1973  
  1972                   1974 [ ‹ ]
73.001 Coburg
 
  1. BVerfG,     U, 30.01.73,     – 2_BvH_1/72 –

  2. BVerfGE_34,216 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.25, GG_Art.93 Abs.1 Nr.4; BVerfGG_§_13 Nr.8;

T-73-01

1) Voraussetzung für die Anwendung des Grundsatzes vom Wegfall der Geschäftsgrundlage auf eine staatsvertragliche Vereinbarung ist, daß die Vertragsparteien übereinstimmend zur Grundlage ihrer Abrede das Fortbestehen eines bestimmten Tatbestandes gemacht haben und davon ausgegangen sind, die gemeinsam ins Auge gefaßte künftige Änderung dieses Tatbestandes als Grund für die Beendigung der Vereinbarung anzusehen.

Abs.53

2) Eine staatsvertraglich unbeschränkte und vorbehaltlos gegebene Garantie steht unter dem Vorbehalt der clausula rebus sic stantibus.

Abs.53

3) Die clausula rebus sic stantibus ist ungeschriebener Bestandteil des Bundesverfassungsrechts. Sie für das deutsche Verfassungsrecht auszulegen, ist Sache des Bundesverfassungsgerichts.

Abs.54

4) Nur wenn sich die Verhältnisse, die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestanden haben, mittlerweile grundlegend geändert haben und angesichts dieser Veränderung das Festhalten am Vertrag oder an einer Einzelvereinbarung innerhalb des Vertrages für den Verpflichteten unzumutbar geworden ist, ist Raum für die Anwendung der clausula. Sie entbindet nicht ohne weiteres von der unzumutbar gewordenen vertraglichen Verpflichtung, sondern geht zunächst auf Anpassung des Vertrages an die veränderten Verhältnisse, uU also auf Milderung einer vertraglich übernommenen Verpflichtung und, wenn die inhaltliche Modifizierung der vertraglich übernommenen Leistung nicht möglich erscheint, auf einen Ausgleich in Geld.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

1) Der Antrag festzustellen, der Freistaat Bayern habe durch die Einbeziehung der Stadt Neustadt bei Coburg in das Gebiet des Landkreises Coburg (§ 18 Nr.3 Buchst.b der Verordnung zur Neugliederung Bayerns in Landkreise und kreisfreie Städte vom 27.Dezember 1971 - GVBl.S.495 -) gegen § 2 des Staatsvertrages zwischen den Freistaaten Bayern und Coburg vom 14.Februar 1920 (GVBl.S.335) verstoßen, wird zurückgewiesen.

2) Der Freistaat Bayern hat an die Stadt Neustadt bei Coburg sechs Millionen Deutsche Mark, davon drei Millionen Deutsche Mark aus dem Haushalt 1973, zwei Millionen Deutsche Mark aus dem Haushalt 1974 und eine Million Deutsche Mark aus dem Haushalt 1975 zu zahlen.

* * *

T-73-01Clausula rebus sich stantibus

53

"b) Die clausula rebus sic stantibus ist ungeschriebener Bestandteil des Bundesverfassungsrechts. Das innere Verhältnis des Bundesstaats, dh sowohl die staatsrechtlichen Beziehungen zwischen Bund und Ländern als auch die staatsrechtlichen Beziehungen zwischen den Gliedern des Bundesstaats, den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, werden nach dem Recht des Grundgesetzes ausschließlich durch das geltende Bundesverfassungsrecht bestimmt. Insoweit ist kein Raum für die Anwendung von Völkerrecht. Für das Verhältnis Bund/Länder im Bundesstaat hat dies das Bundesverfassungsgericht schon in seinem Urteil vom 23.Oktober 1951 ( BVerfGE_1,14 [51

54

c) Diese Auslegung ergibt: Der ungeschriebene Verfassungssatz von der clausula rebus sic stantibus schränkt die Regel des Staatsvertragsrechts "pacta sunt servanda" ein. Nur wenn sich die Verhältnisse, die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestanden haben, mittlerweile grundlegend geändert haben und angesichts dieser Veränderung das Festhalten am Vertrag oder an einer Einzelvereinbarung innerhalb des Vertrags für den Verpflichteten unzumutbar geworden ist, ist Raum für seine Anwendung. Dabei bedarf es für die Bewertung "unzumutbar" auch der Berücksichtigung der Interessen des aus dem Vertrag oder der einzelnen Vertragsvereinbarung Berechtigten; sie können infolge der grundlegenden Veränderung der Verhältnisse an Gewicht verloren haben, in anderen Fällen aber auch an Bedeutung gewonnen haben. Die clausula entbindet nicht ohne weiteres von der unzumutbar gewordenen vertraglichen Verpflichtung oder gar von der Bindung an den Vertrag im Ganzen. Sie geht zunächst auf Anpassung des Vertrags an die veränderten Verhältnisse, uU also auf Milderung einer vertraglich übernommenen Verpflichtung und, wenn die inhaltliche Modifizierung einer vertraglich übernommenen Leistung nicht möglich erscheint, auf einen Ausgleich in Geld, soweit dies zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der im Vertrag vereinbarten Leistungen und Gegenleistungen nötig ist."

 

Auszug aus BVerfG U, 30.01.73, - 2_BvH_1/72 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.53 ff

§§§

73.002 Tonbandaufnahme
 
  1. BVerfG,     B, 31.01.73,     – 2_BvR_454/71 –

  2. BVerfGE_34,238 = www.dfr/BVerfGE = E-StA_91,32 -35

  3. GG_Art.2 Abs.1

 

1) Das Grundrecht aus Artikel 2 Abs.1 GG schützt auch Rechtspositionen, die für die Entfaltung der Persönlichkeit notwendig sind. Dazu gehört in bestimmten Grenzen, ebenso wie das Recht am eigenen Bild, das Recht am gesprochenen Wort. Deshalb darf grundsätzlich jedermann selbst und allein bestimmen, wer sein Wort aufnehmen soll sowie ob und von wem seine auf einen Tonträger aufgenommenen Stimme wieder abgespielt werden darf.

 

2) Damit ist allerdings noch nicht ausgeschlossen, daß in Fällen, wo überwiegende Interessen der Allgemeinheit dies zwingend gebieten, auch das schutzwürdige Interesse des Beschuldigten an der Nichtverwertung einer heimlichen Tonbandaufnahme im Strafverfahren zurücktreten muß.

§§§

73.003 Soraya
 
  1. BVerfG,     B, 14.02.73,     – 1_BvR_112/65 –

  2. BVerfGE_34,269 = www.dfr/BVerfGE = E-StA_91,32 -35

  3. BGB_§_249, BGB_§_251 Abs.1, BGB_§_823 Abs.1, BGB_§_847; GG_Art.20 Abs.3

 

Die Rechtsprechung der Zivilgerichte, wonach bei schweren Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Ersatz in Geld auch für immaterielle Schäden beansprucht werden kann, ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

73.004 Ensslin-Kassiber
 
  1. BVerfG,     B, 14.02.73,     – 2_BvR_667/72 –

  2. BVerfGE_34,293 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.12 Abs.1

 

Entzieht das Gericht einem Rechtsanwalt die Verteidigungsbefugnis, weil er im Verdacht der Teilnahme an der dem Beschuldigten zur Last gelegten Straftat steht, so liegt darin ein Eingriff in die Freiheit der anwaltlichen Berufsausübung (Art.12 Abs.1 GG), der zur Zeit weder durch Gesetz noch durch Gewohnheitsrecht gedeckt ist.

§§§

73.005 Selbstvertretung
 
  1. BVerfG,     B, 28.02.73,     – 2_BvR_487/71 –

  2. BVerfGE_34,325

  3. GG_Art.3 Abs.1; BEG_§_224 Abs.2 S.1; BRAO_§_12 Abs.2 +3; BRAO_§_32 Abs.1; ZPO_§_519b Abs.2 Hs.2

 

LB 1) Die angefochtenen Beschlüsse wandten Vorschriften der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) und des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) willkürlich zum Nachteil des Beschwerdeführers an und verstießen damit gegen dessen Grundrecht aus Art.3 Abs.1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.

 

LB 2) Zur abweichenden Meinung des Richters Wand, siehe BVerfGE_34,332 ff.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Der Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 11.Mai 1971 - IX ZB 133/71 - 11 U (Entsch) 73/70 - verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 3 Abs.1 GG. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen.

Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Nordrhein-Westfalen haben dem Beschwerdeführer die notwendigen je zur Hälfte zu erstatten.

§§§

73.006 Untersuchungsgefangene
 
  1. BVerfG,     B, 11.04.73,     – 2_BvR_701/72 –

  2. BVerfGE_35,35 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.5 Abs.1 S.1; StPO_§_119 Abs.3

 

Der die Briefkontrolle bei Untersuchungsgefangenen ausübende Richter muß berücksichtigen, daß dem freien brieflichen Kontakt mit dem Ehegatten im Hinblick auf das verfassungskräftige Gebot der Achtung der Intimsphäre besondere Bedeutung zukommt. Mit der besonderen Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit im Bereich der ehelichen Privatsphäre ist es in der Regel nicht vereinbar, den Brief eines Untersuchungsgefangenen an seine Ehefrau wegen einer darin enthaltenen unsachlichen Kritik an dem gegen ihn anhängigen Strafverfahren und den in diesem Verfahren tätigen Richtern anzuhalten.

§§§

73.007 Versäumung-Berufungsfrist
 
  1. BVerfG,     B, 08.05.73,     – 2_BvL_5/72 –

  2. BVerfGE_35,41

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.20 Abs.3; ZPO_§_232 Abs.2; ZPO_§_516

 

LB 1) § 232 Absatz 2 der Zivilprozeßordnung ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

 

LB 2) Zur abweichenden Meinung des Richters Dr v Schlabrendorff, siehe BVerfGE_35,51 ff

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 232 Absatz 2 der Zivilprozeßordnung ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

73.008 VWGO-Ausführungsgesetz
 
  1. BVerfG,     B, 09.05.73,     – 2_BvL_43/71 –

  2. BVerfGE_35,65 = www.dfr/BVerfGE

  3. VwGO_§_68 Abs.1 S.2; (By) AGVwGO_§_10a Abs.1 Nr.1 +2; GG_Art.19 Abs.4 GG_Art.74 Nr.1

 

Zur Vereinbarkeit von Art.10a Abs.1 Nr.1 und 2 des Bayerischen Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung mit § 68 Abs.1 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung.

§§§

73.009 Befangenheit Dr Rottmann I
 
  1. BVerfG,     B, 29.05.73,     – 2_BvQ_1/73 –

  2. BVerfGE_35,171

  3. BVerfGG_§_18 Abs.3 Nr.2, BVerfGG_§_19

 

LB 1) Bei der Anwort auf die Frage, ob ein Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlaß hat, Zweifel in die Unparteilichkeit eines Richters zu setzen, fallen besonders drei Erwägungen ins Gewicht:

a) Die Ablehnung eines Richters hat infolge der Verfassung des Bundesverfassungsgerichts eine - bei anderen Gerichten nicht bekannte - verfahrensmäßige Auswirkung: Der Richter enfällt für dieses Verfahren ersatzulos, statt acht Richter entscheiden sieben Richter. Das führt zu einer Veränderung der Mehrheitsverhältnisse, die ihrerseits Bedeutung für den Ausgang des Verfahrens haben kann.

b) Einem Gericht vom Range des Bundesverfassungsgerichts und den Richtern gegenüber, die in einem besonderen Berufungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit - regelmäßig einmütig - vom Bundestag und Bundesrat gewählt werde, besteht Anlaß, grundsätzlich davon auszugehen, daß sie jene innere Unabhängigkeit und Distanz zu den rechtsuchenden Parteien besitzen, die sie befähigen, in Unvoreingenommenheit und Objektivität auch in politisch heiß umstrittenen Verfahren zu entscheiden.

c) Von Parteien im "Staatsprozeß", insbesondere Verfassungsorgane der Länder und des Bundes, mit Einblick in die Struktur des Bundesverfassungsgerichts kann erwartet werden, daß sie Vertrauen in die Richter des Gerichts setzen und die Besorgnis ihrer Befangenheit nicht leichthin hegen.

 

LB 2) Würdigt man das Verhalten des abgelehnten Richters unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte, dann kann nicht gesagt werden, die Bayerische Staatsregierung könne bei verständiger Würdigung aller Umstände aus diesem Verhalten eine Besorgnis der Befangenheit herleiten.

 

LB 3) Zur abweichenden Meinung des Richters Wand, siehe BVerfGE_35,175 ff.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Der Ablehnungsantrag wird als unbegründet zurückgewiesen.

§§§

73.010 Hochschulurteil
 
  1. BVerfG,     U, 29.05.73,     – 1_BvR_424/71 –

  2. BVerfGE_35,79 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.5 Abs.3 S.1

 

1) Art.5 Abs.3 Satz 1 GG gewährleistet dem Wissenschaftler einen gegen Eingriffe des Staates geschützten Freiraum, der vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen bei dem Auffinden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe umfaßt.

 

2) Art.5 Abs.3 GG ist zugleich eine das Verhältnis der Wissenschaft zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm. Danach hat der Staat im Bereich des mit öffentlichen Mitteln eingerichteten und unterhaltenen Wissenschaftsbetriebs durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür zu sorgen, daß das Grundrecht der freien wissenschaftlichen Betätigung soweit unangetastet bleibt, wie das unter Berücksichtigung der anderen legitimen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen und der Grundrechte der verschiedenen Beteiligten möglich ist.

 

3) Dem einzelnen Grundrechtsträger erwächst aus der Wertentscheidung des Art.5 Abs.3 GG ein Recht auf solche staatlichen Maßnahmen auch organisatorischer Art, die zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraums unerläßlich sind, weil sie ihm freie wissenschaftliche Betätigung überhaupt erst ermöglichen.

 

4) Die Garantie der Wissenschaftsfreiheit hat weder das überlieferte Strukturmodell der deutschen Universität zur Grundlage, noch schreibt sie überhaupt eine bestimmte Organisationsform des Wissenschaftsbetriebs an den Hochschulen vor.

 

5) Das organisatorische System der "Gruppenuniversität" ist als solches mit Art.5 Abs.3 GG vereinbar.

 

6) Wenn der Staat im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit die Organisation der Wissenschaftsverwaltung unter Berücksichtigung der verschiedenartigen Interessen und Funktionen der einzelnen Gruppen von Hochschulmitgliedern gestaltet, so muß er nach Art.5 Abs.3 GG in Verbindung mit Art.3 Abs.1 GG der herausgehobenen Stellung der Hochschullehrer Rechnung tragen.

 

7) Organisationsnormen müssen den Hochschulangehörigen, insbesondere den Hochschullehrern, einen möglichst breiten Raum für freie wissenschaftliche Betätigung sichern, andererseits müssen sie die Funktionsfähigkeit der wissenschaftlichen Hochschule und ihrer Organe gewährleisten.

 

8) Soweit gruppenmäßig zusammengesetzte Kollegialorgane über Angelegenheiten zu befinden haben, die Forschung und Lehre unmittelbar betreffen, müssen folgende Grundsätze beachtet werden:

a) Die Gruppe der Hochschullehrer muß homogen, dh nach Unterscheidungsmerkmalen zusammengesetzt sein, die sie gegen andere Gruppen eindeutig abgrenzen.

b) Bei Entscheidungen, welche unmittelbar die Lehre betreffen, muß die Gruppe der Hochschullehrer der ihrer besonderen Stellung entsprechende maßgebende Einfluß verbleiben. Diesem Erfordernis wird genügt, wenn diese Gruppe über die Hälfte der Stimmen verfügt.

c) Bei Entscheidungen, die unmittelbar Fragen der Forschung oder die Berufung der Hochschullehrer betreffen, muß der Gruppe der Hochschullehrer ein weitergehender, ausschlaggebender Einfluß vorbehalten bleiben.

d) Bei allen Entscheidungen über Fragen von Forschung und Lehre ist eine undifferenzierte Beteiligung der Gruppe der nichtwissenschaftlichen Bediensteten auszuschließen.

 

LB 9) Zur abweichenden Meinung der Richter Dr Simon und Rupp-v Brünneck, siehe BVerfGE_35,148 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs.214 ff.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

I. Das Vorschaltgesetz für ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz vom 26.Oktober 1971 (Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsbl. S.317) ist mit Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit

1. für die Wahlen zum Senat, Fakultäts- und Fachbereichsrat sowie zu den gemäß § 1 Absatz 2 Nummern 4 und 5 gleichgestellten Organen der Gruppe der Hochschullehrer die in § 2 Absatz 2 Nummern 6 bis 11 aufgezählten Hochschulangehörigen unterschiedslos zugeordnet werden,

2. im Fakultäts- und im Fachbereichsrat (sowie in den gleichgestellten Organen)

a) bei Abstimmungen, die unmittelbar Fragen der Lehre betreffen, für den Fall der Stimmengleichheit zwischen der Gruppe der Hochschullehrer einerseits und den Gruppen der wissenschaftlichen Mitarbeiter und der Studenten andererseits eine Regelung fehlt, die eine Entscheidung ermöglicht,

b) bei Entscheidungen, die unmittelbar Fragen der Forschung oder die Berufung der Hochschullehrer betreffen, den Vertretern der Hochschullehrer nur die Hälfte der Stimmen eingeräumt wird,

3. in den Berufungskommissionen die Vertreter der Hochschullehrer nur über die Hälfte der Stimmen verfügen.

II. Das Vorschaltgesetz für ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz vom 26. Oktober 1971 (Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsbl. S. 317) verletzt in dem unter I. bezeichneten Umfang die Grundrechte der Beschwerdeführer aus Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes.

III. Im übrigen werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.

IV. Das Land Niedersachsen hat den Beschwerdeführern die Hälfte der notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

73.011 Haftgrund-Wiederholungsgefahr
 
  1. BVerfG,     B, 30.05.73,     – 2_BvL_4/73 –

  2. BVerfGE_35,185 = www.dfr/BVerfGE

  3. StPO_§_112a Abs.1 Nr.2; StGB_§_243

 

Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

* * *

Beschuss

Entscheidungsformel:

§ 112 a Absatz 1 Nummer 2 der Strafprozeßordnung ist, soweit sich diese Bestimmung auf Straftaten nach § 243 des Strafgesetzbuches bezieht, mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

73.012 Lebach I
 
  1. BVerfG,     U, 05.06.73,     – 1_BvR_536/72 –

  2. BVerfGE_35,202 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.5 Abs.1; KUG_§_22, KUG_§_23

 

1) Eine Rundfunk- oder Fernsehanstalt kann sich grundsätzlich für jede Sendung zunächst auf den Schutz des Art.5 Abs.1 GG berufen. Die Rundfunkfreiheit deckt sowohl die Auswahl des dargebotenen Stoffes als auch die Entscheidung über die Art und Weise der Darstellung einschließlich der gewählten Form der Sendung. Erst wenn die Rundfunkfreiheit mit anderen Rechtsgütern in Konflikt gerät, kann es auf das mit der konkreten Sendung verfolgte Interesse, die Art und Weise der Gestaltung und die erzielte oder voraussehbare Wirkung ankommen.

 

2) Die Vorschriften des §§ 22, 23 KunstUrhG bieten ausreichenden Raum für eine Interessenabwägung, die der Ausstrahlungswirkung der Rundfunkfreiheit gemäß Art.5 Abs.1 Satz 2 GG einerseits, des Persönlichkeitsschutzes gemäß Art.2 Abs.1 GG in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG andererseits Rechnung trägt.

Hierbei kann keiner der beiden Verfassungswerte einen grundsätzlichen Vorrang beanspruchen. Im Einzelfall ist die Intensität des Eingriffes in den Persönlichkeitsbereich gegen das Informationsinteresse der öffentlichkeit abzuwägen.

 

3) Für die aktuelle Berichterstattung über schwere Straftaten verdient das Informationsinteresse der Öffentlichkeit im allgemeinen den Vorrang vor dem Persönlichkeitsschutz des Straftäters. Jedoch ist neben der Rücksicht auf den unantastbaren innersten Lebensbereich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten; danach ist eine Namensnennung, Abbildung oder sonstige Identifikation des Täters nicht immer zulässig. Der verfassungsrechtliche Schutz der Persönlichkeit läßt es jedoch nicht zu, daß das Fernsehen sich über die aktuelle Berichterstattung hinaus etwa in Form eines Dokumentarspiels zeitlich unbeschränkt mit der Person eines Straftäters und seiner Privatsphäre befaßt. Eine spätere Berichterstattung ist jedenfalls unzulässig, wenn sie geeignet ist, gegenüber der aktuellen Information eine erheblich neue oder zusätzliche Beeinträchtigung des Täters zu bewirken, insbesondere seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft (Resozialisierung) zu gefährden. Eine Gefährdung der Resozialisierung ist regelmäßig anzunehmen, wenn eine den Täter identifizierende Sendung über eine schwere Straftat nach seiner Entlassung oder in zeitlicher Nähe zu der bevorstehenden Entlassung ausgestrahlt wird.

§§§

73.013 Befangenheit Dr Rottmann II
 
  1. BVerfG,     B, 16.06.73,     – 2_BvQ_1/73 –

  2. BVerfGE_35,246

  3. BVerfGG_§_18 Abs.2

 

LB 1) Der zweite Befangenheitsantrag gegen den Richter Dr Rottmann wurde für begründet erklärt.

 

LB 2) Zur abweichenden Meinung der Richter Seuffert, Hirsch und Dr Rupp, siehe BVerfGE_35,255 ff.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Die Ablehnung des Richters Dr Rottmann wird für begründet erklärt.

§§§

73.014 Behördliches Beschwerderecht
 
  1. BVerfG,     B, 19.06.73,     – 1_BvL_39/69 –

  2. BVerfGE_35,263 = www.dfr/BVerfGE

  3. VwGO_§_80 Abs.6 S.2, VwGO_§_146 Abs.1

 

1) Der Ausschluß der Beschwerde einer Behörde durch § 80 Abs.6 Satz 2 VwGO gegen eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts, mit der die aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage wiederhergestellt worden ist, verstößt auch dann nicht gegen das Grundgesetz, wenn der Verwaltungsakt der anordnenden Behörde zugunsten einer anderen Behörde derselben Körperschaft ergangen ist.

 

2) Wenn ein und derselbe Verwaltungsakt den einen Bürger begünstigt und einen anderen gleichzeitig belastet, ist § 80 Abs.6 Satz 2 VwGO verfassungskonform dahin auszulegen, daß beiden die Beschwerde nach § 146 Abs.1 VwGO zusteht.

* * *

Beschuss

Entscheidungsformel:

§ 80 Absatz 6 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung vom 21.Januar 1960 (Bundesgesetzbl.I S.17) ist nach Maßgabe der Gründe mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

73.015 Armenrecht-jur Personen
 
  1. BVerfG,     B, 03.07.73,     – 1_BvR_153/69 –

  2. BVerfGE_35,348 = www.dfr/BVerfGE

  3. ZPO_§_114 Abs.4; GG_Art.19 Abs.3, GG_Art.14 Abs.1 S.1, GG_Art.14 Abs.3 S.4,

 

1) Die Regelung des Armenrechts für inländische juristische Personen in § 114 Abs.4 ZPO verstößt nicht gegen das Grundgesetz.

 

2) Bei der Anwendung dieser Bestimmung muß der Richter aber im Bereich der Grundrechte, die nach Art.19 Abs.3 GG auch für juristische Personen gelten, die Einwirkung verfassungsrechtlicher Verfahrensvorschriften (Art.14 Abs.3 Satz 4 GG) beachten.

 

3) Art.14 Abs.3 Satz 4 GG ist eine Konkretisierung der Eigentumsgarantie. Die Nichtbeachtung dieser Verfassungsnorm bei der Entscheidung über das Armenrecht kann daher das Grundrecht aus Art.14 Abs.1 Satz 1 GG verletzen.

§§§

73.016 Kreuz im Gerichtssaal
 
  1. BVerfG,     B, 17.07.73,     – 1_BvR_308/69 –

  2. BVerfGE_35,366 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.4 Abs.1; BVerfGG_§_90 Abs.1

 

Der Zwang, entgegen der eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung in einem mit einem Kreuz ausgestatteten Gerichtssaal verhandeln zu müssen, kann das Grundrecht eines Prozeßbeteiligten aus Art.4 Abs.1 GG verletzen.

§§§

73.017 Ausländerausweisung
 
  1. BVerfG,     B, 18.07.73,     – 1_BvR_23/73 –

  2. BVerfGE_35,382 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.19 Abs.4, GG_Art.6 Abs.1, GG_Art.3 Abs.2; AuslG_§_10 Abs.1 Nr.11

 

1) § 10 Abs.1 Nr.11 AuslG verletzt nicht das Rechtsstaatsprinzip.

 

2) Der in Art.19 Abs.4 GG verbürgte Rechtsschutz gilt in vollem Umfang auch für Ausländer.

 

3) Die Anforderungen an das für die sofortige Vollziehung von Ausweisungsverfügungen erforderliche öffentliche Interesse dürfen im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes nicht weniger streng sein als die Anforderungen an die Gründe für die Ausweisung selbst; vielmehr muß ein besonderes öffentliches Interesse gerade an der sofortigen Vollziehung bestehen.

 

4) Bei der gebotenen Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung und dem privaten Interesse des Ausländers an weiterem Aufenthalt im Inland ist auch zur berücksichtigen, daß die sofortige Vollziehung einer Ausweisungsverfügung den Ausländer in seiner Rechtsverfolgung im Hauptsacheverfahren behindern kann.

 

5) Werden durch die sofortige Vollziehung von Ausweisungen vor ihrer gerichtlichen Überprüfung vollendete Tatsachen geschaffen, so besteht für die Widerspruchsbehörden und die VG die Pflicht, die Hauptsacheverfahren mit möglichster Beschleunigung zu betreiben. Andernfalls kann auch eine zunächst gerechtfertigte Anordnung der sofortigen Vollziehung verfassungswidrig werden.

 

6) Art.6 Abs.1 GG in Verbindung mit Art.3 Abs.2 GG gebietet, dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung auch die eigenen Interessen des deutschen Ehepartners gegenüberzustellen.

§§§

73.018 Grundlagenvertrag
 
  1. BVerfG,     U, 31.07.73,     – 2_BvF_1/73 –

  2. BVerfGE_36,1 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.23, GG_Art.16, GG_Art.59 Abs.2, GG_Art.116 Abs.1

 

1) Art.59 Abs.2 GG verlangt für alle Verträge, die die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, die parlamentarische Kontrolle in der Form des Zustimmungsgesetzes, gleichgültig, ob der als Vertragspartner beteiligte Staat nach dem Recht des Grundgesetzes Ausland ist oder nicht.

 

2) Der Grundsatz des judicial self-restraint zielt darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.

 

3) Mit der Entscheidung des Grundgesetzes für eine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit ist es unvereinbar, daß die Exekutive ein beim Bundesverfassungsgericht anhängiges Verfahren überspielt. Ergibt sich, wie in diesem Fall, ausnahmsweise einmal eine Lage, in der das Inkrafttreten eines Vertrags vor Abschluß des verfassungsgerichtlichen Verfahrens nach Auffassung der Exekutive unabweisbar geboten erscheint, so haben die dafür verantwortlichen Verfassungsorgane für die sich daraus möglicherweise ergebenden Folgen einzustehen.

 

4) Aus dem Wiedervereinigungsgebot folgt: Kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland darf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben, alle Verfassungsorgane sind verpflichtet, in i hrer Politik auf die Erreichung dieses Zieles hinzuwirken - das schließt die Forderung ein, den Wiedervereinigungsanspruch im Inneren wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten - und alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde.

 

5) Die Verfassung verbietet, daß die Bundesrepublik Deutschland auf einen Rechtstitel aus dem Grundgesetz verzichtet, mittels dessen sie in Richtung auf Verwirklichung der Wiedervereinigung und der Selbstbestimmung wirken kann, oder einen mit dem Grundgesetz unvereinbaren Rechtstitel schafft oder sich an der Begründung eines solchen Rechtstitels beteiligt, der ihr bei ihrem Streben nach diesem Ziel entgegengehalten werden kann.

 

6) Der Vertrag hat einen Doppelcharakter; er ist seiner Art nach ein völkerrechtlicher Vertrag, seinem spezifischen Inhalt nach ein Vertrag, der vor allem inter-se-Beziehungen regelt.

 

7) Art.23 GG verbietet, daß sich die Bundesregierung vertraglich in eine Abhängigkeit begibt, nach der sie rechtlich nicht mehr allein, sondern nur noch im Einverständnis mit dem Vertragspartner die Aufnahme anderer Teile Deutschlands verwirklichen kann.

 

8) Art.16 GG geht davon aus, daß die "deutsche Staatsangehörigkeit", die auch in Art.116 Abs.1 GG in Bezug genommen ist, zugleich die Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland ist. Deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Grundgesetzes ist also nicht nur der Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

 

9) Ein Deutscher hat, wann immer er in den Schutzbereich der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gelangt, einen Anspruch auf den vollen Schutz der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland und alle Garantien der Grundrechte des Grundgesetzes.

§§§

73.019 Versagung rechtlichen Gehörs
 
  1. BVerfG,     B, 10.10.73,     – 2_BvR_574/71 –

  2. BVerfGE_36,92 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.103 Abs.1; ZPO_§_519 Abs.3

 

1) Art.103 Abs.1 GG hindert den Gesetzgeber nicht, durch Präklusionsbestimmungen auf eine beschleunigte Abwicklung des Rechtsmittelverfahrens hinzuwirken, soweit die betroffene Partei in 1.Instanz ausreichend Gelegenheit hatte, sich in allen für sie wichtigen Punkten zur Sache zu äußern, dies aber aus von ihr zu vertretenden Gründen versäumt hat.

 

2) Im Regelfall reicht eine globale Bezugnahme auf das Vorbringen in 1.Instanz unter dem Gesichtspunkt des Art.103 Abs.1 GG nicht aus, um das Berufungsgericht zu verpflichten, die gesamten erstinstanzlichen Ausführungen des Berufungsklägers auf ihre Relevanz für das Berufungsverfahren zu überprüfen. Das Gericht kann grundsätzlich ohne Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör davon ausgehen, daß der Berufungskläger in seiner den Anforderungen des § 519 Abs.3 ZPO genügenden Berufungsbegründung nicht nur darlegt, in welchen Punkten er das erstinstanzliche Urteil angreift, sondern auch das Vorbringen und die Beweisanträge ausdrücklich kennzeichnet, auf die er weiterhin Wert legt.

 

3) Ein Ausnahmefall liegt vor, wenn das Erstgericht ein unter Beweis gestelles Vorbringen als unerheblich behandelt, der Berufungskläger mit seiner Berufung gerade diese Rechtsauffassung angreift und das Berufungsgericht den betreffenden Sachvortrag daraufhin ebenfalls für erheblich ansieht. Unter diesen Voraussetzungen ist das Berufungsgericht unter dem Gesichtspunkt des Art.103 Abs.1 GG gehalten, sich zu vergewissern, ob das Beweismittel nicht bereits in 1.Instanz benannt worden ist.

§§§

73.020 Wahlrecht Auslandsdeutscher
 
  1. BVerfG,     B, 23.10.73,     – 2_BvC_3/73 –

  2. BVerfGE_36,139 = www.dfr/BVerfGE

  3. BWahlG_§_12 Abs.1 Nr.1; GG_Art.38, GG_Art.3

T-73-02

LB 1) § 12 Abs.2 BWahlG verstößt nicht gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl iSd Art.38 Abs.1 GG.

Abs.11

LB 2) Begrenzungen der Allgemeinheit der Wahl sind zulässig, sofern für sie ein zwingende Grund besteht (BVerfGE_28,220 <225>).

Abs.16

LB 3) Der von § 12 Abs.2 BWahlG umschriebene Personenkreis unterscheidet sich durch die in dem Dienstverhältnis verwurzelte, besonders geartete Beziehung zur Bundesrepublik Deutschland so sehr von denjenigen, die aus anderen Gründen ihren Wohnsitz im Wahlgebiet aufgegeben haben, daß der Bundesgesetzgeber von Verfassungs wegen nicht gehalten war, die herkömmliche Sonderregelung für diesen Personenkreis auch auf Personen auszudehnen, die sich -- wie die Beschwerdeführer -- aus eigenem Entschluß wegen kommerzieller oder sonstiger Tätigkeit dauernd im Ausland aufhalten.

* * *

T-73-02Allgemeinheit der Wahl

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"Die Beschwerde ist unbegründet.

11

1. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art.38 Abs.1 GG), der durch die von den Beschwerdeführern beanstandete Norm berührt sein könnte, untersagt den unberechtigten Ausschluß von Staatsbürgern von der Teilnahme an der Wahl überhaupt. Er verbietet dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen (BVerfGE_15,165 <166 f>). Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl ist -- ebenso wie der Grundsatz der Gleichheit der Wahl -- ein Anwendungsfall des Art.3 GG. Er unterscheidet sich von dem allgemeinen Gleichheitssatz durch seinen formalen Charakter und fordert, daß jeder sein staatsbürgerliches Recht zum Wählen in formal möglichst gleicher Weise ausüben kann. Diese Formalisierung im Bereich des Wahlrechts ist allerdings nicht von einem Verbot jeglicher Differenzierung verbunden. Begrenzungen der Allgemeinheit der Wahl sind zulässig, sofern für sie ein zwingende Grund besteht (BVerfGE_28,220 <225>)

12

2. So ist es etwa von jeher aus zwingenden Gründen als mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verträglich angesehen worden, daß die Ausübung des Wahlrechts an die Erreichung eines Mindestalters geknüpft wird. Ebenso galt es immer als mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl vereinbar, daß vom Wahlrecht ausgeschlossen blieb, wer entmündigt war, wer unter vorläufiger Vormundschaft oder wegen geistigen Gebrechens unter Pflegschaft stand oder wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besaß. Zu diesen traditionellen Begrenzungen der Allgemeinheit der Wahl gehört ferner das Erfordernis der Seßhaftigkeit im Wahlgebiet. Es ist demgemäß verfassungsmäßig, wenn das aktive Wahlrecht in der Bundesrepublik Deutschland auf die Deutschen beschränkt wird, die im Geltungsbereich des Grundgesetzes seßhaft sind (vgl BVerfGE_5, 2 <6>). Dies war -- anders als die Beschwerdeführer meinen -- auch unter der Herrschaft des Art.22 WRV für das Wahlrecht zum Reichstag der Fall. Das Reichswahlgesetz vom 27.April 1920 idF vom 6.März 1924 (RGBl.I S.159) erkannte zwar das Wahlrecht zum Reichstag allen Reichsangehörigen, die am Wahltag 20 Jahre alt waren, zu (§ 1 Abs.1), knüpfte jedoch dessen Ausübung an die Eintragung in eine Wählerliste oder Wählerkartei (§ 3), die ebenso wie die Erteilung eines Wahlscheines vom Wohnsitz in einem Wahlbezirk abhängig war (§§ 11, 12). Dies hatte zur Folge, daß zwar nicht das passive (§ 4), wohl aber das aktive Wahlrecht -- abgesehen von den Ausnahmen der §§ 11 Abs.2, 12 Abs.2 Nr.3 -- den Wohnsitz im Wahlgebiet voraussetzte. Entsprechendes galt für die Wahlgesetze der Länder (BVerfGE_5,2 <5 f>). In Anbetracht dessen verbietet sich die Annahme, Art.38 Abs.1 Satz 1 GG habe -- im Gegensatz zu Art.22 Satz 1 WRV -- eine Begrenzung des aktiven Wahlrechts durch das Erfordernis der Seßhaftigkeit im Wahlgebiet ausschließen wollen. Gegen die in § 12 Abs.1 Nr.2 BWahlG getroffene Regelung bestehen daher keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl BVerfGE_5,2 <6>).

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3. Der Grundsatz, daß nur die im Wahlgebiet ansässigen Bürger ihre Stimme abgeben dürfen, war schon im Reichswahlgesetz nicht strikt durchgeführt. § 11 Abs.2 sah vielmehr vor, daß "wahlberechtigte Staatsbeamte, Arbeiter in Staatsbetrieben, die ihren Wohnsitz im Ausland nahe der Reichsgrenze" hatten, "und wahlberechtigte Angehörige ihres Hausstandes" auf Antrag in die Wählerliste oder Wählerkartei einer benachbarten deutschen Gemeinde einzutragen waren. Diese Bestimmung wurde damit begründet, daß die betroffenen Personen durch ihre dienstliche Tätigkeit gezwungen oder durch ihre Dienststelle veranlaßt waren, im Ausland zu wohnen (Kaisenberg, Die Wahl zum Reichstag, 4.Aufl, S.44). An diese hergebrachte Sonderregelung knüpft § 12 Abs.2 BWahlG an, der bestimmt.

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Wahlberechtigt sind bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch Beamte, Soldaten, Angestellte und Arbeiter im öffentlichen Dienst, die auf Anordnung ihres Dienstherrn ihren Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt im Ausland genommen haben sowie die Angehörigen ihres Hausstandes.

15

Der Gesetzgeber ließ sich dabei -- ebenso wie in der Weimarer Zeit -- von der Erwägung leiten, daß dieser Personenkreis sich nicht freiwillig, sondern auf Grund von dienstlicher Anordnung im Ausland aufhält und während seiner vorübergehenden Abwesenheit von Berufs wegen aufs engste mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden bleibt (Seifert, Bundeswahlgesetz, 2.Aufl, Anm.12 zu § 12; Grundlagen eines deutschen Wahlrechts, 1955, S.79). Zwar ist in § 12 Abs.2 BWahlG die noch in § 11 Abs.2 des Reichswahlgesetzes enthaltene Beschränkung auf den "Wohnsitz im Ausland nahe der Reichsgrenze" fortgefallen. Dies wurde indes erst möglich durch die Einführung der -- im Reichswahlgesetz noch nicht vorgesehenen -- Briefwahl und findet darin seine Rechtfertigung. Durch diese Erweiterung des Anwendungsbereichs der Sonderregelung ist also lediglich dem sie tragenden Grundgedanken konsequenter als zuvor Rechnung getragen worden.

16

Der von § 12 Abs.2 BWahlG umschriebene Personenkreis unterscheidet sich durch die in dem Dienstverhältnis verwurzelte, besonders geartete Beziehung zur Bundesrepublik Deutschland so sehr von denjenigen, die aus anderen Gründen ihren Wohnsitz im Wahlgebiet aufgegeben haben, daß der Bundesgesetzgeber von Verfassungs wegen nicht gehalten war, die herkömmliche Sonderregelung für diesen Personenkreis auch auf Personen auszudehnen, die sich -- wie die Beschwerdeführer -- aus eigenem Entschluß wegen kommerzieller oder sonstiger Tätigkeit dauernd im Ausland aufhalten."

 

Auszug aus BVerfG B, 23.10.73, - 2_BvC_3/73 -, www.dfr/BVerfGE,  Abs.10 ff

§§§

73.021 Eheverbot-Geschlechtsgemeinschaft
 
  1. BVerfG,     B, 14.11.73,     – 1_BvR_719/69 –

  2. BVerfGE_36,146 = www.dfr/BVerfGE

  3. EheG_§_4 Abs.2; GG_Art.6 Abs.2

 

1) Das Eheverbot der Geschlechtsgemeinschaft (§ 4 Abs.2 Ehegesetz) ist mit der in Art.6 Abs.2 gewährleisteten Eheschließungsfreiheit nicht vereinbar.

 

2) § 4 Abs.2 Ehegesetz ist Kontrollratsrecht und gilt nach dem Überleitungsvertrag ohne Rücksicht auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zunächst fort. Die zuständigen Verfassungsorgane sind jedoch gehalten, die Vorschrift nach Konsultation der 3 Mächte bis zum Ende der Legislaturperiode außer Wirksamkeit zu setzen (Ergänzung zu BVerfGE_15,337 - Höfeordnung).

§§§

73.022 Journalisten
 
  1. BVerfG,     B, 28.11.73,     – 2_BvL_42/71 –

  2. BVerfGE_36,193 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.70 Abs.2, GG_Art.72 Abs.1, GG_Art.74 Nr.1; (He) PresseG_§_22 Abs.1; StPO_§_53 Abs.1 Nr.5

 

Vorschriften über die Befugnis zur Zeugnisverweigerung sind ihrem Wesen nach Bestandteile des Beweiserhebungsrechts der Verfahrensordnungen. Das strafprozessuale Aussageverweigerungsrecht von Angehörigen der Presse gehört deshalb kompetenzrechtlich zum Bereich des gerichtlichen Verfahrens (Art.74 Nr.1 GG).

§§§

73.023 Überlastung-LG
 
  1. BVerfG,     B, 12.12.73,     – 2_BvR_558/73 –

  2. BVerfGE_36,264 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.2 S.2; StPO_§_121 Abs.1

 

Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Landgerichts mit Schwurgerichtssachen ist im Lichte des Grundrechts der persönlichen Freiheit kein "wichtiger Grund", der gemäß § 121 Abs.1 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft für einen längeren Zeitraum rechtfertigt, als er nach Eröffnung des Hauptverfahrens zur ordnungsgemäßen Vorbereitung der Hauptverhandlung erforderlich ist. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß im Einzelfall andere "wichtige Gründe" vorliegen können, die die Fortdauer der Haft rechtfertigen.

 

LB 2) Zur abweichenden Meinung der Richter Dr v Schlabrendorff, Dr Geiger und Dr Rink, siehe BVerfGE_36,276 ff = www.dfr/BVerfGE, Abs.31 ff.

§§§

[ 1972 ] RS-BVerfG - 1973 [ 1974 ]     [  ›  ]

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§§§