verletzt, wenn Staatsorgane als solche parteiergreifend zugunsten ode zu Lasten einer politischen Partei oder von Wahlbewerbern in den Wahlkampf einwirken.

 

4) Ein parteiergreifendes Einwirken von Staatsorganen in die Wahlen zur Volksvertretung ist auch nicht zulässig in der Form von Öffentlichkeitsarbeit. Die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung findet dort ihre Grenze, wo die Wahlwerbung beginnt.

 

5) Weder dürfen die Verfassungsorgane des Bundes anläßlich von Wahlen in den Ländern, noch dürfen die Verfassungsorgane der Länder anläßlich von Wahlen zum Bundestag parteigreifend in den Wahlkampf hineinwirken.

 

6) Tritt der informative Gehalt einer Druckschrift oder Anzeige eindeutig hinter die reklamehafte Aufmachung zurück, so kann das ein Anzeichen dafür sein, daß die Grenze zur unzulässigen Wahlwerbung überschritten ist.

 

7) Als Anzeichen für eine Grenzüberschreitung zur unzulässigen Wahlwerbung kommt weiterhin ein Anwachsen der Öffentlichkeitsarbeit in Wahlkampfnähe in Betracht, das sowohl in der größeren Zahl von Einzelmaßnahmen ohne akuten Anlaß, wie in deren Ausmaß und dem gesteigerten Einsatz öffentlicher Mittel für derartige Maßnahmen zum Ausdruck kommen kann.

 

8) Aus der Verpflichtung der Bundesregierung, sich jeder parteiergreifenden Einwirkung auf die Wahl zu enthalten, folgt schließlich für die Vorwahlzeit das Gebot äußerster Zurückhaltung und das Verbot jeglicher mit Haushaltsmitteln betriebener Öffentlichkeitsarbeit in Form von sogenannten Arbeits-, Leistungs- und Erfolgsberichten.

 

9) Die Bundesregierung muß Vorkehrungen dagegen treffen, daß die von ihr für Zwecke der Öffentlichkeitsarbeit hergestellten Druckwerke nicht von den Parteien selbst oder von aderen sie bei der Wahl unterstützenden Organisationen oder Gruppen zur Wahlwerbung eingesetzt werden.

 

10) Zur abweichenden Meinung des Richters Dr Geiger, siehe BVerfGE_44,167 = www.dfr/BVerfGE, Abs.170 ff.

 

11) Zur abweichenden Meinung des Richters Dr Rottmann, siehe BVerfGE_44,181 = www.dfr/BVerfGE, Abs.207 ff.

* * *

Beschuss

Entscheidungsformel:

Die Bundesregierung hat dadurch gegen Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes und den Grundsatz der Chancengleichheit bei Wahlen (Artikel 21 Absatz 1, 38 Absatz 1 des Grundgesetzes) verstoßen, daß sie vor der Bundestagswahl vom 3.Oktober 1976 durch Anzeigenserien, Faltblätter und sonstige Publikationen werbend in den Wahlkampf eingegriffen und keine Vorkehrungen dagegen getroffen hat, daß von ihr für Zwecke der Öffentlichkeitsarbeit unter Einsatz von Haushaltsmitteln hergestellte Druckwerke in großem Umfange von den die Regierung tragenden Parteien als zusätzliche Wahlkampfmaterial bezogen und verwendet worden sind.

Die Bundesrepublik Deutschland hat der Antragstellerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

77.006 Alimentationsprinzip
 
  1. BVerfG,     B, 30.03.77,     – 2_BvR_1039/75 –

  2. BVerfGE_44,249 = www.dfr/BVerfGE = E-StA_91,462 -466

  3. GG_Art.33 Abs.5, GG_Art.6

 

1) Ob die Dienstbezüge der Beamten einschließlich der Alters- und Hinterbliebenenversorgung ausreichend im Sinne von Art.33 Abs.5 GG sind, läßt sich nur anhand des Nettoeinkommens beurteilen, als des Einkommens, das dem Beamten zufließt und über das er - nach Abzug der Steuern - verfügen kann.

 

2) Solange die Dienstbezüge, die Altersversorgung und die Hinterbliebenenversorgung nicht an der unteren Grenze des amtsangemessenen Unterhalts liegen, ist es Sache des Gesetzgebers, ob und in welchem Umfang er außerhalb des Beamtenrechts allen Bürgern gewährte Leistungen auf die beamtenrechtliche Alimentation anrechnet.

 

3) Art.33 Abs.5 GG, der heute auch im Zusammenhang mit den in Art.6 GG und im Sozialstaatsprinzip enthaltenen Wertentscheidung der Verfassung zu sehen ist, verlangt, daß in der Lebenswirklichkeit die Beamten ohne Rücksicht auf die Größe ihrer Familie sich annähernd das gleiche leisten können.

 

4) Die derzeitigen Dienstbezüge der Beamten und Soldaten mit mehr als zwei Kindern in allen Besoldungsordnungen und Besoldungsgruppen gewährleisten diesen nicht mehr ein auch nur annähernd gleiches Lebensniveau wie ihren nicht durch die Kosten des Unterhalts und der Schulausbildung und Berufsausbildung der Kinder belasteten ranggleichen Kollegen.

* * *

Beschuss

Entscheidungsformel:

1. Der Gesetzgeber hat dadurch die Beschwerdeführer zu 1) bis 8) in ihrem Recht auf amtsangemessene Alimentierung und die Beschwerdeführer zu 9) bis 14) in ihrem Recht auf angemessene Besoldung verletzt (Artikel 33 Absatz 5 des Grundgesetzes), daß er es unterlassen hat, bei der Besoldungsneuregelung der Zahl der Kinder ausreichend Rechnung zu tragen.

2. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

77.007 Öffentliche Last
 
  1. BVerfG,     U, 10.05.77,     – 1_BvR_514/68 –

  2. BVerfGE_45,297 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.14 Abs.1 S.1, GG_Art.14 Abs.3 S.2, GG_Art.74 Nr.1; PBefG_§_31

 

1) Die Enteignung durch Gesetz im Sinne des Art.14 Abs.3 Satz 2 GG (Legalenteignung) ist dadurch gekennzeichnet, daß das Gesetz selbst und unmittelbar mit seinem Inkrafttreten ohne weiteren Vollzugsakt konkrete und individuelle Rechtspositionen entzieht, die nach Art.14 Abs.1 Satz 1 GG gewährleistet sind.

 

2) a) Die Begründung der öffentlichen Last nach dem Zweiten Teil des Hamburgischen Enteignungsgesetzes vom 14.Juni 1963 (HambGVBl.I Satz 77) ist keine Enteignung durch Gesetz im Sinne des Art.14 Abs.3 Satz 2 GG. b) Sie ist eine mit Art.14 Abs.3 GG unvereinbare Mischform von Legalenteignung und Administrativenteignung. Sie vermischt Aufgaben der Gesetzgebung und Verwaltung, verkürzt den gerichtlichen Rechtsschutz und läßt für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips keinen ausreichenden Raum.

 

3) Die im Zweiten Teil des Hamburgischen Enteignungsgesetzes getroffene Regelung verstößt auch gegen die bundesrechtliche Regelung des § 31 Personenbeförderungsgesetzes.

 

4) Das Land Hamburg war nicht befugt, die Rechtsfigur der öffentliche Last einzuführen. Die Regelung verstößt gegen Art.74 Nr.1 GG.

 

5) Die Länder können im Wege der Enteignung nur solche dinglichen Rechte an fremden Grundstücken begründen, die einer privatrechtlichen Vereinbarung zugänglich sind.

 

6) Die Länder sind mangels Kompetenz nicht befugt, im Rahmen eines Enteignungsgesetzes Regelungen über Schadenersatz zu treffen.

§§§

77.008 Beschlußfähigkeit
 
  1. BVerfG,     B, 10.05.77,     – 2_BvR_705/75 –

  2. BVerfGE_44,308 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.40 Abs.1 S.2, GG_Art.14, GG_Art.103 Abs.2; GO-BT_§_49

 

1) Art.40 Abs.1 Satz 2 GG, der die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie gewährleistet, knüpft an die historische Entwicklung des Parlamentsrechts - vor allem nach dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik - inhaltlich an. Danach werden diejenigen Regelungsgegenstände, die herkömmlich als autonome Geschäftsordnungsangelegenheiten des Parlaments gelten, prinzipiell auch vom Grundgesetz diesem Bereich zugewiesen. 2) Art.40 Abs.1 Satz 2 GG gewährleistet die Befugnis des Bundestages, die Voraussetzungen seiner Beschlußfähigkeit in der Geschäftsordnung zu regeln.

 

3) Das Prinzip der repräsentativen Demokratie erfordert grundsätzlich die Mitwirkung aller Abgeordneten bei der Willensbildung des Parlaments.

 

4) Aus dem Prinzip der repräsentativen Demokratie folgt nicht, daß die Abgeordneten das Volk nur im Plenum des Bundestages repräsentieren könnten.

 

5) Bei Schlußabstimmungen im Bundestag spricht für eine ausreichende Repräsentation des Volkes durch die Abgeordneten eine Vermutung.

 

6) Die Regelung über die Beschlußfähigkeit in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages § 49 in der Fassung vom 22.Mai 1970 steht mit dem Prinzip der repräsentativen Demokratie im Einklang.

§§§

77.009 Drogenberatungsstelle
 
  1. BVerfG,     B, 24.05.77,     – 2_BvR_988/75 –

  2. BVerfGE_44,353 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.1 Abs.1; StGB_§_203 Abs.1 Nr.4

 

1) Das Grundrecht des Trägers einer im Sinne des § 203 Abs.1 Nr.4 StGB öffentlich-rechtlich anerkannten Suchtkrankenberatungsstelle aus Art.2 Abs.1 GG und die Grundrechte ihrer Klienten aus Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG sind verletzt, wenn durch die Beschlagnahme von Klientenakten die Belange der Gesundheitsfürsorge in einem solchen Maße beeinträchtigt werden, daß der durch den Eingriff verursachte Schaden außer Verhältnis zu dem mit der Beschlagnahme angestrebten und erreichbaren Erfolg steht.

 

2) Die Beschlagnahme solcher Akten verletzt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn sie sich lediglich auf den allgemeinen Verdacht stützt, daß sich Klienten der Beratungsstelle durch Erwerb und Besitz von Betäubungsmitteln strafbar gemacht und solche Mittel illegal bezogen haben.

§§§

77.010 Allgemeinverbindlicherklärung
 
  1. BVerfG,     B, 24.05.77,     – 2_BvL_11/74 –

  2. BVerfGE_44,322 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.9 Abs.3, GG_Art.80; TVG_§_5 Abs.1, TVG_§_5 Abs.7

 

1) Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ist im Verhältnis zu den ohne sie nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein Rechtsetzungsakt eigener Art. zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung, der seine eigenständige Grundlage in Art.9 Abs.3 GG findet (Anschluß BVerfGE_34,307). Er kann nicht an Art.80 GG gemessen werden.

 

2) Das Grundgesetz erkennt in dem von Art.9 Abs.3 GG maßgeblich gestalteten Bereich der Arbeitsbedingungen und Wirtschaftsbedingungen, in dem der Staat seine Regelungszuständigkeit zugunsten der eigenverantwortlichen Schaffung von Rechtsregeln durch die Koalitionen weit zurückgenommen hat, besondere Formen von Normsetzung an.

 

3) Die allgemeinverbindlichen Tarifnormen sind gegenüber den Außenseitern durch die staatliche Mitwirkung noch ausreichend demokratisch legitimiert.

§§§

77.011 Haushaltsüberschreitung
 
  1. BVerfG,     U, 25.05.77,     – 2_BvE_1/74 –

  2. BVerfGE_45,1 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.110 Abs.2, GG_Art.111 Abs.1, GG_Art.112, GG_Art.114;

 

1) Die Kompetenz zur Feststellung des Haushaltsplanes liegt nach Art.110 Abs.2 GG ausschließlich beim Gesetzgeber. Seine herausragende Stellung findet darin Ausdruck, daß Bundestag und Bundesrat berechtigt und verpflichtet sind, nach Art.114 GG den Haushaltsvollzug der Bundesregierung zu kontrollieren.

 

2) Die durch Art.111 Abs.1 a-c GG bestimmte enge Begrenzung des Spielraumes der Bundesregierung während des etatlosen Zustandes korrespondiert mit der verfassungsrechtlichen Verpflichtung aller beteiligten Verfassungsorgane, daran mitzuwirken, daß der Haushaltsplan regelmäßig vor Ablauf des vorherigen Rechnungsjahres verabschiedet werden kann.

 

3) Der Grundsatz, daß die Verfassungsorgane bei Inanspruchnahme ihrer verfassungsmäßigen Kompetenzen Rücksicht zu nehmen haben auf die Interessen der anderen Verfassungsorgane, bewirkt bei der Ausübung der subsidiären Notkompetenz des Bundesministers der Finanzen aus Art.112 GG zusätzliche Prüfungs- und Verfahrenspflichten vor und bei ihrer Wahrnehmung. Es besteht eine besondere Kommunikations- und Konsultationspflicht zum Zwecke der Prüfung, ob eine im Hinblick auf die zeitliche Dringlichkeit des Bedürfnisses rechtzeitige Bewilligung durch den Gesetzgeber möglich ist.

 

4) Ob ein Bedürfnis für Ausgaben besteht, beantwortet sich wesentlich nach politischen Wertungen, deren Inhalt nur darauf gerichtlich überprüft werden kann, ob die Grenze offensichtlicher Unvertretbarkeit überschritten worden ist. Dagegen ist es eine Rechtsfrage, ob ein Bedürfnis unvorhergesehen oder unabweisbar ist; diese Tatbestandsmerkmale enthalten als objektivierbare Maßstäbe eine Kompetenzregelung.

 

5) Unvorhergesehen im Sinne des Art.112 GG ist nicht nur ein objektiv unvorhersehbares Bedürfnis, sondern jedes Bedürfnis, das tatsächlich, gleich aus welchen Gründen, vom Bundesminister der Finanzen oder der Bundesregierung bei der Aufstellung des Haushaltsplanes oder vom Gesetzgeber bei dessen Beratung und Feststellung nicht vorhergesehen wurde oder dessen gesteigerte Dringlichkeit, die es durch Veränderung der Sachlage inzwischen gewonnen hat, nicht vorhergesehen worden ist.

 

6) Erst wenn eine Mehrausgabe so eilbedürftig ist, daß die Einbringung eines Nachtragshaushaltsplanes oder eines Ergänzungshaushaltsplanes oder schließlich ihre Verschiebung bis zum nächsten regelmäßigen Haushalt bei vernünftiger Beurteilung der jeweiligen Lage nicht mehr vertretbar anerkannt werden kann, liegt ein Fall der Unabweisbarkeit vor.

 

7) Die Bundesregierung ist das Verfassungsorgan, das entsprechend seiner politischen Leitungsaufgabe auch im Bereich des Haushaltswesens als bestimmendes Organ der Exekutive dem Bundestag gegenübersteht.

 

8) Der Bundesminister der Finanzen ist gegenüber der Bundesregierung verpflichtet, sie davon zu unterrichten, daß im Haushalt über erübrigte Mittel zu disponieren ist, die ihrem Umfang nach von politischem Gewicht sind und je nach der politischen Entscheidung über die Prioritäten anstehender Bedürfnisse verschieden verwendet werden können.

 

9) Die Informationspflicht des Bundesministers der Finanzen ist die Grundlage dafür, daß die Bundesregierung auch in den Fällen der Anwendung des Art.112 GG durch ihr Verhalten Rechte des Bundestages verletzt haben kann. Die Bundesregierung hat sie verletzt, wenn sie dem Bundesminister der Finanzen den Weg des Art.112 GG freigegeben hat, obwohl zeitgerecht durch einen Ergänzungs- oder Nachtragshaushalt oder im Wege des Art.111 GG die Rechtsgrundlage für die Ausgabe hätte beschafft werden können.

 

10) Die Bundesregierung hat die Kompetenz des Gesetzgebers verletzt, wenn sie von dem Schritt de Bundesministers der Finanzen hätte erhalten müssen, sie aber nicht erhalten und deshalb eine Ermächtigung des Haushaltsgesetzgebers nicht herbeigeführt hat Für einen solchen Mangel hat die Bundesregierung einzustehen, weil anders die verfassungsmäßige Ordnung in diesem Politisch besonders heiklen und folgenreichen Bereich nicht wirksam aufrechterhalten werden kann.

 

LB 11) Zur abweichenden Meinung des Richters, siehe BVerfGE_45,52 = www.dfr/BVerfGE, Abs.145 ff.

* * *

Beschuss

Entscheidungsformel:

Es wird festgestellt:
I. Der Bundesminister der Finanzen hat das Recht des Deutschen Bundestages aus Artikel 110 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes verletzt, indem er den zu Lasten des Haushaltsjahres 1973 geleisteten überplanmäßigen und außerplanmäßigen Ausgaben an

1. die Deutsche Bundesbahn in Höhe von 1,35 Milliarden DM,
2. die Kreditanstalt für Wiederaufbau in Höhe von 480 Millionen DM,
3. die Vereinigte Industrie-Unternehmungen AG (VIAG) in Höhe von 100 Millionen DM,
4. die Salzgitter AG in Höhe von 100 Millionen DM

zugestimmt hat, obwohl die Voraussetzungen des Artikels 112 Satz 2 des Grundgesetztes nicht erfüllt waren.

II. Die Bundesregierung hat da Recht des Deutschen Bundestages aus Artikel 110 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes verletzt, indem sie es unterlassen hat, für die unter I. genannten Ausgaben die vorherige Ermächtigung des Gesetzgebers einzuholen.

§§§

77.012 Stadtwerke Hameln
 
  1. BVerfG,     B, 07.06.77,     – 1_BvR_108/73 –

  2. BVerfGE_45,63 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.14 Abs.3, GG_Art.19 Abs.3; GG_Art.93 Abs.1 Nr.4a; BVerfGG_§_90 Abs.1

 

Die zu einer Entschädigung verpflichtete öffentliche Hand kann nicht mit der Verfassungsbeschwerde geltend machen, eine Enteignung im Sinne des Art.14 Abs.3 GG habe nicht vorgelegen.

T-77-02

LB 2) Die Verfassungsbeschwerde ist nur dann gegeben, wenn die als verletzt bezeichnete Norm des objektiven Verfassungsrechts zugleich ein - im Katalog des Art.93 Abs.1 Nr.4a GG aufgeführtes - subjektives Recht verbürgt.

Abs.45

LB 3) Den juristische Personen des öffentlichen Rechts steht die Verfassungsbeschwerde nicht zu, soweit sie öffentliche Aufaben erfüllen.

Abs.50

LB 4) Ein Betrieb, der ganz der öffentlichen Aufgabe der gemeindlichen Daseinsvorsorge gewidmet ist und der sich in der Hand eines Trägers öffentlicher Verwaltung befindet, stellt daher nur eine besondere Erscheinungsform dar, in der öffentliche Verwaltung ausgeübt wird; er ist in der Frage der Grundrechtssubjektivität in dem hier gegebenen Zusammenhang nicht anders zu behandeln als der Verwaltungsträger selbst.

* * *

T-77-02Verfassungsbeschwerde + subjektive Rechtsverletzung

35

"Soweit sich die Beschwerdeführer auf Art.14 GG berufen, fehlt es bei der hier gegebenen Sachlage bereits an einem grundrechtlich geschützten subjektiven Recht, das mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden könnte.

36

Nr.4a GG, § 90 BVerfGG kann jedermann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem der dort genannten Rechte verletzt zu sein, Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben. Im Gesamtsystem der verfassungsgerichtlichen Zuständigkeit ist die Verfassungsbeschwerde Ausdruck der besonderen Bedeutung, die das Grundgesetz diesen Rechten für die verfassungsmäßige Ordnung des Gemeinwesens beimißt. Die Zulassung dieses Rechtsbehelfs gegen gerichtliche Urteile dient auch dem Ziel, daß bei der Entscheidung eines konkreten Rechtsstreits nur verfassungsmäßiges Recht zugrunde gelegt wird. In dieser Richtung deckt sich ihre Funktion mit der konkreten Normenkontrolle nach Art.100 Abs.1 GG (BVerfGE_42,42 <49 f>). Die Verfassungsbeschwerde ist nicht nur ein Rechtsbehelf zur Sicherung und Durchsetzung grundgesetzlich garantierter individueller Rechtspositionen, sondern in gleicher Weise ein "spezifisches Rechtsschutzmittel des objektiven Verfassungsrechts" (BVerfGE_33,247 <259>).

37

Diese doppelte Rechtsschutzfunktion kann das Bundesverfassungsgericht aber nicht schlechthin wahrnehmen. Die Verfassungsbeschwerde ist nur dann gegeben, wenn die als verletzt bezeichnete Norm des objektiven Verfassungsrechts zugleich ein - im Katalog des Art.93 Abs.1 Nr.4a aufgeführtes - subjektives Recht verbürgt. Die Rüge, ein subjektives Verfassungsrecht sei verletzt, ist Voraussetzung jeder Verfassungsbeschwerde (BVerfGE_4,205 <210>; BVerfGE_6,445 <448>; BVerfGE_15,298 <301>). Eine Verfassungsbeschwerde, die lediglich die fehlerhafte Anwendung objektiven Verfassungsrechts rügt, ist - unabhängig von allen anderen Zulässigkeitsvoraussetzungen - bereits aus diesem Grund unzulässig. Das Grundgesetz kennt keine Popularklage. ...."

45

"Auch soweit sich die Beschwerdeführer auf die Verletzung der Grundrechte aus Art.2 Abs.1, Art.3 Abs.1 und Art.12 Abs.1 GG berufen, sind die Verfassungsbeschwerden nicht zulässig.

46

1. Zwar gelten die Grundrechte nach Art.19 Abs.3 GG auch für juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt entschieden hat, sind jedoch die Grundrechte und der zu ihrer Verteidigung geschaffene Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde auf juristische Personen des öffentlichen Rechts, soweit sie öffentliche Aufgaben erfüllen, grundsätzlich nicht anwendbar (BVerfGE_21,362 [ 369 ff

47

Die Ausgangsverfahren der Verfassungsbeschwerden einschließlich der angefochtenen gerichtlichen Entscheidungen betreffen die Beschwerdeführer zu 1 a), 2) und 3) ausschließlich in ihrer spezifischen Funktion als Träger öffentlicher Aufgaben. Gemeinden und Landkreise nehmen als Gebietskörperschaften des öffentlichen Rechts im Bereich der Daseinsvorsorge öffentliche Aufgaben wahr, zu denen auch die Einrichtung der Wasserversorgung gehört (vgl BVerfGE_38,258 <270>). Es kommt nicht darauf an, ob die Wasserversorgung in (verwaltungs-)privatrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Formen durchgeführt wird, sondern allein darauf, daß die daseinsfürsorgende Leistung ihrer Rechtsnatur nach in Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe erbracht wird. Um die Erledigung dieser Aufgabe sicherzustellen, ist den betroffenen Grundstückseigentümern die wasserrechtliche Erlaubnis versagt worden. Bei der deswegen erfolgten Verurteilung der Beschwerdeführer zur Entschädigung handelt es sich mithin um eine Rechtsfolge dieser im hoheitlichen Funktionsbereich liegenden öffentlichen Aufgabe.

48

Einer der Ausnahmefälle, in denen nach der zitierten Rechtsprechung auch einer juristischen Person des öffentlichen Rechts Grundrechtsfähigkeit zuzuerkennen ist (BVerfGE_21,362 <373 f>; BVerfGE_31,314 <322>), liegt nicht vor. Weder handelt es sich um die Verletzung eines sogenannten Verfahrensgrundrechts noch sind die beschwerdeführenden Gebietskörperschaften unmittelbar dem Lebensbereich der Bürger zugeordnet, der durch die als verletzt gerügten Grundrechte geschützt wird. Das letztere setzt voraus, daß es sich - wie bei den Kirchen, Universitäten und Rundfunkanstalten - um eine juristische Person handelt, die den Bürgern zur Verwirklichung ihrer individuellen Grundrechte dienen und als eigenständige, vom Staat unabhängige oder jedenfalls distanzierte Einrichtungen Bestand haben. Davon kann bei den beschwerdeführenden Gebietskörperschaften keine Rede sein.

49

Diese haben bei ihrer Maßnahme zur Sicherung der Wasserversorgung auch nicht individuelle Rechte der hinter ihnen stehenden natürlichen Personen gegenüber der öffentlichen Gewalt verfolgt und stehen dem Staat nicht in der gleichen "grundrechtstypischen Gefährdungslage" gegenüber wie der einzelne Eigentümer. Vielmehr sind sie in Erfüllung einer "staatlichen Aufgabe" tätig geworden. Die Verpflichtung zur Zahlung einer Enteignungsentschädigung ist den Beschwerdeführern auferlegt worden, weil sie die "Nutznießer" der nicht erteilten wasserrechtlichen Erlaubnis sind. Sie sind - nach der in den angegriffenen Urteilen vertretenen Rechtsauffassung - durch die "Enteignung" begünstigt und haben deshalb einen Wertausgleich durch Entschädigung zu leisten."

50

2. Soweit die Stadtwerke H AG Verfassungsbeschwerde erhoben hat, gilt für sie nichts anderes als für die beschwerdeführenden Gebietskörperschaften. Verneint man deren Grundrechtsfähigkeit, so kann die Beschwerdeführerin zu 1 b) als juristische Person des Privatrechts, deren alleiniger Aktionär eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, sich ebensowenig wie diese auf Individualgrundrechte berufen. Anderenfalls wäre die Frage der Grundrechtsfähigkeit der öffentlichen Hand in nicht geringem Umfang abhängig von den jeweiligen Organisationsformen; es käme darauf an, ob eine Aufgabe der Daseinsvorsorge von ihrem Träger selbst oder von einer dieser gegenüber rechtlich verselbständigten, privatrechtlich organisierten Verwaltungseinheit erfüllt wird. Ein Betrieb, der ganz der öffentlichen Aufgabe der gemeindlichen Daseinsvorsorge gewidmet ist und der sich in der Hand eines Trägers öffentlicher Verwaltung befindet, stellt daher nur eine besondere Erscheinungsform dar, in der öffentliche Verwaltung ausgeübt wird; er ist in der Frage der Grundrechtssubjektivität in dem hier gegebenen Zusammenhang nicht anders zu behandeln als der Verwaltungsträger selbst."

 

Auszug aus BVerfG B, 07.06.77, - 1_BvR_108/73 -,

§§§

77.013 Rückwirkende Verordnungen
 
  1. BVerfG,     B, 08.06.77,     – 2_BvR_499/74 –

  2. BVerfGE_45,142 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.80 Abs.1; VO-120/67/EWG_Art.7 Abs.1; DurchfG-EWG-Getreide_§_7

 

1) Art.80 Abs.1 GG verwehrt dem Gesetzgeber nicht, Ermächtigungen zum Erlaß rückwirkender Verordnungen zu erteilen, noch gebietet er, daß eine solche Ermächtigung ausdrücklich erteilt wird. Es reicht hin, wenn sich die Ermächtigung dazu aus dem Sinn und Zweck des Gesetzes ergibt.

 

2) Der Rechtsanspruch auf Intervention gemäß Art.7 Abs.1, 2 der Verordnung Nr.120/67/EWG beruht auf Rechtsnormen, die dem öffentlichen Recht der Europäischen Gemeinschaft zugehören und als solche auch im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland gelten. Er unterfällt nicht dem Schutzbereich des Art.14 Abs.1 GG. Seine Gewährung verrechtlicht etwas, das ohne die Agrarmarktregelung bloße Erwerbschance wäre. Er ist dem Anbieter nicht eingeräumt, um einen vorhandenen vermögenswerten Rechtsbestand oder Güterbestand zu sichern, sondern um im Allgemeininteresse bestimmte Abläufe des Marktgeschehens tendenziell zu steuern. Der Rechtsanspruch auf Intervention gehört auch nicht zum eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb.

 

LB 3) Zur abweichenden Meinung des Richters Dr Geiger, siehe BVerfGE_45,182 = www.dfr/BVerfGE, Abs.105 ff.

§§§

77.014 Lebenslange Freiheitsstrafe
 
  1. BVerfG,     U, 21.06.77,     – 1_BvL_14/76 –

  2. BVerfGE_45,187 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.1 Abs.1, StGB_§_211 Abs.1, StGB_§_211 Abs.2

 

1) Die lebenslange Freiheitsstrafe für Mord (§ 211 Abs.1 StGB) ist nach Maßgabe der folgenden Leitsätze mit dem Grundgesetz vereinbar.

 

2) Nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse kann nicht festgestellt werden, daß der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe gemäß den Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes und unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Gnadenpraxis zwangsläufig zu irreparablen Schäden psychischer oder physischer Art. führt, welche die Würde des Menschen (Art.1 Abs.1 GG) verletzen.

 

3) Zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs gehört, daß dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden. Die Möglichkeit der Begnadigung allein ist nicht ausreichend; vielmehr gebietet das Rechtsstaatsprinzip, die Voraussetzungen, unter denen die Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ausgesetzt werden kann, und dasd abei anzuwendende Verfahren gesetzlich zu regeln.

 

4) Die Qualifikation der heimtückischen und der zur Verdeckung einer anderen Straftat begangenen Tötung eines Menschen als Mord gemäß § 211 Abs.2 StGB verletzt bei einer an dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierten restriktiven Auslegung nicht das Grundgesetz.

§§§

77.015 Oberstufenreform
 
  1. BVerfG,     B, 22.06.77,     – 1_BvR_799/76 –

  2. BVerfGE_45,400 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.6 Abs.2 S.1

 

Die Regelungen für die Jahrgangsstufe 11 im hessischen Gesetz über die Neuordnung der gymnasialen Oberstufe vom 26.Oktober 1976 (GVBl.I Satz 433) verletzen weder Grundrechte der Schüler noch der Eltern.

§§§

77.016 Unfallversicherung
 
  1. BVerfG,     B, 22.06.77,     – BvL_2/74 –

  2. BVerfGE_45,376 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.20 Abs.1; RVO_§_539 Abs.1; RVO_§_547 ff,

 

Es ist mit Art.3 Abs.1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art.20 Abs.1 GG) nicht vereinbar, wenn ein Kind, das vor der Geburt durch eine Berufskrankheit seiner unfallversicherten Mutter geschädigt ist, von den Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung ausgeschlossen bleibt.

§§§

77.017 RAF
 
  1. BVerfG,     B, 07.09.77,     – 2_BvR_674/77 –

  2. BVerfGE_45,434 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.103 Abs.3; StGB_§_52, StGB_§_53, StGB_§_129, StGB_§_211

T-77-03

LB 1) Ob das Dauerdelikt - hier: die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung - und die "im Rahmen" dieses Delikts begangene Straftat - hier: die Beihilfe zu Mord und anderen Delikten in Verfolgung der Ziele der kriminellen Vereinigung - "dieselbe Tat" im Sinne des Art.103 Abs.3 GG bilden unterliegt der Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts.

Abs.5

LB 2) Die Würdigung des - materiellrechtlichen - Konkurrenzverhältnisses der beiden genannten Tatbestandsverwirklichungen liegt vornehmlich auf der Ebene des einfachen Rechts; sie obliegt deshalb vor allem den Fachgerichten und kann vom Bundesverfassungsgericht im Verfassungsbeschwerde-Verfahren nur unter dem Gesichtspunkt der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts - insbesondere des Willkürverbots überprüft werden.

Abs.8

LB 3) Die Auffassung die Beteiligung des Beschwerdeführers als Mitglied an einer kriminellen Vereinigung und die ihm nunmehr vorgeworfene Straftat bildeten bei Annahme tatmehrheitlicher Begehung ( § 53 StGB) nicht "dieselbe Tat", begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

* * *

T-77-03Konkurrenzen - Strafrecht

3

"2. Die Anordnung der Untersuchungshaft ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden; die ihr zugrunde liegende Beschuldigung verstößt insbesondere nicht gegen das Verbot der Doppelbestrafung (Art.103 Abs.3 GG). Die Beteiligung des Beschwerdeführers an der kriminellen Vereinigung "Rote Armee Fraktion" und die ihm jetzt zur Last gelegte Straftat bilden nicht "dieselbe Tat" im Sinne der erwähnten Verfassungsnorm.

4

a) Das materielle Strafrecht unterscheidet im Bereich der sogenannten Konkurrenzen, also des Zusammentreffens mehrerer Tathandlungen oder Gesetzesverletzungen, zwischen Idealkonkurrenz (Tateinheit, § 52 StGB) und Realkonkurrenz (Tatmehrheit, § 53 StGB). Diese Unterscheidung baut auf dem Begriff der "Handlung" auf. Hingegen sind dem Strafprozeßrecht die Begriffe "Tateinheit" und "Tatmehrheit" fremd; es verwendet vielmehr den eigenständigen prozessualen Begriff der "Tat", nach der sich vor allem der "Gegenstand der Urteilsfindung" (§ 264 Abs.1 StPO) und -ädamit verbunden - der Umfang der Rechtskraft richten. Auf diesen Begriff greift Art.103 Abs.3 GG zurück. Er versteht darunter - in Übereinstimmung mit dem Strafprozeßrecht - den "geschichtlichen Vorgang, auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluß hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll" (BVerfGE_23,191 <202>). Der Begriff der "Tat" ist mithin weiter als derjenige der "Handlung". Mehrere Tatbestandsverwirklichungen können auch dann "eine Tat" im Sinne des § 264 StPO (Art.103 Abs.3 GG) bilden, wenn sie zueinander im Verhältnis der Tatmehrheit stehen. Andererseits stellt eine einheitliche Handlung stets auch eine einheitliche prozessuale Tat dar. Das ändert indessen nichts an der Selbständigkeit des prozessualen Tatbegriffs im Verhältnis zum materiellen Recht.

5

Die Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts erstreckt sich in Fällen der vorliegenden Art zunächst auf die Beurteilung der Frage, ob das Dauerdelikt - hier: die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung - und die "im Rahmen" dieses Delikts begangene Straftat - hier: die Beihilfe zu Mord und anderen Delikten in Verfolgung der Ziele der kriminellen Vereinigung - "dieselbe Tat" im Sinne des Art.103 Abs.3 GG bilden; dieser Bereich ist der vollen verfassungsgerichtlichen Nachprüfung zugänglich. Hingegen liegt die Würdigung des - materiellrechtlichen - Konkurrenzverhältnisses der beiden genannten Tatbestandsverwirklichungen vornehmlich auf der Ebene des einfachen Rechts; sie obliegt deshalb vor allem den Fachgerichten und kann vom Bundesverfassungsgericht im Verfassungsbeschwerde- Verfahren nur unter dem Gesichtspunkt der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts - insbesondere des Willkürverbots überprüft werden.

6

Die Beschränkung der Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts auf die Frage der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts führt entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers hier und in vergleichbaren Fällen nicht zu einer Aushöhlung der Garantiefunktion des Art.103 Abs.3 GG; denn das Bundesverfassungsgericht ist nicht gehindert, auch dann noch "dieselbe Tat" im Sinne des Art.103 Abs.3 GG anzunehmen, wenn die Entscheidung des Fachgerichts, die mehreren Tatbestandsverwirklichungen stünden zueinander im Verhältnis der Tatmehrheit (§ 53 StGB), verfassungsrechtlich unangreifbar ist."

7

b) Das Oberlandesgericht ist danach zutreffend davon ausgegangen, das Vergehen des Beschwerdeführers nach § 129 StGB und die ihm zur Last gelegte Beihilfe zu Mord und anderen Delikten seien jedenfalls dann als "dieselbe Tat" zu werten, wenn sie zueinander im Verhältnis der Tateinheit (§ 52 StGB) stünden. Es hat jedoch die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht als erfüllt erachtet und statt dessen Tatmehrheit (§ 53 StGB) angenommen. Diese Auslegung und Anwendung einfachen Rechts weist keinen Verstoß gegen spezifisches Verfassungsrecht auf; sie ist insbesondere frei von Willkür. Dabei verdient neben anderen Umständen die Tatsache Berücksichtigung, daß die Erörterung der vom m Oberlandesgericht entschiedenen Frage im Schrifttu entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers durchaus Raum für die Annahme läßt, die Beteiligung als Mitglied an einer kriminellen Vereinigung und die in Verfolgung der Ziele der Vereinigung begangenen Straftaten könnten in Fällen wie dem vorliegenden zueinander im Verhältnis der Tatmehrheit (§ 53 StGB) stehen (vgl Dreher, StGB, 36.Aufl 1976, § 129 Rdnr.9; Mösl in: Leipziger Kommentar, 9.Aufl, 1974, § 129 Rdnr.27; Petters- Preisendanz, StGB, 29.Aufl, 1975, § 129 Anm.10; Wahle, GA 1968, 97 <111>; Fleischer, NJW 1976, S.878 <879>).

8

c) Die Auffassung des Oberlandesgerichts, die Beteiligung des Beschwerdeführers als Mitglied an einer kriminellen Vereinigung und die ihm nunmehr vorgeworfene Straftat bildeten bei Annahme tatmehrheitlicher Begehung (§ 53 StGB) nicht "dieselbe Tat", begegnet ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Vor allem würde die getrennte Würdigung und Aburteilung der dem Beschwerdeführer jetzt zur Last gelegten Tat - nicht zuletzt im Hinblick auf deren die Beteiligung an der kriminellen Vereinigung erheblich übersteigendes strafrechtliches Gewicht - nicht als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges empfunden werden. Daß der Anschlag auf das US-Hauptquartier in Verfolgung der Ziele der kriminellen Vereinigung "Rote Armee Fraktion" verübt wurde, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang."

 

Auszug aus BVerfG B, 07.09.77, - 2_BvR_674/77 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.3 ff

§§§

77.018 Vorläufige Dienstenthebung
 
  1. BVerfG,     B, 04.10.77,     – 2_BvR_80/77 –

  2. BVerfGE_46,17

  3. GG_Art. (BW) LDO_§_83 Abs.1, LDO_§_86 Abs.2, LDO_§_60,

 

1) Die gerichtliche Nachprüfung der Anordnung der vorläufigen Dienstenthebung sowie die Einbehaltung von Dienstbezügen bildet ein selbständiges Verfahren gegenüber dem förmlichen Disziplinarverfahren. Gegen Zwischenentscheidungen dieser Art ist die Verfassungsbeschwerde zulässig. ]b> ]b[ 2) Die Rücksicht auf das gemeine Wohl läßt die Suspendierung auch bei einer längeren Dauer des Disziplinarverfahrens regelmäßig nicht als einen Eingriff erscheinen, der von einem bestimmten Zeitpunkt an mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar wird. Unbeschadet dessen verstößt eine offenkundige Verschleppung de Disziplinarverfahrens gegen das rechtsstaatliche Gebot der Gewährung eines effektiven Gerichtsschutzes. ]c> ]c[ 3) Jede vermeidbare Verzögerung des Disziplinarverfahrens setzt den Beschuldigten, gegen den die Kürzung seiner Bezüge angeordnet ist, einem

 

2) Die Rücksicht auf das gemeine Wohl läßt die Suspendierung auch bei einer längeren Dauer des Disziplinarverfahrens regelmäßig nicht als einen Eingriff erscheinen, der von einem bestimmten Zeitpunkt an mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar wird. Unbeschadet dessen verstößt eine offenkundige Verschleppung de Disziplinarverfahrens gegen das rechtsstaatliche Gebot der Gewährung eines effektiven Gerichtsschutzes.

 

3) Jede vermeidbare Verzögerung des Disziplinarverfahrens setzt den Beschuldigten, gegen den die Kürzung seiner Bezüge angeordnet ist, einem Eingriff und einer Belastung aus, die fühlbar schwerer sind als im Falle der ordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens; deshalb kann die Gehaltskürzung unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werden.

 

LB 4) Zur abweichenden Meinung des Richters Hirsch, siehe BVerfGE_46,31 ff.

§§§

77.019 Befangenheit Richter Hirsch
 
  1. BVerfG,     B, 05.10.77,     – 2_BvL_10/75 –

  2. BVerfGE_46,34

  3. BVerfGG_§ 18 Abs.2

 

1) Das Gericht kann und muß jede in einem anhängigen Verfahren entscheidungserhebliche werdende Inzidentfrage entscheiden. Betrifft die Inzidentfrage den "gesetzlichen Richter", dh die richtige Besetzung des erkennenden Gerichts, so ist vor Eintritt in die Beratung und vor Entscheidung zur Sache die richtige Besetzung des erkennenden Gerichts beschlußmäßig festzustellen ohne Mitwirkung des Richters, dessen Berechtigung zur Mitwirkung zweifelhaft erscheint.

 

2) Die Prüfung der Frage von Amts wegen, ob ein Richter Anlaß zur Besorgnis der Befangenheit gegeben hat, ist unstatthaft.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Der Richter Hirsch ist an der Mitwirkung bei der Entscheidung im vorliegenden Verfahren nicht gehindert.

§§§

77.020 Stiftungen
 
  1. BVerfG,     B, 11.10.77,     – BvR_209/76 –

  2. BVerfGE_46,73 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.118 Abs.2, GG_Art.140; WRV_Art.137 Abs.3; BetrVG_§_118 Abs.2

 

1) Nach Art.140 GG in Verbindung mit Art.137 Abs.3 WRV sind nicht nur die organisierte Kirche und die rechtlich selbständigen Teile dieser Organisation, sondern alle der Kirche in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform Objekte, bei deren Ordnung und Verwaltung die Kirche grundsätzlich frei ist, wenn sie nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück Auftrag der Kirche in dieser Welt wahrzunehmen und zu erfüllen.

 

2) Das Betriebsverfassungsgesetz selbst erweist sich, indem es zugunsten der Religionsgemeinschaften und ihrer karitativen und erzieherischen Einrichtungen unbeschadet deren Rechtsform in § 118 Abs.2 einen ausdrücklichen Vorbehalt macht, nicht als ein für alle geltendes Gesetz. Es nimmt vielmehr mit diesem Vorbehalt auf das verfassungsrechtlich Gebotene Rücksicht.

§§§

77.021 Hausgehilfin
 
  1. BVerfG,     B, 11.10.77,     – 1_BvR_343/73 –

  2. BVerfGE_47,1 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.12 Abs.1; (65) EStG_§_33a Abs.3 Nr.2 Buchst.a

 

1) Berufstätige Ehegatten haben von Verfassungswegen keinen Anspruch darauf, daß die Aufwendungen für die Betreuung ihrer Kinder durch eine Hausgehilfin den Betriebsausgaben oder Werbungskosten gleichgestellt werden.

 

2) Es verstößt gegen den Gleichheitssatz, wenn für die berufsfördernde Beschäftigung einer Hausgehilfin kein Freibetrag gewährt wird, sofern zum Haushalt nur ein Kind gehört, während bei einem Haushalt mit zwei Kindern die im übrigen gleiche Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch einen Freibetrag für außergewöhnliche Belastung berücksichtigt wird.

 

3) Zur Überprüfung steuerrechtlicher Vorschriften am Maßstab des Art.12 Abs.1 GG.

 

LB 4) Zur abweichenden Meinung des Richters Dr Simon, siehe BVerfGE_47,34 = www.dfr/BVerfGE, Abs.105 ff.

§§§

77.022 Witwengeld
 
  1. BVerfG,     B, 11.10.77,     – 2_BvR_407/76 –

  2. BVerfGE_46,97 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1; (Hb) (70) LBG_§_162 Abs.1 Nr.3, LBG_§_162 Abs.2 Nr.3

 

1) Der Gesetzgeber hat dem in den Ruhestand versetzten "Regel"-Beamten, in dessen Person zwei Versorgungsansprüche - ein von ihm selbst und ein von seinem Ehegatten erdienter - zusammentreffen, mit der ihn betreffenden Kürzungsvorschrift unter den zahlreichen im Beamtenrecht geltenden Kürzungsvorschriften die ungünstigste und rigoroseste Regelung auferlegt. Das ist in einem sozialen Rechtsstaat unvertretbar und unvereinbar mit dem Anspruch auf eine an der Gerechtigkeitsidee orientierten Gleichbehandlung.

 

2) Die Regelung führt bei der gegenwärtigen und ständig zunehmenden Zahl der beiderseits im öffentlichen Dienst verwendeten Eheleute, insbes auch bei einer Entwicklung, die der Frau den Zugang zu allen Stufen des öffentlichen Dienstes geöffnet hat, in so vielen Fällen zum Verlust des Witwengeldes, daß nicht mehr nur von einzelnen Ausnahmefällen die Rede sein kann, die als unvermeidliche Härten einer unbedenklichen generellen Regelung hingenommen werden müßten.

 

3) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß ein Beamter zuviel gezahlte Versorgungsbezüge zurückzuzahlen hat, obgleich er im Augenblick der Rückforderung nicht mehr bereichert gewesen ist.

 

4) Jeder Versorgungsberechtigte hat von vornherein davon auszugehen, daß nach den gesetzlichen Regelungen über das Zusammentreffen mehrerer Ansprüche gegen die öffentliche Hand nach einer entsprechenden Änderung der Sachlage eine Änderung der Bezüge eintritt, auch wenn dieser Vorbehalt nicht ausdrücklich im Gesetz fixiert ist.

§§§

77.023 Direktruf
 
  1. BVerfG,     B, 12.10.77,     – 1_BvR_216/75 –

  2. BVerfGE_46,120 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.1; DirRufV_§_6 Abs.6, DirRufV_§_3 Abs.4

 

1) Zur Anwendung des Art.12 Abs.1 GG auf Vorschriften, die nicht "gezielt" in die Berufsfreiheit eingreifen, die jedoch infolge ihrer tatsächlichen Auswirkungen geeignet sind, die Berufsfreiheit zu beeinträchtigen.

 

2) Der Begriff der Fernmeldeanlage umfaßt nicht nur die bei der Entstehung des Fernmeldeanlagengesetzes bekannten Arten der Nachrichtenübertragung, sondern auch neuartige Übertragungstechniken, sofern es sich um körperlose Übertragung von Nachrichten in der Weise handelt, daß diese am Empfangsort "wiedergegeben" werden. Demgemäß gehört zum "Fernmeldewesen" auch die digitale Nachrichtenübertragung.

 

3) Die Vorschriften der Verordnung über das öffentliche Direktrufnetz für die Übertragung digitaler Nachrichten vom 24.Juni 1974, nach denen

a) Zusatzeinrichtungen bei Hauptanschlüssen für Direktruf posteigen sein müssen,

b) Endeinrichtungen des öffentlichen Direktrufnetzes nicht ausschließlich oder überwiegend dem Zweck dienen dürfen, digitale Nachrichten für andere Personen oder zwischen anderen Teilnehmern zu vermitteln,

c) Endeinrichtungen durch die Deutsche Bundespost zugelassen sein müssen, einer Anschließungsgenehmigung bedürfen und von der Deutschen Bundespost anzuschließen sind, sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

77.024 Schleyer
 
  1. BVerfG,     B, 16.10.77,     – 1_BvQ_5/77 –

  2. BVerfGE_46,160 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.2, Art.3 Abs.1

 

Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle bei der Bekämpfung lebensbedrohender terroristischer Erpressungen.

T-77-04

LB 2) Zur Pflicht des Staates Leben zu schützen.

* * *

T-77-04Pflicht des Staates Leben zu schützen

14

Art.2 Abs.2 Satz 1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 Satz 2 GG verpflichtet den Staat, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht ist umfassend. Sie gebietet dem Staat, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren (BVerfGE_39,1 <42>). An diesem Gebot haben sich alle staatlichen Organe, je nach ihren besonderen Aufgaben, auszurichten. Da das menschliche Leben einen Höchstwert darstellt, muß diese Schutzverpflichtung besonders ernst genommen werden.

15

Wie die staatlichen Organe ihre Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des Lebens erfüllen, ist von ihnen grundsätzlich in eigener Verantwortung zu entscheiden. Sie befinden darüber, welche Schutzmaßnahmen zweckdienlich und geboten sind, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten (BVerfGE aaO S.44). Ihre Freiheit in der Wahl der Mittel zum Schutz des Lebens kann sich in besonders gelagerten Fällen auch auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen, wenn ein effektiver Lebensschutz auf andere Weise nicht zu erreichen ist. Entgegen der durchaus verständlichen Meinung des Antragstellers ist ein solcher Fall hier jedoch nicht gegeben."

16

Die Eigenart des Schutzes gegen lebensbedrohende terroristische Erpressungen ist dadurch gekennzeichnet, daß die gebotenen Maßnahmen der Vielfalt singulärer Lagen angepaßt sein müssen. Sie können weder generell im voraus normiert noch aus einem Individualgrundrecht als Norm hergeleitet werden. Das Grundgesetz begründet eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger. Eine wirksame Wahrnehmung dieser Pflicht setzt voraus, daß die zuständigen staatlichen Organe in der Lage sind, auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles angemessen zu reagieren; schon dies schließt eine Festlegung auf ein bestimmtes Mittel aus. Darüber hinaus kann eine solche Festlegung insbesondere deshalb nicht von Verfassungs wegen erfolgen, weil dann die Reaktion des Staates für Terroristen von vornherein kalkulierbar würde. Damit würde dem Staat der effektive Schutz seiner Bürger unmöglichg emacht. Dies stünde mit der Aufgabe, die ihm durch Art.2 Abs.2 Satz 1 GG gestellt ist, in unaufhebbarem Widerspruch."

17

"Aus den gleichen Gründen kann auch unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art.3 Abs.1 GG) nicht in allen Entführungsfällen eine schematisch gleiche Entscheidung geboten sein."

18

"Angesichts dieser verfassungsrechtlichen Lage kann das Bundesverfassungsgericht den zuständigen staatlichen Organenk eine bestimmte Entschließung vorschreiben. Es liegt in der Entscheidung der Antragsgegner, welche Maßnahmen zur Erfüllung der ihnen obliegenden Schutzpflichten zu ergreifen sind."

 

Auszug aus BVerfG B, 16.10.77, - 1_BvQ_5/77 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.14 ff

§§§

77.025 Krankenhausaufnahme
 
  1. BVerfG,     B, 25.10.77,     – 1_BvR_323/75 –

  2. BVerfGE_46,266

  3. GG_Art.4; WRV_Art.141

 

Zur Angabe der Konfessionszugehörigkeit bei der Aufnahme in ein Städtisches Krankenhaus.

§§§

77.026 Halbfettmargarine
 
  1. BVerfG,     B, 25.10.77,     – 1_BvR_173/75 –

  2. BVerfGE_46,246 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.1, Art.3 Abs.1; MargG_§_2 Abs.4

 

Zur Vereinbarkeit gesetzlicher Vorschriften über die Herstellung und den Verkauf von Halbfettmargarine mit Art.12 Abs.1 und Art.3 Abs.1 GG.

§§§

77.027 Zwangsversteigerung II
 
  1. BVerfG,     B, 07.12.77,     – 1_BvR_743/77 –

  2. BVerfGE_46,325 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.14 Abs.1 S.1, GG_Art.20 Abs.3

 

Zur Bedeutung der Eigentumsgarantie für die Anwendung der Vorschriften über die Zwangsversteigerung in Fällen, in denen das höchste Gebot weit unter dem Wert des Grundstücks bleibt.

T-77-05

LB 2) Zur rechtsstaatlichen Bedeutung der Verfahrensgestaltung.

* * *

T-77-05Rechtsstaatliche Bedeutung der Verfahrensgestaltung

19

"1.Die rechtsstaatliche Bedeutung der Verfahrensgestaltung hat bereits der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem Fall herausgearbeitet, in dem es ebenfalls um die Versteigerung eines Grundstücks weit unter seinem Wert ging (BVerfGE_42,64 ff). Das Verfahrensrecht solle gesetzmäßige und unter diesem Blickpunkt richtige, aber darüber hinaus auch im Rahmen dieser Richtigkeit gerechte Entscheidungen herbeiführen. Zwar obliege die Handhabung des einfachen Verfahrensrechts grundsätzlich den Fachgerichten. Diese überschritten aber (jedenfalls) dann ihren Ermessens- und Beurteilungsspielraum, wenn die Anwendung des einfachen Rechts bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sei und sich daher der Schluß aufdränge, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruhe (aaO <73 f>). Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Zweite Senat es als Verletzung des Art.3 Abs.1 GG beurteilt, daß die unerfahrene Antragstellerin einer Teilungsversteigerung nicht über die Folgen des sie benachteiligenden sofortigen Zuschlags und über das Recht, der Erteilung des Zuschlags entgegenzutreten, durch Ausübung des Fragerechts gemäß § 139 ZPO aufgeklärt worden war. ..."

21

"Schon in der Entscheidung des Zweiten Senats wird die besondere Bedeutung der Eigentumsgarantie im sozialen Rechtsstaat hervorgehoben (aaO <76 f>). Sie will den konkreten Bestand des Eigentums in der Hand des Eigentümers sichern (vgl BVerfGE_24,367 <400>; 38,175 <181>). Ihr kommt von Verfassungs wegen die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich zu erhalten und dem Einzelnen damit eine Entfaltung und eigenverantwortliche Lebensgestaltung zu ermöglichen (vgl BVerfGE_31,229 <239> mwN). Diese Garantiefunktion beeinflußt nicht nur die Ausgestaltung des materiellen Vermögensrechts, sondern wirkt auch auf das zugehörige Verfahrensrecht ein. Demgemäß folgt bereits unmittelbar aus Art.14 GG die Pflicht, bei Eingriffen in dieses Grundrecht einen effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl BVerfGE_24,367 <401>; 35,348 <361 f>; 37,132 <141, 148>). Dies schließt den Anspruch auf eine "faire Verfahrensführung" ein, der nach der Rechtsprechung des prägungen des Rechtsstaatsprinzips gehört (vgl BVerfGE_38,105 <111>; 40,95 <99>; Beschluß vom 19.Oktober 1977, - 2_BvR_462/77 - EuGRZ_77,476 ). Dies gilt auch für die Durchführung von Zwangsversteigerungen, bei denen der Staat im Interesse des Gläubigers schwerwiegende Eingriffe in das verfassungsrechtlich geschützte Eigentum des Schuldners vornimmt. Ein solcher Eingriff erscheint zwar gerechtfertigt, wenn und soweit er dazu dient, begründete Geldforderungen des Gläubigers zu befriedigen. Zugleich sind aber auch die Belange des Schuldners zu wahren, für den zumindest die Möglichkeit erhalten bleiben muß, gegenüber einer unverhältnismäßigen Verschleuderung seines Grundvermögens um Rechtsschutz nachzusuchen.

22

Hieraus ergab sich im vorliegenden Fall das Gebot einer verfassungskonformen Anwendung der Verfahrensvorschriften ind er Weise, daß die Entscheidung über den Zuschlag nicht alsbald im Versteigerungstermin, sondern in einem späteren Termin zu treffen war, um der Beschwerdeführerin in der Zwischenzeit eine Inanspruchnahme von Vollstreckungsschutz zu ermöglichen. ..."

 

Auszug aus BVerfG B, 07.12.77, - 1_BvR_743/77 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.19

§§§

77.028 Pfhilippinische Botschaft
 
  1. BVerfG,     B, 13.12.77,     – 2_BvM_1/76 –

  2. BVerfGE_46,342 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.100 Abs.2, GG_Art.25

 

1) Im Rahmen des Vorlageverfahrens nach Art.100 Abs.2 GG sind Beweisbeschlüsse jedenfalls dann als Entscheidungen, für die die Vorlagefrage entscheidungserheblich ist, anzusehen, wenn die vorgesehene Beweiserhebung die Gefahr einer Völkerrechtsverletzung gegenüber dem fremden Staat in sich birgt.

 

2) Eine Befreiung fremder Staaten von der deutschen Gerichtsbarkeit im Vollstreckungsverfahren ergibt sich gegenwärtig nur über Art.25 GG aus allgemeinen Regeln des Völkerrechts.

 

3) Völkervertragsrechtliche Regelungen sind im Lichte der allgemeinen Regeln und Grundsätze des Völkerrechts auszulegen und anzuwenden, die den Sachbereich der vertraglichen Regelung betreffen.

 

4) Der private Einzelne - wie der fremde Staat - kann sich im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des jeweiligen Verfahrensrechts auf allgem Regeln des Völkerrechts ebenso "berufen" wie auf sonstiges objektives Recht. Allgem Regeln des Völkerrechts können sich - je nach ihrem Inhalt und in der Regel als Vorfrage - auf das rechtliche Begehren des Einzelnen als objektives Recht auswirken und damit entscheidungserheblich sein.

 

5) Daß das allgemeine Völkergewohnheitsrecht für das Erkenntnisverfahren die Mindestverpflichtung enthält, in bezug auf hoheitliches Verhalten (acta iure imperii) Immunität zu gewähren, bedeutet nicht schon, daß es auch für die Zwangsvollstreckung nur begrenzte Immunität geböte.

 

6) Bei der Ermittlung von Normen des Völkergewohnheitsrechts ist in erster Linie auf das völkerrechtlich erhebliche Verhalten derjenigen Staatsorgane abzustellen, die kraft Völkerrechts oder kraft innerstaatlichen Rechts dazu berufen sind, den Staat im völkerrechtlichen Verkehr zu repräsentieren. Daneben kann sich eine solche Praxis aber auch in Akten anderer Staatsorgane, wie des Gesetzgebers oder der Gerichte, bekunden, zumindest soweit ihr Verhalten unmittelbar völkerrechtlich erheblich ist. Für Entscheidungen nationaler Gerichte gilt dies zumal dort, wo, wie im Bereich der gerichtlichen Immunität fremder Staaten, das innerstaatliche Recht den nationalen Gerichten die unmittelbare Anwendung von Völkerrecht gestattet.

 

7) Gegenwärtig fehlt es an einer Übung der Staaten, die noch hinreichend allgemein sowie von der notwendigen Rechtsüberzeugung getragen wäre, um eine allgemeine Regel des Völkerrechts zu begründen, derzufolge dem Gerichtsstaat die Zwangsvollstreckung gegen einen fremden Staat schlechthin verwehrt wäre.

 

8) Es besteht eine allgemeine Regel des Völkerrechts, wonach die Zwangsvollstreckung durch den Gerichtsstaat aus einem gerichtlichen Vollstreckungstitel gegen einen fremden Staat, der über ein nicht-hoheitliches Verhalten (acta iure gestionis) dieses Staates ergangen ist, in Gegenstände dieses Staates, die sich im Hoheitsbereich des Gerichtsstaats befinden oder dort belegen sind, ohne Zustimmung des fremden Staates unzulässig ist, soweit diese Gegenstände im Zeitpunkt des Beginns der Vollstreckungsmaßnahme hoheitlichen Zwecken des fremden Staates dienen.

 

9) Bei Maßnahmen der Sicherung oder Zwangsvollstreckung gegen den fremden Staat darf von Völkerrechts wegen nicht auf die zum gegebenen Zeitpunkt seiner diplomatischen Vertretung zur Wahrnehmung ihrer amtlichen Funktionen dienenden Gegenstände zugegriffen werden (ne impediatur legatio).

 

10) Wegen der Abgrenzungsschwierigkeiten bei der Beurteilung einer Gefährdung dieser Funktionsfähigkeit und wegen der latent gegebenen Mißbrauchsmöglichkeiten zieht das allgemeine Völkerrecht den Schutzbereich zugunsten des fremden Staates sehr weit und stellt auf die typische, abstrakte Gefahr, nicht aber auf die konkrete Gefährdung der Funktionsfähigkeit der diplomatischen Vertretung ab.

 

11) Forderungen aus einem laufenden, allgemeine Bankkonto der Botschaft eines fremden Staates, das im Gerichtsstaat besteht und zur Deckung der Ausgaben und Kosten der Botschaft bestimmt ist, unterliegen nicht der Zwangsvollstreckung durch den Gerichtsstaat.

 

12) Es würde eine völkerrechtswidrige Einmischung in die ausschließlichen Angelegenheiten des Entsendestaats darstellen, dem Entsendestaat ohne seine Zustimmung von seiten der Vollstreckungsorgane des Empfangsstaats anzusinnen, das Bestehen oder die früheren, gegenwärtigen oder künftigen Verwendungszwecke von Guthaben auf einem solchen Konto näher darzulegen.

 

13) Dem privaten Einzelnen, der in privatwirtschaftliche Beziehungen zu einem fremden Staat treten will, bleibt es unbenommen, etwa durch Vereinbarungen über die Art und Weise der Abwicklung der Leistungen, über das Verfahren im Streitfall - insbes über einen Verzicht auf Immunität, der grundsätzlich unwiderruflich ist - oder über Sicherheiten seine Interessen soweit als möglich zu wahren.

 

14) Der Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten ist ein Konstitutionsprinzip des gegenwärtigen allgem Völkerrechts, das jedenfalls im Bereich des diplomatischen Verkehrs der Staaten eine weitgehend formale Gleichbehandlung gebietet. Eine unterschiedliche Behandlung der Staaten im Bereich der diplomatischen Immunität nach Maßgabe ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit wäre damit unvereinbar.

§§§

77.029 Sexualkundeunterrricht
 
  1. BVerfG,     B, 21.12.77,     – 1_BvL_1/75 –

  2. BVerfGE_47,46 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.6 Abs.2, GG_Art.7 Abs.1, GG_Art.20 Abs.3

 

1) Die individuelle Sexualerziehung gehört in erster Linie zu dem natürlichen Erziehungsrecht der Eltern im Sinne des Art.6 Abs.2 GG; der Staat ist jedoch aufgrund seines Erziehungsauftrages und Bildungsauftrages (Art.7 Abs.1 GG) berechtigt, Sexualerziehung in der Schule durchzuführen.

 

2) Die Sexualerziehung in der Schule muß für die verschiedenen Wertvorstellungen auf diesem Gebiet offen sein und allgemein Rücksicht nehmen auf das natürliche Erziehungsrecht der Eltern und auf deren religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, soweit diese für das Gebiet der Sexualität von Bedeutung sind. Die Schule muß insbes. jeden Versuch einer Indoktrinierung der Jugendlichen unterlassen.

 

3) Bei Wahrung dieser Grundsätze ist Sexualerziehung als fächerübergreifender Unterricht nicht von der Zustimmung der Eltern abhängig.

 

4) Die Eltern haben jedoch einen Anspruch auf rechtzeitige Information über den Inhalt und den methodisch-didaktischen Weg der Sexualerziehung in der Schule.

 

5) Der Vorbehalt des Gesetzes verpflichtet den Gesetzgeber, die Entscheidung über die Einführung einer Sexualerziehung in den Schulen selbst zu treffen. Das gilt nicht, soweit lediglich Kenntnisse über biologische und andere Fakten vermittelt werden.

* * *

Beschuss

Entscheidungsformel:

1) § 28 des Schulgesetzes (SchulG) der Freien und Hansestadt Hamburg vom 9.Dezember 1966 (Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt I S.257) und § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2 des Schulverfassungsgesetzes (SchVG) vom 12.April 1973 (Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt I S. 91) waren insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig, als diese Vorschriften die Einführung einer Sexualerziehung nach den Richtlinien für die Sexualerziehung in den Schulen der Freien und Hansestadt Hamburg vom Jahre 1970 der Schulbehörde überließen.

2) Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 1) wird zurückgewiesen; die übrigen Verfassungsbeschwerden werden verworfen.

§§§

77.030 Ehereformgesetz
 
  1. BVerfG,     B, 21.12.77,     – 1_BvR_820/76 –

  2. BVerfGE_47,85 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.6 Abs.1, GG_Art.82 Abs.2 S.1; EheRG_Art.12 Nr.13 Buchst.a Nr.3,

 

Zur Verfassungsmäßigkeit der Regelung über das In-Kraft-Treten und der Übergangsvorschriften des Ersten Ehereformgesetzes, soweit durch diese die Anwendung neuen Unterhaltsrechts und der Versorgungsausgleich bei vor dem 1.Juli 1977 geschiedenen Ehen ausgeschlossen wi

§§§

[ 1976 ] RS-BVerfG - 1977 [ 1978 ]     [  ›  ]

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