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18.001 Polemische Kritik

  1. BVerfG,     B, 24.01.18,     – 1_BvR_2465/13 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.9/2018

  3. GG_Art.5 Abs.1; StGB_§_189

  4. Verfassungsbeschwerde / strafgerichtliches Urteil / Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener / Meinungsfreiheit / Bedeutung des Kontextes

 

PM: Grundrechtsverstoß durch mangelhafte Berücksichtigung des politischen Kontexts einer Meinungsäußerung

Polemische Kritik an einer Person, die in der frühen DDR-Zeit hingerichtet und später in der Bundesrepublik rehabilitiert wurde, ist als Meinungsäußerung von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art.5 Abs.1) grundsätzlich gedeckt. Ob diese Sichtweise sachlich in irgendeiner Weise vertretbar oder von vorneherein unberechtigt ist und ob das in Bezug genommene Urteil grob rechtsstaatswidrig und unangemessen hart war, spielt für den Schutz der Meinungsfreiheit keine Rolle. Mit dieser Begründung hat die 3. Kammer des Ersten Senats mit heute veröffentlichtem Beschluss auf die Verfassungsbeschwerde eines Internetseitenbetreibers hin dessen Verurteilung wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener unter Zurückverweisung der Sache aufgehoben, weil die Strafgerichte den Anforderungen des Art.5 Abs.1 Satz 1 GG nicht genügt haben, indem sie den politischen Kontext bei der Deutung der Äußerungen nicht hinreichend berücksichtigt und das entgegenstehende Gewicht des Persönlichkeitsrechts des Verstorbenen unzutreffend gewichtet haben.

 

LB 1) Das Grundrecht der Meinungsfreiheit gilt allerdings nicht vorbehaltlos, sondern findet nach Art.5 Abs.2 GG seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, zu denen auch der der vorliegenden Verurteilung zugrunde liegende § 189 StGB gehört.

 

LB 2) Auslegung und Anwendung der Strafvorschriften ist grundsätzlich Sache der Strafgerichte. Das Bundesverfassungsgericht ist auf die Klärung beschränkt, ob das Strafgericht die wertsetzende Bedeutung des Grundrechts verkannt hat (vgl BVerfGE_7,198 <208 f.>; BVerfGE_93,266 <292>; stRspr).

 

LB 3) Steht ein Äußerungsdelikt in Frage, so verlangt Art.5 Abs.1 Satz 1 GG eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und dem geschützten Rechtsgut andererseits droht (vgl BVerfGE_7,198 <212>; BVerfGE_93,266 <293>; stRspr).

 

LB 4) Wird von dem Grundrecht nicht zum Zwecke privater Auseinandersetzung Gebrauch gemacht, sondern will der Äußernde in erster Linie zur Bildung der öffentlichen Meinung beitragen, dann sind die Auswirkungen seiner Äußerungen auf den Rechtskreis Dritter zwar unvermeidliche Folge, aber nicht eigentliches Ziel der Äußerung. Der Schutz des betroffenen Rechtsguts tritt umso mehr zurück, je weniger es sich um eine unmittelbar gegen dieses Rechtsgut gerichtete Äußerung im privaten Bereich in Verfolgung eigennütziger Ziele handelt, sondern um einen Beitrag zu einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage (vgl BVerfGE_61,1 <11>).

 

LB 5) Bei Äußerungsdelikten kann eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts auch dadurch begründet sein, dass der Sinn der Äußerung nicht zutreffend erfasst worden ist (vgl BVerfGE_93,266 <295 f.>; BVerfGE_94,1 <9>). Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen bei der Deutung einer Äußerung gehört, dass sie unter Einbeziehung ihres Kontextes ausgelegt und ihr kein Sinn zugemessen wird, den sie objektiv nicht haben kann.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Das Urteil des Landgerichts Berlin vom 18.März 2013 - (574) 231 Js 2310/11 Ns (145/12) - und der Beschluss des Kammergerichts vom 18.Juli 2013 - (3) 121 Ss 122/13 (95/13) - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.

2) Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.

3) Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

4) Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

5) Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

§§§

18.002 Befangenheit Richter Müller

  1. BVerfG,     B, 13.02.18,     – 2_BvR_651/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.11/2018

  3. BVerfGG_§_18, BVerfGG_§_19; StGB_§_217

 

PM: Verfahren zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ( 217 StGB) wird ohne Mitwirkung von Bundesverfassungsrichter Müller entschieden.

§§§

18.003 www.bmbf.de - rote Karte

  1. BVerfG,     U, 27.02.18,     – 2_BvE_1/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.10/2018

  3. GG_Art.21 Abs.1 S.1

  4. Organstreit / Pressemitteilung Ministerium / Chancengleichheit / Neutralitätsgebot / Recht auf Gegenschlag

 

1) Auch außerhalb von Wahlkampfzeiten erfordert der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Beachtung des Gebots staatlicher Neutralität.

 

2) Die negative Bewertung einer politischen Veranstaltung durch staatliche Organe, die geeignet ist, abschreckende Wirkung zu entfalten und da durch das Verhalten potentieller Veranstaltungsteilnehmer zu beeinflussen, greift in das Recht der betroffenen Partei auf Chancengleichheit aus Art.21 Abs.1 Satz 1 GG ein.

 

3) Die Befugnis der Bundesregierung zur Erläuterung von ihr getroffener Maßnahmen und künftiger Vorhaben schließt das Recht ein, sich mit darauf bezogenen kritischen Einwänden sachlich auseinanderzusetzen. Ein "Recht auf Gegenschlag" dergestalt, dass staatliche Organe auf unsachliche oder diffamierende Angriffe in gleicher Weise reagieren dürfen, besteht nicht.

 

LB 4) Bundesminister sind als Teile des obersten Staatsorgans Bundesregierung im Grundgesetz (Art.65 Satz 2 GG) sowie in der Geschäftsordnung der Bundesregierung (§§ 9 bis 12, § 14a GOBReg) mit eigenen Rechten ausgestattet und daher "andere Beteiligte" im Sinne von Art.93 Abs.1 Nr.1 GG (vgl BVerfGE_45,1 <28>; BVerfGE_90,286 <338>; BVerfGE_138,102 <107 Rn.22>).

 

LB 5) Maßgeblich für die Beurteilung der Parteifähigkeit eines Beteiligten im Organstreit ist grundsätzlich sein Status zu dem Zeitpunkt, zu dem der Verfassungsstreit anhängig gemacht worden ist (vgl BVerfGE_4,144 <152>; BVerfGE_102,224 <231>; BVerfGE_108,251 <270 f.>; BVerfGE_136,277 <299 f Rn.60>;

 

LB 6) Da jegliche negative Bewertung einer politischen Veranstaltung, die geeignet ist, abschreckende Wirkung zu entfalten und dadurch das Verhalten potentieller Veranstaltungsteilnehmer zu beeinflussen (vgl BVerfGE_140,225 <228 Rn.11>), die gleichberechtigte Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung beeinträchtigt, greift bereits ein derartiges Verhalten in das Recht der betroffenen Partei auf Chancengleichheit aus Art.21 Abs.1 Satz 1 GG ein.

 

LB 7) Es ist der Bundesregierung, auch wenn sie von ihrer Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit Gebrauch macht, von Verfassungs wegen versagt, sich mit einzelnen Parteien zu identifizieren und die ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel und Möglichkeiten zu deren Gunsten oder Lasten einzusetzen (vgl BVerfGE_44,125 <141 ff>; BVerfGE_138,102 <115 Rn.45>).

 

LB 8) Demgemäß endet die Zulässigkeit der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung dort, wo Werbung für einzelne im politischen Wettbewerb stehende Parteien beginnt. Der Grundsatz der Chancengleichheit aus Art.21 Abs.1 Satz 1 GG lässt es nicht zu, dass die Bundesregierung die Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit nutzt, um Regierungsparteien zu unterstützen oder oder Oppositionsparteien zu bekämpfen (vgl BVerfGE_44,125 <148 ff>; BVerfGE_63,230 <243 f>; BVerfGE_138,102 <115 Rn.46>).

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Die Antragsgegnerin hat durch die Veröffentlichung der Pressemitteilung 151/2015 vom 4. November 2015 auf der Homepage des Bundesministeriums für Bildung und Forschung die Antragstellerin in ihrem Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes verletzt.

2) Der Antrag der Antragstellerin auf Erstattung ihrer notwendigen Auslagen wird abgelehnt.

§§§

18.004 Stationierung von Atomwaffen

  1. BVerfG,     B, 15.03.18,     – 2_BvR_1371/13 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.28/2018

  3. GG_Art.2 Abs.2 S.1, GG_Art.14 Abs.1, GG_Art.25, GG_Art.19 Abs.4

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen auf dem Fliegerhorst Büchel

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen auf dem Fliegerhorst Büchel zum Gegenstand hatte. Die Verfassungsbeschwerde ist bereits unzulässig, weil die Beschwerdeführerin einen Eingriff in Grundrechte ebenso wenig dargelegt hat wie eine Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten.

§§§

18.005 Personalüberleitungsbestimmungen

  1. BVerfG,     B, 21.03.18,     – 1_BvL_1/14 –

  2. www.BVerfG.de =

  3. GG_Art.100 Abs.1; SGB-II_§_6c Abs.1 S.1

 

PM: Unzulässige Normenkontrolle zu einer Personalüberleitungsbestimmung

Wenn ein Gericht eine Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht - nach Art.100 Abs.1 GG - beantragt, muss es erläutern, warum die Unwirksamkeit der Norm für seine Entscheidung ausschlaggebend ist. Der Erste Senat hat mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden, dass die Vorlage des 8. Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 26. September 2013 - 8 AZR 775/12 (A) - dieser Anforderung nicht hinreichend Rechnung trägt. Gegenstand der Vorlage war die Personalüberleitungsnorm des § 6c Abs.1 Satz 1 SGB II in der Fassung vom 3. August 2010.

§§§

18.006 Staatliches Informationshandeln

  1. BVerfG,     B, 21.03.18,     – 1_BvF_1/13 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.32/2018

  3. GG_Art.12 Abs.1; LFGB_§_40 Abs.1a

 

1) Staatliches Informationshandeln ist an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen, wenn es in seiner Zielsetzung und seinen mittelbar-faktischen Wirkungen einem Eingriff in die Berufsfreiheit als funktionales Äquivalent gleichkommt. Amtliche Informationen kommen einem Eingriff in die Berufsfreiheit jedenfalls dann gleich, wenn sie direkt auf die Marktbedingungen konkret individualisierter Unternehmen zielen, indem sie die Grundlagen von Konsumentscheidungen zweckgerichtet beeinflussen und die Markt- und Wettbewerbssituation zum Nachteil der betroffenen Unternehmen verändern.

 

2) Verstößt ein Unternehmen gegen lebensmittel- oder futtermittelrechtliche Vorschriften, können seine durch die Berufsfreiheit geschützten Interessen auch dann hinter Informationsinteressen der Öffentlichkeit zurücktreten, wenn die Rechtsverstöße nicht mit einer Gesundheitsgefährdung verbunden sind. Individualisierte amtliche Informationen über konsumrelevante Rechtsverstöße im Internet sind aber regelmäßig durch Gesetz zeitlich zu begrenzen.

 

3) Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Vereinbarkeit eines nationalen Gesetzes mit dem Grundgesetz auch, wenn zugleich Zweifel an der Vereinbarkeit des Gesetzes mit Sekundärrecht der Europäischen Union bestehen.

§§§

18.007 Richter auf Zeit

  1. BVerfG,     B, 22.03.18,     – 2_BvR_780/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.38/2018

  3. GG_Art.101 Abs.1 S.2; VwGO_§_17 Nr.3, VwGO_§_18

 

§ 17 Nr.3, § 18 VwGO, die die Ernennung von Beamten auf Lebenszeit zu Richtern auf Zeit erlauben, sind mit dem Grundgesetz vereinbar. § 18 VwGO ist allerdings verfassungskonform dahin auszulegen, dass die wiederholte Bestellung eines Beamten zum Richter auf Zeit nach Ablauf seiner Amtszeit ausgeschlossen ist.

§§§

18.008 NPD-Wahlkampfveranstaltung

  1. BVerfG,     B, 24.03.18,     – 1_BvQ_18/18 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.26/2018 = PM-Nr.16/2018

  3. GG_Art.8 Abs.1, GG_Art.20 Abs.3, GG_Art.19 Abs.4; BVerfGG_§_32 Abs.1

 

PM-1: Einstweilige Anordnung: Stadt muss ihre Stadthalle der NPD für Wahlkampfveranstaltung überlassen

Die 3. Kammer des Ersten Senates des Bundesverfassungsgerichts hatte in einer heute veröffentlichten einstweiligen Anordnung vom 24. März 2018 einer Stadt aufgegeben, einer entsprechenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidung Folge zu leisten und ihre Stadthalle dem Stadtverband der Nationaldemokrati schen Partei Deutschlands (NPD) am selben Tage für die Durchführung einer Wahlkampfveranstaltung zu überlassen. Die Stadt ist dieser Anordnung nicht nachgekomme n. Das Bundesverfassungsgericht hat die zuständige Kommunalaufsichtsbehörde deswegen aufgefordert, den Vorfall aufzuklären, notwendige aufsichtsrechtliche Maßnahmen zu ergreifen und das Gericht unverzüglich davon zu unterrichten. erpräsident, der InDer Minist nen- und der Justizminister des Landes sowie der ister der Stadt sinOberbürgerme d über das Schreiben informiert worden.

 

PM-2: Schreiben an die Kommunalaufsichtsbehörde im Fall Wetzlar

Auf die fehlende Umsetzung einer einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts zur Vergabe einer Stadthalle durch die Stadt Wetzlar hin (vgl. Pressemitteilung Nr. 16/2018 vom 26. März 2018) hat die Kommunalaufsichtsbehörde den Sachverhalt aufgeklärt und dem Gericht darüber berichtet.

Offensichtlich bestanden bei der Stadt Wetzlar Fehlvorstellungen über die Bindungskraft richterlicher Entscheidungen und den noch verbleibenden Spielraum für eigenes Handeln. Um künftigen Überforderungen von Kommunen in derartigen Situationen vorzubeugen, hat der Vorsitzende des Ersten Senats, Herr Vizepräsident Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, in einem Schreiben an den Regierungspräsidenten angeregt, von Seiten der Kommunalaufsicht sicherzustellen, dass gerichtliche Entscheidungen künftig befolgt werden, etwa durch Anzeigepflichten bei Ablehnung einer Hallenvergabe oder synchrones Monitoring.

§§§

18.009 Einheitsbewertung

  1. BVerfG,     U, 10.04.18,     – 1_BvL_11/14 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.21/2018

  3. GG_Art.3 Abs.1: BewG_§_19 ff

 

1) Der Gesetzgeber hat bei der Wahl der Bemessungsgrundlage und bei der Ausgestaltung der Bewertungsregeln einer Steuer einen großen Spielraum, solange sie geeignet sind, den Belastungsgrund der Steuer zu erfassen und dabei die Relation der Wirtschaftsgüter zueinander realitätsgerecht abzubilden.

 

2) Ermöglichen Bewertungsregeln ganz generell keine in ihrer Relation realitätsnahe Bewertung, rechtfertigt selbst die Vermeidung eines noch so großen Verwaltungsaufwands nicht ihre Verwendung. Auch die geringe Höhe einer Steuer rechtfertigt die Verwendung solcher realitätsfernen Bewertungsregeln nicht.

 

3) Das Aussetzen der im Recht der Einheitsbewertung ursprünglich vorgesehenen periodischen Hauptfeststellung seit dem Jahr 1964 führt bei der Grundsteuer zwangsläufig in zunehmendem Umfang zu Ungleichbehandlungen durch Wertverzerrungen, die jedenfalls seit dem Jahr 2002 weder durch den vermiedenen Aufwand neuer Hauptfeststellungen noch durch geringe Höhe der individuellen Steuerlast noch durch Praktikabilitätserwägungen gerechtfertigt sind.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Die §§ 19, 20, 21, 22, 23, 27, 76, 79 Absatz 5, § 93 Absatz 1 Satz 2 des Bewertungsgesetzes in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 Satz 1 und Satz 3 des Gesetzes zur Änderung des Bewertungsgesetzes in der Fassung des Artikels 2 des Gesetzes vom 22. Juli 1970 (Bundesgesetzblatt I Seite 1118) sind, soweit sie bebaute Grundstücke außerhalb des Bereichs der Land- und Forstwirtschaft und außerhalb des in Artikel 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiets betreffen, jedenfalls seit dem 1. Januar 2002 unvereinbar mit Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz.

2) Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine Neuregelung spätestens bis zum 31. Dezember 2019 zu treffen. Bis zu diesem Zeitpunkt dürfen die als unvereinbar mit Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz festgestellten Regeln über die Einheitsbewertung weiter angewandt werden. Nach Verkündung einer Neuregelung dürfen die beanstandeten Regelungen für weitere fünf Jahre ab der Verkündung, längstens aber bis zum 31. Dezember 2024 angewandt werden.

3) Für Kalenderjahre nach Ablauf der Fortgeltungsfristen dürfen auch auf bestandskräftige Bescheide, die auf den als verfassungswidrig festgestellten Bestimmungen des Bewertungsgesetzes beruhen, keine Belastungen mehr gestützt werden.

4) Der Einheitswertbescheid des Finanzamts Kusel-Landstuhl vom 26. März 2008 (AZ.: ...), die Einspruchsentscheidung des Finanzamts Kusel-Landstuhl vom 2. März 2009 (AZ.: ...; Rechtsbehelfslistennummer: ...), das Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. Mai 2010 (4 K 1417/09) und der Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 18. Januar 2011 (II B 74/10) verletzen die Beschwerdeführerin des Verfahrens 1 BvR 639/11 in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes.

5) Der Einheitswertbescheid des Finanzamts Mülheim an der Ruhr vom 13. April 2004 (EW-Nummer ...), die Einspruchsentscheidung des Finanzamts Mülheim an der Ruhr vom 28. Juni 2005 (Steuernummer ...), das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 13. Oktober 2011 (11 K 1484/10 Gr,BG) und der Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 24. Februar 2012 (II B 110/11) verletzen die Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 889/12 in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. 6) Im Übrigen werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.

7) Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen für die Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

§§§

18.010 Gewerbesteuerpflicht für Gewinne

  1. BVerfG,     U, 10.04.18,     – 1_BvR_1236/11 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.20/2018

  3. GG_Art.3 Abs.1; GewStG_§_7 S.2 Nr.2, GewStG_§_7 S.2 Hs.2,

 

1) Mit dem aus Art.3 Abs.1 GG folgenden Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist es vereinbar, dass eine Personengesellschaft (Mitunternehmerschaft) nach § 7 Satz 2 Nr.2 GewStG bei Verkauf eines Anteils durch einen Mitunternehmer grundsätzlich gewerbesteuerpflichtig ist, obwohl der Veräußerungsgewinn beim Veräußerer verbleibt.

 

2) Die Freistellung des auf natürliche Personen als unmittelbar beteiligte Mitunternehmer entfallenden Veräußerungsgewinns von der Gewerbesteuerpflicht in § 7 Satz 2 Hs.2 GewStG ist mit Art.3 Abs.1 GG vereinbar.

 

3) Nicht nur die Einbringung eines Gesetzesvorhabens in den Bundestag, sondern auch dessen Zuleitung zum Bundesrat kann das Vertrauen in die bestehende Rechtslage gegenüber einem Gesetz mit belastender Rückwirkung zerstören.

§§§

18.011 Stadionverbot

  1. BVerfG,     B, 11.04.18,     – 1_BvR_3080/09 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.29/2018

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.3 Abs.1; StGB_§_125, StPO_§_153; BGB_§_862, BGB_§_1004, BGB_§_826, BGB_§_242

 

1) Art.3 Abs.1 GG lässt sich auch nach den Grundsätzen der mittelbaren Drittwirkung kein objektives Verfassungsprinzip entnehmen, wonach die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten von diesen prinzipiell gleichheitsgerecht zu gestalten wären. Grundsätzlich gehört es zur Freiheit jeder Person, nach eigenen Präferenzen darüber zu bestimmen, mit wem sie unter welchen Bedingungen Verträge abschließen will.

 

2) Gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten können sich aus Art.3 Abs.1 GG jedoch für spezifische Konstellationen ergeben. Mittelbare Drittwirkung entfaltet Art.3 Abs.1 GG etwa dann, wenn einzelne Personen mittels des privatrechtlichen Hausrechts von Veranstaltungen ausgeschlossen werden, die von Privaten aufgrund eigener Entscheidung einem großen Publikum ohne Ansehen der Person geöffnet werden und wenn der Ausschluss für die Betroffenen in erheblichem Umfang über die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben entscheidet. Die Veranstalter dürfen hier ihre Entscheidungsmacht nicht dazu nutzen, bestimmte Personen ohne sachlichen Grund von einem solchen Ereignis auszuschließen.

 

3) Ein Stadionverbot kann auch ohne Nachweis einer Straftat auf eine auf Tatsachen gründende Besorgnis gestützt werden, dass die Betroffenen künftig Störungen verursachen werden. Die Betroffenen sind grundsätzlich vorher anzuhören und ihnen ist auf Verlangen vorprozessual eine Begründung mitzuteilen.

§§§

18.012 Bemühen um Terminsverlegung

  1. BVerfG,     B, 13.04.18,     – 1_BvR_300/18 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.22/2018

  3. GG_Art.3 Abs.1

 

PM: Fehlendes Bemühen um Terminsverlegung kann in Kostenentscheidung berücksichtigt werden

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde gegen eine sozialgerichtliche Kostenentscheidung nach Erledigung nicht zur Entscheidung angenommen. Der Beschwerdeführer hat nicht substantiiert dargelegt, dass die zu seinen Lasten erfolgte Kostenentscheidung unter Verletzung des Willkürverbots aus Art.3 Abs.1 GG ergangen ist und ihn daher in seinen Grundrechten verletzt hat.

§§§

18.013 Kürzung einer Emissionsberechtigung

  1. BVerfG,     B, 18.04.18,     – 1_BvR_286/13 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.24/2018

  3. GG_Art.2 Abs.1

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Kürzung der Zuteilung kostenloser Emissionsberechtigungen

 

Es verstößt nicht gegen Art.2 Abs.1 GG in Verbindung mit der Finanzverfassung des Grundgesetzes sowie gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, dass die im Rahmen des europarechtlichen Emissionshandelssystems ausgegebenen Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen für Betreiber stromproduzierender Anlagen mittlerweile nicht mehr vollständig kostenlos zugeteilt werden und eine zuvor gesetzlich vorgesehene Zuteilungsgarantie nicht verlängert wurde. Mit dieser Begründung hat die 3. Kammer des Ersten Senats mit heute veröffentlichtem Beschluss die Verfassungsbeschwerde einer Anlagenbetreiberin gegen die Kürzung der auf ihr Kraftwerk entfallenden Berechtigungen nicht zur Entscheidung angenommen.

§§§

18.014 Ablehnungsgesuch Vizepräsident Kirchhof

  1. BVerfG,     B, 24.04.18,     – 1_BvR_756/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.30/2018

  3. BVerfGG_§_18 Abs.1 Nr.1, BVerfGG_§_19

 

Ablehnungsgesuche gegen Vizepräsident Kirchhof zurückgewiesen

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat entschieden, dass Vizepräsident Prof.Dr. Ferdinand Kirchhof nicht von der Ausübung seines Richteramtes in den Verfahren über die Verfassungsbeschwerden zur Erhebung des Rundfunkbeitrages ausgeschlossen ist und zudem die Ablehnungsgesuche zweier Beschwerdeführer als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung hat der Senat ausgeführt, dass ein durch den Bruder des Vizepräsidenten erstattetes Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des Rundfunkbeitrages nicht zu einer engen, konkreten Beziehung des Bruders zum Gegenstand des Verfahrens führt, die den Ausschluss begründen könnte und dessen Gutachtertätigkeit auch keinen Anlass dafür bietet, an der Unvoreingenommenheit von Vizepräsident Kirchhof zu zweifeln.

§§§

18.015 Ausweisung nach Tunesien

  1. BVerfG,     B, 04.05.18,     – 2_BvR_632/18 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.34/2018

  3. GG_Art.2 Abs.2 S.1. GG_Art.2 Abs.2 S.2 ivm Art.1 Abs.1

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Ausweisung nach Tunesien

Die Abschiebung eines Gefährders in ein Zielland, in dem ihm die Verhängung der Todesstrafe droht, verstößt nicht gegen das Grundgesetz, wenn eine Vollstreckung der Todesstrafe ausgeschlossen ist. Zusätzlich muss gewährleistet sein, dass der Betroffene die rechtliche und faktische Möglichkeit hat, die sich aus dem Verzicht auf die Vollstreckung einer Todesstrafe ergebende faktische lebenslange Freiheitsstrafe überprüfen zu lassen, so dass jedenfalls eine Chance auf Wiedererlangung der Freiheit besteht. Mit dieser Begründung hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss die Verfassungsbeschwerde eines tunesischen Staatsangehörigen nicht zur Entscheidung angenommen und dessen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Untersagung der Abschiebung für erledigt erklärt.

§§§


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