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17.001 Versagung-Vaterschaftsfeststellung

  1. BVerfG,     B, 11.01.17,     – 1_BvR_2322/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.8/2017

  3. GG_Art.6 Abs.2 S.1

  4. Verfassungsbeschwerde / Vaterschaftsfeststellung / eingefrorene Embryonen / Ausland

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung der Vaterschaftsfeststellung an im Ausland eingefrorenen Embryonen

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die Ablehnung wendet, den Beschwerdeführer als Vater von mehreren in einer kalifornischen Fortpflanzungsklinik kryokonservierten Embryonen festzustellen. Der Bundesgerichtshof hatte die Rechtsbeschwerde hiergegen zurückgewiesen.

§§§

17.002 NPD-Verbot

  1. BVerfG,     U, 17.01.17,     – 2_BvB_1/13 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.4/2017

  3. GG_Art.21 Abs.2; BVerfGG_§_43 ff

  4. Verbotsantrag / Zulässigkeit / Feststellung der Verfassungswidrigkeit / freiheitliche demokratische Grundordnung / Beseitigung /

 

1) Das Parteiverbot nach Art.21 Abs.2 GG stellt die schärfste und überdies zweischneidige Waffe des demokratischen Rechtsstaats gegen seine organisierten Feinde dar. Es soll den Risiken begegnen, die von der Existenz einer Partei mit verfassungsfeindlicher Grundtendenz und ihren typischen verbandsmäßigen Wirkungsmöglichkeiten ausgehen.

 

2) Das Gebot der Staatsfreiheit politischer Parteien und der Grundsatz des fairen Verfahrens sind für die Durchführung des Verbotsverfahrens unabdingbar.

a) Die Tätigkeit von V-Leuten und Verdeckten Ermittlern auf den Führungsebenen einer Partei während eines gegen diese laufenden Verbotsverfahrens ist mit dem Gebot strikter Staatsfreiheit nicht vereinbar.

b) Gleiches gilt, soweit die Begründung eines Verbotsantrages auf Beweismaterialien gestützt wird, deren Entstehung zumindest teilweise auf das Wirken von V-Leuten oder Verdeckten Ermittlern zurückzuführen ist.

c) Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet, dass die Beobachtung einer Partei während eines laufenden Verbotsverfahrens durch den Verfassungsschutz nicht dem Ausspähen ihrer Prozessstrategie dient und dass im Rahmen der Beobachtung erlangte Informationen über die Prozessstrategie im Verfahren nicht zulasten der Partei verwendet werden.

d) Ein zur Verfahrenseinstellung führendes Hindernis kommt lediglich als ultima ratio möglicher Rechtsfolgen von Verfassungsverstößen in Betracht. Zur Feststellung des Vorliegens eines unbehebbaren Verfahrenshindernisses bedarf es einer Abwägung zwischen den rechtsstaatlichen Verfahrensanforderungen einerseits und dem Präventionszweck dieses Verfahrens andererseits.

 

3.Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne von Art.21 Abs.2 GG umfasst nur jene zentralen Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind.

a) Ihren Ausgangspunkt findet die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Würde des Menschen (Art.1 Abs.1 GG). Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit.

b) Ferner ist das Demokratieprinzip konstitutiver Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Unverzichtbar für ein demokratisches System sind die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk (Art.20 Abs.1 und 2 GG).

c) Für den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind schließlich die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt (Art.20 Abs.3 GG) und die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte bestimmend. Zugleich erfordert die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit des Einzelnen, dass die Anwendung physischer Gewalt den gebundenen und gerichtlicher Kontrolle unterliegenden staatlichen Organen vorbehalten ist.

 

4) Der Begriff des Beseitigens der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bezeichnet die Abschaffung zumindest eines ihrer Wesenselemente oder deren Ersetzung durch eine andere Verfassungsordnung oder ein anderes Regierungssystem. Von einem Beeinträchtigen ist auszugehen, wenn eine Partei nach ihrem politischen Konzept mit hinreichender Intensität eine spürbare Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewirkt.

 

5) Dass eine Partei die Beseitigung oder Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung anstrebt, muss sich aus ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger ergeben.

a) Die Ziele einer Partei sind der Inbegriff dessen, was eine Partei politisch anstrebt.

b) Anhänger sind alle Personen, die sich für eine Partei einsetzen und sich zu ihr bekennen, auch wenn sie nicht Mitglied der Partei sind.

c) Zuzurechnen ist einer Partei zunächst einmal die Tätigkeit ihrer Organe, besonders der Parteiführung und leitender Funktionäre. Bei Äußerungen oder Handlungen einfacher Mitglieder ist eine Zurechnung nur möglich, wenn diese in einem politischen Kontext stehen und die Partei sie gebilligt oder geduldet hat. Bei Anhängern, die nicht der Partei angehören, ist grundsätzlich eine Beeinflussung oder Billigung ihres Verhaltens durch die Partei notwendige Bedingung für die Zurechenbarkeit. Eine pauschale Zurechnung von Straf- und Gewalttaten ohne konkreten Zurechnungszusammenhang kommt nicht in Betracht. Der Grundsatz der Indemnität schließt eine Zurechnung parlamentarischer Äußerung nicht aus.

 

6) Eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Zielsetzung einer Partei reicht für die Anordnung eines Parteiverbots nicht aus. Vielmehr muss die Partei auf die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung "ausgehen".

a) Ein solches "Ausgehen" setzt begrifflich ein aktives Handeln voraus. Das Parteiverbot ist kein Gesinnungs- oder Weltanschauungsverbot. Notwendig ist ein Überschreiten der Schwelle zur Bekämpfung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch die Partei.

b) Es muss ein planvolles Vorgehen gegeben sein, das im Sinne einer qualifizierten Vorbereitungshandlung auf die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder auf die Gefährdung des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland gerichtet ist.

c) Dass dadurch eine konkrete Gefahr für die durch Art.21 Abs.2 GG geschützten Rechtsgüter begründet wird, ist nicht erforderlich. Allerdings bedarf es konkreter Anhaltspunkte von Gewicht, die einen Erfolg des gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland gerichteten Handelns zumindest möglich erscheinen lassen.

d) Die Anwendung von Gewalt ist bereits für sich genommen hinreichend gewichtig, um die Annahme der Möglichkeit erfolgreichen Agierens gegen die Schutzgüter des Art.21 Abs.2 GG zu rechtfertigen. Gleiches gilt, wenn eine Partei in regional begrenzten Räumen eine "Atmosphäre der Angst" herbeiführt, die geeignet ist, die freie und gleichberechtigte Beteiligung aller am Prozess der politischen Willensbildung nachhaltig zu beeinträchtigen.

 

7) Für die Annahme ungeschriebener Tatbestandsmerkmale ist im Rahmen des Art.21 Abs.2 GG kein Raum.

a) Die Wesensverwandtschaft einer Partei mit dem Nationalsozialismus rechtfertigt für sich genommen die Anordnung eines Parteiverbots nicht. Allerdings kommt ihr erhebliche indizielle Bedeutung hinsichtlich der Verfolgung verfassungsfeindlicher Ziele zu.

b) Einer gesonderten Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bedarf es nicht.

 

8) Die dargelegten Anforderungen an die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei sind mit den Vorgaben, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung zu Parteiverboten aus der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) abgeleitet hat, vereinbar.

 

9) Nach diesen Maßstäben ist der Verbotsantrag unbegründet:

a) Die Antragsgegnerin strebt nach ihren Zielen und dem Verhalten ihrer Anhänger die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung an. Sie zielt auf eine Ersetzung der bestehenden Verfassungsordnung durch einen an der ethnischen "Volksgemeinschaft" ausgerichteten autoritären "Nationalstaat". Dieses politische Konzept missachtet die Menschenwürde aller, die der ethnischen Volksgemeinschaft nicht angehören, und ist mit dem grundgesetzlichen Demokratieprinzip unvereinbar.

b) Die Antragsgegnerin arbeitet planvoll und qualifiziert auf die Erreichung ihrer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ziele hin.

c) Es fehlt jedoch an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass dieses Handeln zum Erfolg führt.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Der Antrag der Antragsgegnerin auf Einstellung des Verfahrens wegen des Vorliegens unbehebbarer Verfahrenshindernisse, hilfsweise auf Aussetzung des Verfahrens, bis der vom Deutschen Bundestag am 20. März 2014 eingesetzte Untersuchungsausschuss zur NSA-Abhör-Affäre seinen Abschlussbericht vorgelegt hat, wird zurückgewiesen.

2) Die Anträge des Antragstellers werden zurückgewiesen.

3) Der Antrag der Antragsgegnerin auf Erstattung ihrer notwendigen Auslagen wird abgelehnt.

§§§

17.003 Einführung einer Wartefrist

  1. BVerfG,     B, 17.01.17,     – 2_BvL_1/10 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.10/2017

  3. GG_Art.33 Abs.5; (RP) LBesG_§_6d Abs.1 S.1 + Abs.3

  4. Wartefrist / Verfassungsmäßigkeit / hergebrachte Grundsätze

 

1) Die Einführung einer "Wartefrist" hinsichtlich der Besoldung bei Übertragung eines höheren Statusamtes stellt eine dem einfachen Gesetzgeber verwehrte strukturelle Veränderung und keine bloße Modifikation eines hergebrachten Grundsatzes des Berufsbeamtentums dar.

 

2) Zwar ist es dem Gesetzgeber grundsätzlich nicht verwehrt, das Besoldungsgefüge anders zu strukturieren. Er muss jedoch gewährleisten, dass mit einem höheren Amt höhere Bezüge einhergehen. Auch eine Einarbeitungszeit in einem höheren Amt rechtfertigt nicht, von einem Beförderungserfolg in Form eines Besoldungsanstiegs für eine bestimmte Zeit abzusehen.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 6d Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 des Landesbesoldungsgesetzes Rheinland-Pfalz (LBesG vom 12.April 2005 [Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Rheinland-Pfalz Seite 119

§§§

17.004 Spanisches Schnellverfahren

  1. BVerfG,     B, 23.01.17,     – 2_BvR_2584/12 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.11/2017

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.19 Abs.4; BZRG_§_55 Abs.2 S.3 1.HS

  4. Verfassungsbeschwerde / Verurteilung - spanisches Schnellverfahren / Bundeszentralregister / Aufklärung

Pressemitteilung:

PM: Die Verurteilung im spanischen Schnellverfahren muss durch deutsche Gerichte bei entsprechendem Vortrag näher aufgeklärt werden

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die sich gegen die Eintragung einer spanischen Schnellverurteilung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung in das Bundeszentralregister richtete. Der Beschwerdeführer ist in seinem Grundrecht auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art.19 Abs.4 Satz 1 GG) verletzt, weil das Ausgangsgericht die zur Verurteilung führenden Umstände nicht ausreichend aufgeklärt und dessen Vorbringen, das in das Bundeszentralregister eingetragene ausländische Strafurteil sei unter Verstoß gegen verfahrensrechtliche Mindeststandards zustande gekommen, nicht ausreichend geprüft hat.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Der Beschluss des Kammergerichts vom 12.Oktober 2012 - 4 VAs 49/12 - verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 19 Absatz 4 und Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes.

2) Der Beschluss wird aufgehoben. 3) Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Kammergericht zurückverwiesen. 4) Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

17.005 Schmähkritik

  1. BVerfG,     B, 08.02.17,     – 1_BvR_2973/14 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.25/2017

  3. GG_Art.5 Abs.1 S.1

  4. Bundestagsabgeordneter / Strafantrag / Verurteilung / Beleidigung / Meinungsfreiheit

 

PM: Die falsche Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik verkürzt den grundrechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit

 

Wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik von Verfassungs wegen eng zu verstehen. Auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik macht eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Die Annahme einer Schmähung hat wegen des mit ihr typischerweise verbundenen Unterbleibens einer Abwägung gerade in Bezug auf Äußerungen, die als Beleidigung beurteilt werden, ein eng zu handhabender Sonderfall zu bleiben. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden und damit einer Verfassungsbeschwerde gegen die strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Beleidigung stattgegeben.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 17. September 2012 - 523 Ds 86/12, 121 Js 769/11 -, das Urteil des Landgerichts Köln vom 29. April 2014 - 155 Ns 155/12, 121 Js 769/11 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 26. September 2014 - III-1 RVs 171/14, 85 Ss 1/14 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.

2) Die Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Köln zurückverwiesen.

3) Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die ihm im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

4) Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

§§§

17.006 Abbildung Prominenter

  1. BVerfG,     B, 09.02.17,     – 1_BvR_967/15 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.17/2017

  3. GG_Art.5 Abs.1 S.2

  4. Verfassungsbeschwerde / Pressefreiheit / Veröffentlichung von Abbildungen / Schutzkonzept / öffentliches Informationsinteresse

 

PM: Zur Abbildung von Prominenten im öffentlichen und im privaten Raum durch die Presse

 

Die Zivilgerichte müssen im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung das Gewicht der Pressefreiheit bei der Berichterstattung über Ereignisse, die von großem öffentlichen Interesse sind, ausreichend berücksichtigen. Von Bedeutung ist dabei unter anderem, ob sich die abgebildete Person im öffentlichen Raum bewegt. Betrifft die visuelle Darstellung die Privatsphäre oder eine durch räumliche Privatheit geprägte Situation, ist das Gewicht der Belange des Persönlichkeitsschutzes erhöht. Über die sich hieraus näher ergebenden Anforderungen hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in zwei heute veröffentlichten Beschlüssen entschieden.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Das Urteil des Landgerichts Köln vom 3. April 2013 - 28 O 400/12 - und das Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 19. Dezember 2013 - 15 U 64/13 verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes.

2) Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Köln zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 24. März 2015 - VI ZR 33/14 - gegenstandslos.

3) Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin die ihr im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

4) Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

§§§

17.007 Nichteinhaltung-Beschwerdefrist

  1. BVerfG,     B, 22.02.17,     – 1_BvR_2875/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-19/2017

  3. BVerfGG_§_93 Abs.3

 

PM: Unzulässige Verfassungsbeschwerde aufgrund der Nichteinhaltung der Beschwerdefrist

 

Rein redaktionelle Änderungen eines Gesetzes, die den materiellen Gehalt und den Anwendungsbereich einer Norm nicht berühren, setzen die Frist zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde nicht neu in Lauf. Diesen Grundsatz hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss bestätigt und eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen eine gesetzliche Regelung im Bereich der Werkfeuerwehren richtete.

§§§

17.008 Notariatsreform-BW

  1. BVerfG,     B, 24.02.17,     – 2_BvR_2524/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.15/2017

  3. GG_Art.33 Abs.5

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Notariatsreform Baden-Württemberg

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerde eines Bezirksnotars, die sich gegen die Reform des Notariatswesens in Baden-Württemberg richtet, nicht zur Entscheidung angenommen. Die Notariatsreform verstößt nicht gegen Art.33 Abs.5 GG.

§§§

17.009 Kindererziehungszeiten

  1. BVerfG,     B, 06.03.17,     – 1_BvR_2740/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.22/2017

  3. BVerfGG_§_23 Abs.1 S.2

  4. Verfassungsbeschwerde / gesetzliche Rentenversicherung / Erziehungszeiten im außereuropäischen Ausland

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung der rentenrechtlichen Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in einem Drittstaat

 

Es besteht kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf die rentenrechtliche Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten in einem Drittstaat, der nicht Mitglied der Europäischen Union ist. Dies hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss bekräftigt und damit die Verfassungsbeschwerde einer Beschwerdeführerin nicht zur Entscheidung angenommen, der die rentenrechtliche Berücksichtigung ihrer Erziehungsleistung in Kanada versagt worden war.

§§§

17.010 1.Glückspieländerungsstaatsvertrag

  1. BVerfG,     B, 07.03.17,     – 1_BvR_1314/12 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.27/2017

  3. GG_Art.12 Abs.1, GG_Art.70 Abs.1, GG_Art.74 Abs.1 Nr.11

  4. 1.Glückspieländerungsstaatsvertrag / Genehmigung von Spielhallen / Verschärfung / Verfassungsmäßigkeit / Subsidiaritätsgrundsatz / Begründungsanforderungen / Verbundverbot / Abstandsgebot / Vereinbarkeit

 

1) Die Länder besitzen die ausschließliche Zuständigkeit zur Regelung der gewerberechtlichen Anforderungen an den Betrieb und die Zulassung von Spielhallen (Art.70 Abs.1 in Verbindung mit Art.74 Abs.1 Nr.11 GG).

 

2) Das Verbot des Verbundes mehrerer Spielhallen an einem Standort, die Abstandsgebote, die Reduzierung der Gerätehöchstzahl je Spielhalle, die Aufsichtspflicht und die Übergangsregelungen im Glücksspielstaatsvertrag und den Gesetzen der Länder Berlin, Bayern und des Saarlandes sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

 

3) Sofern der Staat auf Teilen des Spielmarktes auch eigene fiskalische Interessen verfolgt und die Glücksspielformen potentiell in Konkurrenz zueinander stehen, müssen staatliche Maßnahmen auf die Bekämpfung der Spielsucht ausgerichtet sein.

 

4) Vor dem Abschluss eines Staatsvertrages zwischen den Ländern entfällt schutzwürdiges Vertrauen in die geltende Rechtslage bereits dann, wenn die geplanten Änderungen hinreichend öffentlich in konkreten Umrissen vorhersehbar sind.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Das Verfahren wird abgetrennt, soweit es den Antrag auf Erstreckung der Verfassungsbeschwerde 1_BvR_1630/12 auf § 1 Absatz 1, § 2 Absatz 1, 2 und 3 und §§ 3 bis 8 des Gesetzes zur Umsetzung des Mindestabstands nach dem Spielhallengesetz Berlin für Bestandsunternehmen vom 22.März 2016 (Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 117) sowie auf § 2 Absatz 3 Nummer 5, Absatz 4, § 4 Absatz 1 Satz 3 und 4 und § 7 Absatz 1 Nummer 4 des Gesetzes zur Regelung des Rechts der Spielhallen im Land Berlin in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung des Mindestabstands nach dem Spielhallengesetz Berlin für Bestandsunternehmen sowie zur Änderung spielrechtlicher Vorschriften vom 22.März 2016 (Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 117) zum Gegenstand hat.

2) Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.

§§§

17.011 Erdogan

  1. BVerfG,     B, 08.03.17,     – 2_BvR_483/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.16/2017

  3. GG_Art.25, GG_Art.32 Abs.1, GG_Art.38 Abs.1 S.1 ; UN-Charta_Art.2 Nr.1

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen den Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten in Deutschland

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine vornehmlich gegen den Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Yildirim am 18. Februar 2017 in Oberhausen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Zwar haben Staatsoberhäupter und Mitglieder ausländischer Regierungen weder von Verfassungs wegen noch nach einer allgemeinen Regel des Völkerrechts einen Anspruch auf Einreise in das Bundesgebiet und können sich in ihrer amtlichen Eigenschaft auch nicht auf Grundrechte berufen. Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch bereits unzulässig, weil der Beschwerdeführer nicht hinreichend substantiiert dargelegt hat, dass er selbst betroffen ist.

§§§

17.012 Verurteilung-Bleidigung

  1. BVerfG,     B, 13.03.17,     – 1_BvR_1438/15 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.29/2017

  3. GG_Art.5 Abs.1 S.1 + 2

  4. Verfassungsbeschwerde / strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung / Jamal ehrt die Helden der Nation / die faulen und die dreisten bekommen am, meisten / Meinungs- und Pressefreiheit

 

PM: Verfassungsbeschwerde gegen die Verurteilung wegen Beleidigung eines Ehepaars aus Jamel erfolglos

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde gegen die Verurteilung wegen Beleidigung eines in Jamel (Mecklenburg-Vorpommern) lebenden Ehepaars nicht zur Entscheidung angenommen. Das von den Fachgerichten angenommene Überwiegen der Belange der persönlichen Ehre ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden und verletzt nicht die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers.

§§§

17.013 Vorratsdatensspeicherung-weitere Anträge

  1. BVerfG,     B, 26.03.17,     – 1_BvR_3156/15 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.28/2017

  3. BVerfGG_§_32/1

 

Weitere Eilanträge in Sachen "Vorratsdatenspeicherung" erfolglos

 

Die Antragsteller haben sich mit ihren Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erneut gegen das Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10. Dezember 2015 gewandt. Sie wollten insbesondere mit Blick auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 21. Dezember 2016 (Rs. C-203/15 und C-698/15) erreichen, dass die durch dieses Gesetz eingeführte Vorratsspeicherung von Telekommunikations-Verkehrsdaten zu Zwecken der öffentlichen Sicherheit außer Kraft gesetzt wird. Mit heute veröffentlichten Beschlüssen hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Auch nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union stellen sich hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Bewertung der angegriffenen Regelungen Fragen, die nicht zur Klärung im Eilrechtschutzverfahren geeignet sind.

§§§

17.014 Beihilfe zur Volksverhetzung

  1. BVerfG,     B, 28.03.17,     – 1_BvR_1384/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.30/2017

  3. GG_Art.5 Abs.1 S.1

  4. Verfassungsbeschwerde / Verurteilung / Beihile zur Volksverhetzung / Meinungsfreiheit

 

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Verurteilung wegen Beihilfe zur Volksverhetzung

 

Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss einer Verfassungsbeschwerde gegen die Verurteilung wegen Beihilfe zur Volksverhetzung stattgegeben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Die Strafgerichte müssen den Sinngehalt einer zu beurteilenden Äußerung zutreffend erfassen und sich zudem auf der Ebene der Abwägung mit der Frage auseinandersetzen, welche Bedeutung der Meinungsfreiheit für die zu treffende Entscheidung zukommt.

§§§

17.015 Schädlicher Beteiligungserwerb

  1. BVerfG,     B, 29.03.17,     – 2_BvL_6/11 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.34/2017

  3. GG_Art.3 Abs.1; KStG_§_8c Abs,1 S.1

 

Zur Ungleichbehandlung von Kapitalgesellschaften beim Verlustabzug infolge eines schädlichen Beteiligungserwerbs nach § 8c Satz 1 KStG (jetzt § 8c Absatz 1 Satz 1 KStG)

 

PM: Verlustabzug bei Kapitalgesellschaften nach § 8c Satz 1 KStG (jetzt § 8c Abs.1 Satz 1 KStG) mit dem Grundgesetz unvereinbar Die Regelung in § 8c Satz 1 Körperschaftsteuergesetz (KStG), wonach der Verlustvortrag einer Kapitalgesellschaft anteilig wegfällt, wenn innerhalb von fünf Jahren mehr als 25 % und bis zu 50 % der Anteile übertragen werden (schädlicher Beteiligungserwerb), ist mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art.3 Abs.1 GG) unvereinbar. Gleiches gilt für die wortlautidentische Regelung in § 8c Abs.1 Satz 1 KStG in ihrer bis 31. Dezember 2015 geltenden Fassung. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden. Es fehlt ein sachlich einleuchtender Grund für die Ungleichbehandlung von Kapitalgesellschaften bei der Bestimmung ihrer steuerpflichtigen Einkünfte im Fall eines sogenannten schädlichen Beteiligungserwerbs. Der Gesetzgeber muss bis 31.Dezember 2018 rückwirkend für die Zeit vom 1.Januar 2008 bis 31. Dezember 2015 eine Neuregelung treffen.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 8c Satz 1 Körperschaftsteuergesetz in der Fassung des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 vom 14. August 2007 (Bundesgesetzblatt I Seite 1912) sowie § 8c Absatz 1 Satz 1 Körperschaftsteuergesetz in der Fassung des Gesetzes zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen vom 12.August 2008 (Bundesgesetzblatt I Seite 1672) und den nachfolgenden Fassungen bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustverrechnung bei Körperschaften vom 20.Dezember 2016 (Bundesgesetzblatt I Seite 2998) sind mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit bei der unmittelbaren Übertragung innerhalb von fünf Jahren von mehr als 25 Prozent des gezeichneten Kapitals an einer Kapitalgesellschaft an einen Erwerber (schädlicher Beteiligungserwerb) insoweit die bis zum schädlichen Beteiligungserwerb nicht ausgeglichenen oder abgezogenen negativen Einkünfte (nicht genutzte Verluste) nicht mehr abziehbar sind.

2) Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens bis zum 31.Dezember 2018 rückwirkend zum 1.Januar 2008 eine Neuregelung zu treffen.

3) Sollte der Gesetzgeber seiner Verpflichtung nicht nachkommen, tritt am 1. Januar 2019 im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit rückwirkend auf den Zeitpunkt ihres Inkrafttretens die Nichtigkeit von § 8c Satz 1 und § 8c Absatz 1 Satz 1 Körperschaftsteuergesetz ein.

§§§

17.016 Anspruch auf Krankenversorgung

  1. BVerfG,     B, 11.04.17,     – 1_BvR_452/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.33/2017

  3. GG_Art.2 Abs.1

  4. Verfassungsbeschwerde / verfassungsunmittelbarer Anspruch / individuelle Notlage

 

PM: Verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Krankenversorgung erfordert eine durch nahe Lebensgefahr gekennzeichnete individuelle Notlage

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt, dass ein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Krankenversorgung bestehen kann, wenn in Fällen einer lebensbedrohlichen Erkrankung vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung umfasste Behandlungsmethoden nicht vorliegen, eine andere Behandlungsmethode aber eine Aussicht auf Besserung verspricht. Allerdings würde es dem Ausnahmecharakter eines solchen Leistungsanspruchs nicht gerecht, wenn man diesen in großzügiger Auslegung der Verfassung erweitern würde. Die notwendige Gefährdungslage liegt erst in einer notstandsähnlichen Situation vor. Anknüpfungspunkt eines derartigen verfassungsrechtlich gebotenen Anspruchs ist deswegen allein das Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage.

§§§

17.017 Kernbrennstoffsteuergesetz

  1. BVerfG,     B, 13.04.17,     – 2_BvL_6/13 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.42/2017

  3. GG_Art.105, GG_Art.106 Abs.1 Nr.2,

  4. Konkrete Normenkontrolle / Richtervorlage / Kernbrennstoffsteuergesetz / Steuerrechtliche Vereinbarkeit / Typusbegriffe / Steuerfindungsrecht

 

1) Für die in Art.105 und Art.106 GG aufgeführten Steuern und Steuerarten verwendet das Grundgesetz Typusbegriffe.

 

2) Innerhalb der durch Art.105 und Art.106 GG vorgegebenen, weit zu interpretierenden Typusbegriffe steht es dem Gesetzgeber offen, neue Steuern zu "erfinden".

 

3) Die Zuweisung von Gesetzgebungskompetenzen an Bund und Länder durch Art.105 GG in Verbindung mit Art.106 GG ist abschließend. Ein über den Katalog der Steuertypen des Art.106 GG hinausgehendes allgemeines Steuererfindungsrecht lässt sich aus dem Grundgesetz nicht herleiten.

 

4) Die Besteuerung des unternehmerischen Verbrauchs eines reinen Produktionsmittels ist mit einem gesetzgeberischen Konzept, im Wege der Verbrauchsteuer auf die private Einkommensverwendung Zugriff zu nehmen, regelmäßig nicht zu vereinbaren.

 

5) Die Kernbrennstoffsteuer ist keine Verbrauchsteuer im Sinne des Art.106 Abs.1 Nummer 2 GG.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Das Kernbrennstoffsteuergesetz vom 8.Dezember 2010 (Bundesgesetzblatt I Seite 1804), zuletzt geändert durch Artikel 240 der Zehnten Zuständigkeitsanpassungsverordnung vom 31.August 2015 (Bundesgesetzblatt I Seite 1474), ist mit Artikel 105 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 106 Absatz 1 Nummer 2 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

§§§

17.018 Richterausschluss

  1. BVerfG,     B, 13.04.17,     – 1_BvR_610/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.35/2017

  3. BVerfGG_§_18 Abs.1 Nr.1, BVerfGG_§_18 Abs.1 Nr.2

 

PM: Die Ausschlussregelung wegen der Beteiligung eines Bundesverfassungsrichters an der Sache ist eng auszulegen

 

Vizepräsident Kirchhof und Richter des Bundesverfassungsgerichts Schluckebier sind weder von Gesetzes wegen noch auf Grund des vom Beschwerdeführer formulierten Ablehnungsgesuchs von der Mitwirkung an der Entscheidung in einem Kammerverfahren ausgeschlossen. Dies hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden und eine Verfassungsbeschwerde zur Frage der Beitragserhebung auf Kapitalleistungen der betrieblichen Altersversorgung nicht zur Entscheidung angenommen.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Der Ablehnungsantrag wird als unzulässig verworfen.

2) Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

3) Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs.3 GOBVerfG).

§§§

17.019 Abschiebung nach Griechenland

  1. BVerfG,     B, 08.05.17,     – 2_BvR_157/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.39/2017

  3. GG_Art.2 Abs.2 S.1, GG_Art.19 Abs.4 S.1

  4. Verfassungsbeschwerde / Abschiebung nach Griechenland / Sachaufklärung - unzureichende

 

PM: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Abschiebung nach Griechenland aufgrund von unzureichender Sachaufklärung im Einzelfall

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die sich gegen die Versagung von Eilrechtsschutz im gerichtlichen Verfahren gegen die Ablehnung eines Asylantrags und die Androhung der Abschiebung nach Griechenland richtete. Die fachgerichtliche Beurteilung der Aufnahmebedingungen in einem Drittstaat muss, jedenfalls wenn Anhaltspunkte für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vorliegen und damit der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert ist, auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage beruhen. Soweit entsprechende Informationen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, Eilrechtsschutz zu gewähren.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Minden vom 14. Dezember 2016 - 1 L 2033/16.A -, vom 6. Januar 2017 - 1 L 23/17.A - und vom 26. Januar 2017 - 1 L 151/17.A - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen zureichenden tatsächlichen Grundlage beruhen. Soweit entsprechende Informationen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, Eilrechtsschutz zu gewähren.

§§§

17.020 Sozialwahl 2017

  1. BVerfG,     B, 09.05.17,     – 1_BvR_943/17 –

  2. www.BVerfG.de =

  3. GG_Art.20 Abs.1 + 2, GG_Art.38; BVerfGG_§_32, BVerfGG_§_90 Abs.2

  4. Verfassungsbeschwerde / Zurückweisung einer Vorschlagsliste / Rechtsweg / Darlegungslast / Vorabentscheidung

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Zurückweisung einer Vorschlagsliste für die Sozialwahl 2017

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die Zurückweisung einer Vorschlagsliste für die Sozialversicherungswahlen 2017 richtete. Die Verfassungsbeschwerde, aber auch der damit verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sind bereits unzulässig, da der Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht erschöpft und eine mögliche Grundrechtsverletzung nicht substantiiert dargelegt hat.

§§§

17.021 Abstandsgebot

  1. BVerfG,     B, 23.05.17,     – 2_BvR_883/14 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.56/2017

  3. GG_Art.3 Abs.1 GG_Art.33 Abs.5; (Ss) BesG_§_20 Abs.3-5

  4. Verfassungsbeschwerde / Ostbesoldung - Auslaufen /

 

1) Das Abstandsgebot stellt einen eigenständigen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums dar, der in enger Anbindung zum Alimentationsprinzip und zum Leistungsgrundsatz steht.

 

2) Das Abstandsgebot untersagt dem Besoldungsgesetzgeber ungeachtet seines weiten Gestaltungsspielraums, den Abstand zwischen verschiedenen Besoldungsgruppen dauerhaft einzuebnen, soweit der Gesetzgeber nicht in dokumentierter Art und Weise von seiner Befugnis zur Neueinschätzung der Ämterwertigkeit und Neustrukturierung des Besoldungsgefüges Gebrauch macht.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

2) a) § 20 Absatz 3 bis 5 Sächsisches Besoldungsgesetz sowie Anlagen 21, 22, 25, 35, 36 und 39 zum Sächsischen Besoldungsgesetz in der Fassung des Fünften Gesetzes zur Änderung des Sächsischen Besoldungsgesetzes vom 17.Januar 2008 (Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 3) sind mit Artikel 33 Absatz 5 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit sie die Besoldungsanpassung 2008 für die Besoldungsgruppe A 10 erst mit viermonatiger Verzögerung vorsehen.

b) § 12 Absatz 2, § 14 Absatz 3 der Zweiten Verordnung über besoldungsrechtliche Übergangsregelungen nach Herstellung der Einheit Deutschlands in Verbindung mit § 17 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 Sächsisches Besoldungsgesetz sowie Anlagen 2, 3, 6, 16, 17 und 20 zum Sächsischen Besoldungsgesetz in der Fassung des Fünften Gesetzes zur Änderung des Sächsischen Besoldungsgesetzes vom 17.Januar 2008 (Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 3) sind mit Artikel 33 Absatz 5 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit sie die Besoldungsgruppe A 10 in den Kalenderjahren 2008 und 2009 betreffen.

3) Der Gesetzgeber des Freistaates Sachsen hat spätestens bis zum 1.Juli 2018 verfassungskonforme Regelungen für die Jahre 2008 und 2009 zu treffen.

4) a) Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.Dezember 2013 - 2 C 24.12 -, das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 18. September 2012 - 2 A 736/10 - und das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 24. August 2010 - 3 K 925/08 - verletzen den Beschwerdeführer zu I. in seinem Recht aus Artikel 33 Absatz 5 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wird aufgehoben und die Sache an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.

b) Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.Dezember 2013 - 2 C 26.12 -, das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 18.September 2012 - 2 A 524/10 - und das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 25.Februar 2010 - 3 K 928/08 - verletzen den Beschwerdeführer zu II. in seinem Recht aus Artikel 33 Absatz 5 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wird aufgehoben und die Sache an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.

5) Der Freistaat Sachsen hat den Beschwerdeführern zu I. und II. ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

§§§

17.022 Versorgungsabfindung

  1. BVerfG,     B, 23.05.17,     – 2_BvL_10/11 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.48/2017

  3. GG_Art.

  4. Richtervorlagen / Bundewehrangehörige / überstaatliche Einrichtung / Nato / Kapitalabfindung zur Alterversorgung / Versorgungsansprüche / dauerhaftes Ruhen

 

Es gibt weder einen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums (Art.33 Abs.5 GG), der die Ruhegehaltfähigkeit von Zeiten im Dienste einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung zwingend anordnet oder untersagt, noch einen solchen Grundsatz, nach dem sich der Umgang mit Kapitalabfindungen aus dem Dienst in zwischen- oder überstaatlichen Einrichtungen bestimmt.

 

PM: Die Anrechnung von Kapitalabfindungen der NATO auf das Ruhegehalt von Bundeswehrangehörigen ist verfassungsrechtlich zulässig Der Gesetzgeber darf Kapitalabfindungen, die im Zusammenhang mit einer Verwendung im öffentlichen Dienst einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung ausgezahlt wurden, auf das den Bundeswehrangehörigen nach deutschen Versorgungsbezügen zustehende Ruhegehalt anrechnen. Dies hat der Zweite Senat durch heute veröffentlichten Beschluss in zwei Verfahren der konkreten Normenkontrolle entschieden. Denn es gibt weder einen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums, der die Ruhegehaltfähigkeit von Zeiten im Dienste einer zwischen- oder überstaatlichen Einrichtung zwingend anordnet oder untersagt, noch einen solchen Grundsatz, nach dem sich der Umgang mit Kapitalabfindungen aus dem Dienst in zwischen- oder überstaatlichen Einrichtungen bestimmt.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Die Verfahren 2_BvL_10/11 und 2_BvL_28/14 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

2) Die Vorlage des Bayerischen Verwaltungsgerichts München in der Sache 2_BvL_28/14 ist unzulässig. 3)§ 55b Absatz 3 Satz 1 des Soldatenversorgungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 1987 (Bundesgesetzblatt I Seite 843) sowie in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Beamtenversorgungsgesetzes und sonstiger dienst- und versorgungsrechtlicher Vorschriften vom 18. Dezember 1989 (Bundesgesetzblatt I Seite 2218) ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

17.023 Versammlungsrechtliche Auflage

  1. BVerfG,     B, 03.06.17,     – 1_BvQ_29/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.40a/2017

  3. Eilantrag / versammlungsrechtliche Auflage / Versammlungsleiter / Erkrankung

 

PM: Erfolgloser Eilantrag gegen versammlungsrechtliche Auflage

 

Am Samstag, 3.Juni 2017, fand in Karlsruhe-Durlach eine Versammlung des Landesverbands Baden-Württemberg der Partei "DIE RECHTE" statt. Im Vorfeld der Versammlung hatte die Versammlungsbehörde der Stadt Karlsruhe als Auflage Redeverbote für neun der ursprünglich vorgesehenen Redner ausgesprochen. Hiergegen wendete sich der Antragsteller - Mitglied im Bundesvorstand der Partei und zugleich stellvertretender Leiter der geplanten Versammlung - im Wege des verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes. Die gegen die ablehnende Entscheidung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe gerichtete Beschwerde wies der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurück, da dem Antragsteller die erforderliche Antragsbefugnis fehle. Insbesondere sei nicht ersichtlich, dass der Antragsteller tatsächlich die Aufgaben des Versammlungsleiters übernehmen müsse. Der Antragsteller habe weder die Art noch die Symptome der behaupteten Erkrankung des vorgesehenen Versammlungsleiters erläutert oder dargelegt, ob und weshalb konkret mit einem Ausfall des Versammlungsleiters zu rechnen sei. Nach Beginn der Versammlung beantragte der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unzulässig, da er dem Grundsatz der Subsidiarität des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes nicht genügt. Der Antragsteller hat erstmals im verfassungsrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren näher zur Erkrankung des Versammlungsleiters vorgetragen. Die Fachgerichtsbarkeit hatte ferner darauf hingewiesen, dass der veranstaltende Landesverband gegen die Auflagen nicht vorgegangen war und dass ein stellvertretender Versammlungsleiter diese Entscheidung durch Inanspruchnahme von Rechtsmitteln nicht konterkarieren dürfe. Der Antragsteller hätte zumindest darlegen müssen, dass er im Einvernehmen mit dem Landesverband als Adressat der Auflage handelte. Das Verfahren der Verfassungsbeschwerde bzw. der einstweiligen Anordnung dient jedoch nicht dem Zweck, prozessuale Versäumnisse des Antragstellers zu kompensieren.

§§§

17.024 Unmittelbare Verfassungsbeschwerde

  1. BVerfG,     B, 06.06.17,     – 1_BvQ_16/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.61/2017

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.5 Abs.1, GG_Art.20 Abs.3, GG_Art.103 Abs.1

  4. Verfassungsbeschwerde / Annahmevoraussetzungen / Gehörverstöße / Einstweilige Anordnung / prozessuale Waffengleichheit / Recht auf ein faires Verfahren / unmittelbare VB gegen einstweilige Verfügung

 

PM: Gegen presserechtliche Unterlassungsanordnungen kann in Ausnahmefällen unmittelbar Verfassungsbeschwerde erhoben werden

 

Mit ihren Verfassungsbeschwerden und den damit verbundenen Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erstrebt die Beschwerdeführerin die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung von Unterlassungsverfügungen wegen Veröffentlichungen im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass ihr vor Erlass der Unterlassungsanordnungen vom Landgericht ohne sachlichen Grund und unter bewusster Umgehung ihrer prozessualen Rechte das rechtliche Gehör verwehrt würde. Dieses entspräche ständiger Praxis. Hintergrund dessen sei, dass sich das Landgericht darauf verlasse, dass die Gehörsverletzung wegen Heilung im späteren fachgerichtlichen Verfahren nicht mehr gerügt werden könne. Um diesem Abschneiden der Rügemöglichkeit zu entgehen, richte sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Durchsetzung der Unterlassungsverfügungen auf der Ebene des Zwangsvollstreckungsrechts. Mit dem heute veröffentlichten Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Zwar könne das von der Beschwerdeführerin gerügte Vorgehen nicht mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidungen zur Zwangsvollstreckung angegriffen werden. Jedoch kommt insoweit - hinsichtlich der Rüge eines Verstoßes gegen die prozessuale Waffengleichheit und das Recht auf ein faires Verfahren - die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die Unterlassungsverfügung in Betracht. Allerdings ist die insoweit geltende Monatsfrist im vorliegenden Fall bereits abgelaufen.

§§§

17.025 Oktoberfestattentat

  1. BVerfG,     B, 13.06.17,     – 2_BvE_1/15 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.60/2017

  3. GG_Art.20 Abs.2 S.2, GG_Art.38 Abs.1 S.2,

  4. Auskünfte / verdeckter Ermittler / Auskunftsverweigerung / nachrichtendienstliche Erkenntnisse / Oktoberfestattentat

 

1) Aus Art.38 Abs.1 Satz 2 und Art.20 Abs.2 Satz 2 GG folgt ein Frage- und Informationsrecht des Deutschen Bundestages, der Fraktionen und der einzelnen Abgeordneten gegenüber der Bundesregierung, dem grundsätzlich eine Antwortpflicht der Bundesregierung korrespondiert. Dies gilt auch für Anfragen aus dem Bereich der Tätigkeit von Nachrichtendiensten.

 

2) Angesichts der Bedeutung, die dem Einsatz verdeckter Quellen bei der Informationsbeschaffung der Nachrichtendienste zukommt, kann sich die Bundesregierung zur Auskunftsverweigerung trotz des erheblichen Informationsinteresses des Parlaments in diesem Bereich aber in der Regel auf eine Gefährdung des Staatswohls und der Grundrechte verdeckt handelnder Personen berufen, wenn deren Identität bei der Erteilung der begehrten Auskünfte offenbart würde oder ihre Identifizierung möglich erscheint.

 

3) Der Schutz von Informationsquellen und insbesondere von V-Leuten dient nicht nur den Interessen der betroffenen Personen, sondern hat auch für die Arbeitsweise und Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste erhebliche Bedeutung. Werden Informationen über V-Leute und sonstige verdeckte Quellen herausgegeben, schwächt dies das Vertrauen in die Wirksamkeit von Geheimhaltungszusagen.

 

4) Bei Fragen zum Einsatz konkreter Personen als V-Leute sind aber eng begrenzte Ausnahmefälle denkbar, in denen das parlamentarische Informationsinteresse überwiegt. Dies ist insbesondere der Fall, wenn aufgrund besonderer Umstände eine Gefährdung grundrechtlich geschützter Belange ausgeschlossen ist oder zumindest fernliegend erscheint und eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste nicht ernsthaft zu befürchten ist.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Die Antragsgegnerin hat

a) die Antragstellerin zu 1. und den Deutschen Bundestag durch ihre Antwort vom 24.November 2014 (Bundestagsdrucksache 18/3259) auf Frage 2 a) der Kleinen Anfrage vom 8.Oktober 2014 (Bundestagsdrucksache 18/3117) sowie

b) die Antragstellerin zu 2. und den Deutschen Bundestag durch ihre Antwort vom 9.Februar 2015 (Bundestagsdrucksache 18/3985) auf die Fragen 14 bis 16, 19 bis 23 und 28 bis 31 der Kleinen Anfrage vom 21.Januar 2015 (Bundestagsdrucksache 18/3810)

nach Maßgabe der Gründe in ihren Rechten aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt.

2) Im Übrigen werden die Anträge zurückgewiesen.

§§§

17.026 Zulassung als Rechtsanwalt

  1. BVerfG,     B, 13.06.17,     – 1_BvR_1370/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.59/2017

  3. GG_Art.12 Abs.1; BVerfGG_§_23 Abs.1 S.2, BVerfGG_§_92; BRAO_§_164 ff

  4. Verfassungsbeschwerde / Auswahlverfahren / Zulassung als Rechtsanwalt beim BGH / Berufsfreiheit

 

PM: Verfassungsbeschwerde betreffend das Auswahlverfahren für die Zulassung als Rechtsanwalt bei dem Bundesgerichtshof erfolglos

 

Die Verfassungsbeschwerde eines Rechtsanwalts, der sich gegen das Auswahlverfahren für die Zulassung als Rechtsanwalt bei dem Bundesgerichtshof wendet, ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Dies hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil sie den Anforderungen an die Beschwerdebegründung nicht genügt.

§§§

17.027 Gleichgeschlechtliche Paare

  1. BVerfG,     B, 14.06.17,     – 2_BvQ_29/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.46/2017

  3. BVerfGG_§_32 Abs.1

  4. Recht auf Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare / Eilantrag / Einführung des Rechts

 

PM: Eilanträge betreffend die Einführung des Rechts auf Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare erfolglos

 

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss die Eilanträge der Bundestagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN betreffend die Einführung des Rechts auf Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare abgelehnt. Die Anträge richten sich gegen die unterbliebene Beschlussfassung über die entsprechenden Gesetzentwürfe durch den zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages. Dem Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung steht nach der Entscheidung des Senats entgegen, dass die Hauptsache jedenfalls offensichtlich unbegründet wäre. Dem Vorbringen der Bundestagsfraktion ist eine missbräuchliche Handhabung des Gesetzesinitiativrechts und damit eine Verletzung des Befassungsanspruchs des Gesetzesinitianten nicht zu entnehmen.

§§§

17.028 Amtliche Dokumente

  1. BVerfG,     B, 20.06.17,     – 1_BvR_1978/13 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.58/2017

  3. GG_Art.5 Abs.1 S.1 + 2, GG_Art.5 Abs.3 S.1; IFG_§_1 Abs.1 S.1; BArchG_§_5 Abs.1

 

Zu den Voraussetzungen einer auf Art.5 Abs.1 Satz 1, Halbsatz 2 GG gestützten Verfassungsbeschwerde, mit der Informationszugang zu amtlichen Dokumenten geltend gemacht wird, die sich in Privatbesitz befinden.

 

PM: Verfassungsbeschwerde auf Bereitstellung von Akten im Gewahrsam Privater mangels Rechtswegerschöpfung erfolglos

 

Durch heute veröffentlichten Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde verworfen, die sich gegen die Versagung der Bereitstellung von Akten nach dem Informationsfreiheitsgesetz richtet, wenn diese sich im Besitz privater Dritter, insbesondere in Archiven der Stiftungen politischer Parteien, befinden. Wenn die Akten nie an das Bundesarchiv gelangt sind, muss sich die Beschwerdeführerin zunächst an die für die Aktenführung zuständige Behörde halten und gegebenenfalls dieser gegenüber den Rechtsweg erschöpfen. Denn wichtige einfachrechtliche Fragen des mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemachten Informationszugangsrechts sind bislang ungeklärt.

§§§

17.029 Abdruck eines Nachtrags

  1. BVerfG,     B, 22.06.17,     – 1_BvR_666/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.50/2017

  3. BVerfGG_§_32 Abs.1

  4. Verfassungsbeschwerde / Verpflichtung zum Abdruck eines Nachtrages / Einstweilige Anordnung / Folgenabwägung

 

PM: Erfolgreicher Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Verpflichtung eines Nachrichtenmagazins zum Abdruck eines "Nachtrags"

 

Im Wege der einstweiligen Anordnung hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts auf Antrag der Beschwerdeführerin mit heute veröffentlichtem Beschluss die Vollstreckung aus einem Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg einstweilen eingestellt. Mit diesem Urteil war der Beschwerdeführerin auferlegt worden, einen "Nachtrag" zu einem im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" erschienenen Artikel abzudrucken. Die Entscheidung der Kammer beruht auf einer Folgenabwägung. Ein weiterer Aufschub bei der Vollstreckung ist dem Kläger des Ausgangsverfahrens eher zumutbar als es die Verpflichtung zum sofortigen Abdruck für die Antragstellerin wäre.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Die Vollstreckung aus dem Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 10.Februar 2015 wird bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im vorliegenden Verfahren einstweilen eingestellt.

2) Die Vollziehung des Beschlusses des Landgerichts Hamburg vom 16. Mai 2017 wird, soweit darin gegen die Antragstellerin ein Zwangsgeld in Höhe von 10.000 festgesetzt worden ist, ausgesetzt.

§§§

17.030 Kopftuchverbot für Referendarinnen

  1. BVerfG,     B, 27.06.17,     – 2_BvR_1333/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.55/2017

  3. GG_Art.4 Abs.1 + 2, GG_Art.12 Abs.1; (He) JAG_§_27 Abs.1 S.2; HBG_§_45

  4. Verfassungsbeschwerde / Eilantrag / Kopftuchverbot / Rechtsreferendarin / Folgenabwägung

 

PM: Eilantrag gegen Kopftuchverbot für Referendarinnen im juristischen Vorbereitungsdienst des Landes Hessen erfolglos

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung einer Referendarin im juristischen Vorbereitungsdienst des Landes Hessen abgelehnt. In Hessen dürfen Rechtsreferendarinnen, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, bei Verhandlungen im Gerichtssaal nicht auf der Richterbank sitzen, keine Sitzungsleitungen und Beweisaufnahmen durchführen, keine Sitzungsvertretungen für die Amtsanwaltschaft übernehmen und während der Verwaltungsstation keine Anhörungsausschusssitzung leiten. Die Beschwerdeführerin, die als Ausdruck ihrer individuellen Glaubensüberzeugung in der Öffentlichkeit ein Kopftuch trägt, wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde und dem damit verbunden en Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen diese Beschränkungen und rügt vornehmlich die Verletzung ihrer Berufsfreiheit (Art.12 Abs.1 GG) und ihrer Glaubensfreiheit (Art.4 Abs.1 und 2 GG). Die Entscheidung der Kammer beruht auf einer Folgenabwägung.

§§§

17.031 Kostenansatz einer Missbrauchsgebühr

  1. BVerfG,     B, 28.06.17,     – 1_BvR_2324/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.66/2017

  3. BVerfGG_§_34 Abs.2; JBeitrO_§_1 Abs.1 Nr.4; GKG_§_66

 

PM: Erfolglose Erinnerung gegen den Kostenansatz einer Missbrauchsgebühr

 

Mit Beschluss vom 2. Januar 2017 hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen und dem Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin eine Missbrauchsgebühr von 500 auferlegt. Gegen den Kostenansatz der Kostenrechnung hat der Bevollmächtigte Erinnerung eingelegt sowie die "Aussetzung der Vollziehung" beantragt.

Zwar ist die Erinnerung gegen den Kostenansatz einer Missbrauchsgebühr zulässig, sofern Einwendungen geltend gemacht werden, die die Haftung für den Anspruch oder die Verpflichtung zur Duldung der Vollstreckung betreffen. Im vorliegenden Fall bringt der Kostenschuldner jedoch keine solche Einwendung vor. Vielmehr wendet er sich gegen die Verhängung der Missbrauchsgebühr als solche. Diese ist - wie der Beschluss vom 2. Januar 2017 insgesamt - unanfechtbar.

§§§

17.032 G20-Protestcamp I

  1. BVerfG,     B, 28.06.17,     – 1_BvR_1387/2017 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.51/2017

  3. GG_Art.8 Abs.1

  4. G20-Gipfel / Protestcamp / 3000 Zelte / Versammlung / Untersagung / grünanlagenrechtliches Verbot zu zelten / Eilantrag / Folgenabwägung

 

G20-Protestcamp muss vorsorglich den Regeln des Versammlungsrechts unterstellt werden, kann aber beschränkt werden

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts im Wege der einstweiligen Anordnung der Stadt Hamburg aufgegeben, über die Duldung des im Stadtpark geplanten Protestcamps versammlungsrechtlich zu entscheiden. Die Entscheidung der Kammer beruht auf einer Folgenabwägung.

Nicht Gegenstand der Entscheidung ist die Frage, ob und wieweit das Protestcamp in Blick auf die öffentliche Sicherheit beschränkt oder möglicherweise auch untersagt werden kann.

§§§

17.033 G-20-Protestcamp II

  1. BVerfG,     B, 30.06.17,     – 1_BvR_1387/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.54/2017

  3. BVerfGG_§_32 Abs.1

  4. G20-Gipfel / Protestcamp / Zulässigkeit von Infrastruktureinrichtungen / Auslegung Antrag / Eilantrag / fachgerichtlicher Eilrechtsschutz

 

PM: Erneuter Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung in Sachen "G-20-Protestcamp" erfolglos

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3.Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts einen erneuten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Der Antragsteller wollte erreichen, dass das Bundesverfassungsgericht der Versammlungsbehörde der Stadt Hamburg konkrete Vorgaben hinsichtlich der Zulässigkeit von Infrastruktureinrichtungen für das geplante Protestcamp machen sollte.

Der hierzu gestellte Antrag auf Klarstellung und Ergänzung des am 28. Juni 2017 ergangenen Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts ist als Antrag auf Erlass einer weiteren einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs.1 BVerfGG auszulegen. Eine solche kommt nur in Betracht, wenn der Antragsteller bestehende Möglichkeiten, fachgerichtlichen Eilrechtsschutz zu erlangen, ausgeschöpft hat, was vorliegend nicht der Fall ist.

Nach dem Beschluss vom 28.Juni 2017 ist ein Ausgleich geboten, der dem Antragsteller die Durchführung eines Protestcamps anlässlich des G20-Gipfels möglichst weitgehend ermöglicht, andererseits müssen aber nachhaltige Schäden des Stadtparks verhindert und die diesbezüglichen Risiken für die öffentliche Hand möglichst gering gehalten werden. Dieser Ausgleich kann grundsätzlich nicht durch das Bundesverfassungsgericht selbst hergestellt werden, sondern verlangt eine Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen vor Ort. Gelingt dieser Ausgleich nicht im Rahmen der Kooperation zwischen den Beteiligten, ist er - gegebenenfalls auf der Grundlage behördlicher Entscheidungen - vor den Verwaltungsgerichten zu suchen. Die Hamburger Verwaltungsgerichte haben hierzu im Rahmen des G20-Gipfels einen besonderen versammlungsrechtlichen Eildienst eingerichtet.

§§§

17.034 Tarifeinheitsgesetz

  1. BVerfG,     U, 11.07.17,     – 1_BvR_1571/15 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.57/2017

  3. GG_Art.9 Abs.3; TVG_§_4a Abs.2 S.2

  4. Verfassungsbeschwerde / Tarifeinheitsgesetz / Vereinbarkeit / Koalitionsfreiheit

 

1) Das Freiheitsrecht aus Art.9 Abs.3 GG schützt alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen, insbesondere den Abschluss von Tarifverträgen, deren Bestand und Anwendung sowie Arbeitskampfmaßnahmen. Das Grundrecht vermittelt jedoch kein Recht auf unbeschränkte tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen.

 

2) Art.9 Abs.3 GG schützt die Koalitionen in ihrem Bestand, ohne dass damit eine Bestandsgarantie für einzelne Koalitionen verbunden wäre. Staatliche Maßnahmen, die darauf zielen, bestimmte Gewerkschaften aus dem Tarifgeschehen herauszudrängen oder bestimmten Gewerkschaftstypen die Existenzgrundlage zu entziehen, sind mit Art.9 Abs.3 GG ebenso unvereinbar wie die Vorgabe eines bestimmten Profils.

 

3) Gesetzliche Regelungen, die in den Schutzbereich des Art.9 Abs.3 GG fallen, und die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie herstellen und sichern sollen, verfolgen einen legitimen Zweck. Dazu kann der Gesetzgeber nicht nur zwischen den sich gegenüberstehenden Tarifvertragsparteien Parität herstellen, sondern auch Regelungen zum Verhältnis der Tarifvertragsparteien auf derselben Seite treffen, um strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Tarifverhandlungen auch insofern einen fairen Ausgleich ermöglichen und in Tarifverträgen mit der ihnen innewohnenden Richtigkeitsvermutung angemessene Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen hervorbringen können.

 

4) Bei der Regelung der Strukturbedingungen der Tarifautonomie verfügt der Gesetzgeber über eine Einschätzungsprärogative und einen weiten Handlungsspielraum. Schwierigkeiten, die sich nur daraus ergeben, dass auf einer Seite mehrere Tarifvertragsparteien auftreten, rechtfertigen eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit grundsätzlich nicht.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) § 4a des Tarifvertragsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Tarifeinheit vom 3.Juli 2015 (Bundesgesetzblatt I Seite 1130) ist insoweit mit Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes nicht vereinbar, als es an Vorkehrungen fehlt, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nach § 4a Absatz 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes verdrängt wird, im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden.

2) Im Übrigen ist das Gesetz zur Tarifeinheit nach Maßgabe der Gründe mit dem Grundgesetz vereinbar. Insoweit werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.

3) Bis zu einer Neuregelung gilt § 4a Absatz 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes mit der Maßgabe fort, dass ein Tarifvertrag von einem kollidierenden Tarifvertrag nur verdrängt werden kann, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat.

4) Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführenden ein Drittel ihrer notwendigen Auslagen aus den Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

5) Der Gegenstandswert der Verfassungsbeschwerden wird auf jeweils 500.000 (in Worten: fünfhunderttausend Euro) festgesetzt.

§§§

17.035 IHK-Pfflichtmitgliedschaft

  1. BVerfG,     B, 12.07.17,     – 1_BvR_2222/12 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.67/2017

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.9 Abs.1, GG_Art.20 Abs.1 + 2; IHKG_§_1 Abs.1

  4. Verfassungsbeschwerden / Industrie- und Handelskammer / Pflichtmitgliedschaft / Beitragspflicht / Vereinbarkeit

 

1) Das Recht, nicht durch Pflichtmitgliedschaft von "unnötigen" Körperschaften in Anspruch genommen zu werden, ergibt sich aus Art.2 Abs.1 GG, nicht aus Art.9 Abs.1 GG. Das Grundrecht des Art.2 Abs.1 GG schützt auch davor, zu einem Kammerbeitrag herangezogen zu werden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet ist.

 

2) In der Organisation einer Körperschaft der funktionalen Selbstverwaltung muss sich die Binnenpluralität der Interessen niederschlagen, denen diese dient.

§§§

17.036 Public Sector Purchase Programme

  1. BVerfG,     B, 18.07.17,     – 2_BvR_859/15 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.70/2017

  3. EUV_Art.19 Abs.3 Buchst.b; AEUV_Art.123 Abs.1, AEUV_Art.267 Abs.1 Buchst.a + b, AEUV_Art.119, AEUV_Art.127 Abs.1 + 2

  4. Anleihenkaufprogramm der EZB / Vereinbarkeit / Verfahren ausgesetzt / EUGH-Vorlage / Fragen zur Vorabentscheidung

 

PM: Verfahren zum Anleihenkaufprogramm der EZB ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegt

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die Verfahren betreffend die Frage, ob das Public Sector Purchase Programme (PSPP) der Europäischen Zentralbank zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors mit dem Grundgesetz vereinbar ist, ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Nach Auffassung des Senats sprechen gewichtige Gründe dafür, dass die dem Anleihenkaufprogramm zugrundeliegenden Beschlüsse gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung verstoßen sowie über das Mandat der Europäischen Zentralbank für die Währungspolitik hinausgehen und damit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten übergreifen. Der Senat beantragt die Durchführung des beschleunigten Verfahrens gemäß Art.105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Union, weil die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

I) Die Verfahren werden ausgesetzt.

II) Gemäß Artikel 19 Absatz 3 Buchstabe b des Vertrages über die Europäische Union und Artikel 267 Absatz 1 Buchstabe a und Buchstabe b des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union werden dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1) Verstößt der Beschluss (EU) 2015/774 der Europäischen Zentralbank vom 4.März 2015 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2015/10) in der Fassung des Beschlusses (EU) 2015/2101 der Europäischen Zentralbank vom 5. November 2015 zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2015/33), des Beschlusses (EU) 2016/702 der Europäischen Zentralbank vom 18. April 2016 zur Änderung des Beschlusses (EU) 2015/774 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (EZB/2016/8) sowie des Beschlusses (EU) 2016/1041 der Europäischen Zentralbank vom 22. Juni 2016 über die Notenbankfähigkeit der von der Hellenischen Republik begebenen oder in vollem Umfang garantierten marktfähigen Schuldtitel und zur Aufhebung des Beschlusses (EU) 2015/300 (EZB/2016/18) beziehungsweise die Art und Weise seiner Ausführung gegen Artikel 123 Absatz 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union?

Verstößt es insbesondere gegen Artikel 123 Absatz 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, wenn im Rahmen des Programms zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (PSPP)

a) Einzelheiten der Ankäufe in einer Art und Weise mitgeteilt werden, die auf den Märkten die faktische Gewissheit begründet, dass das Eurosystem von den Mitgliedstaaten zu emittierende Anleihen teilweise erwerben wird?

b) auch nachträglich keine Einzelheiten über die Einhaltung von Mindestfristen zwischen der Ausgabe eines Schuldtitels auf dem Primärmarkt und seinem Ankauf auf dem Sekundärmarkt bekannt gegeben werden, so dass insoweit eine gerichtliche Kontrolle nicht möglich ist?

c) sämtliche erworbenen Anleihen nicht wieder verkauft, sondern bis zur Endfälligkeit gehalten und damit dem Markt entzogen werden?

d) das Eurosystem nominal marktfähige Schuldtitel mit negativer Endfälligkeitsrendite erwirbt?

2) Verstößt der unter 1. genannte Beschluss jedenfalls dann gegen Artikel 123 AEUV, wenn seine weitere Durchführung angesichts veränderter Bedingungen an den Finanzmärkten, insbesondere infolge einer Verknappung ankaufbarer Schuldtitel eine stetige Lockerung der ursprünglich geltenden Ankaufregeln erfordert und die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Beschränkungen für ein Anleihekaufprogramm, wie es das PSPP darstellt, ihre Wirkung verlieren?

3) Verstößt der unter 1. genannte Beschluss (EU) 2015/774 der Europäischen Zentralbank vom 4. März 2015 in seiner aktuellen Fassung gegen Artikel 119 und Artikel 127 Absatz 1 und Absatz 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union sowie Artikel 17 bis 24 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, weil er über das in diesen Vorschriften geregelte Mandat der Europäischen Zentralbank zur Währungspolitik hinausgeht und deshalb in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten übergreift?

Ergibt sich eine Überschreitung des Mandats der Europäischen Zentralbank insbesondere daraus, dass

a) der unter 1. genannte Beschluss aufgrund des Volumens des PSPP, das am 12. Mai 2017 1.534,8 Milliarden Euro betrug, die Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten erheblich beeinflusst?

b) der unter 1. genannte Beschluss in Ansehung der unter a) genannten Verbesserung der Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten und deren Auswirkungen auf die Geschäftsbanken nicht nur mittelbare wirtschaftspolitische Folgen hat, sondern seine objektiv feststellbaren Auswirkungen eine wirtschaftspolitische Zielsetzung des Programms zumindest als gleichrangig neben der währungspolitischen Zielsetzung nahe legen?

c) der unter 1. genannte Beschluss wegen seiner starken wirtschaftspolitischen Auswirkungen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt?

d) der unter 1. genannte Beschluss mangels spezifischer Begründung während des mehr als zwei Jahre andauernden Vollzugs nicht auf seine fortdauernde Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit hin überprüft werden kann?

4) Verstößt der unter 1. genannte Beschluss jedenfalls deswegen gegen Artikel 119 und Artikel 127 Absatz 1 und Absatz 2 AEUV sowie Artikel 17 bis 24 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, weil sein Volumen und sein mehr als zwei Jahre dauernder Vollzug und die sich hieraus ergebenden wirtschaftspolitischen Auswirkungen zu einer veränderten Betrachtung der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des PSPP Anlass geben und er sich dadurch ab einem bestimmten Zeitpunkt als eine Überschreitung des währungspolitischen Mandats der Europäischen Zentralbank darstellt?

5) Verstößt die im unter 1. genannten Beschluss möglicherweise angelegte unbegrenzte Risikoverteilung bei Ausfällen von Anleihen der Zentralregierungen und ihnen gleich gestellter Emittenten zwischen den nationalen Zentralbanken des Eurosystems gegen Artikel 123 und Artikel 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union sowie gegen Artikel 4 Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union, wenn dadurch eine Rekapitalisierung nationaler Zentralbanken mit Haushaltsmitteln erforderlich werden kann?

III) Es wird mit Blick auf den Antrag auf einstweilige Anordnung der Beschwerdeführer zu IV. gemäß Artikel 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Union beantragt, die Rechtssache dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen..

§§§

17.037 Zwangsbehandlung-MV

  1. BVerfG,     B, 19.07.17,     – 2_BvR_2003/14 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.71/2017

  3. GG_Art.2 Abs.2 S.1, GG_Art.19 Abs.4 S.1; (MV) PsychKG_§_23

  4. Verfassungsbeschwerde / Zwangsbehandlung / Unterbringung

 

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Zwangsbehandlung im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung in Mecklenburg-Vorpommern

 

Die vom Bundesverfassungsgericht zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug entwickelten Maßgaben können auch auf die Zwangsbehandlung im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Unterbringung übertragen werden. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss bekräftigt und die Rechtsgrundlage für die medizinische Zwangsbehandlung im Psychischkrankengesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern in der bis zum 30.Juli 2016 gültigen Fassung für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklärt.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) § 23 Absatz 2 Satz 2 Alternative 1 des Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Psychischkrankengesetz - PsychKG M-V) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. April 2000 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Mecklenburg-Vorpommern Seite 182, zuletzt geändert durch Artikel 4 des Änderungsgesetzes vom 9. November 2010, Gesetz- und Verordnungsblatt für Mecklenburg-Vorpommern Seite 642, 649) ist mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

2) Der Beschluss des Amtsgerichts Waren (Müritz) vom 4. September 2014 - 411 XIV 48/14 L - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben.

3. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

17.038 Abschiebungsanordnung-Gefährder

  1. BVerfG,     B, 24.07.17,     – 2_BvR_1487/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.63/2017

  3. AufenthG_§_58a

  4. Verfassungsbeschwerde / § 58a AufenthG / Abschiebeanordnung / Vereinbarkeit

 

Erfolglose Verfassungsbeschwerde eines sogenannten "Gefährders" gegen die Abschiebungsanordnung gemäß § 58a Aufenthaltsgesetz

 

§ 58a Aufenthaltsgesetz (AufenthG), der die Abschiebung von sogenannten "Gefährdern" regelt, ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden und damit die Verfassungsbeschwerde eines algerischen Staatsangehörigen gegen die vom Senator für Inneres der Freien Hansestadt Bremen erlassene Abschiebeanordnung gemäß 58a AufenthG nicht zur Entscheidung angenommen.

§§§

17.039 VW-Dieselskandal

  1. BVerfG,     B, 25.07.17,     – 2_BvR_1287/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.62/2017

  3. GG_Art.12 Abs.1, GG_Art.13 Abs.1, GG_Art.19 Abs.3; StPO_§_103; BVerfGG_§32 Abs.1

  4. Verfassungsbeschwerde / Durchsuchung / international tätige Anwaltskanzlei / Einstweilige Anordnung / Hinterlegung sichergestellter Unterlagen

 

Die Staatsanwaltschaft München II darf die bei der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day sichergestellten Unterlagen vorerst nicht auswerten

 

Die Staatsanwaltschaft München II führt im Zuge des sogenannten "VW-Dieselskandals" ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt und durchsuchte im März 2017 die Münchener Büroräume der von der Volkswagen AG mandatierten Rechtsanwaltskanzlei Jones Day. Mit heute veröffentlichten Beschlüssen hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts im Wege der einstweiligen Anordnung die Staatsanwaltschaft München II angewiesen, die im Rahmen der Durchsuchung sichergestellten Unterlagen und Daten beim Amtsgericht München zu hinterlegen und einstweilen nicht auszuwerten. Die Entscheidungen der Kammer beruhen auf einer Folgenabwägung.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Die Verfahren 2_BvR_1287/17 und 2_BvR_1583/17 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

2) Die Staatsanwaltschaft München II wird angewiesen, die im Rahmen der Durchsuchung der Geschäftsräume der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day in der Prinzregentenstraße 11 in München am 15. März 2017 sichergestellten Unterlagen (lfd. Nummern 1 bis 185 des Durchsuchungs-/Sicherstellungsprotokolls vom 15.März 2017) sowie die angefertigte Datensicherung (Festplatte gemäß lfd. Nummer 186 des Durchsuchungs-/Sicherstellungsprotokolls vom 15.März 2017) - diese nach Vollziehung der durch Beschluss des Landgerichts München I vom 7. Juni 2017 (6 Qs 9/17, 6 Qs 10/17, 6 Qs 11/17) angeordneten Herausgabe der unter dem Dateipfad "interwoven" von einem in Belgien befindlichen Server heruntergeladenen Daten und Vernichtung davon gefertigter Kopien - bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden, längstens für die Dauer von sechs Monaten, bei dem Amtsgericht München versiegelt zu hinterlegen.

Eine Auswertung oder sonstige Verwertung der sichergestellten Unterlagen und der Datensicherung hat in diesem Zeitraum zu unterbleiben.

§§§

17.040 Wahl zum 19.Deutschen Bundestag

  1. BVerfG,     B, 25.07.17,     – 2_BvC_1/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.64/2017

  3. GG_Art.21 Abs.1; PartG_§_2 Abs.1

  4. Beschwerde / Entscheidung Bundeswahlausschuss / Nichtanerkennung als Partei / Parteieigenschaft

 

Bundesverfassungsgericht entscheidet über vorschlagsberechtigte Parteien für die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag

 

Am 6. und 7.Juli 2017 hat der Bundeswahlausschuss festgestellt, welche Vereinigungen als wahlvorschlagsberechtigte Parteien für die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag anzuerkennen sind. Gegen die Nichtanerkennung haben sieben Vereinigungen Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt.

Das Bundesverfassungsgericht prüft im Wesentlichen, ob einer Vereinigung die Eigenschaft einer Partei im Sinne des Art. 21 Abs. 1 GG, 2 Abs. 1 PartG zukommt. Dafür ist maßgeblich, ob die Gesamtwürdigung der tatsächlichen Verhältnisse den Schluss zulässt, dass sie ernsthaft ihre erklärte Absicht verfolgt, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken.

Die Nichtanerkennungsbeschwerden blieben erfolglos. Die Beschwerden der Vereinigungen Konvent zur Reformation Deutschlands - Die Goldene Mitte (KRD), Deutsche Tradition Sozial (DTS), Einiges Deutschland, Plattdüütsch Sassenland - Allens op Platt (PS), SustainableUnion - die Nachhaltigkeitspartei (SU) sowie DER BLITZ sind als bereits unzulässig verworfen worden. Die Beschwerde der Sächsischen Volkspartei (SVP) wurde als jedenfalls unbegründet zurückgewiesen, weil ihr nach der erforderlichen Gesamtwürdigung die Eigenschaft einer wahlvorschlagsberechtigten Partei fehlt.

§§§

17.041 Unterkunft und Heizung

  1. BVerfG,     B, 01.08.17,     – 1_BvR_1910/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.72/2017

  3. GG_Art.19 Abs.4

  4. Verfassungsbeschwerde / Eilentscheidung / Bedarfsgemeinschaft / effektiver Rechtsschutz

 

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung vorläufiger Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung

 

Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben in einstweiligen Rechtsschutzverfahren anhand der Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob tatsächlich die notwendige Eilbedürftigkeit für eine vorläufige Leistungsgewährung vorliegt. Sie können die Eilbedürftigkeit von vorläufigen Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung deshalb nicht nur pauschal darauf beziehen, ob schon eine Räumungsklage erhoben worden ist. Dies hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden und einer Verfassungsbeschwerde teilweise stattgegeben.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Der Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 31. Juli 2012 - L 7 AS 1145/12 B ER - verletzt, soweit er den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hinsichtlich der Bedarfe für Unterkunft und Heizung ablehnt, den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes.

2) Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. 3) Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten. 4) Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten. 5) Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 25.000 (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

§§§

17.042 Sitzungspolizeiliche Anordnung

  1. BVerfG,     B, 17.08.17,     – 1_BvR_1741/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.74/2017

  3. GG_Art.5 Abs.1 S.2

  4. Verfassungsbeschwerde / Eilantrag / sitzungspolizeiliche Anordnung / Folgenabwägung

 

Erfolgloser Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen eine sitzungspolizeiliche Anordnung

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen eine sitzungspolizeiliche Anordnung der 11. Großen Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Stuttgart abgelehnt. Mit der zugrundeliegenden Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Beschränkung der Anfertigung von Bildaufnahmen am Rande der Hauptverhandlung und rügt vornehmlich eine Verletzung ihres Grundrechts auf Pressefreiheit. Die Entscheidung der Kammer beruht auf einer Folgenabwägung.

§§§

17.043 Abschiebung-Afghanistan

  1. BVerfG,     B, 14.09.17,     – 2_BvQ_56/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.80/2017

  3. BVerfGG_§_34 Abs.2

  4. Eilantrag / Untertauchen / Rechtsschutzbedürfnis / Mißbrauchsgebühr

 

Erfolgloser Eilantrag gegen die Abschiebung nach Afghanistan und Auferlegung einer Missbrauchsgebühr

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Abschiebung eines Asylbewerbers nach Afghanistan abgelehnt. Zugleich hat sie dem Bevollmächtigten des Antragstellers wegen grob irreführender Angaben eine Missbrauchsgebühr in Höhe von 2.600 auferlegt.

§§§

17.044 Wahl zum 18.Deutschen Bundestag

  1. BVerfG,     B, 19.09.17,     – 2_BvC_46/14 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.85/2017

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.21 Abs.1, GG_Art.38 Abs.1 S.1; BWahlG_§_6 Abs.3 + 6; AbgG_§_12 Abs.3 S.1; BVerfGG_§_48 Abs.1 Hs.2, BVerfGG_§_23 Abs.1 S.2

  4. Wahlprüfungsbeschwerde / 18.Deutscher Bundestag / Fünf-Prozentklausel / Eventualstimme / verschleierte Staats- und Wahlkampffinanzierung

 

Die Einführung einer Eventualstimme für den Fall, dass die über die Hauptstimme mit Priorität gewählte Partei wegen der Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht die erforderliche Mindeststimmenzahl erhält, ist verfassungsrechtlich nicht geboten.

 

PM: Wahlprüfungsbeschwerde gegen die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag erfolglos

 

Mit Beschluss vom 19. September 2017 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Wahlprüfungsbeschwerde gegen die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag im Jahr 2013 verworfen. Der Beschwerdeführer rügte erfolglos die Fünf-Prozent-Sperrklausel, den Verzicht des Gesetzgebers auf die Einführung eines sogenannten Eventualstimmrechts und die "verschleierte Staats- und Wahlkampffinanzierung der Bundestagsparteien durch ihre Fraktionen, Abgeordnetenmitarbeiter und parteinahen Stiftungen". Der Senat hat allerdings den Deutschen Bundestag aufgefordert dafür Sorge zu tragen, dass die ordnungsgemäße Verwendung der dem Abgeordneten für die Beschäftigung von Mitarbeitern zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel nachvollziehbarer Kontrolle unterliegt.

§§§

17.045 Regulierte Stromnetzentgelte

  1. BVerfG,     B, 26.09.17,     – 1_BvR_1486/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.90/2017

  3. GG_Art.2 Abs,1 iVm GG_Art.20 Abs.3; BGB_§_315 Abs.3; EnWG_§_23a Abs.2 S.2; IFG_§_7 Abs.1; BVerfGG_§_23/1 S.2

  4. Verfassungsbeschwerde / zivilrechtliche Entscheidungen / regulierte Stromnetzentgelte / Engeltgenehmigung

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerden gegen zivilgerichtliche Entscheidungen zu regulierten Stromnetzentgelten

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats mehrere Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen fachgerichtliche Entscheidungen im Zusammenhang mit regulierten Stromnetzentgelten richteten. Die Beschwerdeführerin hatte in den Ausgangsverfahren erfolglos auf Rückzahlung von aus ihrer Sicht zu viel bezahlten Netzentgelten geklagt und mit ihren Verfassungsbeschwerden geltend gemacht, durch die zivilgerichtlichen Entscheidungen in ihren Grundrechten verletzt worden zu sein. Die Verfassungsbeschwerden sind bereits unzulässig, da die Beschwerdeführerin eine mögliche Grundrechtsverletzung nicht substantiiert dargelegt hat.

§§§

17.046 Unrichtiger Tatsachenvortrag

  1. BVerfG,     B, 27.09.17,     – 2_BvR_1691/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.87/2017

  3. GG_Art.2 Abs.2 S.2; BVerfGG_§_23 Abs.1 S.2, BVerfGG_§_92, BVerfGG_§_34 Abs.2

  4. Verfassungsbeschwerde / G-20-Gipfel / Haftbefehl / Tatsachenvortrag / Richtigkeit / Mißbrauchsgebühr

 

Nachträgliche Auferlegung einer Missbrauchsgebühr wegen unrichtigen Tatsachenvortrags

 

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. August 2017 die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen einen im Zusammenhang mit den Ausschreitungen anlässlich des "G-20 Gipfels" in Hamburg erlassenen Haftbefehls nicht zur Entscheidung angenommen. Nachdem sich herausgestellt hat, dass der Vortrag der Bevollmächtigten des Beschwerdeführers in einem wesentlichen Aspekt unrichtig war, hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Bevollmächtigten mit Beschluss vom 27. September 2017 eine Missbrauchsgebühr in Höhe von 600 Euro auferlegt.

§§§

17.047 Eilzuständigkeit-Senatsvorsitzender

  1. BVerfG,     B, 28.09.17,     – 1_BvR_1510/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.93/2017

  3. GG_Art.101 Abs.1 S.2

  4. Verfassungsbeschwerde / Eilzuständigkeit - zu Unrecht angenommen / Recht auf den gesetzlichen Richter

 

PM: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde wegen zu Unrecht angenommener Eilzuständigkeit des Senatsvorsitzenden

 

Gerichte verstoßen gegen das grundgesetzlich geschützte Recht auf den gesetzlichen Richter, wenn sie eine Entscheidung in einer nur für dringende Fälle ausnahmsweise gesetzlich vorgesehenen Besetzung treffen, ohne dass die Dringlichkeit offensichtlich ist oder zumindest im Beschluss dargelegt wird. Dies hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden. Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hatte einen Eilantrag des Beschwerdeführers, ihm Berufsausbildungsbeihilfe vorläufig zu gewähren, unter Aufhebung der zunächst stattgebenden Entscheidung des Sozialgerichts durch den Vorsitzenden des Senats allein statt in regulärer Besetzung abgelehnt.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Der Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 12.Juni 2017 - L 18 AL 78/17 B ER - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.

2) Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

3) In diesem Umfang erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und auf Beiordnung der Rechtsanwältin Anja Lederer; im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

4) Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 25.000 (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

§§§

17.048 Unterkunftskosten-Begrenzung

  1. BVerfG,     B, 10.10.17,     – 1_BvR_617/14 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.96/2017

  3. GG_Art.1 Abs.1 iVm GG_Art.20 Abs.1; SGB-II_§_22 Abs.1 S.1

  4. Verfassungsbeschwerde / Arbeitslosengeld II / Wohnungskosten / Übernahme der tatsächlichen Kosten

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Begrenzung auf Übernahme der angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung

 

Vor den Sozialgerichten wird immer wieder darum gestritten, ob im Rahmen des Bezugs von Arbeitslosengeld II die Kosten für die Wohnung nicht nur in "angemessener", sondern in tatsächlicher Höhe übernommen werden. Das Sozialgesetzbuch beschränkt die Erstattung auf "angemessene" Aufwendungen. Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat in einem heute veröffentlichten Beschluss entschieden, dass diese Begrenzung mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Der Gesetzgeber muss keinen Anspruch auf unbegrenzte Übernahme der Wohnungskosten vorsehen. Die Regelung ist auch ausreichend klar und verständlich. Damit hat der Gesetzgeber seiner aus der Verfassung herzuleitenden Pflicht genügt, einen konkreten gesetzlichen Anspruch zur Erfüllung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu schaffen.

§§§

17.049 Diskreminierung wegen des Geschlechts

  1. BVerfG,     B, 10.10.17,     – 1_BvR_2019/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr,95/2017

  3. GG_Art.2 Abs.1 iVm Art.1 Abs.1, GG_Art.3 Abs.3 S.1; PStG_§_21 Abs.1 Nr.3

  4. Verfassungsbeschwerde / Geburtenregistereintrag / intergeschlechtliche Identität / Allgemeines Persönlichkeitsrecht / Ungleichbehandlung /

 

1) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art.2 Abs.1 iVm Art.1 Abs.1 GG) schützt die geschlechtliche Identität. Es schützt auch die geschlechtliche Identität derjenigen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen.

 

2) Art.3 Abs.3 Satz 1 GG schützt auch Menschen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, vor Diskriminierungen wegen ihres Geschlechts.

 

3) Personen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, werden in beiden Grundrechten verletzt, wenn das Personenstandsrecht dazu zwingt, das Geschlecht zu registrieren, aber keinen anderen positiven Geschlechtseintrag als weiblich oder männlich zulässt.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) § 21 Absatz 1 Nummer 3 des Personenstandsgesetzes (PStG) in der Fassung von Artikel 1 des Gesetzes zur Reform des Personenstandsrechts (Personenstandsrechtsreformgesetz - PStRG) vom 19.Februar 2007 (Bundesgesetzblatt I Seite 122) in Verbindung mit § 22 Absatz 3 des Personenstandsgesetzes (PStG) in der Fassung von Artikel 1 Nummer 6 Buchstabe b des Gesetzes zur Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften (Personenstandsrechts-Änderungsgesetz - PStRÄndG) vom 7. Mai 2013 (Bundesgesetzblatt I Seite 1122) ist mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 und mit Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit sie eine Pflicht zur Angabe des Geschlechts begründen und dabei Personen, deren Geschlechtsentwicklung gegenüber einer weiblichen oder männlichen Geschlechtsentwicklung Varianten aufweist und die sich selbst dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen, keinen positiven Geschlechtseintrag ermöglichen, der nicht "weiblich" oder "männlich" lautet.

Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Dezember 2018 eine verfassungsgemäße Regelung herbeizuführen.

2) Die Beschlüsse des Bundesgerichtshofs vom 22. Juni 2016 - XII ZB 52/15 -, des Oberlandesgerichts Celle vom 21. Januar 2015 - 17 W 28/14 - und des Amtsgerichts Hannover vom 13. Oktober 2014 - 85 III 105/14 - verletzen die beschwerdeführende Person in ihren Grundrechen aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse des Bundesgerichtshofs vom 22. Juni 2016 - XII ZB 52/15 - und des Oberlandesgerichts Celle vom 21. Januar 2015 - 17 W 28/14 - werden aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Das Verfahren ist bis zu einer gesetzlichen Neuregelung auszusetzen.

3) Die Bundesrepublik Deutschland hat der beschwerdeführenden Person die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

17.050 Anleihenkaufprogramm der EZB

  1. BVerfG,     B, 10.10.17,     – 2_BvR_859/15 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.89/2017

  3. BVerfGG_§_32

  4. PSPP / Erlass einer einstweiligen Anordnung / Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache/

 

Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Anleihenkaufprogramm der EZB erfolglos

 

In den Verfahren betreffend die Frage, ob das Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors der Europäischen Zentralbank mit dem Grundgesetz vereinbar ist, haben die Beschwerdeführer Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Mit diesen wollten die Beschwerdeführer im Wesentlichen erreichen, dass der Deutschen Bundesbank einstweilen der weitere Ankauf von Staatsanleihen untersagt wird. Ferner sollten Bundesregierung und Bundestag dazu verpflichtet werden, sich mit dem Anleihenkaufprogramm aktiv auseinanderzusetzen. Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts diese Anträge abgelehnt. Sie waren bereits unzulässig, weil eine einstweilige Anordnung des von den Antragstellern begehrten Inhalts die Entscheidung in der Hauptsache vorweggenommen hätte.

§§§

17.051 Konfrontationsobliegenheit

  1. BVerfG,     B, 10.10.17,     – 2_BvE_6/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.92/2017

  3. GG_Art.20 Abs.2 S.2

  4. Organstreitverfahren / Rechtsschutzbedürfnis

 

Das Rechtsschutzbedürfnis im Organstreitverfahren setzt das Bestehen eines für den Antragsgegner erkennbaren Konflikts voraus. Daher trifft bei (vermeintlich oder tatsächlich) unrichtig beantworteten parlamentarischen Fragen den Antragsteller vor Einleitung des Organstreitverfahrens eine Konfrontationsobliegenheit. Er muss der Bundesregierung durch den Hinweis auf die (mutmaßliche) Unrichtigkeit der Antwort die Möglichkeit geben, die Sach- und Rechtslage ihrerseits zu prüfen und ihre Antwort gegebenenfalls zu berichtigen oder zu ergänzen.

§§§

17.052 Personenstandswechsel

  1. BVerfG,     B, 17.10.17,     – 1_BvR_747/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.103/17

  3. GG_Art.2 Abs.1 iVm GG_Art.1 Abs.1

  4. Verfassungsbeschwerde / Versagung der Änderung des Vornamens / Transsexuellengesetz / Sachverständigengutachten

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung des Namens- und Personenstandswechsels nach dem Transsexuellengesetz

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung der Änderung des Vornamens und des Personenstands nach dem Transsexuellengesetz (TSG) nicht zur Entscheidung angenommen. Die beschwerdeführende Person hatte vorgetragen, es sei verfassungswidrig, dass § 4 Abs.3 Satz 1 TSG die Einholung von zwei Sachverständigengutachten verlange.

§§§

17.053

  1. BVerfG,     B, 22.10.17,     – 1_BvR_1822/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.98/2017

  3. GG_Art.12 Abs.1 S.1; BRAO_§_7 Nr.5

  4. Verfassungsbeschwerde / Anwaltszulassung / Unwürdigkeit / Berufsfreiheit / Abwägungsentscheidung / Gemeinwohlbelange

 

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde wegen mangelhafter Abwägung bei Versagung der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft

 

Die Versagung der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft wegen Unwürdigkeit bedarf einer einzelfallbezogenen Abwägung der grundrechtlichen Belange der antragstellenden Person mit den ihrer Zulassung zur Rechtsanwaltschaft entgegenstehenden Gemeinwohlbelangen, insbesondere dem Interesse der Öffentlichkeit an einer funktionierenden Rechtspflege. Denn eine solche Versagung bedeutet einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit der Berufswahl aus Art.12 Abs.1 Satz 1 GG. Sie ist nur zum Schutz eines besonders wichtigen Gemeinschaftsguts und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft. Dies hat die 1.Kammer des Ersten Senats mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Der Bescheid der Rechtsanwaltskammer Köln vom 15. Mai 2015 - 56962 - und das Urteil des Anwalts-gerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen vom 30. Oktober 2015 - 1 AGH 25/15 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.

Die Entscheidung des Anwaltsgerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen wird aufgehoben. Die Sache wird an den Anwaltsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 27. Juni 2016 - AnwZ (Brfg) 10/16 - wird gegenstandslos.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

17.054 Flughafen Berlin-Schönefeld

  1. BVerfG,     B, 24.10.17,     – 1_BvR_1026/13 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.109/2017

  3. GG_Art.14 Abs.1 S.1 iVm GG_Art.19 Abs.4 VwVfG_§_46

  4. Verfassungsbeschwerde / Planfeststellung Ausbau Flughafen Berlin-Schöneberg / geänderte Flugrouten

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerden gegen die Planfeststellung über den Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld vor dem Hintergrund geänderter Flugrouten

 

Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichten Beschlüssen vier Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zum Flughafen Berlin-Schönefeld nicht zur Entscheidung angenommen. In den zugrundeliegenden Verfahren hatten die Kläger vor dem Hintergrund des Abweichens der angekündigten von den ursprünglich prognostizierten Flugrouten auf verschiedene Weise versucht, die Aufhebung des durch Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. März 2006 im Wesentlichen rechtskräftig bestätigten Planfeststellungsbeschlusses zu erreichen. Nach diesen Beschlüssen ist die Trennung zwischen dem Verfahren der Planfeststellung über den Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld und der Festlegung der Flugverfahren verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch die Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts, dass die auf der Annahme von parallelen Abflugrouten für zeitversetzt durchgeführte Flüge basierende Grobplanung der Flugverfahren ausreichend gewesen sei, um die Lärmbetroffenheiten auch bei gleichzeitiger unabhängiger Durchführung bestimmter Abflüge von beiden Bahnen abzuschätzen, hat Bestand.

§§§

17.055 Mißbrauchsgebühr-Erinnerung

  1. BVerfG,     B, 27.10.17,     – 1_BvR_160/15 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.105/2017

  3. JustizBO_§_8 Abs.1 S.1 iVm GKG_§_66 Abs.1 S.1; BVerfGG_§_34

  4. Verfassungsbeschwerde / Missbrauchsgebühr / Erinnerung

 

Erfolglose Erinnerung gegen die Auferlegung einer Missbrauchsgebühr

 

Mit Beschluss vom 11. Februar 2015 hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen und dem Beschwerdeführer eine Missbrauchsgebühr von 250 auferlegt. Gegen die Auferlegung der Missbrauchsgebühr hat der Beschwerdeführer Anfang 2017 Erinnerung eingelegt. Dabei machte er ausschließlich Einwendungen geltend, welche die Auferlegung der Missbrauchsgebühr als solche betreffen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind jedoch diese Einwendungen im Erinnerungsverfahren nicht statthaft. Denn die Verhängung der Missbrauchsgebühr als solche ist, wie der Beschluss über die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde insgesamt, unanfechtbar.

§§§

17.056 Parlamentarischer Informationsanspruch

  1. BVerfG,     B, 07.11.17,     – 2_BvE_2/11 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.94/2017

  3. GG_Art. GG_Art.38 Abs.1 S.2, GG_Art.93 Abs.1 Nr.1, GG_Art.87e; BVerfG_§_63, BVerfG_§_64 Abs.1,

  4. Organstreit / Deutsche Bahn Ag / Finanzmarktaufsicht / Auskunftsverweigerung / Antragsbefugnis / Rechtschutzbedürfnis / Frage- und Informationsrecht des Deutschen Bundestages / Abgeordnete / Fraktionen / Zusammenschlüsse / Anwortpflicht der Bundesregierung / Kontrollfunktion / Gewaltenteilungsgrundsatz / Geheimschutzordnung / Ausschluss der Öffentlichkeit / Grenzen / Staatswohl

 

1) Der parlamentarische Informationsanspruch aus Art.38 Abs.1 Satz 2 und Art.20 Abs.2 Satz 2 GG ist auf Beantwortung gestellter Fragen in der Öffentlichkeit angelegt. Bei Vorliegen berechtigter Geheimhaltungsinteressen kann die Beantwortung parlamentarischer Anfragen unter Anwendung der Geheimschutzordnung geeignet sein, einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Fragerecht der Abgeordneten und konfligierenden Rechtsgütern zu schaffen.

 

2) Das verfassungsrechtlich garantierte parlamentarische Frage- und Informationsrecht unterliegt Grenzen, die, auch soweit sie einfachgesetzlich geregelt sind, ihren Grund im Verfassungsrecht haben müssen. Vertraglich vereinbarte oder einfachgesetzliche Verschwiegenheitsregelungen sind für sich nicht geeignet, das Frage- und Informationsrecht zu beschränken.

 

3) Der Informationsanspruch des Parlaments kann sich als Ausdruck der aus dem Demokratieprinzip folgenden Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament nur auf Angelegenheiten beziehen, die in den Verantwortungsbereich der Regierung fallen. Die Verantwortlichkeit der Regierung im Kontext demokratischer Legitimation erstreckt sich auf alle Tätigkeiten von mehrheitlich oder vollständig in der Hand des Bundes befindlichen Unternehmen in Privatrechtsform. Dabei ist die Verantwortlichkeit der Regierung nicht auf die ihr gesetzlich eingeräumten Einwirkungs- und Kontrollrechte beschränkt.

 

4) Der Verantwortungsbereich der Bundesregierung für die Deutsche Bahn AG bezieht sich auf die Ausübung der Beteiligungsverwaltung sowie auf die Regulierungstätigkeit der Bundesbehörden und die sachgerechte Erfüllung des Gewährleistungsauftrages aus Art.87e Abs.4 GG. Darüber hinaus liegt auch die unternehmerische Tätigkeit der Deutschen Bahn AG im Verantwortungsbereich der Bundesregierung. Der Verantwortungszusammenhang wird nicht durch Art.87e GG aufgehoben.

 

5) Die Bundesregierung ist nicht berechtigt, die Antwort auf parlamentarische Anfragen im Einzelfall unter Verweis auf die Betroffenheit der Grundrechte der Deutschen Bahn AG zu verweigern. Als vom Staat vollständig beherrschte juristische Person dient sie nicht der Ausübung individueller Freiheit Einzelner und kann sich nicht auf Grundrechte berufen. Auch räumt Art.87e GG der Deutschen Bahn AG keinen abwehrrechtlichen Status gegenüber (gemeinwohlorientierten) Einwirkungen des Staates auf ihre Unternehmensführung ein.

 

6) Eine Grenze des Informationsanspruchs des Bundestages bildet das Wohl des Bundes oder eines Landes (Staatswohl), das durch das Bekanntwerden geheimhaltungsbedürftiger Informationen gefährdet werden kann.

a) Das fiskalische Interesse des Staates am Schutz vertraulicher Informationen seiner (Beteiligungs-)Unternehmen stellt einen verfassungsrechtlichen Staatswohlbelang dar.

b) Die Funktionsfähigkeit staatlicher Aufsicht über Banken und andere Finanzinstitute, die Stabilität des Finanzmarktes und der Erfolg staatlicher Stützungsmaßnahmen in der Finanzkrise sind ebenfalls Belange des Staatswohls, die die Antwortpflicht der Bundesregierung auf parlamentarische Fragen beschränken können.

 

7) Das verfassungsmäßige Frage- und Informationsrecht des Bundestages und die damit verbundene Auskunftspflicht der Bundesregierung stellen eine hinreichende Grundlage für einen in der Auskunftserteilung liegenden Grundrechtseingriff dar. Einer weitergehenden gesetzlichen Regelung bedarf es insoweit nicht.

 

8) Das parlamentarische Informationsrecht steht unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit. Es sind alle Informationen mitzuteilen, über die die Bundesregierung verfügt oder die sie mit zumutbarem Aufwand in Erfahrung bringen kann. Sie muss alle ihr zu Gebote stehenden Möglichkeiten der Informationsbeschaffung ausschöpfen.

 

9) Aus der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Pflicht der Bundesregierung, Informationsansprüche des Deutschen Bundestages zu erfüllen, folgt, dass sie die Gründe darlegen muss, aus denen sie die erbetenen Auskünfte verweigert. Einer besonderen Begründungspflicht unterliegt die Bundesregierung, soweit sie ihre Antwort nicht in einer zur Veröffentlichung in einer Bundestagsdrucksache bestimmten Weise erteilt, sondern dem Deutschen Bundestag eingestuft in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages zur Verfügung stellt.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) Die Antragsgegnerin hat
BR> a) den Antragsteller zu 1. und die Antragstellerin zu 5. sowie den Deutschen Bundestag durch die Antworten vom 27. Dezember 2010 auf die Schriftliche Frage Nummer 34 der Bundestagsdrucksache 17/4350, soweit diese sich auf den beim Verkauf der IKB Deutsche Industriebank AG erzielten Kaufpreis bezieht, und auf die Schriftliche Frage Nummer 35 der Bundestagsdrucksache 17/4350,

b) die Antragsteller zu 1. und zu 2. und die Antragstellerin zu 5. sowie den Deutschen Bundestag durch die Antworten auf die Fragen 1, 4, 6, 8, 11 und 18 der Kleinen Anfrage vom 11. November 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3740),
BR> c) den Antragsteller zu 3. und die Antragstellerin zu 5. sowie den Deutschen Bundestag durch die Antworten auf die Fragen 1 bis 5 und 13 der Kleinen Anfrage vom 11. November 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3757), auf die Frage 16 der Kleinen Anfrage vom 11. November 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3766) und auf die Fragen 1 bis 14 der Kleinen Anfrage vom 4. Oktober 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3149)
BR> in deren Rechten aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt.
BR> 2) Der Antrag zu 3. wird hinsichtlich des Antragstellers zu 4. insgesamt sowie hinsichtlich des Antragstellers zu 3. und der Antragstellerin zu 5. insoweit verworfen, als er sich auf die Beantwortung der Fragen 17, 18 und 19 der Kleinen Anfrage vom 11. November 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3766) durch die Bundesregierung bezieht.
BR> 3) Die Anträge werden insoweit verworfen, als sie darauf abzielen, die Antragsgegnerin zu verpflichten, die in den genannten parlamentarischen Anfragen erbetenen Auskünfte zu erteilen.
BR> 4) Im Übrigen wird der Antrag zu 2. der Antragsteller zu 1. und zu 2. und der Antragstellerin zu 5. hinsichtlich der Frage 14 der Kleinen Anfrage vom 11. November 2010 (Bundestagsdrucksache 17/3740) zurückgewiesen.

§§§

17.057 Justizvollzugsanstalt-Telefongebühren

  1. BVerfG,     B, 08.11.17,     – 2_BvR_221/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.104/2017

  3. GG_Art.2 Abs.1 iVm Art.1 Abs.1

  4. Verfassungsbeschwerde / Telefongebühren in einer Justizvollzugsanstalt

 

PM: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Höhe der Telefongebühren in einer Justizvollzugsanstalt

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die sich gegen die Höhe der Telefongebühren in einer Justizvollzugsanstalt richtete. Es verstößt gegen das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot, wenn die wirtschaftlichen Interessen eines Gefangenen missachtet werden, indem der geltend gemachte Anspruch auf Anpassung der Telefongebühren lediglich mit dem Hinweis auf die mit einem privaten Telekommunikationsanbieter langfristig eingegangene Vertragsbindung abgelehnt wird.

§§§

17.058 Ordnungsgeldbeschluss

  1. BVerfG,     B, 08.11.17,     – 2_BvR_1366/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.102/2017

  3. GG_Art.4 Abs.1; BVerfGG_§_93a Abs.2; GVG_§_178

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Ordnungsgeldbeschluss

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde gegen die Verhängung eines Ordnungsgeldes durch das Amtsgericht Mannheim nicht zur Entscheidung angenommen. Das Ordnungsgeld wurde festgesetzt, nachdem der Beschwerdeführer sich beharrlich geweigert hatte, sich zur Urteilsverkündung des Amtsgerichts zu erheben, und zudem zum wiederholten Male ohne ausreichende Entschuldigung deutlich verspätet zur Hauptverhandlung erschienen war. Sein Verhalten begründete er damit, dass er sich aus religiösen Gründen nur für Allah erheben dürfe. Die Verfassungsbeschwerde war offensichtlich unzulässig, weil der Beschwerdeführer den Begründungsanforderungen nicht genügt und nicht hinreichend dargetan hat, dass die Festsetzung des Ordnungsgeldes in nicht gerechtfertigter Weise in sein Grundrecht auf Glaubensfreiheit eingegriffen hat.

§§§

17.059 DDR-Funktionär-Versorgungsanwartschaft

  1. BVerfG,     B, 09.11.17,     – 1_BvR_1069/14 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.110/2017

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.14 Abs.1; AAÜG_§_6 Abs.2 Nr.4

  4. Verfassungsbeschwerde / DDR-Funktionär / Versorgungsanwartschaften / Nichtberücksichtigung

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerden gegen Nichtberücksichtigung von Versorgungsanwartschaften hochrangiger Funktionäre der DDR

 

Der Gesetzgeber durfte an herausgehobene Funktionen im DDR-Staatsapparat ohne Verfassungsverstoß eine Begrenzung der in die bundesdeutsche Rentenversicherung zu überführenden Versorgungsanwartschaften knüpfen. Zu diesen Funktionen zählt auch die eines Staatsanwaltes beim Generalstaatsanwalt. Die in früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Nichtberücksichtigung solcher Anwartschaften entwickelten Maßstäbe gelten auch, wenn hochrangigen Funktionären per Einzelvertrag eine Versorgung aus einem für andere Berufsgruppen vorgesehenen Versorgungssystem zugesichert wird. Dies hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichten Beschlüssen entschieden und zwei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, mit denen sich die Beschwerdeführer gegen die jeweils nur eingeschränkte Berücksichtigung der in der DDR erworbenen Ansprüche wandten.

§§§

17.060 Gefahr einer politischen Verfolgung

  1. BVerfG,     B, 13.11.17,     – 2_BvR_1381/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.101/2017

  3. GG_Art.19 Abs.4 S.1; IRG_§_33 Abs.1

  4. Verfassungsbeschwerde / Auslieferung / politische Verfolgung / Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes

 

PM: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines Auszuliefernden wegen unzureichender gerichtlicher Aufklärung der Gefahr einer politischen Verfolgung im Zielstaat

 

Gerichte verletzen in Auslieferungssachen das in Art.19 Abs.4 Satz 1 GG enthaltene Grundrecht auf effektiven richterlichen Rechtsschutz, wenn sie bei entsprechenden Anhaltspunkten nicht hinreichend aufklären und eigenständig prüfen, ob im Falle der Auslieferung politische Verfolgung droht. Wenn ein Asylantrag des Betroffenen eines Auslieferungsverfahrens zuvor in einem vorrangig zuständigen Staat abgelehnt wurde, muss das über die Auslieferung befindende Gericht bei Hinweisen auf eine solche Verfolgung regelmäßig ernsthaft versuchen, die Verfahrensakten aus dem Asylverfahren beizuziehen und, sollte dies scheitern, den Sachverhalt anderweitig aufklären, im Regelfall durch die persönliche Anhörung des Betroffenen. Dies hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden.

§§§

17.061 Kinderförderungsgesetz-Sachsen-Anhalt

  1. BVerfG,     U, 21.11.17,     – 2_BvR_2177/16 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.100/2017

  3. GG_Art.28 Abs.2; (SA) KiFöG_§_3 Abs.4

  4. Kommunalverfassungsbeschwerde / Kinderförderungsgesetz Sachsen-Anhalt / Entziehung von Aufgaben / Subsidiarität / Selbstverwaltungsrecht

Abs.49

1) Zu den für die Länder zwingenden Vorgaben des Grundgesetzes gehört Art.28 Abs.2 GG. Das Landesrecht darf daher keine Regelungen enthalten, die mit Art.28 Abs.2 GG nicht vereinbar sind (Rn.49).

Abs.50

2) Der Grundsatz der Subsidiarität der Kommunalverfassungsbeschwerde nach Art.93 Abs.1 Nr.4b GG, § 91 BVerfGG findet keine Anwendung, wenn die landesverfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung hinter dem Gewährleistungsniveau des Art.28 Abs.2 GG zurückbleibt (Rn.50).

 

3) Zu den grundlegenden Strukturelementen von Art.28 Abs.2 GG gehört die Eigenständigkeit der Gemeinden auch und gerade gegenüber den Landkreisen.

Abs.84

4) Art.28 Abs.2 Satz 1 GG konstituiert ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, wonach der Gesetzgeber den Gemeinden örtliche Aufgaben nur aus Gründen des Gemeinwohls entziehen darf. Das bloße Ziel der Verwaltungsvereinfachung oder der Zuständigkeitskonzentration scheidet als Rechtfertigung eines Aufgabenentzugs aus. Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Verwaltung rechtfertigen eine Hochzonung erst, wenn ein Belassen der Aufgabe bei den Gemeinden zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg führen würde (Rn.84).

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Die Verfassungsbeschwerde wird nach Maßgabe der Gründe zurückgewiesen.

* * *

T-17-01Gewährleistungen des Art.28 Abs.2 GG

49

"Zu den für die Länder zwingenden Vorgaben des Grundgesetzes gehört auch Art.28 Abs.2 GG. In ständiger Rechtsprechung hat nicht nur das Bundesverfassungsgericht Bestimmungen des Landesrechts unmittelbar am Maßstab des Art.28 Abs.2 GG gemessen (zuletzt BVerfGE_138,1 <16 ff. Rn. 43 ff.>). Dass die Bestimmungen des Landesrechts einschließlich der Landesverfassung im Einklang mit Art.28 Abs.2 GG stehen müssen, entspricht auch der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte (vgl BremStGH, Entscheidung vom 4. Juli 1953 - St 1/1953 -, BremStGHE_1,42 <44>; NdsStGH, Urteil vom 15. Februar 1973 - StGH 2/72 und 3/72 -, DVBl 1973, S. 310 <311 f.>; LVerfG Bbg, Urteil vom 19. Mai 1994 - VfgBbg 9/93 -, LVerfGE 2, 93 <101 f.>; vgl. auch ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 - 2/95 und 6/95 -, LVerfGE 5, 391 <409>) und der überwiegenden Auffassung im Schrifttum (vgl Tettinger/Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd.2, 6. Aufl. 2010, Art.28 Abs.2 Rn.136, 141; Dreier, in: ders, GG, Bd.2, Art.28 Rn.83; Nierhaus, in: Sachs, GG, 7.Aufl. 2014, Art.28 Rn.39; Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art.28 Abs.2 Rn.1, 48 ). Das Landesrecht darf daher keine Regelungen enthalten, die mit Art.28 Abs.2 GG nicht vereinbar sind. Aus der Sicht des Grundgesetzes macht es dabei keinen Unterschied, ob es sich um ein einfaches Landesgesetz oder eine Regelung der Landesverfassung handelt. Auch Letztere darf dem Grundgesetz nicht widersprechen. Bleiben die landesverfassungsrechtlichen Gewährleistungen hingegen hinter der Garantie des Art.28 Abs.2 Satz 1 GG zurück, verstieße ein mit dieser Garantie unvereinbares Landesgesetz zwar nicht gegen die Landesverfassung; das Landesverfassungsgericht könnte einen entsprechenden Verstoß auch nicht feststellen. An der Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz ändert dies indes nichts.

50

3. Vor diesem Hintergrund findet der Grundsatz der Subsidiarität der Kommunalverfassungsbeschwerde nach Art.93 Abs.1 Nr.4b GG, § 91 BVerfGG keine Anwendung, wenn die landesverfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung hinter dem Gewährleistungsniveau des Art.28 Abs.2 GG zurückbleibt. Der Vorrang der Landesverfassungsgerichtsbarkeit reicht nur so weit, wie die Landesverfassung den Garantiegehalt von Art.28 Abs.2 GG auch im Wesentlichen abdeckt und seine Wahrung von der Landesverfassungsgerichtsbarkeit überprüft werden kann. Die Subsidiaritätsklausel greift daher zum einen nicht ein, wenn der landesverfassungsrechtliche Rechtsschutz hinter dem durch das Bundesverfassungsgericht gewährten Rechtsschutz zurückbleibt und keine Überprüfung untergesetzlicher Normen zulässt (a). Der Subsidiaritätsgrundsatz steht der Zulässigkeit einer Kommunalverfassungsbeschwerde zum andern dann nicht entgegen, wenn die landesverfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung hinsichtlich ihres materiellen Gewährleistungsgehalts den aus Art.28 Abs.2 GG folgenden Gewährleistungsumfang nicht erreicht (b).

51

a) Durch Art.93 Abs.1 Nr.4b GG, § 91 BVerfGG soll eine möglichst umfassende verfassungsgerichtliche Kontrolle von gesetzlichen Gestaltungen des kommunalen Selbstverwaltungsrechts gewährleistet werden ( BVerfGE_107,1 <9>). Eine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist daher nicht nur gegeben, wenn das Landesrecht überhaupt keine Kommunalverfassungsbeschwerde vorsieht, sondern auch dann, wenn der zulässige Verfahrensgegenstand durch das Landesrecht enger gefasst wird als dies gemäß Art.93 Abs.1 Nr.4b GG, § 91 BVerfGG der Fall ist (vgl BVerfGE_107,1 <9>). Gemeinden und Gemeindeverbände können eine nach Landesrecht nicht angreifbare Norm dem Bundesverfassungsgericht daher zur Prüfung stellen, wenn diese nach Bundesrecht "Gesetz" (vgl BVerfGE_71,25 <34>; BVerfGE_76,107 <114>; BVerfGE_137,108 <137 Rn.63>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22.August 2016 - 2_BvR_2953/14 -, juris, Rn.18) und damit zulässiger Beschwerdegegenstand der Kommunalverfassungsbeschwerde ist (vgl BVerfGE_107,1 <9 f.>). Die Kommunen könnten einen dem Bundesrecht gleichwertigen Rechtsschutz sonst nicht erlangen (vgl BVerfGE_107,1 <10>).

52

Eine solche Auslegung der Art.93 Abs.1 Nr.4b GG, § 91 BVerfGG beeinträchtigt nicht die Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder als Teil ihrer Verfassungsautonomie. Deren Vorrang reicht nur soweit wie die Kommunen im Land einen der bundesrechtlichen Kommunalverfassungsbeschwerde gleichwertigen Rechtsschutz erlangen können (vgl BVerfGE_107,1 <10 f.>). Ein eingeschränkter landesverfassungsgerichtlicher Rechtsschutz begründet dagegen die Reservezuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts (vgl BVerfGE_107,1 <11>; aus der Kammerrechtsprechung BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Oktober 2013 - 2_BvR_1961/13 u.a. -, juris, Rn.4 und vom 25. Juni 2007 - 2_BvR_635/07 -, juris, Rn.3).

53

b) An einem gleichwertigen Schutz der kommunalen Selbstverwaltung fehlt es auch dann, wenn die landesverfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in der Sache erkennbar hinter den Anforderungen des Art.28 Abs.2 GG zurückbleibt (aa). Das ist jedenfalls der Fall, wenn die Landesverfassung wesentliche Gewährleistungen von Art.28 Abs.2 Satz 1 GG nicht enthält (bb). Eine eingeschränkte Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung auf Ebene der Landesverfassung nimmt das Grundgesetz zwar hin; es verzichtet jedoch nicht auf die Durchsetzung seiner eigenen Anforderungen an die Garantie kommunaler Selbstverwaltung (cc).

54

aa) Schon der Wortlaut des Art.93 Abs.1 Nr.4b GG ("wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Art.28") deutet darauf hin, dass im - dann vorrangigen - Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht zumindest eine Art.28 Abs.2 GG vergleichbare Garantie Maßstab sein muss. Art.28 Abs.2 GG will bestimmte Mindeststandards an bürgerschaftlicher Selbstbestimmung in ganz Deutschland einheitlich garantieren und tatsächlich gewährleisten. Ohne seine unmittelbare Geltung in den Ländern wäre dies nicht zu erreichen (vgl BremStGH, Entscheidung vom 4. Juli 1953 - St 1/1953 -, BremStGHE 1, 42 <44>; NdsStGH, Urteil vom 15. Februar 1973 - StGH 2/72 und 3/72 -, DVBl 1973, S. 310 <311 f.>; LVerfG Bbg, Urteil vom 19. Mai 1994 - VfgBbg 9/93 -, LVerfGE 2, 93 <101 f.>; ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 - 2/95 und 6/95 -, LVerfGE 5, 391 <409>; Tettinger/Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 28 Abs. 2 Rn. 136, 141; Dreier, in: ders., GG, Bd. 2, Art. 28 Rn. 83; Nierhaus, in: Sachs, GG, Art. 28 Rn. 39; Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Abs. 2 Rn. 1, 48 ). Insoweit handelt es sich bei Art.28 Abs.2 GG um ein unmittelbar anwendbares, von der einzelnen Kommune im Rahmen ihrer subjektiven Rechtsstellungsgarantie individuell einklagbares Recht (vgl BVerfGE_23,353 <372 f.>; BVerfGE_26,228 <244>; BVerfGE_76,107 <119>; BVerfGE_83,363 <393>; BVerfGE_137,108 <155 Rn.109>). Soll diese Garantie nicht leerlaufen, so müssen die Kommunen, wenn nicht wegen einer vergleichbaren landesverfassungsrechtlichen Gewährleistung Zugang zu einem Landesverfassungsgericht besteht, eine Verletzung ihrer Rechte vor dem Bundesverfassungsgericht rügen können.

55

Dieses Verständnis wird auch durch die Entstehungsgeschichte der Vorschriften über die Kommunalverfassungsbeschwerde gestützt. Mit dem Wort "soweit" in § 91 Satz 2 BVerfGG sollte nach dem Willen des Gesetzgebers eine Einschränkung formuliert werden, die Kompetenzen zwischen den Landesverfassungsgerichten und dem Bundesverfassungsgericht aufteilt. Damit sollte jedoch keine Verkürzung der Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes für die Gemeinden und Gemeindeverbände hinsichtlich des durch Art.28 Abs.2 GG verbürgten Mindeststandards einhergehen (vgl Redebeitrag des Abgeordneten Dr. Arndt (SPD) zu Tagesordnungspunkt 11 der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 1. Februar 1951 - Dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über das Bundesverfassungsgerichtsgesetz -, Plenarprotokoll vom 1. Februar 1951, S.4413 f.).

56

bb) Soweit eine prinzipielle Gleichwertigkeit der Garantien kommunaler Selbstverwaltung auf Bundes- und Landesebene gegeben ist, können Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte vom Bundesverfassungsgericht nicht am Maßstab von Art.28 Abs.2 GG überprüft werden. Die Kommunalverfassungsbeschwerde nach Art.93 Abs.1 Nr.4b GG eröffnet nicht den Weg zu deren mittelbarer Kontrolle (Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3.Aufl 2012, Rn.654).

57

Gleichwertigkeit der Selbstverwaltungsgarantien setzt voraus, dass der landesrechtliche Schutz vergleichbar umfassend und effektiv ist. Der Schutz durch die Landesverfassungsgerichtsbarkeit muss wirksam und funktionsadäquat sein (vgl Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3.Aufl. 2012, Rn.654; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, 91 Rn.87 ).

58

Jedenfalls in Fällen, in denen der landesverfassungsrechtlichen Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in der autoritativen Auslegung des Landesverfassungsgerichts wesentliche Gewährleistungsinhalte von Art.28 Abs.2 GG fehlen, steht die Eröffnung der Kommunalverfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht derjenigen zum Bundesverfassungsgericht insoweit nicht entgegen.

59

Wesentliche Gewährleistungsinhalte von Art.28 Abs.2 GG sind solche, die nicht hinweggedacht werden können, ohne dass die institutionelle Garantie der kommunalen Selbstverwaltung substantiell verändert würde. Dazu gehören unter anderem die Gewährleistung eines eigenen Aufgabenbereichs der Gemeinden sowie die Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenerfüllung (vgl BVerfGE_138,1 <18 Rn.52>). Zu den grundlegenden Strukturelementen von Art.28 Abs.2 GG gehört zudem die Eigenständigkeit der Gemeinden auch und gerade gegenüber den Landkreisen (vgl BVerfGE_21,117 <128 f.>; BVerfGE_23,353 <365>; BVerfGE_79,127 <150>). Ferner ist das durch Art.28 Abs.2 Satz 1 GG statuierte verfassungsrechtliche Aufgabenverteilungsprinzip hinsichtlich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zugunsten der Gemeinden hierher zu rechnen (BVerfGE_79,127 <150 f.>; BVerfGE_83,363 <383>; BVerfGE_91,228 <236>; BVerfGE_110,370 <400>; BVerfGE_137,108 <156 f. Rn.114>; BVerfGE_138,1 <19 Rn. 54 ff.>), das auch der zuständigkeitsverteilende Gesetzgeber zu beachten hat (vgl BVerfGE_79,127 <150 ff.>; BVerfGE_107,1 <12>; BVerfGE_110,370 <399 ff.>; BVerfGE_137,108 <156 f. Rn.114>; BVerfGE_138,1 <15 Rn.41>) sowie die für die Entziehung einer solchen Angelegenheit geltenden strengen Rechtfertigungsanforderungen (vgl BVerfGE_138,1 <19 Rn.54>).

60

cc) Zwar steht es den Ländern somit frei zu bestimmen, inwiefern sie die kommunale Selbstverwaltung durch eine landesrechtliche Garantie absichern, ob deren Verletzung mit einer Kommunalverfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht gerügt werden kann und welcher Prüfungsumfang dem Landesverfassungsgericht dabei auferlegt wird. Bleibt das so bestimmte Schutzniveau jedoch derart hinter den Gewährleistungen des Art.28 Abs.2 Satz 1 GG zurück, dass wesentliche Gewährleistungsinhalte des Art.28 Abs.2 GG nicht existieren oder eingeklagt werden können, greift die Subsidiaritätsklausel des Art.93 Abs.1 Nr.4b GG, § 91 Satz 2 BVerfGG nicht ein.

61

4. Hiernach steht das Subsidiaritätserfordernis der Zulässigkeit der Kommunalverfassungsbeschwerde nicht entgegen. Vorliegend besteht zwar die Möglichkeit, das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Art.2 Abs.3 und Art.87 Verf LSA anzurufen (Art.75 Nr.7 Verf LSA, 51 Abs.1 VerfGG LSA), was die Beschwerdeführerinnen auch getan haben. Nach der insoweit bindenden Auslegung der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt, wie sie das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt in seinem Urteil vom 20. Oktober 2015 - LVG 2/14 - vorgenommen hat, unterscheidet die landesverfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung jedoch nicht zwischen Gemeinden und Landkreisen. Beide werden in den einschlägigen Bestimmungen vielmehr unter dem Begriff "Kommunen" zusammengefasst (LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 20. Oktober 2015, DVBl 2015, S. 1535 <1538 f.>). Die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt kennt danach auch kein verfassungsrechtliches Aufgabenverteilungsprinzip hinsichtlich der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, das der Gesetzgeber zu beachten hat und aus dem sich ein prinzipieller Vorrang der Gemeinde- vor der Kreisebene ableiten lässt, der auch bei kommunalrechtlichen Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen Berücksichtigung verlangt (LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 20. Oktober 2015, a.a.O.).

62

In Sachsen-Anhalt besteht somit kein gleichwertiger verfassungsrechtlicher Schutz der gemeindlichen Selbstverwaltung. In der Auslegung durch das Landesverfassungsgericht bleibt die in Art.87 Verf LSA gewährleistete Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in einem wesentlichen Gesichtspunkt hinter der Gewährleistung von Art.28 Abs.2 GG zurück, so dass auf Landesebene insoweit auch kein hinreichender Rechtsschutz gegen eine Verletzung der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie besteht. ...

84

(3) Art.28 Abs.2 Satz 1 GG konstituiert ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, wonach der Gesetzgeber den Gemeinden örtliche Aufgaben nur aus Gründen des Gemeinwohls entziehen darf, vor allem wenn die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung anders nicht sicherzustellen wäre. Das bloße Ziel der Verwaltungsvereinfachung oder der Zuständigkeitskonzentration - etwa im Interesse der Übersichtlichkeit der öffentlichen Verwaltung - scheidet als Rechtfertigung eines Aufgabenentzugs aus; denn dies zielte ausschließlich auf die Beseitigung eines Umstandes, der gerade durch die vom Grundgesetz gewollte dezentrale Aufgabenansiedlung bedingt ist (BVerfGE_138,1 <21 Rn.58>; vgl BVerfGE_79,127 <153>). Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Verwaltung rechtfertigen eine Hochzonung erst, wenn ein Belassen der Aufgabe bei den Gemeinden zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg führen würde. Auch wenn eine zentralistisch organisierte Verwaltung rationeller und billiger arbeiten könnte, setzt die Verfassung diesen ökonomischen Erwägungen den politisch-demokratischen Gesichtspunkt der Teilnahme der örtlichen Bürgerschaft an der Erledigung ihrer öffentlichen Aufgaben entgegen und gibt ihm den Vorzug. Der Staat ist daher zunächst darauf beschränkt, sicherzustellen, dass die Gemeinden ihre Angelegenheiten nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit erfüllen; dass andere Aufgabenträger in größeren Erledigungsräumen dieselbe Aufgabe insgesamt wirtschaftlicher erledigen könnten, gestattet - jedenfalls grundsätzlich - keinen Aufgabenentzug (BVerfGE_138,1 <21 Rn.58>; vgl BVerfGE_79,127 <153 f.>).

85

Dieses Aufgabenverteilungsprinzip gilt zugunsten kreisangehöriger Gemeinden auch gegenüber den Kreisen. Art.28 Abs.2 Satz 2 GG sichert den Gemeindeverbänden - und damit den Kreisen - anders als Art.28 Abs.2 Satz 1 GG den Gemeinden gerade keinen bestimmten Aufgabenbereich (vgl BVerfGE_21,117 <128 f.>; BVerfGE_23,353 <365>; BVerfGE_79,127 <150>). Aus diesem verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilungsprinzip folgt ein prinzipieller Vorrang der Gemeindeebene vor der Kreisebene ( BVerfGE_138,1 <15 Rn.41>; vgl BVerfGE_79,127 <150 ff.>; BVerfGE_107,1 <12>; BVerfGE_110,370 <399 ff.>; BVerfGE_137,108 <156 f. Rn.114>).

86

Genügen Leistungsfähigkeit und Verwaltungskraft einer Gemeinde nicht, um kommunale Aufgaben wahrzunehmen, gewährleistet Art.28 Abs.2 Satz 1 GG den Kommunen das Recht, diese in kommunaler Zusammenarbeit zu erfüllen, bevor der Staat sie an sich zieht ( BVerfGE_138,1 <28 Rn.74>; vgl BVerfGE_26,228 <239>). Daher besteht grundsätzlich ein Vorrang der interkommunalen Zusammenarbeit vor der Hochzonung gemeindlicher Aufgaben auf die Landkreisebene. Erst wenn durch gemeindliche Kooperation die Erfüllung kommunaler Aufgaben nicht sichergestellt werden kann, darf der Staat den Gemeinden die davon betroffenen Zuständigkeiten entziehen.

87

Benehmenserfordernisse genügen grundsätzlich nicht, um den Entzug kommunaler Kompetenzen zu rechtfertigen, weil diese den Gemeinden kein wirksames Mitentscheidungsrecht gewähren. Sie stehen für eine verfahrensrechtliche Beteiligung, der nach dem Willen des Gesetzgebers keine materielle Rechtsposition des beteiligten Trägers öffentlicher Belange korrespondiert. Benehmenserfordernisse sind im Regelfall ausschließlich dem objektiv-rechtlichen Ziel einer breiteren Beurteilungsgrundlage und damit einer besseren Entscheidungsfindung verpflichtet (vgl BVerfGE_138,1 <31 Rn.85>). Die Herstellung des Benehmens erfordert zwar eine Anhörung des Trägers öffentlicher Belange durch die entscheidende Behörde und verpflichtet diese, die Stellungnahme zu erwägen und Möglichkeiten einer Berücksichtigung auszuloten. Der beteiligte Träger öffentlicher Belange soll seinen Standpunkt darlegen, Einwände im Hinblick auf die von ihm vertretenen Interessen erheben und auf das Ergebnis der Entscheidung auch Einfluss nehmen können (BVerfGE_138,1 <32 Rn.87>). Eine Benehmensherstellung erfordert allerdings keine Einigung der beteiligten Verwaltungsträger, sondern gestattet es der entscheidenden, das Benehmen herstellenden Behörde, sich über das Vorbringen des beteiligten Trägers öffentlicher Belange hinwegzusetzen. Anders als bei Einvernehmens- oder Zustimmungserfordernissen gewährt das Benehmenserfordernis somit kein echtes Mitentscheidungsrecht (BVerfGE_138,1 <32 Rn.87>).

 

Auszug aus BVerfG U, 21.11.17, - 2_BvR_2177/16 -, www.BVerfG.de,  Abs.49 ff

§§§

17.062 Vorabentscheidungsersuchen in Drittverfahren

  1. BVerfG,     B, 14.12.17,     – 2_BvR_1872/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.4/2018

  3. GG_Art.19 Abs.4; CHdGR-EU_Art4; BVerfGG_§_90 Abs.1, BVerfGG_§_93a

  4. Verfassungsbeschwerde / Eilantrag / Begründung / effektiver Rechtsschutz / Verstoß / Darlegungslast / Vorabentscheidungsersuchen / Drittverfahren

 

PM: Voraussetzungen für die Berücksichtigung von Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof in Drittverfahren

 

Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in anderen Verfahren als dem anhängigen Eilverfahren führen nicht ohne weiteres dazu, dass die Fachgerichte einen stattgebenden oder vorläufig stattgebenden Beschluss erlassen müssen, um die Entscheidung des EuGH berücksichtigen zu können. Das anhängige Eilverfahren kann vielmehr nur dann Erfolg haben, wenn die im Drittverfahren ergangene Vorlage für das anhängige Verfahren sowohl entscheidungserheblich als auch erforderlich ist. Mit dieser Begründung hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss die Verfassungsbeschwerde einer Asylbewerberin nicht zur Entscheidung angenommen, die sich auf in Drittverfahren gestellte Vorlagefragen bezogen hatte. Diese hatten zum Gegenstand, ob in ein Land der EU abgeschoben werden darf, wenn zwar nicht durch die dort zu erwartende Behandlung während des Asylverfahrens, aber im Falle einer Statuszuerkennung eine menschenrechtswidrige Behandlung drohen würde. Die Beschwerdeführerin hat allerdings nicht hinreichend dargelegt, dass die tatsächliche Situation im Zielland der Abschiebung gerade für Inhaber eines Schutzstatus menschenrechtswidrig und es für sie daher unzumutbar sein würde, ihren Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren einschließlich einer eventuellen Vorlage an den EuGH weiter zu verfolgen.

§§§

17.063 Abschiebung-Foltergefahr

  1. BVerfG,     B, 18.12.17,     – 2_BvR_2259/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.1/2018

  3. GG_Art.2 Abs.2 S.1 GG_Art.19 Abs.4; VwGO_§_86 Abs.1; EMRK_Art.3

  4. Verfassungsbeschwerde / Abschiebung / türkischer Staatsbürger / Verurteilung - Unterstützung einer terroristischen / effektiver Rechtschutz

 

PM: Gerichtliche Sachaufklärungspflicht bei Hinweisen auf Foltergefahr in Abschiebungsfällen

 

Gerichte verletzen das in Art.19 Abs.4 Satz 1 GG gewährleistete Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie trotz gewichtiger Anhaltspunkte nicht aufklären, ob einem Betroffenen im Falle der Abschiebung Folter oder unmenschliche Haftbedingungen drohen. Es ist verfassungsrechtlich geboten, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den Zielstaat über die dortigen Verhältnisse informieren und vor einer Abschiebung gegebenenfalls geeignete Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen, die Folter und unmenschliche Behandlung wirksam ausschließen. Dies hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss unter teilweiser Stattgabe der Verfassungsbeschwerde eines wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilten türkischen Staatsangehörigen entschieden und den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 21.September 2017 - 8 L 6810/17.GI.A - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Der Beschluss vom 14. November 2017 - 8 L 7779/17.GI.A - ist gegenstandslos. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Gießen zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer ein Drittel seiner notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und die Auslagen für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 10.000 (in Worten: zehntausend Euro) und für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 5.000 (in Worten: fünftausend Euro) festgesetzt.

§§§

17.064 Pflicht zur Anrufung des EuGH

  1. BVerfG,     B, 19.12.17,     – 2_BvR_424/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.3/2018

  3. GG_Art.101 Abs.1; GRCh_Art.4, GRCh_Art.52 Abs.3; AEUV_Art.267/3; EMRK_Art.3

 

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Pflicht zur Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens

 

Wenn Gerichte über die Zulässigkeit eines im unionsrechtlich determinierten Rechtshilfeverkehr gestellten Auslieferungsersuchens befinden, haben sie Zweifelsfragen über die Anwendung und Auslegung von Unionsrecht dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) als gesetzlichem Richter vorzulegen. Zwar ist nicht jeder Verstoß gegen die unionsrechtliche Vorlagepflicht ein Verstoß gegen die Gewährleistung des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG, aber der gesetzliche Richter ist entzogen, wenn ein Gericht bei einer unvollständigen Rechtsprechung des EuGH den ihm notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen bei der Anwendung und Auslegung von Unionsrecht in unvertretbarer Weise überschreitet. Der EuGH hat die Frage, welche Mindestanforderungen Art.4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh) an Haftbedingungen konkret stellt und nach welchen Maßstäben Haftbedingungen unionsrechtlich zu bewerten sind, bislang nicht abschließend geklärt. Eine unvertretbare Überschreitung des fachgerichtlichen Beurteilungsrahmens liegt in einer solchen Konstellation jedenfalls vor, wenn das Gericht die mit Blick auf Art.52 Abs.3 GRCh einzubeziehende Rechtsprechung des EGMR lediglich selektiv auswertet, ihr weitere Gesichtspunkte hinzufügt und so das Unionsrecht eigenständig fortbildet. Mit dieser Begründung hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss einer Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des Hanseatischen Oberlandesgerichts stattgegeben, mit denen dieses die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Rumänien für zulässig erklärt hatte, und die Sache zurückverwiesen. Über die Frage, ob die Beschlüsse, wie durch den Beschwerdeführer gerügt, vor dem Hintergrund der Haftbedingungen in rumänischen Justizvollzugsanstalten einen Verstoß gegen die Garantie der Menschenwürde aus Artikel 1 Abs. 1 GG darstellen, war daher zum derzeitigen Verfahrensstand nicht zu entscheiden.

§§§

17.065 Studienplatzvergabe-Humanmedizin

  1. BVerfG,     U, 19.12.17,     – 1_BvL_3/14 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.112/2017

  3. GG_Art.12 Abs.1 iVm Art.3 Abs.1, GG_Art.31, GG_Art.126b Abs.1 S.3; HRG_§_32 Abs.3 S.1 Nr.2 + 3 (BW) HZG_§_2a Abs.1 S.1; BayHZG_Art.7 Abs.1 + 2; BerlHZG_§_8; HabHZG_Art.1; HessHZG_§_1; HZG-MV_§_4; NHZG_§_8 Abs.1; (NW) HZG_§_2; (RP) HZG_§_1 Abs.1; (SL) HZG_§_1; SächsHZG_§_3 Abs.1; (SA) HZulG_§_3a S.2 + 3; (SH) HZG_§_12 Abs.2 S.1; ThürHZG_§_11; BerlHZG_§_8a

 

1) Nach Art.12 Abs.1 Satz 1 in Verbindung mit Art.3 Abs.1 GG haben jede Studienplatzbewerberin und jeder Studienplatzbewerber ein Recht auf gleiche Teilhabe an staatlichen Studienangeboten und damit auf gleichheitsgerechte Zulassung zum Studium ihrer Wahl.

 

2) Regeln für die Verteilung knapper Studienplätze haben sich grundsätzlich am Kriterium der Eignung zu orientieren. Daneben berücksichtigt der Gesetzgeber Gemeinwohlbelange und trägt dem Sozialstaatsprinzip Rechnung. Die zur Vergabe knapper Studienplätze herangezogenen Kriterien müssen die Vielfalt der möglichen Anknüpfungspunkte zur Erfassung der Eignung abbilden.

 

3) Der Gesetzgeber muss die für die Vergabe von knappen Studienplätzen im Studienfach Humanmedizin wesentlichen Fragen selbst regeln. Insbesondere muss er die Auswahlkriterien der Art nach selbst festlegen. Er darf den Hochschulen allerdings gewisse Spielräume für die Konkretisierung dieser Auswahlkriterien einräumen.

 

4) Die Abiturbestenquote begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die maßgebliche Orientierung der Vergabeentscheidung an den Ortswunschangaben sowie die Beschränkung der Bewerbung auf sechs Studienorte lassen sich im Rahmen der Abiturbestenquote verfassungsrechtlich jedoch nicht rechtfertigen.

 

5) Verfassungswidrig sind die gesetzlichen Vorschriften zum Auswahlverfahren der Hochschulen insofern,


- als die Standardisierung und Strukturierung hochschuleigener Eignungsprüfungen nicht sichergestellt ist,

- als die Hochschulen neben eignungsbezogenen gesetzlichen Kriterien uneingeschränkt auch auf das Kriterium eines frei zu bestimmenden Ranges der Ortspräferenz zurückgreifen dürfen,

- als im Auswahlverfahren der Hochschulen die Abiturnoten berücksichtigt werden können, ohne einen Ausgleichsmechanismus für deren nur eingeschränkte länderübergreifende Vergleichbarkeit vorzusehen,

- als für einen hinreichenden Teil der Studienplätze neben der Abiturdurchschnittsnote keine weiteren Auswahlkriterien mit erheblichem Gewicht Berücksichtigung finden.

>

 

6) Die Einrichtung einer Wartezeitquote ist verfassungsrechtlich zulässig, wenngleich nicht geboten. Sie darf den jetzigen Anteil von 20 % der Studienplätze nicht überschreiten. Die Wartezeit muss in der Dauer begrenzt sein.

 

7) Wollen die Länder im Rahmen des Art.125b Abs.1 Satz 3 GG von Bundesrecht abweichen, müssen sie eine Neuregelung oder eine inhaltliche Regelung im unmittelbaren Zusammenhang mit bereits geltendem Landesrecht treffen. Rein redaktionelle Anpassungen genügen nicht. Die ausdrückliche Erklärung des Abweichungswillens ist nicht erforderlich.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) a) § 32 Absatz 3 Satz 1 Nummern 2 und 3 sowie Absatz 3 Sätze 2 und 4 des Hochschulrahmengesetzes (HRG) in der Fassung vom 28.August 2004 (Bundesgesetzblatt I Seite 2298)

a. sowie

- § 1 des Gesetzes zu dem Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vom 10. November 2009 (Gesetzblatt für Baden-Württemberg Seite 663) sowie § 2a Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes über die Zulassung zum Hochschulstudium in Baden-Württemberg (Hochschulzulassungsgesetz - HZG) in der Fassung vom 15.September 2005 (Gesetzblatt für Baden-Württemberg Seite 629) und des Änderungsgesetzes vom 15.Juni 2010 (Gesetzblatt für Baden-Württemberg Seiten 422, 423),

- der Zustimmungsbeschluss des Landtags des Freistaates Bayern vom 22.April 2009 zum Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 186) sowie Artikel 7 Absätze 1 und 2 des Gesetzes über die Hochschulzulassung in Bayern (Bayerisches Hochschulzulassungsgesetz - BayHZG) vom 9.Mai 2007 (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 320) in der Fassung des Gesetzes vom 9.Juli 2012 (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 339),

- § 1 des Gesetzes zu dem Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vom 29.Oktober 2008 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin Seite 310) sowie § 8 Absatz 1 Nummer 2 und Absatz 3 Sätze 1 bis 5 des Gesetzes über die Zulassung zu den Hochschulen des Landes Berlin in zulassungsbeschränkten Studiengängen (Berliner Hochschulzulassungsgesetz - BerlHZG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 18.Juni 2005 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin Seite 393) und des Gesetzes vom 26.Juni 2013 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin Seite 198),

- Artikel 1 Absatz 1 des Gesetzes zum Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vom 17.Februar 2009 (Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 36) sowie Artikel 3 Absatz 1 Satz 2 des Gesetzes zum Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vom 17.Februar 2009 (Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 36) in der Fassung des Gesetzes vom 6.März 2012 (Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 132),

- § 1 Absätze 1 und 2 sowie § 4 Absatz 1 Nummer 2, Absatz 3 und Absatz 4 Satz 2 des Gesetzes zum Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung in der Fassung vom 15.Dezember 2009 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Hessen I Seite 705),

- Artikel 1 Absatz 1 des Gesetzes zum Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung sowie zur Änderung des Hochschulzulassungsgesetzes vom 11.März 2010 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Mecklenburg-Vorpommern Seite 164) und § 4 Absatz 1 Nummer 2, Absatz 3 Sätze 1 und 2 sowie Absatz 5 Satz 2 des Gesetzes über die Zulassung zum Hochschulstudium in Mecklenburg-Vorpommern (Hochschulzulassungsgesetz - HZG M-V) vom 14.August 2007 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Mecklenburg-Vorpommern Seite 286) in der Fassung des Gesetzes vom 16.Dezember 2010 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Mecklenburg-Vorpommern Seiten 730 und 758),

- Artikel 1 Absätze 1 und 2 des Gesetzes zum Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung und zur Änderung des Niedersächsischen Hochschulzulassungsgesetzes vom 17.Februar 2010 (Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 47) sowie § 8 Absatz 1 des Niedersächsischen Hochschulzulassungsgesetzes (NHZG) vom 29.Januar 1998 (Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 51) in der Fassung des Gesetzes vom 17.Februar 2010 (Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 47),

- § 1 Absatz 1 des Gesetzes zur Ratifizierung des Staatsvertrages über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vom 5.Juni 2008 vom 18.November 2008 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Seite 710) sowie § 2 des Dritten Gesetzes über die Zulassung zum Hochschulstudium in Nordrhein-Westfalen (Hochschulzulassungsgesetz - HZG) vom 18.November 2008 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Seite 710),

- § 1 des Landesgesetzes zu dem Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vom 27.Oktober 2009 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Rheinland-Pfalz Seite 347),

- § 1 des Gesetzes Nr.1666 zur Ratifizierung des Staatsvertrages über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vom 5.Juni 2008 vom 9.Dezember 2008 (Amtsblatt des Saarlandes 2009 Seite 331),

- Artikel 1 des Gesetzes zum Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vom 16.April 2009 (Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seiten 155 und 259) sowie § 3 Absatz 1 und Absatz 2 Satz 2 des Gesetzes über die Zulassung zum Hochschulstudium im Freistaat Sachsen (Sächsisches Hochschulzulassungsgesetz - SächsHZG) vom 7.Juni 1993 (Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 462) in der Fassung des Gesetzes vom 18.Oktober 2012 (Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seiten 568, 575),

- § 1 Absätze 1 und 2 sowie § 3a Sätze 2 und 3 des Hochschulzulassungsgesetzes Sachsen-Anhalt (HZulG LSA) in der Fassung der Bekanntmachung vom 24.Juli 2012 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Sachsen-Anhalt Seiten 297, 298),

- Artikel 1 Absätze 1 und 2 des Gesetzes zur Zustimmung zum Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung und zur Änderung des ZVS-Gesetzes vom 27.Juni 2008 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein Seite 304), § 4 Absatz 1 Sätze 1, 2 und 4 sowie Absatz 2 des Zustimmungs- und Ausführungsgesetzes zu dem Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung (ZVS-Gesetz - ZVS ZuAG) vom 19.Juni 2007 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein Seite 293) in der Fassung des Gesetzes vom 19.Juni 2009 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein Seite 331) und 12 Absatz 2 Satz 1 des Hochschulzulassungsgesetzes (HZG) in der Fassung vom 5.Februar 2016 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein Seite 75) sowie

- § 1 des Thüringer Gesetzes zu dem Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vom 16.Dezember 2008 (Gesetz- und Verordnungsblatt für den Freistaat Thüringen Seite 529) sowie 11 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 des Thüringer Hochschulzulassungsgesetzes (ThürHZG) vom 16.Dezember 2008 (Gesetz- und Verordnungsblatt für den Freistaat Thüringen Seite 535)

sind, soweit sie die Zulassung zum Studium der Humanmedizin betreffen, mit Artikel 12 Absatz 1 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.

2) § 8a des Gesetzes über die Zulassung zu den Hochschulen des Landes Berlin in zulassungsbeschränkten Studiengängen (Berliner Hochschulzulassungsgesetz - BerlHZG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 18.Juni 2005 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin Seite 393) ist gemäß Artikel 31 des Grundgesetzes nichtig, soweit er für die Studierendenauswahl in der Abiturbesten- und der Wartezeitquote gemäß § 32 Absatz 3 Satz 1 Nummern 1 und 2 des Hochschulrahmengesetzes (HRG) in der Fassung vom 28. August 2004 (Bundesgesetzblatt I Seite 2298) gilt.

3) Die mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Vorschriften gelten bis zu einer Neuregelung fort. Bis zum 31.Dezember 2019 ist eine Neuregelung zu treffen.

§§§

17.066 Vollstreckungsaufschub-Freiheitsstrafe

  1. BVerfG,     B, 21.12.17,     – 2_BvR_2772/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.115/2017

  3. GG_Art.2 Abs.2 S.1; StPO_§_455 Abs.3

  4. Verfassungsbeschwerde / Freiheitsstrafe - Auschub der Vollstreckung /

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung des Aufschubs der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Zweiten Senats eine Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung des Aufschubs der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nicht zur Entscheidung angenommen. Der wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilte, 96-jährige Beschwerdeführer macht vornehmlich geltend, sein Gesundheitszustand sei in den angegriffenen Entscheidungen nur unzureichend berücksichtigt worden, und rügt die Verletzung seines Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art.2 Abs.2 Satz 1 GG).

§§§

17.067 Elektronisches Anwaltspostfach

  1. BVerfG,     B, 22.12.17,     – 1_BvR_2233/17 –

  2. www.BVerfG.de = PM-Nr.114/2017

  3. GG_Art.12 Abs.1; BRAO_§_31a Abs.6

  4. Verfassungsbescherde / Einführung - besonderes elektronissches Anwaltspostfach / Nutzungspflicht / Vereinbarkeit

 

PM: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Einführung des elektronischen Anwaltspostfachs

 

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats eine Verfassungsbeschwerde gegen gesetzliche Regelungen zum anwaltlichen elektronischen Rechtsverkehr nicht zur Entscheidung angenommen. Mit seiner Verfassungsbeschwerde und dem damit verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wendet sich der beschwerdeführende Rechtsanwalt insbesondere gegen die ab dem 1. Januar 2018 bestehende Verpflichtung, die für das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) erforderlichen technischen Einrichtungen vorzuhalten sowie Zustellungen und den Zugang von Mitteilungen über das beA zur Kenntnis zu nehmen (sogenannte passive Nutzungspflicht). Die Verfassungsbeschwerde ist bereits unzulässig, da sie den Begründungsanforderungen nicht genügt.

§§§

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