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08.001 Elektrizitätsversorgung-Haft

  1. BVerfG,     B, 10.01.08,     – 2_BvR_1229/07 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.5 Abs.1; StPO_§_119 Abs.3

  4. Haft / nächtliche Stromabschaltung / Grundrechte / Untersuchungshaft / Einschränkungen / Freiheitsrechte / Gefahrenabwehr / Zweckmäßigkeit Grundrechtseingriffe / Zulässigkeit

 

LB 1) Ob allgemeine nächtliche Stromabschaltungen in der Untersuchungshaft generell oder unter Bedingungen, wie sie in der Justizvollzugsanstalt U vorliegen, von Verfassungs wegen hinzunehmen wären, wenn der Gesetzgeber selbst eine klare Entscheidung in diesem Sinne getroffen hätte, steht nicht zur Entscheidung.

 

LB 2) In Grundrechte darf nur auf gesetzlicher Grundlage eingegriffen werden. Dieser allgemeine rechtsstaatliche Grundsatz gilt auch für den Vollzug der Untersuchungshaft.

 

LB 3) Für Einschränkungen grundrechtlicher Freiheiten des Untersuchungsgefangenen bildet zwar nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts § 119 Abs.3 StPO eine verfassungsrechtlich zureichende gesetzliche Grundlage (vgl BVerfGE_34,369 <379>; BVerfGE_34,384 <395>; BVerfGE_35,307 <309>; BVerfGE_35,311 <316>; BVerfGE_57,170 <177>).

 

LB 4) Dies gilt jedoch nur im Hinblick darauf, dass es sich um eine strikt auf die Abwehr von Gefahren für die Haftzwecke oder die Ordnung der Anstalt beschränkte Ermächtigung handelt, deren Anwendung in besonderem Maße dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet ist.

 

LB 5) Für darüber hinausgehende Eingriffe nach Maßgabe vollzugspolitischer Zweckmäßigkeiten und nicht gefahrenabwehrrechtlich begründeter Abwägungen bietet § 119 Abs.3 StPO keine ausreichende Grundlage.

 

LB 6) Die Auslegung der Vorschrift hat dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb allein den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf (vgl BVerfGE_15,288 <295>; BVerfGE_34,369 <379>; BVerfGE_42,95 <100>). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss daher den Vollzug der Untersuchungshaft in besonderem Maße beherrschen.

 

LB 7) Voraussetzung für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen auf der Grundlage des § 119 Abs.3 StPO ist eine reale Gefährdung der in dieser Bestimmung bezeichneten öffentlichen Interessen (vgl BVerfGE_15,288 <295>; BVerfGE_34,384 <398>; BVerfGE_35,5 <9 f>; BVerfGE_35,307 <309>). Für das Vorliegen einer solchen Gefahr müssen konkrete Anhaltspunkte bestehen (vgl BVerfGE_35,5 <10>; BVerfGE_42,234 <236>; BVerfGE_57,170 <177>). Die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbraucht, reicht nicht aus.

 

LB 8) Eine über Einzelmaßnahmen im konkreten Fall hinausgehende generelle Beschränkung ist aber nur dann zulässig, wenn eine reale Gefährdung der in § 119 Abs.3 StPO bezeichneten öffentlichen Interessen nicht jeweils durch einzelne Maßnahmen hinreichend abgewehrt werden kann.

 

LB 9) In solchen Fällen ist zudem dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dadurch Rechnung zu tragen, dass im Einzelfall Ausnahmen zugelassen werden, soweit dies ohne konkrete Gefährdung der in § 119 Abs.3 StPO genannten Interessen möglich ist.

 

LB 10) Je weniger konkret die Gefährdung der Ordnung in der Anstalt ist, desto größeres Gewicht kommt der Handlungsfreiheit des Untersuchungsgefangenen zu und desto zurückhaltender muss der Richter bei grundrechtlichen Eingriffen sein.

§§§

08.002 Rückfallvermögen

  1. BVerfG,     B, 15.01.08,     – 2_BvF_4/05 –

  2. BVerfGE_119,394 = www.BVerfG.de

  3. GG_Art.134 Abs.3, GG_Art.20 Abs.1, GG_Art.3 Abs.1; RVermG_§_19 Abs.1

  4. Reichsvermögen-Gesetz / Inkraftreten

 

Zum Inkrafttreten der Regelungen des Reichsvermögen-Gesetzes über das Rückfallvermögen (Art.134 Abs.3 GG) in Berlin (West).

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 19 Absatz 1 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse des Reichsvermögens und der preußischen Beteiligungen (Reichsvermögen-Gesetz) vom 16. Mai 1961 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 597) steht der mit § 1 Satz 1 des Gesetzes zur Überleitung von Bundesrecht nach Berlin (West) (Sechstes Überleitungsgesetz) vom 25. September 1990 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 2106) geschaffenen Anwendbarkeit des § 5 Reichsvermögen-Gesetz im Geltungsbereich der bis zum Ablauf des 2. Oktober 1990 bestehenden Westsektoren des Landes Berlin nicht entgegen; die Regelung ist mit Artikel 134 Absatz 3 und Absatz 4 des Grundgesetzes sowie dem föderalen Gleichbehandlungsgebot (Artikel 20 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes) vereinbar.

§§§

08.003 Abfärberegelung

  1. BVerfG,     B, 15.01.08,     – 1_BvL_2/04 –

  2. BVerfGE_120,1 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerwGE

  3. GG_Art.3 Abs.1; EStG_§_15 Abs.3 Nr.1

  4. Gleichhheitssatz / Einkünfte der freien Berufe / Land- und Forstwirtschaft / Einkünfte Personengesellschaft / Einkünfte aus Gewerbebetrieb / Gewerbesteuer / gewerbliche Tätigkeit

 

1) Es ist mit dem Gleichheitssatz vereinbar, dass die Einkünfte der freien Berufe, anderen Selbständigen und der Land- und Forstwirte nicht der Gewerbesteuer unterliegen.

 

2) Es verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz, dass nach § 15 Abs.3 Nr.1 EStG (sogenannte Abfärberegelung) die gesamten Einkünfte einer Personengesellschaft als Einkünfte aus Gewerbebetrieb gelten und damit der Gewerbesteuer unterliegen, wenn die Gesellschaft auch nur teilweise eine gewerbliche Tätigkeit ausübt.

§§§

08.004 Vermittlungsausschuss

  1. BVerfG,     B, 15.01.08,     – 2_BvL_12/01 –

  2. BVerfGE_120,56 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.20 Abs.3, GG_Art.76 Abs.1; (95) UmwStG_§_12 Abs.2 S.4

  4. Reichsvermögen-Gesetz / Inkraftreten

 

Zu den Grenzen der Kompetenz des Vermittlungsausschusses (im Anschluss an BVerfGE_101,297 ).

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Artikel 3 Nummer 4 Buchstabe a des Gesetzes zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform vom 29.Oktober 1997 (Bundesgesetzblatt I Seite 2590) ist mit dem Grundgesetz unvereinbar, bleibt aber gültig.

§§§

08.005 Kinderpornographische Bilder

  1. BVerfG,     B, 18.01.08,     – 2_BvR_313/07 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.20 Abs.3, GG_Art.76 Abs.1; UmwStG_§_12 Abs.2 S.4; StGB_§_184

  4. Staatsanwalt / Besitz kinderpornographischer Bilddateien / Strafbefehl / Entfernung aus dem Dienst /

 

LB 1) In der jüngeren Rechtsprechung der Disziplinargerichte wird schon der (bloße) Besitz kinderpornographischer Darstellungen (Vergehen nach § 184 Abs.5 Satz 2 StGB aF) durchgängig als schweres Dienstvergehen gewertet, das zur Entfernung aus dem Dienst oder zur Degradierung führen kann (vgl Nds OVG, Urteil vom 4.September 2007 - 20 LD 14/06 -, Juris, Rn.65 mit umfassenden Nachweisen).

 

LB 2) Diese Rechtsprechung findet ihre Grundlage in der Erkenntnis, dass (auch) die Beschaffung, der Besitz und die Weitergabe kinderpornographischer Bilder dazu beitragen, dass Kinder durch die Existenz eines entsprechenden Marktes sexuell missbraucht werden, und dass die Veröffentlichung und Verbreitung der Bilder fortlaufend die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht der abgebildeten Kinder verletzen, ohne dass sich diese wirksam dagegen wehren können (vgl BVerwGE_111,291 <294 ff>; BVerwG, Urteil vom 8.November 2001 - 2 WD 29/01 -, NVwZ 2002, S.1378).

 

LB 3) Jedenfalls im Hinblick auf bestimmte Gruppen von Angehörigen des öffentlichen Dienstes geht die Tendenz in der Rechtsprechung dahin, in diesen Fällen die Entfernung aus dem Dienst als Regelmaßnahme anzusehen, von der nur in Ausnahmefällen abgesehen werden könne. So sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Verstöße gegen § 184 Abs.5 StGB in der bis 31.März 2004 geltenden Fassung bei einem Soldaten in Vorgesetztenstellung als so gravierend anzusehen, dass er im Allgemeinen für die Bundeswehr untragbar werde und nur in minder schweren Fällen oder bei besonderen Milderungsgründen in seinem Dienstverhältnis, jedoch grundsätzlich nicht mehr in Vorgesetztenstellung, verbleiben könne (vgl BVerwGE_111,291 <295 f.>; BVerwG, Urteil vom 27.August 2003 - 2 WD 39/02 -, NVwZ 2004, S.625 <626>).

§§§

08.006 Umsetzung

  1. BVerfG,     B, 30.01.08,     – 2_BvR_754/07 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.33 Abs.5, GG_Art.20 Abs.3, GG_Art.12 Abs.1; GG_Art.6

  4. Dienstposten / ungeschmälerte Ausübung / Dienstherr / Änderung Aufgabenbereich / Vorgesetztenfunktion / Beförderungsmölgichkeit / Ansehen / Ermessen / Ermessenserwägungen / Überprüfung / Einschränkungen Fürsorgepflicht / Schutz der Familie

 

LB 1) Nach ständiger Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte hat der Beamte keinen Anspruch auf unveränderte und ungeschmälerte Ausübung des ihm übertragenen konkret-funktionellen Amts (Dienstpostens). Er muss vielmehr eine Änderung seines dienstlichen Aufgabenbereichs durch Umsetzung oder andere organisatorische Maßnahmen nach Maßgabe seines Amts im statusrechtlichen Sinne hinnehmen (vgl BVerwGE_60,144 <150>; BVerfGE_89,199 <201>).

 

LB 2) Danach kann der Dienstherr aus jedem sachlichen Grund den Aufgabenbereich des Beamten verändern, solange diesem ein amtsangemessener Aufgabenbereich verbleibt.

 

LB 3) Besonderheiten des bisherigen Aufgabenbereichs des dem Beamten übertragenen Amts, wie beispielsweise der Vorgesetztenfunktion, Beförderungsmöglichkeiten oder einem etwaigen gesellschaftlichen Ansehen, kommt keine das Ermessen des Dienstherrn bei der Änderung des Aufgabenbereichs einschränkende Wirkung zu ( BVerwGE_89,199 <201>).

 

LB 4) Die Ermessenserwägungen des Dienstherrn werden im verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Allgemeinen nur daraufhin überprüft, ob sie durch Ermessensmissbrauch maßgebend geprägt sind (vgl BVerwGE_60,144 <151>; BVerwG, Beschluss vom 8.Februar 2007 - 2_VR_1/07 -, Rn.3 f ). Sonach bleibt die Prüfung grundsätzlich darauf beschränkt, ob die Gründe des Dienstherrn seiner tatsächlichen Einschätzung entsprachen und nicht nur vorgeschoben sind, um eine in Wahrheit allein oder maßgebend mit auf anderen Beweggründen beruhende Entscheidung zu rechtfertigen, oder ob sie aus anderen Gründen willkürlich sind (BVerwGE_89,199 <202> mwN).

 

LB 5) Allerdings geht die Rechtsprechung davon aus, dass das Ermessen des Dienstherrn bei einer Umsetzung in besonders gelagerten Einzelfällen - in unterschiedlichem Maße - eingeschränkt sein kann. Solche Einschränkungen können sich beispielsweise aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn ergeben (vgl BVerwGE_60,144 <152>), etwa dann, wenn besondere Umstände des Einzelfalls, insbesondere gewichtige Grundrechte des Beamten, einer besonderen Berücksichtigung bedürfen und daher auch private Belange des Beamten in den Ermessenserwägungen bei der Umsetzungsentscheidung zu berücksichtigen sind. Hierzu können auch besondere Schutzbedürfnisse des Beamten aus dem von Art.6 GG geschützten Bereich von Ehe und Familie oder auch die mit einem Wechsel des Dienstorts verbundenen Belastungen zählen.

 

LB 6) Der Schutzbereich der Berufsfreiheit ist allerdings eröffnet; denn Art.12 Abs.1 GG schützt auch die berufliche Tätigkeit im öffentlichen Dienst (vgl BVerfGE_84,133 <147> ). Dienstliche Anordnungen über die Umsetzung beziehungsweise die Übertragung eines anderen Dienstpostens stellen Einzelfallregelungen dar, die sich auf die Berufstätigkeit der Beamten beziehen, und daher in den Schutzbereich der Berufsfreiheit eingreifen (vgl BVerfGE_111,191 <213>). Es ist jedoch gerechtfertigt, dass die Rechtsprechung die Zulässigkeit solcher Eingriffe grundsätzlich anerkennt.

§§§

08.007 Weisung-Führungsaufsicht

  1. BVerfG,     B, 11.02.08,     – 2_BvR_160/08 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.13

  4. Aufenthaltsverbot / Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung / Schulen / Kindergärten

 

LB 1) Die Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht, sich nicht im Umkreis von Schulen, Kindergärten und anderen von Kindern und Jugendlichen besuchten Orten aufzuhalten, führt nicht zu einem Eingriff in das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art.13 GG.

 

LB 2) Die Grundrechtsverbürgung des Art.13 Abs.1 GG betont zwar die Bedeutung einer Wohnung, schützt diese jedoch nur gegen bestimmte Beeinträchtigungen. Geschützt ist nicht das Besitzrecht an einer Wohnung, sondern deren Privatheit. Art.13 Abs.1 GG schützt damit nicht das Interesse, eine bestimmte Wohnung zum Lebensmittelpunkt zu machen und sie hierfür zu behalten.

 

LB 3) Der Schutz der Wohnung nach Art.13 GG soll vielmehr Störungen vom privaten Leben fernhalten und gewährleistet das Recht, in diesen Räumen in Ruhe gelassen zu werden.

 

LB 4) Zu den möglichen Verletzungshandlungen können zwar auch substantielle Eingriffe zählen, bei denen die Wohnung der Verfügung und Benutzung des Inhabers ganz oder teilweise entzogen wird. Derartige Eingriffe berühren aber nur dann den Schutzbereich des Art.13 Abs.1 GG, wenn durch sie die Privatheit der Wohnung aufgehoben wird ( BVerfGE_89,1 <12> ) Der Entzug der Verfügungsbefugnis über eine Wohnung durch das Verbot, eine bestimmte Wohnung zu betreten, bedeutet daher keinen Eingriff in das Grundrecht.

§§§

08.008 Existenznotwendiger Aufwand

  1. BVerfG,     B, 13.02.08,     – 2_BvL_1/06 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.20 Abs.1, GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.6 Abs.1; EStG_§_10 Abs.1 Nr.2 Buchst.a, EStG_§_10 Abs.3

  4. Existenzminimum / Steuerfreiheit / existenznotwendiger Aufwand / Bemessung

 

Das Prinzip der Steuerfreiheit des Existenzminimums schützt nicht nur das sogenannte sächliche Existenzminimum. Auch Beiträge zu privaten Versicherungen für den Krankheits- und Pflegefall können Teil des einkommensteuerrechtlich zu verschonenden Existenzminimums sein. Für die Bemessung des existenznotwendigen Aufwands ist auf das sozialhilferechtlich gewährleistete Leistungsniveau als eine das Existenzminimum quantifizierende Vergleichsebene abzustellen. ]EF1> Beschluss ]EF1[ Entscheidungsformel:

1. § 10 Absatz 1 Nr.2 Buchstabe a in Verbindung mit § 10 Absatz 3 Einkommensteuergesetz in der für den Veranlagungszeitraum 1997 geltenden Fassung und alle nachfolgenden Fassungen einschließlich der zum 1. Januar 2005 durch das Alterseinkünftegesetz vom 5.Juli 2004 (BGBl I S.1427) in Kraft getretenen Nachfolgevorschrift des § 10 Absatz 1 Nr.3 Buchstabe a in Verbindung mit § 10 Absatz 4 Einkommensteuergesetz sind mit Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1, Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit nach Maßgabe der Gründe der So

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Beschluss

Entscheidungsformel:

1. § 10 Absatz 1 Nr.2 Buchstabe a in Verbindung mit § 10 Absatz 3 Einkommensteuergesetz in der für den Veranlagungszeitraum 1997 geltenden Fassung und alle nachfolgenden Fassungen einschließlich der zum 1. Januar 2005 durch das Alterseinkünftegesetz vom 5.Juli 2004 (BGBl I S.1427) in Kraft getretenen Nachfolgevorschrift des § 10 Absatz 1 Nr.3 Buchstabe a in Verbindung mit § 10 Absatz 4 Einkommensteuergesetz sind mit Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1, Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit nach Maßgabe der Gründe der Sonderausgabenabzug die Beiträge zu einer privaten Krankheitskostenversicherung (Vollversicherung) und einer privaten Pflegepflichtversicherung nicht ausreichend erfasst, die dem Umfang nach erforderlich sind, um dem Steuerpflichtigen und seiner Familie eine sozialhilfegleiche Kranken- und Pflegeversorgung zu gewährleisten.

2) Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens mit Wirkung zum 1.Januar 2010 eine Neuregelung zu treffen. Bis zu diesem Zeitpunkt bleiben § 10 Absatz 3 Einkommensteuergesetz sowie die Nachfolgeregelungen, insbesondere § 10 Absatz 4 Einkommensteuergesetz in der Fassung des Artikel 1 Nr. 7 des Alterseinkünftegesetzes vom 5.Juli 2004 (BGBl I S. 1427), zuletzt geändert durch Artikel 1 Nr. 5 des Jahressteuergesetzes 2008 vom 20.Dezember 2007 (BGBl I S.3150) weiter anwendbar.

3) In Ermangelung einer Neuregelung sind ab dem Veranlagungszeitraum 2010 Beiträge zu einer privaten Krankheitskostenversicherung (Vollversicherung) und zur privaten Pflegepflichtversicherung bei der Einkommensteuer in vollem Umfang als Sonderausgaben abzugsfähig.

§§§

08.009 Fünf-Prozent-Sperrklausel

  1. BVerfG,     B, 13.02.08,     – 2_BvK_1/07 –

  2. BVerfGE_120,82 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.21 Abs.1, GG_Art.36 Abs.1, GG_Art.28 Abs.1 S.2; (SH) LVerf_Art.3 Abs.1,

  4. kommunale Vertretungsorgane / Beeinträchtigung / Funktionsfähigkeit /

 

Nur die mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungsorgane kann die Fünf-Prozent-Sperrklausel rechtfertigen.

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Urteil

Entscheidungsformel:

1) Der Antragsgegner hat die Rechte der Antragstellerin und der Beigetretenen aus Artikel 3 Absatz 1 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein und aus Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes dadurch verletzt, dass er in seiner Sitzung vom 13.Dezember 2006 den Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes (GKWG) bezüglich der Fünf-Prozent-Klausel in § 10 Absatz 1 Gemeinde- und Kreiswahlgesetz abgelehnt hat.

2) Das Land Schleswig-Holstein hat der Antragstellerin und der Beigetretenen die notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

08.010 Abbildung von Prominenten

  1. BVerfG,     B, 26.02.08,     – 1_BvR_1602/07 –

  2. BVerfGE_120,180 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.5 Abs.1 S.2;

  4. Schutz der Persönlichkeit / Abbildung von Prominenten / Medienberichte über Privat- und Alltagsleben.

 

Zur Reichweite des Grundrechts auf Schutz der Persönlichkeit aus Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG gegen Abbildungen von Prominenten im Kontext unterhaltender Medienberichte über deren Privat- und Alltagsleben

§§§

08.011 Heimliche Infiltration

  1. BVerfG,     U, 27.02.08,     – 1_BvR_370/07 –

  2. BVerfGE_120,274 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.1 Abs.1 iVm Art.2 Abs.1; GG_Art.10 Abs.1, GG_Art.19 Abs.1 S.2; (NW) VSG_§_5 Abs.2 Nr.11

  4. Allgemeines Persönlichkeitsrecht / Informationstechnische Systeme / Infiltration / Speichermedien / Auslesung / überragend wichtiges Rechtsgut / Richtervorbehalt / Schutz / Kernbereich privater Lebensgestaltung / laufende Telekommunikation / Kenntnis verschaffen / Kommunikationsinhalte

T-08-01

1) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art.2 Abs.1 iVm Art.1 Abs.1 GG) umfasst das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.

 

2) Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können, ist verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen. Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt. Die Maßnahme kann schon dann gerechtfertigt sein, wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr in näherer Zukunft eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall durch bestimmte Personen drohende Gefahr für das überragend wichtige Rechtsgut hinweisen.

 

3) Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems ist grundsätzlich unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung zu stellen. Das Gesetz, das zu einem solchen Eingriff ermächtigt, muss Vorkehrungen enthalten, um den Kernbereich privater Lebensgestaltung zu schützen.

 

4) Soweit eine Ermächtigung sich auf eine staatliche Maßnahme beschränkt, durch welche die Inhalte und Umstände der laufenden Telekommunikation im Rechnernetz erhoben oder darauf bezogene Daten ausgewertet werden, ist der Eingriff an Art.10 Abs.1 GG zu messen.

 

5) Verschafft der Staat sich Kenntnis von Inhalten der Internetkommunikation auf dem dafür technisch vorgesehenen Weg, so liegt darin nur dann ein Eingriff in Art.10 Abs.1 GG, wenn die staatliche Stelle nicht durch Kommunikationsbeteiligte zur Kenntnisnahme autorisiert ist. Nimmt der Staat im Internet öffentlich zugängliche Kommunikationsinhalte wahr oder beteiligt er sich an öffentlich zugänglichen Kommunikationsvorgängen, greift er grundsätzlich nicht in Grundrechte ein.

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Urteil

Entscheidungsformel:

1) § 5 Absatz 2 Nummer 11 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen in der Fassung des Gesetzes vom 20. Dezember 2006 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen, Seite 620) ist mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1, Artikel 10 Absatz 1 und Artikel 19 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig. 2) Damit erledigen sich die von den Beschwerdeführern gegen § 5 Absatz 3 und § 17 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen erhobenen Rügen. 3) Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 1b wird zurückgewiesen, soweit sie gegen § 5a Absatz 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen gerichtet ist. 4) Im Übrigen werden die Verfassungsbeschwerden verworfen. 5) Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführern drei Viertel ihrer notwendigen Auslagen zu erstatten.

* * *

T-08-01Zugriff auf informationstechnische Systeme

165

"Die Verfassungsbeschwerden sind, soweit zulässig, weitgehend begründet. § 5 Abs.2 Nr.11 VSG ist in der zweiten dort aufgeführten Alternative verfassungswidrig und nichtig (I). Gleiches gilt für die erste Alternative dieser Norm (II). In der Folge der Nichtigkeit erledigen sich die gegen § 5 Abs.3 und § 17 VSG gerichteten Rügen (III). Gegen § 5a Abs.1 VSG bestehen hingegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (IV).

I.


166

§ 5 Abs.2 Nr.11 Satz 1 Alt.2 VSG, der den heimlichen Zugriff auf informationstechnische Systeme regelt, verletzt das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art.2 Abs.1 iVm Art.1 Abs.1 GG) in seiner besonderen Ausprägung als Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.

167

Diese Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts schützt vor Eingriffen in informationstechnische Systeme, soweit der Schutz nicht durch andere Grundrechte, wie insbesondere Art.10 oder Art.13 GG, sowie durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet ist (1). Vorliegend sind die Eingriffe verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt: § 5 Abs.2 Nr.11 Satz 1 Alt.2 VSG genügt nicht dem Gebot der Normenklarheit (2 a), die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind nicht gewahrt (2 b) und die Norm enthält keine hinreichenden Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung (2 c). Die angegriffene Norm ist nichtig (2 d). Einer zusätzlichen Prüfung anhand anderer Grundrechte bedarf es nicht (2 e).

168

1. § 5 Abs. 2 Nr. 11 Satz 1 Alt. 2 VSG ermächtigt zu Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner besonderen Ausprägung als Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme; sie tritt zu den anderen Konkretisierungen dieses Grundrechts, wie dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sowie zu den Freiheitsgewährleistungen der Art. 10 und Art. 13 GG hinzu, soweit diese keinen oder keinen hinreichenden Schutz gewähren.

169

a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet Elemente der Persönlichkeit, die nicht Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes sind, diesen aber in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen (vgl BVerfGE_99,185 <193>; BVerfGE_114,339 <346> ). Einer solchen lückenschließenden Gewährleistung bedarf es insbesondere, um neuartigen Gefährdungen zu begegnen, zu denen es im Zuge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und gewandelter Lebensverhältnisse kommen kann (vgl BVerfGE_54,148 <153>; BVerfGE_65,1 <41> ; BVerfG, Beschluss vom 13.Juni 2007 - 1 BvR 1550/03 ua -, NJW 2007, S.2464 <2465>). Die Zuordnung eines konkreten Rechtsschutzbegehrens zu den verschiedenen Aspekten des Persönlichkeitsrechts richtet sich vor allem nach der Art der Persönlichkeitsgefährdung (vgl BVerfGE_101,361 <380>; BVerfGE_106,28 <39>).

170

b) Die Nutzung der Informationstechnik hat für die Persönlichkeit und die Entfaltung des Einzelnen eine früher nicht absehbare Bedeutung erlangt. Die moderne Informationstechnik eröffnet dem Einzelnen neue Möglichkeiten, begründet aber auch neuartige Gefährdungen der Persönlichkeit.

171

aa) Die jüngere Entwicklung der Informationstechnik hat dazu geführt, dass informationstechnische Systeme allgegenwärtig sind und ihre Nutzung für die Lebensführung vieler Bürger von zentraler Bedeutung ist.

172

Dies gilt zunächst für Personalcomputer, über die mittlerweile eine deutliche Mehrheit der Haushalte in der Bundesrepublik verfügt (vgl Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2007, S.113). Die Leistungsfähigkeit derartiger Rechner ist ebenso gestiegen wie die Kapazität ihrer Arbeitsspeicher und der mit ihnen verbundenen Speichermedien. Heutige Personalcomputer können für eine Vielzahl unterschiedlicher Zwecke genutzt werden, etwa zur umfassenden Verwaltung und Archivierung der eigenen persönlichen und geschäftlichen Angelegenheiten, als digitale Bibliothek oder in vielfältiger Form als Unterhaltungsgerät. Dementsprechend ist die Bedeutung von Personalcomputern für die Persönlichkeitsentfaltung erheblich gestiegen.

173

Die Relevanz der Informationstechnik für die Lebensgestaltung des Einzelnen erschöpft sich nicht in der größeren Verbreitung und Leistungsfähigkeit von Personalcomputern. Daneben enthalten zahlreiche Gegenstände, mit denen große Teile der Bevölkerung alltäglich umgehen, informationstechnische Komponenten. So liegt es beispielsweise zunehmend bei Telekommunikationsgeräten oder elektronischen Geräten, die in Wohnungen oder Kraftfahrzeugen enthalten sind.

174

bb) Der Leistungsumfang informationstechnischer Systeme und ihre Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung nehmen noch zu, wenn solche Systeme miteinander vernetzt werden. Dies wird insbesondere aufgrund der gestiegenen Nutzung des Internet durch große Kreise der Bevölkerung mehr und mehr zum Normalfall.

175

Eine Vernetzung informationstechnischer Systeme ermöglicht allgemein, Aufgaben auf diese Systeme zu verteilen und insgesamt die Rechenleistung zu erhöhen. So können etwa die von einzelnen der vernetzten Systeme gelieferten Daten ausgewertet und die Systeme zu bestimmten Reaktionen veranlasst werden. Auf diese Weise kann zugleich der Funktionsumfang des einzelnen Systems erweitert werden.

176

Insbesondere das Internet als komplexer Verbund von Rechnernetzen öffnet dem Nutzer eines angeschlossenen Rechners nicht nur den Zugriff auf eine praktisch unübersehbare Fülle von Informationen, die von anderen Netzrechnern zum Abruf bereitgehalten werden. Es stellt ihm daneben zahlreiche neuartige Kommunikationsdienste zur Verfügung, mit deren Hilfe er aktiv soziale Verbindungen aufbauen und pflegen kann. Zudem führen technische Konvergenzeffekte dazu, dass auch herkömmliche Formen der Fernkommunikation in weitem Umfang auf das Internet verlagert werden können (vgl etwa zur Sprachtelefonie Katko, CR 2005, S.189). 177

177

cc) Die zunehmende Verbreitung vernetzter informationstechnischer Systeme begründet für den Einzelnen neben neuen Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung auch neue Persönlichkeitsgefährdungen.

178

(1) Solche Gefährdungen ergeben sich bereits daraus, dass komplexe informationstechnische Systeme wie etwa Personalcomputer ein breites Spektrum von Nutzungsmöglichkeiten eröffnen, die sämtlich mit der Erzeugung, Verarbeitung und Speicherung von Daten verbunden sind. Dabei handelt es sich nicht nur um Daten, die der Nutzer des Rechners bewusst anlegt oder speichert. Im Rahmen des Datenverarbeitungsprozesses erzeugen informationstechnische Systeme zudem selbsttätig zahlreiche weitere Daten, die ebenso wie die vom Nutzer gespeicherten Daten im Hinblick auf sein Verhalten und seine Eigenschaften ausgewertet werden können. In der Folge können sich im Arbeitsspeicher und auf den Speichermedien solcher Systeme eine Vielzahl von Daten mit Bezug zu den persönlichen Verhältnissen, den sozialen Kontakten und den ausgeübten Tätigkeiten des Nutzers finden. Werden diese Daten von Dritten erhoben und ausgewertet, so kann dies weitreichende Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Nutzers bis hin zu einer Profilbildung ermöglichen (vgl zu den aus solchen Folgerungen entstehenden Persönlichkeitsgefährdungen BVerfGE_65,1 <42>).

179

(2) Bei einem vernetzten, insbesondere einem an das Internet angeschlossenen System werden diese Gefährdungen in verschiedener Hinsicht vertieft. Zum einen führt die mit der Vernetzung verbundene Erweiterung der Nutzungsmöglichkeiten dazu, dass gegenüber einem alleinstehenden System eine noch größere Vielzahl und Vielfalt von Daten erzeugt, verarbeitet und gespeichert werden. Dabei handelt es sich um Kommunikationsinhalte sowie um Daten mit Bezug zu der Netzkommunikation. Durch die Speicherung und Auswertung solcher Daten über das Verhalten der Nutzer im Netz können weitgehende Kenntnisse über die Persönlichkeit des Nutzers gewonnen werden.

180

Vor allem aber öffnet die Vernetzung des Systems Dritten eine technische Zugriffsmöglichkeit, die genutzt werden kann, um die auf dem System vorhandenen Daten auszuspähen oder zu manipulieren. Der Einzelne kann solche Zugriffe zum Teil gar nicht wahrnehmen, jedenfalls aber nur begrenzt abwehren. Informationstechnische Systeme haben mittlerweile einen derart hohen Komplexitätsgrad erreicht, dass ein wirkungsvoller sozialer oder technischer Selbstschutz erhebliche Schwierigkeiten aufwerfen und zumindest den durchschnittlichen Nutzer überfordern kann. Ein technischer Selbstschutz kann zudem mit einem hohen Aufwand oder mit Funktionseinbußen des geschützten Systems verbunden sein. Viele Selbstschutzmöglichkeiten - etwa die Verschlüsselung oder die Verschleierung sensibler Daten - werden überdies weitgehend wirkungslos, wenn Dritten die Infiltration des Systems, auf dem die Daten abgelegt worden sind, einmal gelungen ist. Schließlich kann angesichts der Geschwindigkeit der informationstechnischen Entwicklung nicht zuverlässig prognostiziert werden, welche Möglichkeiten dem Nutzer in Zukunft verbleiben, sich technisch selbst zu schützen.

181

c) Aus der Bedeutung der Nutzung informationstechnischer Systeme für die Persönlichkeitsentfaltung und aus den Persönlichkeitsgefährdungen, die mit dieser Nutzung verbunden sind, folgt ein grundrechtlich erhebliches Schutzbedürfnis. Der Einzelne ist darauf angewiesen, dass der Staat die mit Blick auf die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung berechtigten Erwartungen an die Integrität und Vertraulichkeit derartiger Systeme achtet. Die grundrechtlichen Gewährleistungen der Art.10 und Art.13 GG wie auch die bisher in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts tragen dem durch die Entwicklung der Informationstechnik entstandenen Schutzbedürfnis nicht hinreichend Rechnung.

182

aa) Die Gewährleistung des Telekommunikationsgeheimnisses nach Art.10 Abs.1 GG schützt die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mit Hilfe des Telekommunikationsverkehrs (vgl BVerfGE_67,157 <172>; BVerfGE_106,28 <35 f>), nicht aber auch die Vertraulichkeit und Integrität von informationstechnischen Systemen.

183

(1) Der Schutz des Art.10 Abs.1 GG erfasst Telekommunikation, einerlei, welche Übermittlungsart (Kabel oder Funk, analoge oder digitale Vermittlung) und welche Ausdrucksform (Sprache, Bilder, Töne, Zeichen oder sonstige Daten) genutzt werden (vgl BVerfGE_106,28 <36>; BVerfGE_115,166 <182> ). Der Schutzbereich des Telekommunikationsgeheimnisses erstreckt sich danach auch auf die Kommunikationsdienste des Internet (vgl zu E-Mails BVerfGE_113,348 <383>). Zudem sind nicht nur die Inhalte der Telekommunikation vor einer Kenntnisnahme geschützt, sondern auch ihre Umstände. Zu ihnen gehört insbesondere, ob, wann und wie oft zwischen welchen Personen oder Telekommunikationseinrichtungen Telekommunikationsverkehr stattgefunden hat oder versucht worden ist (vgl BVerfGE_67,157 <172>; BVerfGE_85,386 <396>; BVerfGE_100,313 <358>; BVerfGE_107,299 <312 f> ). Das Telekommunikationsgeheimnis begegnet in diesem Rahmen alten sowie neuen Persönlichkeitsgefährdungen, die sich aus der gestiegenen Bedeutung der Informationstechnik für die Entfaltung des Einzelnen ergeben.

184

Soweit eine Ermächtigung sich auf eine staatliche Maßnahme beschränkt, durch welche die Inhalte und Umstände der laufenden Telekommunikation im Rechnernetz erhoben oder darauf bezogene Daten ausgewertet werden, ist der Eingriff allein an Art.10 Abs.1 GG zu messen. Der Schutzbereich dieses Grundrechts ist dabei unabhängig davon betroffen, ob die Maßnahme technisch auf der Übertragungsstrecke oder am Endgerät der Telekommunikation ansetzt (vgl BVerfGE_106,28 <37 f>; BVerfGE_115,166 <186 f> ). Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn das Endgerät ein vernetztes komplexes informationstechnisches System ist, dessen Einsatz zur Telekommunikation nur eine unter mehreren Nutzungsarten darstellt.

185

(2) Der Grundrechtsschutz des Art.10 Abs.1 GG erstreckt sich allerdings nicht auf die nach Abschluss eines Kommunikationsvorgangs im Herrschaftsbereich eines Kommunikationsteilnehmers gespeicherten Inhalte und Umstände der Telekommunikation, soweit dieser eigene Schutzvorkehrungen gegen den heimlichen Datenzugriff treffen kann. Dann bestehen hinsichtlich solcher Daten die spezifischen Gefahren der räumlich distanzierten Kommunikation, die durch das Telekommunikationsgeheimnis abgewehrt werden sollen, nicht fort (vgl BVerfGE_115,166 <183 ff>).

186

(3) Der durch das Telekommunikationsgeheimnis bewirkte Schutz besteht ebenfalls nicht, wenn eine staatliche Stelle die Nutzung eines informationstechnischen Systems als solche überwacht oder die Speichermedien des Systems durchsucht. Hinsichtlich der Erfassung der Inhalte oder Umstände außerhalb der laufenden Telekommunikation liegt ein Eingriff in Art.10 Abs.1 GG selbst dann nicht vor, wenn zur Übermittlung der erhobenen Daten an die auswertende Behörde eine Telekommunikationsverbindung genutzt wird, wie dies etwa bei einem Online-Zugriff auf gespeicherte Daten der Fall ist (vgl Germann, Gefahrenabwehr und Strafverfolgung im Internet, 2000, S.497; Rux, JZ 2007, S.285 <292>).

187

(4) Soweit der heimliche Zugriff auf ein informationstechnisches System dazu dient, Daten auch insoweit zu erheben, als Art. 10 Abs. 1 GG nicht vor einem Zugriff schützt, bleibt eine Schutzlücke, die durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Schutz der Vertraulichkeit und Integrität von informationstechnischen Systemen zu schließen ist.

188

Wird ein komplexes informationstechnisches System zum Zweck der Telekommunikationsüberwachung technisch infiltriert ("Quellen-Telekommunikationsüberwachung"), so ist mit der Infiltration die entscheidende Hürde genommen, um das System insgesamt auszuspähen. Die dadurch bedingte Gefährdung geht weit über die hinaus, die mit einer bloßen Überwachung der laufenden Telekommunikation verbunden ist. Insbesondere können auch die auf dem Personalcomputer abgelegten Daten zur Kenntnis genommen werden, die keinen Bezug zu einer telekommunikativen Nutzung des Systems aufweisen. Erfasst werden können beispielsweise das Verhalten bei der Bedienung eines Personalcomputers für eigene Zwecke, die Abrufhäufigkeit bestimmter Dienste, insbesondere auch der Inhalt angelegter Dateien oder - soweit das infiltrierte informationstechnische System auch Geräte im Haushalt steuert - das Verhalten in der eigenen Wohnung.

189

Nach Auskunft der in der mündlichen Verhandlung angehörten sachkundigen Auskunftspersonen kann es im Übrigen dazu kommen, dass im Anschluss an die Infiltration Daten ohne Bezug zur laufenden Telekommunikation erhoben werden, auch wenn dies nicht beabsichtigt ist. In der Folge besteht für den Betroffenen - anders als in der Regel bei der herkömmlichen netzbasierten Telekommunikationsüberwachung - stets das Risiko, dass über die Inhalte und Umstände der Telekommunikation hinaus weitere persönlichkeitsrelevante Informationen erhoben werden. Den dadurch bewirkten spezifischen Gefährdungen der Persönlichkeit kann durch Art. 10 Abs.1 GG nicht oder nicht hinreichend begegnet werden.

190

Art.10 Abs.1 GG ist hingegen der alleinige grundrechtliche Maßstab für die Beurteilung einer Ermächtigung zu einer "Quellen-Telekommunikationsüberwachung", wenn sich die Überwachung ausschließlich auf Daten aus einem laufenden Telekommunikationsvorgang beschränkt. Dies muss durch technische Vorkehrungen und rechtliche Vorgaben sichergestellt sein.

191

bb) Auch die durch Art.13 Abs.1 GG gewährleistete Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung verbürgt dem Einzelnen mit Blick auf seine Menschenwürde sowie im Interesse der Entfaltung seiner Persönlichkeit einen elementaren Lebensraum, in den nur unter den besonderen Voraussetzungen von Art.13 Abs.2 bis 7 GG eingegriffen werden darf, belässt aber Schutzlücken gegenüber Zugriffen auf informationstechnische Systeme.

192

Das Schutzgut dieses Grundrechts ist die räumliche Sphäre, in der sich das Privatleben entfaltet (vgl BVerfGE_89,1 <12>; BVerfGE_103,142 <150 f>). Neben Privatwohnungen fallen auch Betriebs- und Geschäftsräume in den Schutzbereich des Art.13 GG (vgl BVerfGE_32,54 <69 ff>; BVerfGE_44,353 <371>; BVerfGE_76,83 <88>; BVerfGE_96,44 <51>). Dabei erschöpft sich der Grundrechtsschutz nicht in der Abwehr eines körperlichen Eindringens in die Wohnung. Als Eingriff in Art.13 GG sind auch Maßnahmen anzusehen, durch die staatliche Stellen sich mit besonderen Hilfsmitteln einen Einblick in Vorgänge innerhalb der Wohnung verschaffen, die der natürlichen Wahrnehmung von außerhalb des geschützten Bereichs entzogen sind. Dazu gehören nicht nur die akustische oder optische Wohnraumüberwachung (vgl BVerfGE_109,279 <309, 327> ), sondern ebenfalls etwa die Messung elektromagnetischer Abstrahlungen, mit der die Nutzung eines informationstechnischen Systems in der Wohnung überwacht werden kann. Das kann auch ein System betreffen, das offline arbeitet. ]B9) 193 ]B9[ Darüber hinaus kann eine staatliche Maßnahme, die mit dem heimlichen technischen Zugriff auf ein informationstechnisches System im Zusammenhang steht, an Art. 13 Abs. 1 GG zu messen sein, so beispielsweise, wenn und soweit Mitarbeiter der Ermittlungsbehörde in eine als Wohnung geschützte Räumlichkeit eindringen, um ein dort befindliches informationstechnisches System physisch zu manipulieren. Ein weiterer Anwendungsfall des Art. 13 Abs. 1 GG ist die Infiltration eines informationstechnischen Systems, das sich in einer Wohnung befindet, um mit Hilfe dessen bestimmte Vorgänge innerhalb der Wohnung zu überwachen, etwa indem die an das System angeschlossenen Peripheriegeräte wie ein Mikrofon oder eine Kamera dazu genutzt werden.

193

Darüber hinaus kann eine staatliche Maßnahme, die mit dem heimlichen technischen Zugriff auf ein informationstechnisches System im Zusammenhang steht, an Art. 13 Abs. 1 GG zu messen sein, so beispielsweise, wenn und soweit Mitarbeiter der Ermittlungsbehörde in eine als Wohnung geschützte Räumlichkeit eindringen, um ein dort befindliches informationstechnisches System physisch zu manipulieren. Ein weiterer Anwendungsfall des Art. 13 Abs. 1 GG ist die Infiltration eines informationstechnischen Systems, das sich in einer Wohnung befindet, um mit Hilfe dessen bestimmte Vorgänge innerhalb der Wohnung zu überwachen, etwa indem die an das System angeschlossenen Peripheriegeräte wie ein Mikrofon oder eine Kamera dazu genutzt werden.

194

Art.13 Abs.1 GG vermittelt dem Einzelnen allerdings keinen generellen, von den Zugriffsmodalitäten unabhängigen Schutz gegen die Infiltration seines informationstechnischen Systems, auch wenn sich dieses System in einer Wohnung befindet (vgl etwa Beulke/Meininghaus, StV 2007, S.63 <64>; Gercke, CR 2007, S.245 <250>; Schlegel, GA 2007, S.648 <654 ff >; aA etwa Buermeyer, HRRS 2007, S.392 <395 ff>; Rux, JZ 2007, S.285 <292 ff.>; Schaar/Landwehr, K&R 2007, S.202 <204>). Denn der Eingriff kann unabhängig vom Standort erfolgen, so dass ein raumbezogener Schutz nicht in der Lage ist, die spezifische Gefährdung des informationstechnischen Systems abzuwehren. Soweit die Infiltration die Verbindung des betroffenen Rechners zu einem Rechnernetzwerk ausnutzt, lässt sie die durch die Abgrenzung der Wohnung vermittelte räumliche Privatsphäre unberührt. Der Standort des Systems wird in vielen Fällen für die Ermittlungsmaßnahme ohne Belang und oftmals für die Behörde nicht einmal erkennbar sein. Dies gilt insbesondere für mobile informationstechnische Systeme wie etwa Laptops, Personal Digital Assistants (PDAs) oder Mobiltelefone.

195

Art.13 Abs.1 GG schützt zudem nicht gegen die durch die Infiltration des Systems ermöglichte Erhebung von Daten, die sich im Arbeitsspeicher oder auf den Speichermedien eines informationstechnischen Systems befinden, das in einer Wohnung steht (vgl zum gleichläufigen Verhältnis von Wohnungsdurchsuchung und Beschlagnahme BVerfGE_113,29 <45>).

196

cc) Auch die bisher in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, insbesondere die Gewährleistungen des Schutzes der Privatsphäre und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, genügen dem besonderen Schutzbedürfnis des Nutzers eines informationstechnischen Systems nicht in ausreichendem Maße.

197

(1) In seiner Ausprägung als Schutz der Privatsphäre gewährleistet das allgemeine Persönlichkeitsrecht dem Einzelnen einen räumlich und thematisch bestimmten Bereich, der grundsätzlich frei von unerwünschter Einsichtnahme bleiben soll (vgl BVerfGE_27,344 <350 ff >; BVerfGE_44,353 <372 f>; BVerfGE_90,255 <260>; BVerfGE_§_101,361 <382 f> ). Das Schutzbedürfnis des Nutzers eines informationstechnischen Systems beschränkt sich jedoch nicht allein auf Daten, die seiner Privatsphäre zuzuordnen sind. Eine solche Zuordnung hängt zudem häufig von dem Kontext ab, in dem die Daten entstanden sind und in den sie durch Verknüpfung mit anderen Daten gebracht werden. Dem Datum selbst ist vielfach nicht anzusehen, welche Bedeutung es für den Betroffenen hat und welche es durch Einbeziehung in andere Zusammenhänge gewinnen kann. Das hat zur Folge, dass mit der Infiltration des Systems nicht nur zwangsläufig private Daten erfasst werden, sondern der Zugriff auf alle Daten ermöglicht wird, so dass sich ein umfassendes Bild vom Nutzer des Systems ergeben kann.

198

(2) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geht über den Schutz der Privatsphäre hinaus. Es gibt dem Einzelnen die Befugnis, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen (vgl BVerfGE_65,1 <43>; BVerfGE_84,192 <194> ). Es flankiert und erweitert den grundrechtlichen Schutz von Verhaltensfreiheit und Privatheit, indem es ihn schon auf der Stufe der Persönlichkeitsgefährdung beginnen lässt. Eine derartige Gefährdungslage kann bereits im Vorfeld konkreter Bedrohungen benennbarer Rechtsgüter entstehen, insbesondere wenn personenbezogene Informationen in einer Art und Weise genutzt und verknüpft werden können, die der Betroffene weder überschauen noch verhindern kann. Der Schutzumfang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung beschränkt sich dabei nicht auf Informationen, die bereits ihrer Art nach sensibel sind und schon deshalb grundrechtlich geschützt werden. Auch der Umgang mit personenbezogenen Daten, die für sich genommen nur geringen Informationsgehalt haben, kann, je nach dem Ziel des Zugriffs und den bestehenden Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten, grundrechtserhebliche Auswirkungen auf die Privatheit und Verhaltensfreiheit des Betroffenen haben (vgl BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2007 - 1 BvR 1550/03 ua -, NJW 2007, S.2464 <2466>).

199

Die mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung abzuwehrenden Persönlichkeitsgefährdungen ergeben sich aus den vielfältigen Möglichkeiten des Staates und gegebenenfalls auch privater Akteure (vgl BVerfG, Beschluss der 1.Kammer des Ersten Senats vom 23.Oktober 2006 - 1 BvR 2027/02 -, JZ 2007, S.576) zur Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten. Vor allem mittels elektronischer Datenverarbeitung können aus solchen Informationen weitere Informationen erzeugt und so Schlüsse gezogen werden, die sowohl die grundrechtlich geschützten Geheimhaltungsinteressen des Betroffenen beeinträchtigen als auch Eingriffe in seine Verhaltensfreiheit mit sich bringen können (vgl BVerfGE_65,1 <42>; BVerfGE_113,29 <45 f.>; BVerfGE_115,320 <342>; BVerfG, Beschluss vom 13.Juni 2007 - 1 BvR 1550/03 u.a. -, NJW 2007, S.2464 <2466>).

200

Jedoch trägt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung den Persönlichkeitsgefährdungen nicht vollständig Rechnung, die sich daraus ergeben, dass der Einzelne zu seiner Persönlichkeitsentfaltung auf die Nutzung informationstechnischer Systeme angewiesen ist und dabei dem System persönliche Daten anvertraut oder schon allein durch dessen Nutzung zwangsläufig liefert. Ein Dritter, der auf ein solches System zugreift, kann sich einen potentiell äußerst großen und aussagekräftigen Datenbestand verschaffen, ohne noch auf weitere Datenerhebungs- und Datenverarbeitungsmaßnahmen angewiesen zu sein. Ein solcher Zugriff geht in seinem Gewicht für die Persönlichkeit des Betroffenen über einzelne Datenerhebungen, vor denen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt, weit hinaus.

201

d) Soweit kein hinreichender Schutz vor Persönlichkeitsgefährdungen besteht, die sich daraus ergeben, dass der Einzelne zu seiner Persönlichkeitsentfaltung auf die Nutzung informationstechnischer Systeme angewiesen ist, trägt das allgemeine Persönlichkeitsrecht dem Schutzbedarf in seiner lückenfüllenden Funktion über seine bisher anerkannten Ausprägungen hinaus dadurch Rechnung, dass es die Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme gewährleistet. Dieses Recht fußt gleich dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG; es bewahrt den persönlichen und privaten Lebensbereich der Grundrechtsträger vor staatlichem Zugriff im Bereich der Informationstechnik auch insoweit, als auf das informationstechnische System insgesamt zugegriffen wird und nicht nur auf einzelne Kommunikationsvorgänge oder gespeicherte Daten.

202

aa) Allerdings bedarf nicht jedes informationstechnische System, das personenbezogene Daten erzeugen, verarbeiten oder speichern kann, des besonderen Schutzes durch eine eigenständige persönlichkeitsrechtliche Gewährleistung. Soweit ein derartiges System nach seiner technischen Konstruktion lediglich Daten mit punktuellem Bezug zu einem bestimmten Lebensbereich des Betroffenen enthält - zum Beispiel nicht vernetzte elektronische Steuerungsanlagen der Haustechnik -, unterscheidet sich ein staatlicher Zugriff auf den vorhandenen Datenbestand qualitativ nicht von anderen Datenerhebungen. In einem solchen Fall reicht der Schutz durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus, um die berechtigten Geheimhaltungsinteressen des Betroffenen zu wahren.

203

Das Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme ist hingegen anzuwenden, wenn die Eingriffsermächtigung Systeme erfasst, die allein oder in ihren technischen Vernetzungen personenbezogene Daten des Betroffenen in einem Umfang und in einer Vielfalt enthalten können, dass ein Zugriff auf das System es ermöglicht, einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung einer Person zu gewinnen oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit zu erhalten. Eine solche Möglichkeit besteht etwa beim Zugriff auf Personalcomputer, einerlei ob sie fest installiert oder mobil betrieben werden. Nicht nur bei einer Nutzung für private Zwecke, sondern auch bei einer geschäftlichen Nutzung lässt sich aus dem Nutzungsverhalten regelmäßig auf persönliche Eigenschaften oder Vorlieben schließen. Der spezifische Grundrechtsschutz erstreckt sich ferner beispielsweise auf solche Mobiltelefone oder elektronische Terminkalender, die über einen großen Funktionsumfang verfügen und personenbezogene Daten vielfältiger Art erfassen und speichern können.

204

bb) Geschützt vom Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme ist zunächst das Interesse des Nutzers, dass die von einem vom Schutzbereich erfassten informationstechnischen System erzeugten, verarbeiteten und gespeicherten Daten vertraulich bleiben. Ein Eingriff in dieses Grundrecht ist zudem dann anzunehmen, wenn die Integrität des geschützten informationstechnischen Systems angetastet wird, indem auf das System so zugegriffen wird, dass dessen Leistungen, Funktionen und Speicherinhalte durch Dritte genutzt werden können; dann ist die entscheidende technische Hürde für eine Ausspähung, Überwachung oder Manipulation des Systems genommen. 205

205

(1) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in der hier behandelten Ausprägung schützt insbesondere vor einem heimlichen Zugriff, durch den die auf dem System vorhandenen Daten ganz oder zu wesentlichen Teilen ausgespäht werden können. Der Grundrechtsschutz umfasst sowohl die im Arbeitsspeicher gehaltenen als auch die temporär oder dauerhaft auf den Speichermedien des Systems abgelegten Daten. Das Grundrecht schützt auch vor Datenerhebungen mit Mitteln, die zwar technisch von den Datenverarbeitungsvorgängen des betroffenen informationstechnischen Systems unabhängig sind, aber diese Datenverarbeitungsvorgänge zum Gegenstand haben. So liegt es etwa bei einem Einsatz von sogenannten Hardware-Keyloggern oder bei einer Messung der elektromagnetischen Abstrahlung von Bildschirm oder Tastatur.

206

(2) Der grundrechtliche Schutz der Vertraulichkeits- und Integritätserwartung besteht unabhängig davon, ob der Zugriff auf das informationstechnische System leicht oder nur mit erheblichem Aufwand möglich ist. Eine grundrechtlich anzuerkennende Vertraulichkeits- und Integritätserwartung besteht allerdings nur, soweit der Betroffene das informationstechnische System als eigenes nutzt und deshalb den Umständen nach davon ausgehen darf, dass er allein oder zusammen mit anderen zur Nutzung berechtigten Personen über das informationstechnische System selbstbestimmt verfügt. Soweit die Nutzung des eigenen informationstechnischen Systems über informationstechnische Systeme stattfindet, die sich in der Verfügungsgewalt anderer befinden, erstreckt sich der Schutz des Nutzers auch hierauf.

207

2. Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme ist nicht schrankenlos. Eingriffe können sowohl zu präventiven Zwecken als auch zur Strafverfolgung gerechtfertigt sein. Der Einzelne muss dabei nur solche Beschränkungen seines Rechts hinnehmen, die auf einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage beruhen. Hinsichtlich der vorliegend zu überprüfenden Ermächtigung der Verfassungsschutzbehörde, präventive Maßnahmen vorzunehmen, fehlt es daran.

208

a) Die angegriffene Norm wird dem Gebot der Normenklarheit und Normenbestimmtheit nicht gerecht. 209

209

aa) Das Bestimmtheitsgebot findet auch im Hinblick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seinen verschiedenen Ausprägungen seine Grundlage im Rechtsstaatsprinzip (Art.20, Art.28 Abs.1 GG; vgl BVerfGE_110,33 <53, 57, 70>; BVerfGE_112,284 <301>; BVerfGE_113,348 <375>; BVerfGE_115,320 <365> ). Es soll sicherstellen, dass der demokratisch legitimierte Parlamentsgesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen über Grundrechtseingriffe und deren Reichweite selbst trifft, dass Regierung und Verwaltung im Gesetz steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfinden und dass die Gerichte die Rechtskontrolle durchführen können. Ferner sichern Klarheit und Bestimmtheit der Norm, dass der Betroffene die Rechtslage erkennen und sich auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen kann (vgl BVerfGE_110,33 <52 ff>; BVerfGE_113,348 <375 ff> ). Der Gesetzgeber hat Anlass, Zweck und Grenzen des Eingriffs hinreichend bereichsspezifisch, präzise und normenklar festzulegen (vgl BVerfGE_100,313 <359 f, 372>; BVerfGE_110,33 <53>; BVerfGE_113,348 <375>; BVerfG, Beschluss vom 13.Juni 2007 - 1 BvR 1550/03 ua -, NJW 2007, S.2464 <2466>).

210

Je nach der zu erfüllenden Aufgabe findet der Gesetzgeber unterschiedliche Möglichkeiten zur Regelung der Eingriffsvoraussetzungen vor. Die Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes richten sich auch nach diesen Regelungsmöglichkeiten (vgl BVerfGE_110,33 <55 f> ; BVerfG, Beschluss vom 13.Juni 2007 - 1 BvR 1550/03 ua -, NJW 2007, S.2464 <2467>). Bedient sich der Gesetzgeber unbestimmter Rechtsbegriffe, dürfen verbleibende Ungewissheiten nicht so weit gehen, dass die Vorhersehbarkeit und Justitiabilität des Handelns der durch die Normen ermächtigten staatlichen Stellen gefährdet sind (vgl BVerfGE_21,73 <79 f>; BVerfGE_31,255 <264>; BVerfGE_83,130 <145>; BVerfGE_102,254 <337>; BVerfGE_110,33 <56 f>; BVerfG, Beschluss vom 13.Juni 2007 - 1 BvR 1550/03 ua -, NJW 2007, S.2464 <2467>).

211

bb) Nach diesen Maßstäben genügt § 5 Abs.2 Nr.11 Satz 1 Alt.2 VSG dem Gebot der Normenklarheit und Normenbestimmtheit insoweit nicht, als sich die tatbestandlichen Voraussetzungen der geregelten Maßnahmen dem Gesetz nicht hinreichend entnehmen lassen.

212

(1) Die Voraussetzungen für Maßnahmen nach § 5 Abs.2 Nr.11 Satz 1 Alt.2 VSG können über zwei Normverweisungen zu bestimmen sein. Zum einen verweist § 5 Abs.2 VSG allgemein auf § 7 Abs.1 VSG, der seinerseits § 3 Abs.1 VSG in Bezug nimmt. Danach ist ein Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel zulässig, wenn auf diese Weise verfassungsschutzrelevante Erkenntnisse gewonnen werden können. Zum anderen verweist § 5 Abs.2 Nr. 11 Satz 2 VSG für den Fall, dass eine Maßnahme nach § 5 Abs.2 Nr.11 VSG in das Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnis eingreift oder einem solchen Eingriff nach Art und Schwere gleichkommt, auf die strengeren Voraussetzungen des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz.

213

(2) Mit dem Gebot der Normenklarheit und Normenbestimmtheit ist nicht vereinbar, dass § 5 Abs.2 Nr.11 Satz 2 VSG für die Verweisung auf das Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz darauf abstellt, ob eine Maßnahme in Art.10 GG eingreift. Die Antwort auf die Frage, in welche Grundrechte Ermittlungsmaßnahmen der Verfassungsschutzbehörde eingreifen, kann komplexe Abschätzungen und Bewertungen erfordern. Zu ihnen ist zunächst und vorrangig der Gesetzgeber berufen. Seiner Aufgabe, die einschlägigen Grundrechte durch entsprechende gesetzliche Vorkehrungen zu konkretisieren, kann er sich nicht entziehen, indem er durch eine bloße tatbestandliche Bezugnahme auf ein möglicherweise einschlägiges Grundrecht die Entscheidung darüber, wie dieses Grundrecht auszufüllen und umzusetzen ist, an die normvollziehende Verwaltung weiterreicht. Eine derartige "salvatorische" Regelungstechnik genügt dem Bestimmtheitsgebot nicht bei einer Norm wie § 5 Abs.2 Nr.11 Satz 1 Alt. 2 VSG, die neuartige Ermittlungsmaßnahmen vorsieht, welche auf neuere technologische Entwicklungen reagieren sollen.

214

Der Verstoß gegen das Gebot der Normenklarheit wird noch vertieft durch den in § 5 Abs.2 Nr.11 Satz 2 VSG enthaltenen Zusatz, die Verweisung auf das Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz greife auch dann, wenn eine Ermittlungsmaßnahme einem Eingriff in Art.10 GG "in Art und Schwere" gleichkommt. Damit werden die tatbestandlichen Voraussetzungen des geregelten Zugriffs von einem wertenden Vergleich zwischen diesem Zugriff und einer Maßnahme, die als Eingriff in ein bestimmtes Grundrecht anzusehen wäre, abhängig gemacht. Für diesen Vergleich enthält § 5 Abs.2 Nr.11 Satz 2 VSG keinerlei Maßstäbe. Wenn schon durch die bloße Verweisung auf ein bestimmtes Grundrecht die Tatbestandsvoraussetzungen nicht hinreichend bestimmt geregelt werden können, so gilt dies erst recht für eine Norm, die einen derartigen, normativ nicht weiter angeleiteten Vergleich der geregelten Maßnahme mit einem Eingriff in ein bestimmtes Grundrecht vorsieht. 215

215

(3) Die Verweisung auf das Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz in § 5 Abs.2 Nr.11 Satz 2 VSG genügt dem Gebot der Normenklarheit und Normenbestimmtheit auch insoweit nicht, als die Reichweite der Verweisung nicht hinreichend bestimmt geregelt ist.

216

§ 5 Abs.2 Nr.11 Satz 2 VSG verweist auf die "Voraussetzungen" des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz. Die Norm lässt damit weitgehend im Unklaren, auf welche Teile des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz verwiesen werden soll. Ihr lässt sich nicht entnehmen, ob unter den Voraussetzungen dieses Gesetzes nur die in § 3 G 10 geregelte materielle Eingriffsschwelle zu verstehen ist oder ob auch weitere Vorschriften in Bezug genommen werden sollen. So könnten auch die Verfahrensregelungen der §§ 9 ff G 10 zu den Voraussetzungen eines Eingriffs nach diesem Gesetz gezählt werden. Zumindest denkbar wäre sogar, die Verweisung noch weitergehend auf sowohl die materiellen Eingriffsschwellen als auch sämtliche Verfahrensvorkehrungen des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz zu beziehen, wie dies die nordrhein-westfälische Landesregierung vorschlägt. Danach wären auch die in § 4 G 10 enthaltenen Regelungen über den Umgang mit erhobenen Daten und die Normen der §§ 14 ff G 10 über die parlamentarische Kontrolle erfasst, obwohl diese Normen Regelungen enthalten, die erst nach einem Eingriff zu beachten sind und daher sprachlich kaum zu den Eingriffsvoraussetzungen gezählt werden können. 217

217

Es ist nicht ersichtlich, dass die unbestimmte Fassung des Gesetzes besonderen Regelungsschwierigkeiten geschuldet wäre. Dem Gesetzgeber wäre ohne weiteres möglich gewesen, in der Verweisungsnorm einzelne Vorschriften des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz aufzuzählen, auf die verwiesen werden soll.

218

b) § 5 Abs.2 Nr.11 Satz 1 Alt.2 VSG wahrt auch nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser verlangt, dass ein Grundrechtseingriff einem legitimen Zweck dient und als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen ist (vgl BVerfGE_109,279 <335 ff>; BVerfGE_115,320 <345>; BVerfG, Beschluss vom 13.Juni 2007 - 1 BvR 1550/03 ua -, NJW 2007, S.2464 <2468>; stRspr).

219

aa) Die in der angegriffenen Norm vorgesehenen Datenerhebungen dienen der Verfassungsschutzbehörde zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach § 3 Abs. 1 VSG und damit der im Vorfeld konkreter Gefahren einsetzenden Sicherung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes von Bund und Ländern sowie bestimmter auf das Verhältnis zum Ausland gerichteter Interessen der Bundesrepublik. Dabei wurde mit der Novellierung des Verfassungsschutzgesetzes nach der Gesetzesbegründung insbesondere auch das Ziel verfolgt, eine effektive Terrorismusbekämpfung durch die Verfassungsschutzbehörde angesichts neuer, insbesondere mit der Internetkommunikation verbundener, Gefährdungen sicherzustellen (vgl LTDrucks 14/2211, S. 1). Allerdings ist der Anwendungsbereich der Neuregelung weder ausdrücklich noch als Folge des systematischen Zusammenhangs auf die Terrorismusbekämpfung begrenzt. Die Norm bedarf einer Rechtfertigung für ihr gesamtes Anwendungsfeld.

220

Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit der Bevölkerung vor Gefahren für Leib, Leben und Freiheit sind Verfassungswerte, die mit anderen hochwertigen Gütern im gleichen Rang stehen (vgl BVerfGE_49,24 <56 f>; BVerfGE_115,320 <346>). Die Schutzpflicht findet ihren Grund sowohl in Art.2 Abs.2 Satz 1 als auch in Art.1 Abs.1 Satz 2 GG (vgl BVerfGE_115,118 <152> ). Der Staat kommt seinen verfassungsrechtlichen Aufgaben nach, indem er Gefahren durch terroristische oder andere Bestrebungen entgegen tritt. Die vermehrte Nutzung elektronischer oder digitaler Kommunikationsmittel und deren Vordringen in nahezu alle Lebensbereiche erschwert es der Verfassungsschutzbehörde, ihre Aufgaben wirkungsvoll wahrzunehmen. Auch extremistischen und terroristischen Bestrebungen bietet die moderne Informationstechnik zahlreiche Möglichkeiten zur Anbahnung und Pflege von Kontakten sowie zur Planung und Vorbereitung, aber auch Durchführung von Straftaten. Maßnahmen des Gesetzgebers, die informationstechnische Mittel für staatliche Ermittlungen erschließen, sind insbesondere vor dem Hintergrund der Verlagerung herkömmlicher Kommunikationsformen hin zum elektronischen Nachrichtenverkehr und der Möglichkeiten zur Verschlüsselung oder Verschleierung von Dateien zu sehen (vgl. zur Strafverfolgung BVerfGE_115,166 <193>). 221

221

bb) Der heimliche Zugriff auf informationstechnische Systeme ist geeignet, diesen Zielen zu dienen. Mit ihm werden die Möglichkeiten der Verfassungsschutzbehörde zur Aufklärung von Bedrohungslagen erweitert. Bei der Beurteilung der Eignung ist dem Gesetzgeber ein beträchtlicher Einschätzungsspielraum eingeräumt (vgl BVerfGE_77,84 <106>; BVerfGE_90,145 <173>; BVerfGE_109,279 <336>). Es ist nicht ersichtlich, dass dieser Spielraum hier überschritten wurde.

222

Die in § 5 Abs.2 Nr.11 Satz 1 Alt.2 VSG enthaltene Befugnis verliert nicht dadurch ihre Eignung, dass der Betroffene nach einer in der Literatur vertretenen (vgl etwa Buermeyer, HRRS 2007, S.154 <165 f>; Gercke, CR 2007, S.245 <253>; Hornung, DuD 2007, S.575 <579>) und von den in der mündlichen Verhandlung angehörten sachkundigen Auskunftspersonen geteilten Einschätzung technische Selbstschutzmöglichkeiten hat, um jedenfalls einen Zugriff wirkungsvoll zu verhindern, bei dem die Infiltration des Zielsystems mit Hilfe einer Zugriffssoftware durchgeführt wird. Im Rahmen der Eignungsprüfung ist nicht zu fordern, dass Maßnahmen, welche die angegriffene Norm erlaubt, stets oder auch nur im Regelfall Erfolg versprechen. Die gesetzgeberische Prognose, dass Zugriffe der geregelten Art im Einzelfall Erfolg haben können, ist zumindest nicht offensichtlich fehlsam. Es kann nicht als selbstverständlich unterstellt werden, dass jede mögliche Zielperson eines Zugriffs bestehende Schutzmöglichkeiten dagegen nutzt und tatsächlich fehlerfrei implementiert. Im Übrigen erscheint denkbar, dass sich im Zuge der weiteren informationstechnischen Entwicklung für die Verfassungsschutzbehörde Zugriffsmöglichkeiten auftun, die sich technisch nicht mehr oder doch nur mit unverhältnismäßigem Aufwand unterbinden lassen.

223

Weiter ist die Eignung der geregelten Befugnis auch nicht deshalb zu verneinen, weil möglicherweise der Beweiswert der Erkenntnisse, die mittels des Zugriffs gewonnen werden, begrenzt ist. Insoweit wird vorgebracht, eine technische Echtheitsbestätigung der erhobenen Daten setze grundsätzlich eine exklusive Kontrolle des Zielsystems im fraglichen Zeitpunkt voraus (vgl Hansen/Pfitzmann, DRiZ 2007, S. 225 <228>). Jedoch bewirken diese Schwierigkeiten der Beweissicherung nicht, dass den erhobenen Daten kein Informationswert zukommt. Zudem dient der Online-Zugriff nach der angegriffenen Norm nicht unmittelbar der Gewinnung revisionsfester Beweise für ein Strafverfahren, sondern soll der Verfassungsschutzbehörde Kenntnisse verschaffen, an deren Zuverlässigkeit wegen der andersartigen Aufgabenstellung des Verfassungsschutzes zur Prävention im Vorfeld konkreter Gefahren geringere Anforderungen zu stellen sind als in einem Strafverfahren.

224

cc) Der heimliche Zugriff auf informationstechnische Systeme verletzt auch den Grundsatz der Erforderlichkeit nicht. Im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative durfte der Gesetzgeber annehmen, dass kein ebenso wirksamer, aber den Betroffenen weniger belastender Weg gegeben ist, die auf solchen Systemen vorhandenen Daten zu erheben. 225

225

Grundsätzlich ist zwar eine - im Verfassungsschutzgesetz nicht vorgesehene - offene Durchsuchung des Zielsystems gegenüber dem heimlichen Zugriff als milderes Mittel anzusehen (vgl Hornung, DuD 2007, S.575 <580>). Hat die Verfassungsschutzbehörde jedoch im Rahmen ihrer Aufgabenstellung einen hinreichenden Grund, die auf den Speichermedien eines informationstechnischen Systems abgelegten Dateien umfassend - unter Einschluss verschlüsselter Daten - zu sichten, über einen längeren Zeitraum Änderungen zu verfolgen oder die Nutzung des Systems umfassend zu überwachen, so sind mildere Mittel, diese Erkenntnisziele zu erreichen, nicht ersichtlich. Gleiches gilt für den Zugriff auf verschlüsselte Inhalte der Internetkommunikation, soweit ein Zugriff auf der Übertragungsstrecke nicht erfolgversprechend ist. Grundsätzlich ist zwar eine - im Verfassungsschutzgesetz nicht vorgesehene - offene Durchsuchung des Zielsystems gegenüber dem heimlichen Zugriff als milderes Mittel anzusehen (vgl Hornung, DuD 2007, S.575 <580>). Hat die aÿh $æh Verfassungsschutzbehörde jedoch im Rahmen ihrer Aufgabenstellung einen hinreichenden Grund, die auf den Speichermedien eines informationstechnischen Systems abgelegten Dateien umfassend - unter Einschluss verschlüsselter Daten - zu sichten, über einen längeren Zeitraum Änderungen zu verfolgen oder die Nutzung des Systems umfassend zu überwachen, so sind mildere Mittel, diese Erkenntnisziele zu erreichen, nicht ersichtlich. Gleiches gilt für den Zugriff auf verschlüsselte Inhalte der Internetkommunikation, soweit ein Zugriff auf der Übertragungsstrecke nicht erfolgversprechend ist. ]F2) 226 ]F2[ dd) § 5 Abs.2 Nr.11 Satz 1 Alt.2 VSG wahrt jedoch nicht das Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. ]F3) 227 ]F3[ Dieses Gebot verlangt, dass die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen darf (vgl BVerfGE_90,145 <173>; BVerfGE_109,279 <349 ff>; BVerfGE_113,348 <382>; stRspr). Der Gesetzgeber hat das Individualinteresse, das durch einen Grundrechtseingriff beschnitten wird, den Allgemeininteressen, denen der Eingriff dient, angemessen zuzuordnen. Die Prüfung an diesem Maßstab kann dazu führen, dass ein Mittel nicht zur Durchsetzung von Allgemeininteressen angewandt werden darf, weil die davon ausgehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen schwerer wiegen als die durchzusetzenden Belange (vgl BVerfGE_115,320 <345 f>; BVerfG, Beschluss vom 13.Juni 2007 - 1 BvR 1550/03 ua -, NJW 2007, S.2464 <2469>).

226

dd) § 5 Abs.2 Nr.11 Satz 1 Alt.2 VSG wahrt jedoch nicht das Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.

227

Dieses Gebot verlangt, dass die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen darf (vgl BVerfGE_90,145 <173>; BVerfGE_109,279 <349 ff>; BVerfGE_113,348 <382>; stRspr). Der Gesetzgeber hat das Individualinteresse, das durch einen Grundrechtseingriff beschnitten wird, den Allgemeininteressen, denen der Eingriff dient, angemessen zuzuordnen. Die Prüfung an diesem Maßstab kann dazu führen, dass ein Mittel nicht zur Durchsetzung von Allgemeininteressen angewandt werden darf, weil die davon ausgehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen schwerer wiegen als die durchzusetzenden Belange (vgl BVerfGE_115,320 <345 f>; BVerfG, Beschluss vom 13.Juni 2007 - 1 BvR 1550/03 ua -, NJW 2007, S.2464 <2469>).

228

§ 5 Abs.2 Nr.11 Satz 1 Alt.2 VSG genügt dem nicht. Die in dieser Norm vorgesehenen Maßnahmen bewirken derart intensive Grundrechtseingriffe, dass sie zu dem öffentlichen Ermittlungsinteresse, das sich aus dem geregelten Eingriffsanlass ergibt, außer Verhältnis stehen. Zudem bedarf es ergänzender verfahrensrechtlicher Vorgaben, um den grundrechtlich geschützten Interessen des Betroffenen Rechnung zu tragen; auch an ihnen fehlt es.

229

(1) § 5 Abs.2 Nr.11 Satz 1 Alt.2 VSG ermächtigt zu Grundrechtseingriffen von hoher Intensität.

230

(a) Eine staatliche Datenerhebung aus komplexen informationstechnischen Systemen weist ein beträchtliches Potential für die Ausforschung der Persönlichkeit des Betroffenen auf. Dies gilt bereits für einmalige und punktuelle Zugriffe wie beispielsweise die Beschlagnahme oder Kopie von Speichermedien solcher Systeme (vgl. zu solchen Fallgestaltungen etwa BVerfGE_113,29; BVerfGE_115,166; BVerfGE_117,244).

231

(aa) Ein solcher heimlicher Zugriff auf ein informationstechnisches System öffnet der handelnden staatlichen Stelle den Zugang zu einem Datenbestand, der herkömmliche Informationsquellen an Umfang und Vielfältigkeit bei weitem übertreffen kann. Dies liegt an der Vielzahl unterschiedlicher Nutzungsmöglichkeiten, die komplexe informationstechnische Systeme bieten und die mit der Erzeugung, Verarbeitung und Speicherung von personenbezogenen Daten verbunden sind. Insbesondere werden solche Geräte nach den gegenwärtigen Nutzungsgepflogenheiten typischerweise bewusst zum Speichern auch persönlicher Daten von gesteigerter Sensibilität, etwa in Form privater Text-, Bild- oder Tondateien, genutzt. Der verfügbare Datenbestand kann detaillierte Informationen über die persönlichen Verhältnisse und die Lebensführung des Betroffenen, die über verschiedene Kommunikationswege geführte private und geschäftliche Korrespondenz oder auch tagebuchartige persönliche Aufzeichnungen umfassen.

232

Ein staatlicher Zugriff auf einen derart umfassenden Datenbestand ist mit dem naheliegenden Risiko verbunden, dass die erhobenen Daten in einer Gesamtschau weitreichende Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Betroffenen bis hin zu einer Bildung von Verhaltens- und Kommunikationsprofilen ermöglichen.

233

(bb) Soweit Daten erhoben werden, die Aufschluss über die Kommunikation des Betroffenen mit Dritten geben, wird die Intensität des Grundrechtseingriffs dadurch weiter erhöht, dass die - auch im Allgemeinwohl liegende - Möglichkeit der Bürger beschränkt wird, an einer unbeobachteten Fernkommunikation teilzunehmen (vgl. zur Erhebung von Verbindungsdaten BVerfGE_115,166 <187 ff> ). Eine Erhebung solcher Daten beeinträchtigt mittelbar die Freiheit der Bürger, weil die Furcht vor Überwachung, auch wenn diese erst nachträglich einsetzt, eine unbefangene Individualkommunikation verhindern kann. Zudem weisen solche Datenerhebungen insoweit eine beträchtliche, das Gewicht des Eingriffs erhöhende Streubreite auf, als mit den Kommunikationspartnern der Zielperson notwendigerweise Dritte erfasst werden, ohne dass es darauf ankäme, ob in deren Person die Voraussetzungen für einen derartigen Zugriff vorliegen (vgl zur Telekommunikationsüberwachung BVerfGE_113,348 <382 f>; ferner BVerfGE_34,238 <247>; BVerfGE_107,299 <321>).

234

(b) Das Gewicht des Grundrechtseingriffs ist von besonderer Schwere, wenn - wie dies die angegriffene Norm vorsieht - eine heimliche technische Infiltration die längerfristige Überwachung der Nutzung des Systems und die laufende Erfassung der entsprechenden Daten ermöglicht.

235

(aa) Umfang und Vielfältigkeit des Datenbestands, der durch einen derartigen Zugriff erlangt werden kann, sind noch erheblich größer als bei einer einmaligen und punktuellen Datenerhebung. Der Zugriff macht auch lediglich im Arbeitsspeicher gehaltene flüchtige oder nur temporär auf den Speichermedien des Zielsystems abgelegte Daten für die Ermittlungsbehörde verfügbar. Er ermöglicht zudem, die gesamte Internetkommunikation des Betroffenen über einen längeren Zeitraum mitzuverfolgen. Im Übrigen kann sich die Streubreite der Ermittlungsmaßnahme erhöhen, wenn das Zielsystem in ein (lokales) Netzwerk eingebunden ist, auf das der Zugriff erstreckt wird.

236

Flüchtige oder nur temporär gespeicherte Daten können eine besondere Relevanz für die Persönlichkeit des Betroffenen aufweisen oder einen Zugriff auf weitere, besonders sensible Daten ermöglichen. Dies gilt etwa für Cache-Speicher, die von Dienstprogrammen wie etwa Web-Browsern angelegt werden und deren Auswertung Schlüsse über die Nutzung solcher Programme und damit mittelbar über Vorlieben oder Kommunikationsgewohnheiten des Betroffenen ermöglichen kann, oder für Passwörter, mit denen der Betroffene Zugang zu technisch gesicherten Inhalten auf seinem System oder im Netz erlangt. Zudem ist eine längerfristige Überwachung der Internetkommunikation, wie sie die angegriffene Norm ermöglicht, gegenüber einer einmaligen Erhebung von Kommunikationsinhalten und Kommunikationsumständen gleichfalls ein erheblich intensiverer Eingriff. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der geregelte Zugriff unter anderem darauf angelegt und dazu geeignet ist, den Einsatz von Verschlüsselungstechnologie zu umgehen. Auf diese Weise werden eigene Schutzvorkehrungen des Betroffenen gegen einen von ihm nicht gewollten Datenzugriff unterlaufen. Die Vereitelung solchen informationellen Selbstschutzes erhöht das Gewicht des Grundrechtseingriffs.

237

Auch das Risiko einer Bildung von Verhaltens- und Kommunikationsprofilen erhöht sich durch die Möglichkeit, über einen längeren Zeitraum die Nutzung des Zielsystems umfassend zu überwachen. Die Behörde kann auf diese Weise die persönlichen Verhältnisse und das Kommunikationsverhalten des Betroffenen weitgehend ausforschen. Eine solche umfassende Erhebung persönlicher Daten ist als Grundrechtseingriff von besonders hoher Intensität anzusehen.

238

(bb) Die Eingriffsintensität des geregelten Zugriffs wird weiter durch dessen Heimlichkeit bestimmt. In einem Rechtsstaat ist Heimlichkeit staatlicher Eingriffsmaßnahmen die Ausnahme und bedarf besonderer Rechtfertigung (vgl BVerfG, Beschluss vom 13.Juni 2007 - 1 BvR 1550/03 ua -, NJW 2007, S.2464 <2469 f>). Erfährt der Betroffene von einer ihn belastenden staatlichen Maßnahme vor ihrer Durchführung, kann er von vornherein seine Interessen wahrnehmen. Er kann zum einen rechtlich gegen sie vorgehen, etwa gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen. Zum anderen hat er bei einer offen durchgeführten Datenerhebung faktisch die Möglichkeit, durch sein Verhalten auf den Gang der Ermittlung einzuwirken. Der Ausschluss dieser Einflusschance verstärkt das Gewicht des Grundrechtseingriffs (vgl zu rechtlichen Abwehrmöglichkeiten BVerfGE_113,348 <383 f>; BVerfGE_115,320 <353>).

239

(cc) Das Gewicht des Eingriffs wird schließlich dadurch geprägt, dass infolge des Zugriffs Gefahren für die Integrität des Zugriffsrechners sowie für Rechtsgüter des Betroffenen oder auch Dritter begründet werden.

240

Die in der mündlichen Verhandlung angehörten sachkundigen Auskunftspersonen haben ausgeführt, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Zugriff selbst bereits Schäden auf dem Rechner verursacht. So könnten Wechselwirkungen mit dem Betriebssystem zu Datenverlusten führen (vgl. auch Hansen/Pfitzmann, DRiZ 2007, S. 225 <228>). Zudem ist zu beachten, dass es einen rein lesenden Zugriff infolge der Infiltration nicht gibt. Sowohl die zugreifende Stelle als auch Dritte, die eventuell das Zugriffsprogramm missbrauchen, können aufgrund der Infiltration des Zugriffsrechners Datenbestände versehentlich oder sogar durch gezielte Manipulationen löschen, verändern oder neu anlegen. Dies kann den Betroffenen in vielfältiger Weise mit oder ohne Zusammenhang zu den Ermittlungen schädigen.

241

Je nach der eingesetzten Infiltrationstechnik kann die Infiltration auch weitere Schäden verursachen, die im Zuge der Prüfung der Angemessenheit einer staatlichen Maßnahme mit zu berücksichtigen sind. Wird dem Betroffenen etwa eine Infiltrationssoftware in Form eines vermeintlich nützlichen Programms zugespielt, lässt sich nicht ausschließen, dass er dieses Programm an Dritte weiterleitet, deren Systeme in der Folge ebenfalls geschädigt werden. Werden zur Infiltration bislang unbekannte Sicherheitslücken des Betriebssystems genutzt, kann dies einen Zielkonflikt zwischen den öffentlichen Interessen an einem erfolgreichen Zugriff und an einer möglichst großen Sicherheit informationstechnischer Systeme auslösen. In der Folge besteht die Gefahr, dass die Ermittlungsbehörde es etwa unterlässt, gegenüber anderen Stellen Maßnahmen zur Schließung solcher Sicherheitslücken anzuregen, oder sie sogar aktiv darauf hinwirkt, dass die Lücken unerkannt bleiben. Der Zielkonflikt könnte daher das Vertrauen der Bevölkerung beeinträchtigen, dass der Staat um eine möglichst hohe Sicherheit der Informationstechnologie bemüht ist.

242

(2) Der Grundrechtseingriff, der in dem heimlichen Zugriff auf ein informationstechnisches System liegt, entspricht im Rahmen einer präventiven Zielsetzung angesichts seiner Intensität nur dann dem Gebot der Angemessenheit, wenn bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen, selbst wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr schon in näherer Zukunft eintritt. Zudem muss das Gesetz, das zu einem derartigen Eingriff ermächtigt, den Grundrechtsschutz für den Betroffenen auch durch geeignete Verfahrensvorkehrungen sichern.

243

(a) In dem Spannungsverhältnis zwischen der Pflicht des Staates zum Rechtsgüterschutz und dem Interesse des Einzelnen an der Wahrung seiner von der Verfassung verbürgten Rechte gehört es zur Aufgabe des Gesetzgebers, in abstrakter Weise einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen zu erreichen (vgl BVerfGE_109,279 <350> ). Dies kann dazu führen, dass bestimmte intensive Grundrechtseingriffe nur zum Schutz bestimmter Rechtsgüter und erst von bestimmten Verdachts- oder Gefahrenstufen an vorgesehen werden dürfen. In dem Verbot unangemessener Grundrechtseingriffe finden auch die Pflichten des Staates zum Schutz anderer Rechtsgüter ihre Grenze (vgl BVerfGE_115,320 <358>). Entsprechende Eingriffsschwellen sind durch eine gesetzliche Regelung zu gewährleisten (vgl BVerfGE_100,313 <383 f>; BVerfGE_109,279 <350 ff>; BVerfGE_115,320 <346>). (a) In dem Spannungsverhältnis zwischen der Pflicht des Staates zum Rechtsgüterschutz und dem Interesse des Einzelnen an der Wahrung seiner von der Verfassung verbürgten Rechte Èãh L?h gehört es zur Aufgabe des Gesetzgebers, in abstrakter Weise einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen zu erreichen (vgl BVerfGE_109,279 <350> ). Dies kann dazu führen, dass bestimmte intensive Grundrechtseingriffe nur zum Schutz bestimmter Rechtsgüter und erst von bestimmten Verdachts- oder Gefahrenstufen an vorgesehen werden dürfen. In dem Verbot unangemessener Grundrechtseingriffe finden auch die Pflichten des Staates zum Schutz anderer Rechtsgüter ihre Grenze (vgl BVerfGE_115,320 <358>). Entsprechende Eingriffsschwellen sind durch eine gesetzliche Regelung zu gewährleisten (vgl BVerfGE_100,313 <383 f>; BVerfGE_109,279 <350 ff>; BVerfGE_115,320 <346>). ]G0) 244 ]G0[ (b) Ein Grundrechtseingriff von hoher Intensität kann bereits als solcher unverhältnismäßig sein, wenn der gesetzlich geregelte Eingriffsanlass kein hinreichendes Gewicht aufweist. Soweit das einschlägige Gesetz der Abwehr bestimmter Gefahren dient, wie sich dies für das Verfassungsschutzgesetz aus § 1 VSG ergibt, kommt es für das Gewicht des Eingriffsanlasses maßgeblich auf den Rang und die Art der Gefährdung der Schutzgüter an, die in der jeweiligen Regelung in Bezug genommen werden (vgl BVerfGE_115,320 <360 f.>). 245

244

(b) Ein Grundrechtseingriff von hoher Intensität kann bereits als solcher unverhältnismäßig sein, wenn der gesetzlich geregelte Eingriffsanlass kein hinreichendes Gewicht aufweist. Soweit das einschlägige Gesetz der Abwehr bestimmter Gefahren dient, wie sich dies für das Verfassungsschutzgesetz aus § 1 VSG ergibt, kommt es für das Gewicht des Eingriffsanlasses maßgeblich auf den Rang und die Art der Gefährdung der Schutzgüter an, die in der jeweiligen Regelung in Bezug genommen werden (vgl BVerfGE_115,320 <360 f.>). 245

245

Wiegen die Schutzgüter einer Eingriffsermächtigung als solche hinreichend schwer, um Grundrechtseingriffe der geregelten Art zu rechtfertigen, begründet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verfassungsrechtliche Anforderungen an die tatsächlichen Voraussetzungen des Eingriffs. Der Gesetzgeber hat insoweit die Ausgewogenheit zwischen der Art und Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung einerseits und den zum Eingriff berechtigenden Tatbestandselementen andererseits zu wahren (vgl BVerfGE_100,313 <392 ff> ). Die Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad und die Tatsachenbasis der Prognose müssen in angemessenem Verhältnis zur Art und Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung stehen. Selbst bei höchstem Gewicht der drohenden Rechtsgutsbeeinträchtigung kann auf das Erfordernis einer hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit nicht verzichtet werden. Auch muss als Voraussetzung eines schweren Grundrechtseingriffs gewährleistet bleiben, dass Annahmen und Schlussfolgerungen einen konkret umrissenen Ausgangspunkt im Tatsächlichen besitzen (vgl BVerfGE_113,348 <386>; BVerfGE_115,320 <360 f.>).

246

(c) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz setzt einer gesetzlichen Regelung, die zum heimlichen Zugriff auf informationstechnische Systeme ermächtigt, zunächst insoweit Grenzen, als besondere Anforderungen an den Eingriffsanlass bestehen. Dieser besteht hier in der Gefahrenprävention im Rahmen der Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde gemäß § 1 VSG.

247

(aa) Ein derartiger Eingriff darf nur vorgesehen werden, wenn die Eingriffsermächtigung ihn davon abhängig macht, dass tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut vorliegen. Überragend wichtig sind zunächst Leib, Leben und Freiheit der Person. Ferner sind überragend wichtig solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt. Hierzu zählt etwa auch die Funktionsfähigkeit wesentlicher Teile existenzsichernder öffentlicher Versorgungseinrichtungen.

248

Zum Schutz sonstiger Rechtsgüter Einzelner oder der Allgemeinheit in Situationen, in denen eine existentielle Bedrohungslage nicht besteht, ist eine staatliche Maßnahme grundsätzlich nicht angemessen, durch die - wie hier - die Persönlichkeit des Betroffenen einer weitgehenden Ausspähung durch die Ermittlungsbehörde preisgegeben wird. Zum Schutz solcher Rechtsgüter hat sich der Staat auf andere Ermittlungsbefugnisse zu beschränken, die ihm das jeweils anwendbare Fachrecht im präventiven Bereich einräumt.

249

(bb) Die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage muss weiter als Voraussetzung des heimlichen Zugriffs vorsehen, dass zumindest tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für die hinreichend gewichtigen Schutzgüter der Norm bestehen. 250

250

() Das Erfordernis tatsächlicher Anhaltspunkte führt dazu, dass Vermutungen oder allgemeine Erfahrungssätze allein nicht ausreichen, um den Zugriff zu rechtfertigen. Vielmehr müssen bestimmte Tatsachen festgestellt sein, die eine Gefahrenprognose tragen (vgl BVerfGE_110,33 <61>; BVerfGE_113,348 <378>).

251

Diese Prognose muss auf die Entstehung einer konkreten Gefahr bezogen sein. Dies ist eine Sachlage, bei der im Einzelfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ohne Eingreifen des Staates ein Schaden für die Schutzgüter der Norm durch bestimmte Personen verursacht wird. Die konkrete Gefahr wird durch drei Kriterien bestimmt: den Einzelfall, die zeitliche Nähe des Umschlagens einer Gefahr in einen Schaden und den Bezug auf individuelle Personen als Verursacher. Der hier zu beurteilende Zugriff auf das informationstechnische System kann allerdings schon gerechtfertigt sein, wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr schon in näherer Zukunft eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen. Die Tatsachen müssen zum einen den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen, zum anderen darauf, dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt ist, dass die Überwachungsmaßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden kann.

252

Dagegen wird dem Gewicht des Grundrechtseingriffs, der in dem heimlichen Zugriff auf ein informationstechnisches System liegt, nicht hinreichend Rechnung getragen, wenn der tatsächliche Eingriffsanlass noch weitergehend in das Vorfeld einer im Einzelnen noch nicht absehbaren konkreten Gefahr für die Schutzgüter der Norm verlegt wird.

253

Eine Anknüpfung der Einschreitschwelle an das Vorfeldstadium ist verfassungsrechtlich angesichts der Schwere des Eingriffs nicht hinnehmbar, wenn nur ein durch relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Gefahren gekennzeichnetes Geschehen bekannt ist. Die Tatsachenlage ist dann häufig durch eine hohe Ambivalenz der Bedeutung einzelner Beobachtungen gekennzeichnet. Die Geschehnisse können in harmlosen Zusammenhängen verbleiben, aber auch den Beginn eines Vorgangs bilden, der in eine Gefahr mündet (vgl zur Straftatenverhütung BVerfGE_110,33 <59>).

254

() Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Regelung des tatsächlichen Eingriffsanlasses sind im Fall des heimlichen Zugriffs auf ein informationstechnisches System für alle Eingriffsermächtigungen mit präventiver Zielsetzung zu beachten. Da die Beeinträchtigung durch den Eingriff in allen diesen Fällen für die Betroffenen die Gleiche ist, besteht hinsichtlich seiner Anforderungen kein Anlass zu behördenbezogenen Differenzierungen, etwa zwischen Polizeibehörden und anderen mit präventiven Aufgaben betrauten Behörden wie Verfassungsschutzbehörden. Dass Polizei- und Verfassungsschutzbehörden unterschiedliche Aufgaben und Befugnisse haben und in der Folge Maßnahmen mit unterschiedlicher Eingriffstiefe vornehmen können, ist für die Gewichtung des heimlichen Zugriffs auf das informationstechnische System grundsätzlich ohne Belang.

 

Auszug aus BVerfG U, 27.02.08, - 1_BvR_370/07 -, www.BVerfG.de,  Abs.165 ff

§§§

08.012 Datensammlung-Auslandsbeziehungen

  1. BVerfG,     B, 10.03.08,     – 1_BvR_2388/03 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.19 Abs.4; BDSG_§_19; AO_§_88a, AO_§_30; FVG_§_5 Abs.1 Nr.6

  4. Datensammlung / steuerliche Auslandsbeziehungen / Verfassungsmäßigkeit / Auskunftsverlangen / Ablehnung / verfassungsrechtliche Anforderungen

 

1) Gegen die bei dem Bundeszentralamt für Steuern auf der Grundlage von § 88a AO in Verbindung mit § 5 Abs.1 Nr.6 FVG geführte Datensammlung über steuerliche Auslandsbeziehungen bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

 

2) Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ablehnung eines Antrags, mit dem ein Einzelner Auskunft über ihn betreffende Daten begehrt, die in dieser Datensammlung enthalten sind.

 

LB 3) Der durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung vermittelte Grundrechtsschutz erschöpft sich nicht in einem Abwehrrecht gegen staatliche Datenerhebung und Datenverarbeitung. Dieses Grundrecht schützt auch das Interesse des Einzelnen, von staatlichen informationsbezogenen Maßnahmen zu erfahren, die ihn in seinen Grundrechten betreffen.

 

LB 4) Eine Informationsmöglichkeit für den von einem Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung Betroffenen ist ferner Voraussetzung dafür, dass er die Rechtswidrigkeit der Informationsgewinnung oder etwaige Rechte auf Löschung oder Berichtigung geltend machen kann. Insoweit ist der Anspruch auf die Kenntniserlangung ein Erfordernis effektiven Grundrechtsschutzes im Bereich sowohl des behördlichen als auch des gerichtlichen Verfahrens.

 

LB 5) Nicht nur in der Erhebung, sondern auch in der Speicherung von Daten die unter das Steuergeheimnis (§ 30 AO) fallen, liegt ein Grundrechtseingriff (vgl BVerfGE_65,1 <43>).

 

LB 6) Werden Daten, die aus im Ausland öffentlich zugänglichen Quellen gewonnen werden, in die Sammlung aufgenommen, liegt zwar noch nicht in der Erhebung dieser Daten ein Grundrechtseingriff, wohl aber kann er in ihrer Sammlung und systematischen Erfassung bestehen.

 

LB 7) Es ist dem Staat nicht verwehrt, von jedermann zugänglichen Informationsquellen unter denselben Bedingungen wie jeder Dritte Gebrauch zu machen.

 

LB 8) Ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist anzunehmen, wenn die aus öffentlich zugänglichen Quellen stammenden Daten durch ihre systematische Erfassung, Sammlung und Verarbeitung einen zusätzlichen Aussagewert erhalten, aus dem sich die für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung spezifische Gefährdungslage für die Freiheitsrechte oder die Privatheit des Betroffenen ergibt. So kann es etwa liegen, wenn diese Daten mit anderen Daten verbunden werden, die bereits für sich genommen dem Grundrechtsschutz unterfallen, und dadurch der Aussagegehalt der verknüpften Daten insgesamt zunimmt.

 

LB 9) Zur Gewährleistung eines tatsächlich effektiven Rechtsschutzes gehört auch, dass der von einem Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung Betroffene von diesem Eingriff Kenntnis erhalten kann (vgl BVerfGE_65,1 <70>). In derartigen Fällen kann auch Art.19 Abs.4 GG einen Informationsanspruch begründen.

 

LB 10) Bei heimlichen Datenerhebungen kann demgegenüber eine aktive Benachrichtigung des Betroffenen grundrechtlich geboten sein, wenn es sich um einen Grundrechtseingriff von erheblichem Gewicht handelt und andere Kenntnismöglichkeiten den Interessen des Betroffenen nicht hinreichend Rechnung tragen.

 

LB 11) Das Bundesamt sammelt in der Informationszentrale Daten, die entweder von vornherein ohne Mitwirkung des Betroffenen erhoben worden sind oder deren Speicherungszweck von dem Erhebungszweck gelöst wurde. Dementsprechend sind für den Betroffenen bei der Datenerhebung Zweck und Umfang einer späteren Speicherung und ihrer möglichen Verknüpfung mit weiteren Datensammlungen nicht absehbar. Eine Benachrichtigung des Betroffenen oder eine andere rechtlich gesicherte Möglichkeit der Kenntnisnahme sind nicht vorgesehen. Gegenüber einer Datensammlung wie der hier umstrittenen ist, soweit in ihr ein Grundrechtseingriff liegt, ein Informationsrecht des Betroffenen auf eigene Initiative zentraler Baustein einer staatlichen Informationsordnung, die den grundrechtlichen Vorgaben genügt. Der Gesetzgeber ist folglich verpflichtet, ein derartiges Informationsrecht zu schaffen.

 

LB 12) § 88a AO genügt dem verfassungsrechtlichen Gebot der Normenbestimmtheit und Normenklarheit.

 

LB 13) § 88a AO genügt auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

§§§

08.013 Telekommunikations-Verkehrsdaten

  1. BVerfG,     B, 11.03.08,     – 1_BvR_256/08 –

  2. BVerfGR_121,1 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. TKG_§_113a, TKG_§_113b

  4. Eilantrag / Telekommunikationsüberwachung / Vorratsspeicherung / öffentliche Sicherheit

 

LB 1) Der Eilantrag, die durch das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung eingeführte Vorratsspeicherung von Telekommunikations-Verkehrsdaten zu Zwecken der öffentlichen Sicherheit einstweilen auszusetzen hatte teilweise Erfolg.

 

LB 2) Angesichts des Zusammenhangs zwischen der Datenbevorratung (§ 113a TKG) und dem Abruf der bevorrateten Daten (§ 113b TKG) ist mit der Bevorratung allein noch kein derart schwerwiegender Nachteil verbunden, dass das Risiko hingenommen werden müsste, durch eine Aussetzung bereits der Vorratsspeicherung möglicherweise über die Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache hinauszugehen und das Interesse an einem effektiven Vollzug des zwingenden Gemeinschaftsrechts schwerwiegend zu beeinträchtigen.

 

LB 3) Hingegen ist die in § 113b Satz 1 Nr.1 TKG ermöglichte Nutzung der bevorrateten Daten zu Zwecken der Strafverfolgung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde teilweise auszusetzen.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) § 113b Satz 1 Nummer 1 des Telekommunikationsgesetzes in der Fassung des Gesetzes vom 21.Dezember 2007 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 3198) ist bis zur Entscheidung in der Hauptsache nur mit folgenden Maßgaben anzuwenden: Aufgrund eines Abrufersuchens einer Strafverfolgungsbehörde nach § 100g Absatz 1 der Strafprozessordnung, das sich auf allein nach § 113a des Telekommunikationsgesetzes gespeicherte Telekommunikations-Verkehrsdaten bezieht, hat der durch das Abrufersuchen verpflichtete Anbieter von Telekommunikationsdiensten die verlangten Daten zu erheben. Sie sind jedoch nur dann an die ersuchende Behörde zu übermitteln, wenn Gegenstand des Ermittlungsverfahrens gemäß der Anordnung des Abrufs eine Katalogtat im Sinne des § 100a Absatz 2 der Strafprozessordnung ist und die Voraussetzungen des § 100a Absatz 1 der Strafprozessordnung vorliegen. In den übrigen Fällen des § 100g Absatz 1 der Strafprozessordnung ist von einer Übermittlung der Daten einstweilen abzusehen. Der Diensteanbieter hat die Daten zu speichern. Er darf die Daten nicht verwenden und hat sicherzustellen, dass Dritte nicht auf sie zugreifen können.

2) Die Bundesregierung hat dem Bundesverfassungsgericht zum 1.September 2008 nach Maßgabe der Gründe über die praktischen Auswirkungen der in § 113a des Telekommunikationsgesetzes vorgesehenen Datenspeicherungen und der vorliegenden einstweiligen Anordnung zu berichten. Die Länder und der Generalbundesanwalt haben der Bundesregierung die für den Bericht erforderlichen Informationen zu übermitteln.

3) Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

4) Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern ein Drittel der notwendigen Auslagen im Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

§§§

08.014 Automatisierte Erfassung von Kfz-Kennzeichen

  1. BVerfG,     U, 11.03.08,     – 1_BvR_2074/05 –

  2. BVerfGE_120,378 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.1 Abs.1; (He) HSOG_§_14 Abs.5; (SH) LVwG_§_184

  4. Kfz-Kennzeichen / Erfassung / Abgleich / Fahndungsbestand / Selbstbestimmung / Ermächtigungsgrundlage / verfassungsmäßige Anforderungen Normenbestimmtheit / Kfz-Kennzeichenerfassung / anlasslos / flächendeckend Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

 

1) Eine automatisierte Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen zwecks Abgleichs mit dem Fahndungsbestand greift dann, wenn der Abgleich nicht unverzüglich erfolgt und das Kennzeichen nicht ohne weitere Auswertung sofort und spurenlos gelöscht wird, in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG) ein.

 

2) Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ermächtigungsgrundlage richten sich nach dem Gewicht der Beeinträchtigung, das insbesondere von der Art der erfassten Informationen, dem Anlass und den Umständen ihrer Erhebung, dem betroffenen Personenkreis und der Art der Verwertung der Daten beeinflusst wird.

 

3) Die bloße Benennung des Zwecks, das Kraftfahrzeugkennzeichen mit einem gesetzlich nicht näher definierten Fahndungsbestand abzugleichen, genügt den Anforderungen an die Normenbestimmtheit nicht.

 

4) Die automatisierte Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen darf nicht anlasslos erfolgen oder flächendeckend durchgeführt werden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist im Übrigen nicht gewahrt, wenn die gesetzliche Ermächtigung die automatisierte Erfassung und Auswertung von Kraftfahrzeugkennzeichen ermöglicht, ohne dass konkrete Gefahrenlagen oder allgemein gesteigerte Risiken von Rechtsgutgefährdungen oder -verletzungen einen Anlass zur Einrichtung der Kennzeichenerfassung geben. Die stichprobenhafte Durchführung einer solchen Maßnahme kann gegebenenfalls zu Eingriffen von lediglich geringerer Intensität zulässig sein.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

1) § 14 Absatz 5 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Januar 2005 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Hessen, Teil I, Seite 14) ist mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

2) § 184 Absatz 5 des Allgemeinen Verwaltungsgesetzes für das Land Schleswig-Holstein (Landesverwaltungsgesetz - LVwG -) in der Fassung von Artikel 1 Nummer 6 Buchstabe b des Gesetzes zur Anpassung gefahrenabwehrrechtlicher und verwaltungsverfahrensrechtlicher Bestimmungen vom 13. April 2007 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein, Seite 234) ist mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

3) Das Land Hessen hat den Beschwerdeführern zu 1, das Land Schleswig-Holstein dem Beschwerdeführer zu 2 deren notwendige Auslagen zu erstatten.

§§§

08.015 Geschwisterbeischlaf

  1. BVerfG,     B, 26.02.08,     – 2_BvR_392/07 –

  2. BVerfGE_120,224 = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.6 Abs.1;

  4. Beischlaf zwischen Geschwistern / Strafbarkeit / Vereinbarkeit-GG

 

Die Strafvorschrift des § 173 Abs.2 Satz 2 StGB, die den Beischlaf zwischen Geschwistern mit Strafe bedroht, ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

08.016 Umgang mit dem Kind

  1. BVerfG,     U, 01.04.08,     – 1_BvR_1620/04 –

  2. BVerfGE_121,69 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.6 Abs.2 S.1, GG_Art.2 Abs., GG_Art.1 Abs.1;

  4. Kind / Pflicht zur Pflege + Erziehung / Eltern / Gesetzgeber / Ausgestaltung / Persönlichkeitsschutz / Umgangsverpflichtung / Kindeswohl / Zwangsmittel /

 

1) Die den Eltern durch Art.6 Abs.2 Satz 1 GG auferlegte Pflicht zur Pflege und Erziehung ihres Kindes besteht nicht allein dem Staat, sondern auch ihrem Kind gegenüber. Mit dieser elterlichen Pflicht korrespondiert das Recht des Kindes auf Pflege und Erziehung durch seine Eltern aus Art.6 Abs.2 Satz 1 GG. Recht und Pflicht sind vom Gesetzgeber auszugestalten.

 

2) Der mit der Verpflichtung eines Elternteils zum Umgang mit seinem Kind verbundene Eingriff in das Grundrecht auf Schutz der Persönlichkeit aus Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG ist wegen der den Eltern durch Art.6 Abs.2 Satz 1 GG auferlegten Verantwortung für ihr Kind und dessen Recht auf Pflege und Erziehung durch seine Eltern gerechtfertigt. Es ist einem Elternteil zumutbar, zum Umgang mit seinem Kind verpflichtet zu werden, wenn dies dem Kindeswohl dient.

 

3) Ein Umgang mit dem Kind, der nur mit Zwangsmitteln gegen seinen umgangsunwilligen Elternteil durchgesetzt werden kann, dient in der Regel nicht dem Kindeswohl. Der durch die Zwangsmittelandrohung bewirkte Eingriff in das Grundrecht des Elternteils auf Schutz der Persönlichkeit ist insoweit nicht gerechtfertigt, es sei denn, es gibt im Einzelfall hinreichende Anhaltspunkte, die darauf schließen lassen, dass ein erzwungener Umgang dem Kindeswohl dienen wird.

§§§

08.017 Private Rundfunkunternehmen

  1. BVerfG,     B, 12.03.08,     – 2_BvF_4/03 –

  2. BVerfGE_121,30 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.19 Abs.1 S.1, GG_Art.5 Abs.1 S.2, GG_Art.21 Abs.1; HPRG_§_6 Abs.2 Nr.4

  4. Rundfunkfreiheit / Partei / Beteiligung / privater Rundfunk / bestimmender Einfluss / absolutes Verbot

 

Dem Gesetzgeber steht es frei, Parteien die unmittelbare oder mittelbare Beteiligung an privaten Rundfunkunternehmen insoweit zu untersagen, als sie dadurch bestimmenden Einfluss auf die Programmgestaltung oder die Programminhalte nehmen können. Dagegen ist das absolute Verbot für politische Parteien, sich an privaten Rundfunkveranstaltungen zu beteiligen, keine zulässige gesetzliche Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit.

 

LB 2) § 6 Abs.2 Nr.4 HPRG gilt abstrakt und nicht für den Einzelfall. Zwar ist die Partei der Antragsteller derzeit die einzige, die im Geltungsbereich der Norm Beteiligungen an Rundfunkunternehmen hielt und diese aufgrund der Neufassung der Regelung aufgeben musste. § 6 Abs.2 Nr.4 HPRG regelt aber generell die Beteiligung von Parteien am Privatrundfunk und betrifft damit auch jede andere Partei, die Beteiligungen an Rundfunkunternehmen erwerben will.

 

LB 3) Dem Gesetzgeber steht es frei, Parteien die unmittelbare oder mittelbare Beteiligung an privaten Rundfunkunternehmen insoweit zu untersagen, als sie dadurch bestimmenden Einfluss auf die Programmgestaltung oder die Programminhalte nehmen können.

 

LB 4) Demgegenüber bedeutet das absolute Verbot für politische Parteien, sich an privaten Rundfunkveranstaltern zu beteiligen, keine zulässige gesetzliche Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit. § 6 Abs.2 Nr.4 HPRG verstößt insoweit gegen die Rundfunkfreiheit aus Art.5 Abs.1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art.21 Abs.1 GG.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

§ 6 Absatz 2 Nummer 4 Gesetz über den privaten Rundfunk in Hessen (Hessisches Privatrundfunkgesetz - HPRG) vom 25.Januar 1995 (Gesetz- und Verordnungsblatt I S.87 ff), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 13.Dezember 2002 (Gesetz- und Verordnungsblatt I S.778), ist nach Maßgabe der Gründe mit Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.

§§§

08.018 AWACS-Flugzeuge

  1. BVerfG,     U, 07.05.08,     – 2_BvE_1/03 –

  2. BVerfGE_121,135 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.24 Abs.2

  4. Parlamentsvorbehalt / Nato-Luftüberwachung-Türkei / bewaffnete Auseinandersetzung / Streitkräfteeinsatz

 

Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt greift ein, wenn nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist. Diese Voraussetzung ist gerichtlich voll überprüfbar.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

Die Antragsgegnerin hat den Deutschen Bundestag in seinem wehrverfassungsrechtlichen Beteiligungsrecht in Form des konstitutiven Parlamentsvorbehalts für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte verletzt, indem sie es unterlassen hat, seine Zustimmung zur Beteiligung deutscher Soldaten an Maßnahmen der NATO zur Luftüberwachung der Türkei vom 26. Februar bis zum 17.April 2003 einzuholen.

§§§

08.019 Altersgrenzenanhebung-RP

  1. BVerfG,     B, 23.05.08,     – 2_BvR_1081/07 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.33 Abs.5; (RP) LBG_§_208; EZulV_§_3 Abs.4

  4. Beamtenrecht / Altergrenzen - unterschiedliche / Fürsorgepflicht / Polizeibeamte / Wechselschicht / Rufbereitschaft.

 

LB 1) Die Festsetzung der unterschiedlichen Altersgrenzen in § 208 LBG verstößt nicht gegen die Fürsorgepflicht des Dienstherrn als hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Art.33 Abs.5 GG.

 

LB 2) Art.33 Abs.5 GG fordert weder eine auf ein bestimmtes Lebensalter gerichtete noch eine für alle Beamten einheitliche Festsetzung der Altersgrenze (vgl BVerfGE_71,255 <270>).

 

LB 3) Die niedrigere Altersgrenze für Beamte, die mindestens 25 Jahre lang besondere, in § 208 Abs.1 Satz 1 LBG aufgeführte Funktionen wahrgenommen haben, stellt eine zulässige Differenzierung dar. Die Regelung trägt der besonderen Belastung von Polizeibeamten in Sonderfunktionen wie dem Wechselschichtdienst Rechnung.

 

LB 4) Dagegen ist die Rufbereitschaft, nach der zulässigen Einschätzung des Gesetzgebers nicht mit denselben Belastungen wie etwa der Wechselschichtdienst verbunden. Im Wechselschichtdienst werden die Beamten nach einem Dienstplan eingesetzt, der einen regelmäßigen Wechsel der täglichen Arbeitszeit in Arbeitsschichten vorsieht, in denen ununterbrochen bei Tag und Nacht, werktags, sonntags und feiertags gearbeitet wird (§ 20 Abs.1 Satz 1 EZulV). Die besondere Belastung der Beamten entsteht durch die ständige Umstellung ihres Arbeits- und Lebensrhythmus.

 

LB 5) Rufbereitschaft dagegen bedeutet, dass sich der Beamte zu Hause oder an einem anderen frei wählbaren Ort bereithalten muss, um bei Bedarf zu Dienstleistungen sofort abgerufen werden zu können; sie bedeutet daher in erster Linie nur eine gewisse Einschränkung der Bewegungsfreiheit während der Freizeit (vgl BVerwGE_59,45 <47>). Die Rufbereitschaft gilt daher auch nicht als zulagenfähiger "Dienst zu ungünstigen Zeiten" gemäß § 3 Abs.4 EZulV. Zudem erhalten Beamte für eine Mehrbelastung durch die Rufbereitschaft bereits einen Freizeitausgleich nach § 7 Abs.2 Arbeitszeitverordnung Rheinland-Pfalz.

§§§

08.020 Geschlechtsändernde Operation

  1. BVerfG,     B, 27.05.08,     – 1_BvL_10/05 –

  2. BVerfGE_121,175 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.2 Abs.1, GG_Art.1 Abs.1, GG_Art.6 Abs.1; TSG_§_8 Abs.1 Nr.2

  4. Transsexuellengesetz / Änderung Vornamen / Geschlechtszugehörigkeit / Vereinbarkeit-GG / Nicht-Anwendbarkeit

 

§ 8 Abs.1 Nr.2 des Transsexuellengesetzes ist mit Art.2 Abs.1 in Verbindung mit Art.1 Abs.1 GG und Art.6 Abs.1 GG nicht vereinbar, weil er einem verheirateten Transsexuellen, der sich geschlechtsändernden Operationen unterzogen hat, die Möglichkeit, die personenstandsrechtliche Anerkennung seiner neuen Geschlechtszugehörigkeit zu erhalten, nur einräumt, wenn seine Ehe zuvor geschieden wird.

* * *

Beschluss

1) § 8 Absatz 1 Nummer 2 des Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz - TSG) vom 10.September 1980 (Bundesgesetzblatt I Seite 1654) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Passgesetzes und weiterer Vorschriften vom 20.Juli 2007 (Bundesgesetzblatt I Seite 1566) ist mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes nach Maßgabe der Gründe unvereinbar.

2) § 8 Absatz 1 Nummer 2 des Transsexuellengesetzes ist bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung nicht anwendbar.

§§§

08.021 Ämter mit leitender Funktion

  1. BVerfG,     B, 28.05.08,     – 2_BvL_11/07 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.33 Abs.5; (NW) LBG_§_25b

  4. leitende Funktion / Beamtenverhältnis auf Zeit / hergebrachte Grundsätze Unvereinbarkeit-GG

 

Die in § 25b Landesbeamtengesetz Nordrhein-Westfalen angeordnete Übertragung von Ämtern mit leitender Funktion im Beamtenverhältnis auf Zeit verstößt gegen Artikel 33 Absatz 5 des Grundgesetzes.

 

LB 2) Das Lebenszeitprinzip in Form der lebenszeitigen Übertragung aller einer Laufbahn zugeordneten Ämter gehört zu den hergebrachten Strukturprinzipien des Berufsbeamtentums, die angesichts ihrer wesensprägenden Bedeutung vom Gesetzgeber nicht nur zu berücksichtigen, sondern zu beachten sind.

 

LB 3) Die in § 25b LBG NRW geregelte Übertragung von Ämtern mit leitender Funktion im Beamtenverhältnis auf Zeit verletzt den Kernbereich des Lebenszeitprinzips und ist daher mit Art.33 Abs.5 GG unvereinbar. Die Vorschrift ist nichtig.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 25b des Landesbeamtengesetzes Nordrhein-Westfalen in der Fassung des Artikels I des Gesetzes vom 20.April 1999 (Nordrhein-Westfälisches Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 148) und in allen folgenden Fassungen ist mit Artikel 33 Absatz 5 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

§§§

08.022 Versorgungsabschlag

  1. BVerfG,     B, 18.06.08,     – 2_BvL_6/07 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art.3 Abs.3 S.1; (aF) BeamtVG_§_84 Abs.4 S.2, BeamtVG_§_14 Abs.1 S.1

  4. Teilzeitbeamte / Berechnung Ruhegehaltsatz / Versorgungsabschlag / geschlechtsdiskriminierende Wirkung /

 

Die Berechnung des Ruhegehaltssatzes von Teilzeitbeamten nach § 85 Abs.4 Satz 2 BeamtVG in Verbindung mit § 14 Abs.1 Satz 1 Halbsätze 2 und 3 BeamtVG aF (sog Versorgungsabschlag) verstößt gegen Art.3 Abs.3 Satz 1 GG.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

§ 85 Absatz 4 Satz 2 des Gesetzes über die Versorgung der Beamten und Richter in Bund und Ländern (Beamtenversorgungsgesetz - BeamtVG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 16.März 1999 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 322) ist mit Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig, soweit hierdurch die Anwendbarkeit des § 14 Absatz 1 Satz 1 Halbsätze 2 und 3 des Gesetzes über die Versorgung der Beamten und Richter in Bund und Ländern (Beamtenversorgungsgesetz - BeamtVG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 30.Juni 1989 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 1282) auf die Teilzeitbeschäftigung angeordnet wird.

§§§

08.023 Zuwendungen an politische Parteien

  1. BVerfG,     B, 17.04.08,     – 2_BvL_4/05 –

  2. BVerfGE_121,108 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.9 Abs.1, GG_Art.28 Abs.1 S.2, GG_Art.100 Abs.1; PartG_§_2; ErbStG_§_13 Abs.1 Nr.18

  4. Politische Partei / Recht auf Chancengleichheit / Zuwendungen / Steuerfreiheit / kommunale Wählervereinigungen / verfassungskonforme Auslegung / Unvereinbarkeit mit GG / Folgen / Anordnung der Anwendbarkeit Ausdehnung der Anwendbarkeit

 

1) Das Recht auf Chancengleichheit (Art.3 Abs.1 in Verbindung mit Art.9 Abs.1 und Art.28 Abs.1 Satz 2 GG) ist verletzt, wenn Zuwendungen an politische Parteien im Sinne des § 2 des Parteiengesetzes steuerfrei gestellt sind, Zuwendungen an kommunale Wählervereinigungen und ihre Dachverbände dagegen nicht.

 

2) Holt ein Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art.100 Abs.1 GG ein, weil es von der Verfassungswidrigkeit einer Steuerrechtsnorm überzeugt ist, die nur bestimmte Personen oder Gruppen begünstigt, ist von der Entscheidungserheblichkeit der Norm für das Ausgangsverfahren auszugehen, solange der Gesetzgeber nicht aus Rechtsgründen oder aus offenkundigen tatsächlichen Gründen gehindert ist, eine für den Kläger des Ausgangsverfahrens günstige Regelung zu schaffen.

 

LB 3) Parteien und kommunale Wählervereinigungen werden durch § 13 Abs.1 Nr.18 ErbStG unterschiedlich behandelt. Die Schenkungsteuerpflicht kommunaler Wählervereinigungen wird auch nicht durch andere Regelungen ausgeschlossen oder abgemildert.

 

LB 4) Die unterschiedliche Besteuerung gemäß § 13 Abs.1 Nr.18 ErbStG verändert die Wettbewerbslage zwischen Parteien und kommunalen Wählervereinigungen auch in ernsthaft ins Gewicht fallender Weise.

 

LB 5) Für die Differenzierung zwischen Parteien und kommunalen Wählervereinigungen und ihren Dachverbänden gibt es keine tragfähigen verfassungsrechtlichen Gründe. Die unterschiedlichen Aufgaben, Tätigkeitsfelder und Finanzbedürfnisse von Parteien und kommunalen Wählervereinigungen rechtfertigen keine unterschiedliche steuerliche Behandlung.

 

LB 6) Eine verfassungskonforme Auslegung von § 13 Abs.1 Nr.18 ErbStG ist - wie das vorlegende Gericht zutreffend festgestellt hat - nicht möglich. Der die Steuervergünstigung auf politische Parteien beschränkende Wortlaut der Norm ist wegen der ausdrücklichen Bezugnahme auf § 2 PartG eindeutig.

 

LB 7) Die Unvereinbarkeit von § 13 Abs.1 Nr.18 ErbStG mit dem Grundgesetz führt nicht zu seiner Nichtigerklärung. Die weitere Anwendbarkeit der Norm bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber wird angeordnet.

 

LB 8) Im Hinblick auf diese Besonderheiten ist es daher geboten, für eine Übergangszeit ausnahmsweise die weitere Anwendbarkeit des § 13 Abs.1 Nr.18 ErbStG anzuordnen und die Steuerbefreiung auf kommunale Wählervereinigungen auszudehnen.

§§§

08.024 Zuwachs an Zweitstimmen

  1. BVerfG,     U, 03.07.08,     – 2_BvC_1/07 –

  2. BVerfGE_121,266 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.38 Abs.1, GG_Art.38 Abs.2, GG_Art.38 Abs.3; BWG_§_7 Abs.3 S.2, BWG_§_4 Abs.4, BWG_§_4 Abs.5

  4. Bundeswahlgesetz / Wahlrechtsgrundsätze / Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl / Sitzverluste Landesliste / Zweitstimmen.

 

§ 7 Absatz 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Absätze 4 und 5 des Bundeswahlgesetzes verletzt die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl, soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

1) § 7 Absatz 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Absätze 4 und 5 des Bundeswahlgesetzes in der Fassung des Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 11. März 2005 (Bundesgesetzblatt I Seite 674) verletzt Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes, soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann.

2) Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens bis zum 30.Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen.

3) Im Übrigen werden die Wahlprüfungsbeschwerden zurückgewiesen.

4) Die Bundesrepublik Deutschland hat die notwendigen Auslagen dieses Verfahrens dem Beschwerdeführer zu 1. vollumfänglich und dem Beschwerdeführer zu 2. zur Hälfte zu erstatten.

§§§

08.025 Beratungshilfegesetz

  1. BVerfG,     B, 14.10.08,     – 1_BvR_2310/06 –

  2. www.BVerfG.de = BGBl_I_08,2180

  3. GG_Art.3 Abs.1; BerHG_§_2 Abs.2

  4. Steuerrecht / beratungshilfefähige Angelgenheit / Rechtswahrnehmungsgleichheit

 

1) Es ist mit Art.3 Abs.1 GG unvereinbar, dass nach § 2 Abs.2 BerHG das Steuerrecht nicht zu den beratungshilfefähigen Angelegenheiten zählt.

 

2) Zum Grundsatz der Rechtswahrnehmungsgleichheit im außergerichtlichen Bereich.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) § 2 Absatz 2 des Gesetzes über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz) vom 18.Juni 1980 (Bundesgesetzblatt I Seite 689) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Beratungshilfegesetzes und anderer Gesetze vom 14.September 1994 (Bundesgesetzblatt I Seite 2323) ist mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit er die Gewährung von Beratungshilfe nicht auch in Angelegenheiten des Steuerrechts ermöglicht.

2) Für die Übergangszeit bis zu einer gesetzlichen Neuregelung darf die Gewährung von Beratungshilfe in Angelegenheiten, die den Finanzgerichten zugewiesen sind, nicht deshalb versagt werden, weil diese Angelegenheiten nicht zu den in § 2 Absatz 2 des Gesetzes über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen aufgeführten Rechtsgebieten zählen.Der Beschluss des Amtsgerichts Neukölln vom 31. Juli 2006 - 70 a II 4667/06 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.

§§§

08.026 Agrarmarktbeihilfen

  1. BVerfG,     B, 14.10.08,     – 1_BvF_4/05 –

  2. www.BVerfG.de = BGBl_I_08,

  3. GG_Art.3 Abs.1; BetrPrämDurchfG_§_

  4. Gemeinschaftsrecht / Regionen / Ländergrenzen / Ausgestaltung Fördersystem Rechtswahrnehmungsgleichheit

 

Bei der Umstellung von Agrarmarktbeihilfen darf der Gesetzgeber die im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Einteilung des Bundesgebiets in Regionen an den Ländergrenzen ausrichten. Er darf bei der Ausgestaltung des Fördersystems grundsätzlich zur Vermeidung struktureller Verwerfungen auch bisherige Förderelemente berücksichtigen, selbst wenn dies in verschiedenen Regionen Deutschlands zu unterschiedlichen flächenbezogenen Förderbeträgen führt.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

Artikel 1 §§ 2, 4 Absatz 1 mit Anlage 1, § 5 Absatz 1 und § 6 Absatz 1 mit Anlage 3 des Gesetzes zur Umsetzung der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik vom 21. Juli 2004 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 1763) - Gesetz zur Durchführung der einheitlichen Betriebsprämie (Betriebsprämiendurchführungsgesetz - BetrPrämDurchfG) - in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes vom 23. Juli 2004 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 1861), in der Neufassung bekannt gemacht am 26. Juli 2004 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 1868), sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

08.027 Nichtraucherschutz-Gaststätten

  1. BVerfG,     U, 30.07.08,     – 1_BvR_3262/07 –

  2. BVerfGE_121,317 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE

  3. GG_Art.3 Abs.1, GG_Art.12 Abs.1; (Bl) NSchG_§_2 Abs.1 Nr.8; (BW) NSchG_§_7 Abs.1 S.1

  4. Nichtraucherschutz / Gaststätten / Einschätzungs- + Gestaltungsspielraum / Berufsfreiheit / Ausnahmen / wirtschaftliche Belastungen / Raucherräume / Diskothek.

 

1) Entscheidet sich der Gesetzgeber aufgrund des ihm zukommenden Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraums für ein Konzept des Nichtraucherschutzes in Gaststätten, das den Gesundheitsschutz im Ausgleich insbesondere mit der Berufsfreiheit der Gaststättenbetreiber verfolgt, so müssen Ausnahmen vom Rauchverbot derart gestaltet sein, dass sie auch bestimmte Gruppen von Gaststätten - hier: die getränkegeprägte Kleingastronomie - miterfassen, um bei diesen besonders starke wirtschaftliche Belastungen zu vermeiden.

 

2) Es stellt einen gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluss dar, wenn gesetzlich in Gaststätten zugelassene Raucherräume in Diskotheken untersagt sind.

* * *

Urteil

Entscheidungsformel:

1) § 7 Absatz 1 Satz 1 des Landesnichtraucherschutzgesetzes Baden-Württemberg vom 25. Juli 2007 (Gesetzblatt für Baden-Württemberg Seite 337) und § 2 Absatz 1 Nummer 8 des Berliner Gesetzes zum Schutz vor den Gefahren des Passivrauchens in der Öffentlichkeit vom 16. November 2007 (Nichtraucherschutzgesetz, Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin Seite 578) sind nach Maßgabe der Gründe mit Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.

Bis zu einer Neuregelung, die die Gesetzgeber bis zum 31.Dezember 2009 zu treffen haben, gelten die Vorschriften mit der Maßgabe fort, dass in Gaststätten mit weniger als 75 Quadratmetern Gastfläche und ohne abgetrennten Nebenraum, zu denen Personen mit nicht vollendetem 18. Lebensjahr der Zutritt verwehrt wird, der Gaststättenbetreiber das Rauchen gestatten darf, wenn er über eine Gaststättenerlaubnis verfügt, die das Verabreichen zubereiteter Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle nicht einschließt, und wenn die Gaststätte am Eingangsbereich in deutlich erkennbarer Weise als Rauchergaststätte, zu der Personen mit nicht vollendetem 18.Lebensjahr keinen Zutritt haben, gekennzeichnet ist.

2) § 7 Absatz 2 Satz 2 des Landesnichtraucherschutzgesetzes Baden-Württemberg vom 25.Juli 2007 (Gesetzblatt für Baden-Württemberg Seite 337) ist mit Artikel 12 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.

Bis zu einer Neuregelung, die der Gesetzgeber bis zum 31.Dezember 2009 zu treffen hat, gilt die Vorschrift fort, nicht jedoch für solche Diskotheken, zu denen ausschließlich Personen ab vollendetem 18.Lebensjahr Zutritt erhalten, mit der Maßgabe, dass sich in einem Nebenraum im Sinne von § 7 Absatz 2 Satz 1 des Nichtraucherschutzgesetzes Baden-Württemberg keine Tanzfläche befinden darf.

3) Das Land Baden-Württemberg hat den Beschwerdeführern zu 1) und 3), das Land Berlin der Beschwerdeführerin zu 2) ihre gesamten notwendigen Auslagen zu erstatten.

§§§

08.028 Abruf von Verkehrsdaten

  1. BVerfG,     B, 28.10.08,     – 1_BvR_2560/08 –

  2. www.BVerfG.de

  3. BVerfGG_§_31 Abs.2, BVerfGG_§_32 Abs.6 S.2; TKG_§_113a, TKG_§_113b S.1 Nr.3; G_10_§_1 Nr.2, G_10_§_3, G_10_§_4 Abs.4;

  4. Telekommunikationsrecht / Einstweilige Anordnung / übermittelte Daten / Verwendungsvorgabe / Abrufanordnung

 

1) Die einstweilige Anordnung vom 11.März 2008 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 659), wiederholt durch Beschluss vom 1.September 2008 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 1850), wird für die Dauer von sechs Monaten, längstens jedoch bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, mit der Maßgabe wiederholt (§ 32 Absatz 6 Satz 2 BVerfGG), dass sich hinsichtlich des Berichts der Bundesregierung die Daten aus dem Wiederholungsbeschluss vom 1.September 2008 für das Ende des Berichtszeitraums und für die Vorlage des Berichts jeweils um einen Monat nach hinten verschieben.

 

2) § 113b Satz 1 Nummer 2 des Telekommunikationsgesetzes in der Fassung des Gesetzes vom 21. Dezember 2007 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 3198) ist für die Dauer von sechs Monaten, längstens jedoch bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde mit folgenden Maßgaben anzuwenden: Im Falle eines Abrufs von allein nach § 113a des Telekommunikationsgesetzes gespeicherten Verkehrsdaten zur Gefahrenabwehr hat der durch das Abrufersuchen verpflichtete Anbieter von Telekommunikationsdiensten die verlangten Daten zu erheben. Sie sind jedoch nur dann an die ersuchende Behörde zu übermitteln, wenn gemäß der Anordnung des Abrufs die Voraussetzungen der die Behörde zum Abruf der Verkehrsdaten ermächtigenden Rechtsnormen vorliegen und ihr Abruf zur Abwehr einer dringenden Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder zur Abwehr einer gemeinen Gefahr erforderlich ist.

In den übrigen Fällen, in denen die Voraussetzungen der die ersuchende Behörde zum Abruf ermächtigenden Rechtsnormen nach der Abrufanordnung erfüllt sind, ist von einer Übermittlung der Daten einstweilen abzusehen. Der Diensteanbieter hat die Daten aber zu speichern. Er darf sie nicht verwenden und hat sicherzustellen, dass Dritte nicht auf sie zugreifen dürfen.

 

3) Die an die ersuchende Behörde übermittelten Daten dürfen nur zu den Zwecken verwendet werden, zu denen sie abgerufen worden sind. Zur Strafverfolgung dürfen sie nur übermittelt oder verwendet werden, wenn Gegenstand der Strafverfolgungsmaßnahme eine Katalogtat im Sinne von § 100a Absatz 2 der Strafprozessordnung ist und die Voraussetzungen des § 100a Absatz 1 der Strafprozessordnung vorliegen. § 113b Satz 1 Nummer 3 des Telekommunikationsgesetzes in der Fassung des Gesetzes vom 21.Dezember 2007 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 3198) ist für die Dauer von sechs Monaten, längstens jedoch bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde mit folgenden Maßgaben anzuwenden: Im Falle eines Abrufs von allein nach § 113a des Telekommunikationsgesetzes gespeicherten Verkehrsdaten zu den in § 113b Satz 1 Nummer 3 des Telekommunikationsgesetzes genannten Zwecken hat der durch das Abrufersuchen verpflichtete Anbieter von Telekommunikationsdiensten die verlangten Daten zu erheben. Sie sind jedoch nur dann an die ersuchende Behörde zu übermitteln, wenn gemäß der Anordnung des Abrufs neben den Voraussetzungen der die Behörde zum Abruf der Verkehrsdaten ermächtigenden Rechtsnormen auch die Voraussetzungen von § 1 Absatz 1, § 3 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz) in der Fassung vom 21.Dezember 2007 (Bundesgesetzblatt Teil I Seite 3198) vorliegen.

In den übrigen Fällen, in denen die Voraussetzungen der die ersuchende Behörde zum Abruf ermächtigenden Rechtsnormen nach der Abrufanordnung erfüllt sind, ist von einer Übermittlung der Daten einstweilen abzusehen. Der Diensteanbieter hat die Daten zu speichern. Er darf die Daten nicht verwenden und hat sicherzustellen, dass Dritte nicht auf sie zugreifen können.

 

4) Die an die ersuchende Behörde übermittelten Daten dürfen nur zu den Zwecken verwendet werden, zu denen sie abgerufen worden sind. Anderen Behörden dürfen sie nur nach Maßgabe des § 4 Absatz 4 des Artikel 10-Gesetzes übermittelt werden.Im Übrigen wird der erweiterte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 14.August 2008 abgelehnt.

 

5) Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern die Hälfte der notwendigen Auslagen im Verfahren über den weiteren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 14.August 2008 zu erstatten.

§§§

08.029 45 Pflichtbeitragsjahre

  1. BVerfG,     B, 11.11.08,     – 1_BvL_3/05 –

  2. www.BVerfG.de = BGBl_I_08,

  3. GG_Art.3 Abs.1; SGB_VI_§_237 Abs.4 S.1 Nr.3, SGB_VI_§_237 Abs.3, SGB_VI_§_77 Abs.2 S.1 Nr.2 Buchst.a

  4. Begünstigung / Bezug Altersrente / Arbeitslosigkeit / Altersteilzeit / vorzeitige Inanspruchnahme /

 

1) Die Begünstigung von Versicherten mit 45 Pflichtbeitragsjahren beim Bezug einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit (§ 237 Abs.4 Satz 1 Nr.3 SGB VI) ist mit Art.3 Abs.1 GG vereinbar.

 

Die Vorschriften über die Bestimmung von Abschlägen bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit (§ 237 Abs.3 iVm § 77 Abs.2 Satz 1 Nr.2 Buchstabe a SGB VI) sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) § 237 Absatz 4 Satz 1 Nummer 3 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch in der Fassung des Artikel 1 Nummer 76 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1999 - RRG 1999) vom 16. Dezember 1997 (Bundesgesetzblatt I Seite 2998), zuletzt geändert durch Artikel 1 Nummer 8 des Fünften Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch vom 4. Dezember 2004 (Bundesgesetzblatt I Seite 3183), ist mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz) vereinbar.

2) § 237 Absatz 3 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch in der Fassung des Artikel 1 Nummer 76 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1999 - RRG 1999) vom 16. Dezember 1997 (Bundesgesetzblatt I Seite 2998) in Verbindung mit § 77 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 Buchstabe a des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch in der Fassung des Artikel 1 Nummer 22 des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (Bundesgesetzblatt I Seite 1827) ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

§§§

08.030 Hochschullehrer-Theologie

  1. BVerfG,     B, 28.10.08,     – 1_BvR_462/06 –

  2. BVerfGE_122,89 = www.BVerfG.de = www.dfr/BVerfGE = BGBl_I_08,

  3. GG_Art.5 Abs.3, GG_Art.33 Abs.5

  4. Wissenschaftsfreiheit / staatliche Maßnahmen / Prüfungsmaßstab / theologische Fakultäten / Religionsgemeinschaft / Selbstbestimmungsrecht / Grenzen der Wissenschaftsfreiheit / Teilhabe an der akademischen Ausbildung

 

1) Für Hochschullehrer ist Kern der Wissenschaftsfreiheit das Recht, ihr Fach in Forschung und Lehre zu vertreten. Soweit staatliche Maßnahmen, die auf ihre Stellung als beamtete Hochschullehrer einwirken, spezifisch wissenschaftsrelevante Aspekte ihrer Tätigkeit betreffen, ist Art.5 Abs.3 GG und nicht Art.33 Abs.5 GG Prüfungsmaßstab.

 

2) Das Grundgesetz erlaubt die Errichtung theologischer Fakultäten an staatlichen Hochschulen im Rahmen von Recht und Pflicht des Staates, Bildung und Wissenschaft an den staatlichen Universitäten zu organisieren. Dabei muss der Staat das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft berücksichtigen, deren Theologie Gegenstand des Unterrichts ist.

 

3) Die Wissenschaftsfreiheit von Hochschullehrern der Theologie findet ihre Grenzen am Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft und an dem durch Art.5 Abs.3 GG geschützten Recht der Fakultät, ihre Identität als theologische Fakultät zu wahren und ihre Aufgaben in der Theologenausbildung zu erfüllen.

 

4) Zum Recht der Hochschullehrer auf Teilhabe an der akademischen Ausbildung.

§§§

08.031 Erwerbsaufwendungen

  1. BVerfG,     U, 09.12.08,     – 1_BvL_1/07 –

  2. www.BVerfG.de

  3. GG_Art3 Abs.1; EStG_§_9 Abs.2 S.1, EStG_§_9 Abs.2 S.2; AO_§_165

  4. vorläufige Steuerfestsetzung / Lohnsteuerverfahren / Einkommenssteuervorauszahlungen / erhöhte Aufwendungen

 

Zu den Anforderungen an eine folgerichtige Abgrenzung von Erwerbsaufwendungen im Einkommensteuerrecht.

* * *

Beschluss

Entscheidungsformel:

1) § 9 Absatz 2 Satz 1 und Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der seit Inkrafttreten des Steueränderungsgesetzes 2007 vom 19. Juli 2006 (Bundesgesetzblatt I Seite 1652) geltenden Fassung ist mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.

2) Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung ist § 9 Absatz 2 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes im Wege vorläufiger Steuerfestsetzung (§ 165 Abgabenordnung) sowie entsprechend im Lohnsteuerverfahren, hinsichtlich der Einkommensteuervorauszahlungen und in sonstigen Verfahren, in denen das zu versteuernde Einkommen zu bestimmen ist, mit der Maßgabe anzuwenden, dass die tatbestandliche Beschränkung auf "erhöhte" Aufwendungen "ab dem 21. Entfernungskilometer" entfällt.

§§§

08.032 Gegenvorstellung

  1. BVerfG,     B, 25.11.08,     – 1_BvR_848/07 –

  2. www.BVerfG.de

  3. BVerfGG_§_93 Abs.1 S.1; BORA_§_12

  4. Gegenvorstellung / gerichtliche Entscheidung / Verfassungsbeschewrde / Monatsfrist / Umgehung des Gegenanwalts / Verfassungsmäßigkeit

 

1) Durch die Einlegung einer Gegenvorstellung und die darauf ergehende gerichtliche Entscheidung wird die Monatsfrist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde (§ 93 Abs.1 Satz 1 BVerfGG) nicht erneut in Lauf gesetzt.

 

2) Zur Verfassungsmäßigkeit des an Rechtsanwälte gerichteten Verbots der Umgehung des Gegenanwalts (§ 12 BORA) und der berufsrechtlichen Ahndung von Verstößen gegen dieses Verbot.

§§§

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§§§














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